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Vorwort

Dieses Buch handelt von einer außergewöhnlichen Frau namens Almina Carnarvon, von der Familie, in die sie einheiratete, von dem Herrensitz, der ihr Zuhause wurde, von den Menschen, die dort arbeiteten, und nicht zuletzt von der Verwandlung des Anwesens in ein Lazarett für verwundete Soldaten in der Zeit des Ersten Weltkriegs.

Obwohl die beschriebenen Ereignisse aufs Engste mit der Unbeschwertheit der edwardianischen Epoche, der schweren Zeit der Kriegsjahre und dem langsamen Wiederaufschwung nach den Konflikten verbunden sind, handelt es nicht um eine historische Abhandlung.

Es ist auch keine Biografie und kein Roman. Die Erzählung bindet vielmehr Charaktere in einen historischen Rahmen ein, der aus in jener Zeit verfassten Briefen, Tagebüchern und Haushaltsbüchern rekonstruiert wurde.

Almina Carnarvon war als uneheliche Tochter von Alfred de Rothschild Erbin eines immensen Vermögens. Sie war Gattin des 5. Earls of Carnarvon, einer bedeutenden Persönlichkeit innerhalb der britischen Gesellschaft unter Edward VII. Der Earl begeisterte sich für Bücher, Reisen und die technologische Entwicklung, die zu jener Zeit für gewaltige Veränderungen sorgte. Er ist vor allem für die Entdeckung von Tutanchamuns Grab in Zusammenarbeit mit Howard Carter bekannt.

Almina war von überaus großzügiger Wesensart und handhabte auch ihr Vermögen spendabel. Sie war auf zahlreichen königlichen Veranstaltungen zu Gast, bis der Erste Weltkrieg ihr Leben veränderte. Statt Herrin rauschender Empfänge zu sein, leitete sie nun Krankenhäuser und erwies sich als geschickte Krankenschwester.

Highclere Castle ist bis heute Sitz der Earls of Carnarvon. Als Schauplatz der Fernsehserie »Downton Abbey« ist es Zuschauern in über 100 Ländern bekannt.

Da ich seit nunmehr zwölf Jahren in Highclere Castle lebe, kenne ich wohl jeden Winkel. Meine Recherchen haben einige Geschichten der faszinierenden Bewohner des Herrensitzes offenbart, doch es gibt noch viel mehr zu entdecken. Meine Reise hat gerade erst begonnen.

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Die Countess of Carnarvon

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KAPITEL 1

Glanz und Gloria

Am Mittwoch, den 26. Juni 1895, ging Miss Almina Victoria Marie Alexandra Wombwell, eine auffallend hübsche Frau von zweifelhafter gesellschaftlicher Stellung, im Alter von 19 Jahren mit George Edward Stanhope Molyneux Herbert, dem 5. Earl of Carnarvon, in der St Margaret’s Church in Westminster den Bund der Ehe ein.

Es war ein herrlicher Tag. Das jahrhundertealte, aus hellem Kalkstein errichtete Gotteshaus war bis auf den letzten Platz besetzt und reich mit Blumen geschmückt. Dem einen oder anderen Gast mochte die Dekoration ein wenig zu pompös erschienen sein. Im Hauptschiff waren große Blumentöpfe mit hohen Palmen aufgestellt, aus den Nischen quollen üppige Farne. Die Kanzel und den Altarraum zierten Madonnenlilien, Orchideen, Rosen und Pfingstrosen. In das exotische Flair mischte sich der berauschende Duft englischer Sommerblumen. Es war ein außergewöhnlicher Anblick, so wie an dieser Hochzeit alles außergewöhnlich war. Alminas Name, die Umstände ihrer Geburt, vor allem aber ihr großes Vermögen trugen dazu bei, dass diese Hochzeit für die gehobene Gesellschaftsschicht keineswegs typisch war.

Der Earl heiratete an seinem neunundzwanzigsten Geburtstag. Der schlanke, charmante, wenngleich ein wenig zurückhaltende Mann entstammte einem hochrangigen Adelsgeschlecht. Er besaß Häuser in London, Hampshire, Somerset, Nottinghamshire und Derbyshire sowie ausgedehnte Ländereien. Seine Anwesen waren mit Werken alter Meister, mit kostbarem französischen Mobiliar und mit Artefakten, die er von seinen Reisen in den Osten mitgebracht hatte, ausgestattet. Selbstverständlich wurde der Earl in den Salons ganz Großbritanniens empfangen und auf alle Londoner Festlichkeiten eingeladen – vor allem wenn die Gastgeber eine Tochter oder Nichte im heiratsfähigen Alter besaßen. Mochten die bei der Vermählung anwesenden jungen Damen dem Paar auch liebenswürdig begegnen, in ihrem tiefsten Inneren dürfte die eine oder andere durchaus enttäuscht gewesen sein.

Der Earl of Carnarvon traf mit seinem Trauzeugen Prinz Victor Duleep Singh, einem Freund aus Schul- und Studientagen in Eton und Cambridge, ein. Der Prinz war der Sohn des letzten Maharadschas von Punjab, der den Diamanten Koh-I-Noor besessen hatte, bis dieser von den Briten konfisziert und dem Schatz der Kronjuwelen von Königin Victoria, der Kaiserin von Indien, hinzugefügt wurde.

Die Sonne strömte durch die neuen Buntglasfenster, die Darstellungen englischer Helden aus mehreren Jahrhunderten zeigten. Die altehrwürdige Kirche neben der Westminster Abbey war vor Kurzem von dem viktorianischen Architekten Sir George Gilbert Scott renoviert worden. Als Inbegriff der für diese Epoche typischen Kombination aus Tradition und Moderne bildete sie den perfekten Rahmen für die Hochzeit zweier Menschen, die völlig unterschiedlichen Gesellschaftsschichten angehörten und von denen jeder etwas in die Ehe einbrachte, was dem anderen fehlte.

Als der Organist, Mr Baines, das Kirchenlied »The Voice That Breathed o’er Eden« anstimmte, machte Almina, die am Portal gewartet hatte, die ersten Schritte zum Altar. Sie ging langsam und so ruhig und würdevoll, wie es ihr angesichts der auf sie gerichteten Augen aller möglich war, ihre Hand ruhte auf der ihres Onkels, Sir George Wombwell. Gewiss war sie nervös, aber auch voller Erwartung. Der Schwager ihres Bräutigams, Lord Burghclere, hatte Almina einmal als »etwas einfältige Jungfer« bezeichnet, die aber auch »bis über beide Ohren verliebt« zu sein schien und in den Wochen und Tagen vor der Hochzeit kaum an sich halten konnte.

Vielleicht wurde Alminas Selbstvertrauen dadurch bestärkt, dass sie sich ihres anmutigen Anblicks durchaus bewusst war. Sie war zart, knapp über einen Meter fünfzig groß, hatte blaue Augen und eine gerade, wohlgeformte Nase. Ihr glänzendes braunes Haar war zu einer eleganten Frisur hochgesteckt. Ihre künftige Schwägerin, Winifred Burghclere, beschrieb Almina als »sehr hübsch, mit einer makellosen Figur und Wespentaille«.

Unter einem Schleier aus zartem Seidentüll trug sie einen Kranz Orangenblüten. Ihr Kleid war im Pariser House of Worth angefertigt worden. Charles Frederick Worth, der exklusivste Couturier seiner Zeit, war für den Einsatz luxuriöser Materialien und seine hervorragenden Schnitte berühmt. Alminas Kleid aus exquisiter Duchesse besaß eine lange Schleppe, der Schleier war elegant auf einer Schulter gerafft. In den Rock waren echte Orangenblüten eingewirkt. Auch ein Geschenk des Bräutigams, ein Stück sehr alter, äußerst seltener französischer Spitze, war in das Hochzeitskleid eingearbeitet worden.

Mit diesem prächtigen Ensemble setzte Almina ihren Auftritt auf der öffentlichen Bühne der gehobenen Gesellschaft wirkungsvoll in Szene. Zwar war sie bereits im Mai 1893 von ihrer Tante, Lady Julia Wombwell, bei Hof vorgestellt worden, anschließend waren ihr die höchst exklusiven Gesellschaften, bei denen die Auswahl der Gäste nach strengen Regeln erfolgte, jedoch verschlossen geblieben. Gegen die zahllosen Gerüchte bezüglich ihrer Abstammung väterlicherseits waren auch Alminas exquisiter Kleidungsstil und ihre tadellosen Manieren machtlos. Der Zutritt zu den Salons der hochherrschaftlichen Damen, die die Fäden der gesellschaftlichen Etikette in der Hand hielten, war ihr verwehrt geblieben, die für eine gesellschaftliche Debütantin bedeutenden Bälle, die jungen Fräuleins die Gelegenheit boten, die Aufmerksamkeit eines heiratswürdigen Gentleman zu erregen, hatte sie nicht besucht. Dennoch hatte Almina einen Mann aus den besten Kreisen für sich eingenommen und präsentierte sich nun in einem für eine Frau, die in die höchsten Ränge der Aristokratie aufstieg, passenden Kleid.

Almina folgten acht Brautjungfern und zwei Pagen: ihre Cousine, Miss Wombwell, die beiden jüngeren Schwestern ihres Bräutigams, Lady Margaret und Lady Victoria Herbert, Lady Kathleen Cuffe, Prinzessin Kathleen Singh sowie Prinzessin Sophie Singh, Miss Evelyn Jenkins und Miss Davies. Die Brautjungfern trugen cremefarbenen Seidenmusselin über weißen, mit hellblauen Bändern verzierten Satinröcken. Farblich passende, mit Musselin, Federn und Bändern geschmückte Strohhüte rundeten das zauberhafte Bild ab. Die Pagen, der Ehrenwerte Mervyn Herbert und Lord Arthur Hay, erschienen in weiß-silberner höfischer Tracht aus der Zeit Ludwigs XV.

Almina kannte ihren Bräutigam seit fast eineinhalb Jahren. Sie waren noch nie miteinander allein gewesen, hatten sich aber bei einem halben Dutzend geselliger Anlässe getroffen – für Almina sicherlich nicht genug Gelegenheit, um wahrzunehmen, dass der Gehrock, den ihr Bräutigam bei der Hochzeit zu tragen überredet worden war, sich deutlich von dessen sonst eher legerem Kleidungsstil unterschied.

Als das junge Paar vor dem Traualtar stand, war in seinem Rücken eine illustre Schar der Großen und Mächtigen versammelt, in die sich manch fragwürdiger Gast mischte. Auf der rechten Seite saßen die Familie und die Freunde des Bräutigams: seine Stiefmutter, die verwitwete Countess of Carnarvon, sein Halbbruder, der Ehrenwerte Aubrey Herbert, die Howards, der Earl of Pembroke, die Earls und Countesses of Portsmouth, Bathurst und Cadogan; Lord Ashburton, Lord de Grey sowie der Marquess und die Marchioness of Bristol. Die Duchess of Marlborough war ebenso zugegen wie die Duchess of Devonshire, wie Lord und Lady Charteris und der größte Teil der vornehmen Londoner Gesellschaft.

Auch der 5. Earl of Rosebery, der ehemalige Premierminister, befand sich unter den Gästen. Rosebery war nur vier Tage vor der Hochzeit nach Windsor Castle gereist, um seine Rücktrittserklärung einzureichen, woraufhin die Königin den Marquess of Salisbury mit der Regierungsbildung beauftragt hatte. Königin Victoria, die seit vielen Jahren zurückgezogen lebte, war nicht zur Trauung erschienen, hatte dem Paar aber Glückwünsche übersandt. Die Königin stand seit Langem in persönlicher Beziehung zum Haus Carnarvon: Sie war Patentante der jüngsten Schwester des Earls.

Familie und Freunde der Braut repräsentierten ein anderes gesellschaftliches Spektrum: Alminas französische Mutter, Marie Wombwell, geborene Boyer, war die Tochter eines Pariser Bankiers. Der Anblick der beiden verriet, dass Almina ihr lebhaftes Wesen und ihr Stilgefühl von ihrer Mutter geerbt hatte. Sir ­George Wombwell, der Bruder von Maries verstorbenem Gatten, hatte Almina zum Altar geführt. Die Wombwells waren umringt von höchst einflussreichen und äußerst vermögenden Vertretern der erst kürzlich in den Adelsstand erhobenen kaufmännischen Elite. Dazu zählten Sir Alfred de Rothschild, Baron und Baronin de Worms, Baron Ferdinand de Rothschild, Baron Adolphe de Rothschild, Mr Reuben Sassoon, vier weitere Sassoon-Cousinen, Mr Wertheimer, Mr und Mrs Ephrusi sowie Baron und Baronin de Hirsch.

Als Almina schließlich an der Hand ihres Bräutigams vor den mit der Trauung beauftragten hohen kirchlichen Würdenträgern stand, mag der Gedanke an ihr zukünftiges Eheleben sie durchaus eingeschüchtert haben. Vielleicht erinnerte sie ein mit ihrer Mutter getauschter Blick daran, wie weit sie es gebracht hatte. Gleichzeitig muss ihr bewusst gewesen sein, dass sie aufgrund des Ehevertrags, den der Earl of Carnarvon mit Sir Alfred de Rothschild geschlossen hatte, durch ein gewaltiges Vermögen abgesichert war, dass ihr Achtbarkeit, gesellschaftliche Anerkennung und den Zugang zu einer der angesehensten Familien des spätviktorianischen England ermöglicht hatte. Almina hatte die St Margaret’s Church als uneheliche Tochter eines jüdischen Bankiers und dessen französischer Mätresse betreten und verließ sie zu den Klängen des Hochzeitsmarsches aus ­Wagners Lohengrin als 5. Countess of Carnavon. Ihre Verwandlung war vollzogen.

Der bemerkenswerte soziale Aufstieg Alminas war allerdings nicht reibungslos verlaufen. Auch Geld aus dem Hause Rothschild half nicht über das Problem hinweg, dass Marie Wombwell – die Witwe des Alkoholikers und leichtsinnigen Spielers Frederick Wombwell und vor allem die langjährige Vertraute von Sir Alfred de Rothschild – in der feinen Gesellschaft nicht akzeptiert wurde.

Almina hatte ihre Kindheit in Paris und London verbracht, als Jugendliche lebte sie in der 20 Bruton St, W1, im Herzen von Mayfair. Gelegentlich fanden Besuche bei den Wombwells in Yorkshire statt. Sir George und Lady Julia blieben Marie und ihren Kindern auch nach Fredericks Tod von Herzen zugetan. Die Adresse in Mayfair war nobel, Marie Wombwells Reputation war es nicht.

Als Marie Sir Alfred kennenlernte, war sie eine verheiratete Frau, auch wenn sie von ihrem Mann getrennt lebte. Sir Alfred war eine bedeutende Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Er hatte zwanzig Jahre lang der Bank of England vorgestanden, war Junggeselle, Ästhet und Lebemann. Dank seines immensen Familienvermögens pflegte er einen verschwenderischen Lebensstil, zu dem auch die »Huldigungssoirees« gehörten, bei denen er seinen Freunden die Gelegenheit gab, den prominentesten Damen jener Zeit zu begegnen.

Marie war Sir Alfred möglicherweise von ihrem Vater, der ihn durch Beziehungen im Bankenwesen kannte, oder von Sir George und Lady Julia, die oft die Wochenenden in seinem Halton House in Buckinghamshire verbrachten, vorgestellt worden. Alfred und Marie teilten die Leidenschaft für das Theater und die Oper, sie wurden erst enge Freunde, dann ein Liebespaar. Alfred war ein großzügiger Gefährte, der es Marie und ihrer Tochter an nichts fehlen ließ. Da Alfred dazu bereit war, Almina mit einem gewaltigen Vermögen auszustatten, hatte sie auf dem Heiratsmarkt gute Chancen. Doch selbst Marie hatte sich wohl in ihren kühnsten Träumen nicht ausgemalt, dass ihrer Tochter der Sprung mitten ins Establishment gelingen würde.

Dieser Erfolg stieg Marie offenbar ein wenig zu Kopfe. Sie bestand darauf, das Hochzeitsfrühstück in einem dem Anlass entsprechenden erhabenen Ambiente abzuhalten – ein großes Problem für die Etikette. Die traditionelle Variante, diese Feierlichkeit im Hause der Brauteltern auszurichten, kam nicht infrage, da Marie als Gastgeberin indiskutabel war und Alminas Vater zur Wahrung der Form als Pate ausgegeben wurde. Obwohl die prächtigen Festlichkeiten mit Rothschild-Geld finanziert wurden, fanden sie nicht in einem Rothschild-Haus statt.

Elsie, die Stiefmutter des Earls und treibende Kraft hinter den Hochzeitsvorbereitungen, hatte sich wochenlang mit dieser schwierigen Herausforderung beschäftigt. So schrieb sie der Countess of Portsmouth, einer Tante des Earls, die den jungen Mann von Herzen liebte: »Wir haben ein familiäres Problem. Bislang haben wir ihr [Mrs Wombwell] weder unsere Aufwartung gemacht noch sie bei uns empfangen, obgleich Almina natürlich ständig bei uns ist.« Mit großem Geschick und Taktgefühl hatte Elsie, die Almina unter ihre Fittiche genommen hatte, bei Freunden der Familie, darunter Lord und Lady ­Stanhope, angefragt, in der Hoffnung, einen neutralen und dennoch eindrucksvollen Veranstaltungsort für das Hochzeitsfrühstück zu finden. Verschiedene Häuser waren angeboten, aber nicht akzeptiert worden, bis schließlich Mr Astor das an der Südseite des Berkeley Square gelegene Lansdowne House zur Verfügung stellte, das Marie als passenden Rahmen begrüßte.

Also brachen die Gäste nach der Trauung zum Schloss in Mayfair auf. Das imposante Gebäude, das 1763 nach den Entwürfen von Robert Adam erbaut worden war, besaß viele elegante Empfangsräume. Die Eingangshalle war mit Hortensien dekoriert, allen anderen Räumen verlieh der Blumenschmuck ein jeweils eigenes Ambiente. Im Salon, in dem das eigens aus Wien angereiste Orchester die neuesten Walzer spielte, herrschten wie schon in der St Margaret’s Church Palmen und Farne vor. In einem Raum wurden Getränke serviert, in einem anderen das Hochzeitsfrühstück einschließlich einer dreistöckigen Torte. Mrs Wombwell begrüßte die Gäste in einem dunkelvioletten Kleid, während Elsie, die aufgrund ihres Rangs als verwitwete Countess of Carnarvon die Position der Gastgeberin innehatte, ein Festgewand aus grün-rosa changierender Seide trug.

Die Hochzeitsgeschenke für Braut und Bräutigam wurden sorgfältig katalogisiert und auf der Feier ausgestellt. Almina hatte von Sir Alfred ein kostbares Smaragdcollier und eine Tiara erhalten – ihrer neuen gesellschaftlichen Stellung entsprechende Geschmeide, die sie künftig bei auf Highclere Castle oder in der Stadt abgehaltenen Empfängen tragen würde. Unter den zahlreichen weiteren wunderschönen Geschenken befanden sich kristallene Vasen und goldene Flakons. Der Bräutigam wurde mit nicht minder wertvollem juwelengeschmückten Zierrat und Schmuck bedacht, von Ringen bis zu Zigarettenetuis.

Nach all dem Kopfzerbrechen im Vorfeld verlief der Hochzeitstag selbst ohne Komplikationen. Das Murren über den Aufstieg von Miss Wombwell war verstummt, Mrs Wombwell verhielt sich tadellos, und über die Rolle von Sir Alfred de Rothschild wurde diskret der Mantel des Schweigens gelegt. Tatsächlich wurde die spektakuläre Hochzeit als eines der glanzvollsten Ereignisse der Saison bewertet.

Der beklommenste Moment mag für Almina auch nicht der Einzug in die Kirche oder das Betreten von Lansdowne House gewesen sein, wo sie schließlich von vertrauten Gesichtern umgeben war, sondern der Abschied von ihrem bisherigen Leben, ihrer Kindheit und Jugend, als sie die Fahrt nach Highclere Castle antrat. Mit Sicherheit hatten ihr Mutter und Vater aufmunternde Worte und ihren Segen mit auf den Weg gegeben. Doch nun unternahm sie die ersten Schritte als verheiratete Frau, begleitet von Fremden, der bisher wenig Neigung gezeigt hatte, sie wirklich kennenzulernen.

Die frisch Vermählten verließen ihre Gäste am Nachmittag. Der oberste Kutscher des Earls, Henry Brickell, fuhr sie durch London zum Bahnhof Paddington, von dort brachte sie ein spezieller Zug aufs Land. Das Paar würde den ersten Teil seiner Hochzeitsreise in Highclere Castle, dem prächtigsten Anwesen der Carnarvons, verbringen. Beide hatten die Kleidung gewechselt. Der Earl hatte sich bei der ersten Gelegenheit seines formellen Fracks entledigt und trug nun sein liebstes Kleidungsstück, eine mehrfach ausgebesserte blaue Jacke. Sobald sie die Stadt verlassen hatte, setzte er außerdem einen Strohhut auf. Almina trug ein bezauberndes Pompadourkleid aus zarter Gaze, Diamanten und einen Hut des Pariser Couturiers Verrot.

Der Zug von Paddington traf um 18:30 Uhr an der Station Highclere ein. Lord und Lady Carnarvon stiegen aus dem Waggon und nahmen in einem offenen Landauer Platz, der von zwei rotbraunen Pferden gezogen und von einem niederen Kutscher gelenkt wurde. Nach einer Meile bog die Kutsche ab, fuhr an der Pförtnerloge vorbei und folgte dem von ausladenden Bäumen und dunklen Rhododendronbüschen gesäumten, gewundenen Weg. Als sie den Dianatempel oberhalb des Dunsmere Lake passierten, hallten vom Schlossturm Salutschüsse herüber. Zehn Minuten später erreichte der Landauer die Kreuzung im Park, und das Paar stieg aus. Die Auffahrt war mit einem blumengeschmückten Festbogen überspannt. Die Pferde wurden von den ranghöchsten Bediensteten des Herrensitzes ausgespannt: Mr Hall, Mr Storie, Mr Lawrence und Mr Weigall. Anschließend befestigten der Guts- und der Forstverwalter Seile an der Kutsche, und das Paar nahm wieder in dem Gefährt Platz. Nun nahmen 20 Männer die Seile auf und zogen den Landauer unter dem Festbogen hindurch den Hügel zum Haupteingang des Schlosses hinauf, begleitet von einem schwungvollen Marsch der Newbury Town Band, die für ihren Auftritt sieben Guineas bekommen hatte.

Am Haupteingang wartete der Bürgermeister von Newbury, um dem Earl im Namen der Stadt ein Hochzeitsgeschenk zu überreichen: ein im Stil eines mittelalterlichen Manuskripts wundervoll illuminiertes Album mit den Glückwünschen der Bewohner. Es enthielt Illustrationen der Getreidebörse von Newbury und von Highclere Castle. In den Einband aus cremefarbenem Kalbsleder war die verzierte Initiale des Hauses Carnarvon geprägt.

Einige der Gutspächter verfolgten vom Garten aus das Geschehen. Sie waren in einem Festzelt von einer Kapelle unterhalten worden. Außerdem hatte für 330 Kinder aus der Umgebung ein Fest mit Kuchen und Tee stattgefunden. Zunächst war ein Unwetter aufgezogen, doch der Himmel hatte sich glücklicherweise rechtzeitig vor dem Tee und dem Eintreffen des Brautpaars aufgeklart. Es war einer der längsten Tage des Jahres, und die Sonne hatte noch viel Kraft.

Zusätzlich zu dem Honorar für die Kapelle wurden fünf Constables für ihre Anwesenheit mit einem Pfund, elf Schilling und Sixpence entlohnt. Die Glöckner von Burghclere empfingen eine Spende von zwei Pfund zum Dank dafür, dass sie, seitdem der Earl und die Countess aus dem Zug gestiegen waren, die Glocken im örtlichen Kirchturm geläutet hatten.

Auf dem Schlossturm, dessen Spitzen und Mauerwerk heraldische Symbole und Figuren wilder Tiere zieren, wehte stolz die blau-rote Fahne mit dem Familienwappen. Als die Kutsche schließlich vor der schweren hölzernen Eingangstür des Schlosses stehen blieb und das Paar endgültig ausstieg, wurde es von Mr Albert Streatfield, dem Haushofmeister (diese Position wird gemeinhin auch als Butler bezeichnet), sowie von Major James Rutherford (dem Aufseher des Anwesens) und dessen Frau begrüßt.

Was mag wohl in Almina vorgegangen sein, als sie zusah, wie die Männer von Highclere sie mühevoll zum Schloss zogen? Was ging ihr durch den Kopf, als sie als neue Hausherrin das Bauwerk betrachtete? Sie sah Highclere Castle nicht zum ersten Mal, sondern hatte es bereits an zwei Wochenenden zusammen mit ihrer Mutter besucht. Nun aber kam sie als Countess of Carnarvon, von der erwartet wurde, dass sie das Haus führte und ihren vielfältigen Verpflichtungen nachging. In Highclere hatte jeder, ob er nun in den Wohn- oder Wirtschaftsräumen, in der Küche oder in den Stallungen arbeitete, bestimmte Aufgaben zu erfüllen, und Almina bildete dabei keine Ausnahme.

Es muss ein beglückendes Gefühl gewesen sein. Almina war eine temperamentvolle, aufgeweckte junge Frau. Vermutlich wären für jedes Mädchen Ehe, Mutterschaft und der Dienst in der Familiendynastie der Carnarvons ein angenehmes Schicksal gewesen. Almina war an ein behütetes Leben, in dem es ihr an nichts fehlte, gewöhnt, und sie hatte keinen Anlass zu vermuten, dass ihr jemals ein Herzenswunsch versagt bleiben würde. Außerdem war sie bis über beide Ohren in ihren frisch angetrauten Ehemann verliebt. Dennoch muss sie auch ein wenig verängstigt gewesen sein.

Spätestens beim Blick in die Samstagszeitungen nach ihrer Hochzeit muss Almina klar geworden sein, dass sie von nun an im Licht der Öffentlichkeit stand. Schon damals widmete sich die Presse eifrig den Hochzeiten der Aristokratie sowie der Reichen und Berühmten. Die Wochenzeitung Penny Illustrated Paper veröffentlichte in ihrer Kolumne »World of Women« ein ausführliches Porträt von Almina (dabei nannte das Blatt sie in der Überschrift versehentlich Miss Alice Wombwell), das auch eine detaillierte Beschreibung ihres Hochzeitskleids enthielt. Binnen eines Tages war Almina aus der Anonymität ins Blickfeld der Medien gerückt. Ihr neuer Status setzte sie auch unter Druck.

Doch der frischgebackenen Countess blieb wenig Zeit, darüber nachzudenken, was auf sie zukam. Um seiner Frau die Basis für eigene Erkundungszüge zu geben und sie mit dem Anwesen vertraut zu machen, führte der Earl sie in den folgenden Tagen durch den Park und in die umliegenden Dörfer, wo sie die ansässigen Familien besuchten. Am Sonntag nach ihrer Hochzeit nahmen sie in der Kirche von Highclere am morgendlichen Gottesdienst teil. Wie die Kirche in Westminster trug auch dieses Gotteshaus die Signatur von Sir Gilbert Scott – der Architekt hatte es rund zwanzig Jahre zuvor im Auftrag von Lord Carnarvons Vater, dem 4. Earl of Carnarvon, entworfen und gebaut.

Nachdem all diese Pflichten erfüllt waren, brach das Paar zum europäischen Festland auf. Dieser zweite Teil ihrer Hochzeitsreise würde den frisch Vermählten endlich die Möglichkeit bieten, sich näherzukommen. Nach zweiwöchiger Abwesenheit kehrten sie nach Highclere zurück, und der Alltag setzte ein. Nur dass für Almina nichts mehr so sein würde wie zuvor.

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KAPITEL 2

Willkommen in Highclere

Als Almina an jenem Frühsommertag vor ihrem neuen Zuhause aus der Kutsche stieg, war sie seit Monaten Gesprächsthema gewesen. Zahllose Gerüchte und ausgiebiger Klatsch hatten die verschiedensten Wahrheiten und Spekulationen über die junge Frau des Earls zu den Bewohnern von Highclere gebracht. Alminas Ankunft wurde mit Spannung erwartet.

Im ausgehenden 19. Jahrhundert war das Leben in den großen Häusern Englands noch stark von überkommenen Strukturen und Mustern geprägt. Familien dienten den Adligen über Generationen. Highclere Castle war der Wohnsitz der Earls of Carnarvon, es war aber auch das Zuhause der Dienerschaft, und die herrschaftliche Familie war auch deren Familie. Highclere glich einem Schiff mit eingeschworener Gemeinschaft, der Butler Streatfield fungierte als Kapitän. Die Erfahrung besagte, dass Gräfinnen kamen und gingen. Selbstverständlich besaß Almina Autorität und Einfluss, doch war es wichtig, dass sie möglichst schnell begriff, Teil eines gut geschmierten Räderwerks zu sein, das sie lange überdauern würde. Also gehörte es zu ihren ersten Aufgaben nach ihrer Ankunft, sich mit der Geschichte und der Gemeinschaft des Hauses vertraut zu machen.

Highclere Castle liegt an der Schnittstelle der Wegstrecken von Winchester nach Oxford und von London nach Bristol. Es wurde auf einer natürlichen Erhebung aus Kreidefelsen unweit einer antiken Route zwischen Beacon Hill und Ladle Hill erbaut. Im Süden von Highclere befindet sich der Siddown Hill, den der im 18. Jahrhundert errichtete Zierbau »Heaven’s Gate« krönt. Der Blick nach Norden reicht über Newbury hinaus bis zu den Turmspitzen von Oxford.

Die Gegend wurde von jeher ob ihrer Schönheit gerühmt. 1792, gut ein Jahrhundert vor Alminas Ankunft auf Highclere, hielt Archibald Robertson in einer Landschaftsbeschreibung fest: »High Clere Park liegt in Hampshire; mit seiner schieren Größe und der kühnen landschaftlichen Gestaltung, die von sanft gewellten Rasenflächen in lieblichen Tälern abgemildert und von Wäldchen und Gewässern belebt wird, erregt er die Bewunderung des Betrachters. Das Anwesen gehört gewiss zu den elegantesten Herrensitzen des Landes.«

Erste Siedlungen gab es in Highclere bereits vor mehreren tausend Jahren. In Beacon Hill ist eine Festung aus der Eisenzeit erhalten. Das Areal war 800 Jahre lang im Besitz der Bischöfe von Winchester, bis es in weltliche Hände überging. Ende des 17. Jahrhunderts fiel das Anwesen an die Familie Herbert, die Earls of Pembroke und Vorfahren der Earls of Carnarvon.

Der Park, den Capability Brown für den 1. Earl of Carnarvon anlegte, bildet ein harmonisches Ensemble aus natürlichen und landschaftlich gestalteten Segmenten. Die einzelnen Zufahrten passen sich den Konturen des Geländes an und geben stellenweise den Blick auf das Schloss frei. Die geschickte Bepflanzung ermöglicht nah und fern bezaubernde Panoramen. Überall lenken exotische Pflanzen, elegante Alleen und opulente Zierbauten den Blick auf besonders schöne Partien. Highclere bildet eine eigene Welt, und die Stimmigkeit des Anwesens, die Einheit von Landschaft, Schloss und den auf dem Gelände lebenden und arbeitenden Menschen beeindruckt Besucher bis heute.

Das Haus in seiner heutigen Form wurde von dem Architekten Charles Barry, der auch die Houses of Parliamant entwarf, für den 3. Earl of Carnarvon erbaut. Die Errichtung war ein groß angelegtes Projekt. Das ursprüngliche elisabethanische Ziegelgebäude war im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert im georgianischen Stil umgestaltet worden, doch nun sollte ein neues Bauwerk entstehen. Der Grundstein wurde 1842 gelegt, bis zur Fertigstellung vergingen zwölf Jahre. Das vollendete Gebäude, das nun Highclere Castle genannt wurde, beherrschte seine Umgebung. Es war bewusster Ausdruck von Selbstbewusstsein und Entschlossenheit. Highclere Castle erweckt nicht den Anschein eines über die Zeit gewachsenen Hauses, das immer wieder erweitert und mit spielerischen Elementen versehen wurde. Es ist vielmehr die Stein gewordene Vision eines einzelnen Architekten. In der frühviktorianischen Architektur, die sich in Abkehr von der klassizistischen Bauweise des 18. Jahrhunderts mittelalterlicher Elemente bediente, waren gotische Türme das bevorzugte Stilelement. Das Bauwerk war darauf angelegt, Besucher durch den Status und den guten Geschmack der Bauherren zu beeindrucken. Es besitzt eine dezidiert maskuline Note, eine Ästhetik, die soliden Stil und Imposanz über Anmut und Zierrat stellt.

Almina und ihre Mutter waren häufig auf Sir Alfred de Rothschilds Landsitz Halton House zu Gast gewesen. Das 1888 vollendete Bauwerk war ganz anderen Stils: eine barocke Fantasie von solch üppiger Pracht, dass sie das ein wenig abschätzig als »le style Rothschild« geläufige Konzept perfekt verkörperte. Beim Anblick von Highclere Castle muss Almina bewusst geworden sein, dass das Gebäude, obwohl es nur 50 Jahre älter war als Halton House, mit seiner Lage, seinen Ländereien und seinem wundervollen Turm aus honigfarbenem Bath Stone für einen Traditionsbegriff stand, der sich von allem, was sie bisher kannte, unterschied.

Im Oktober 1866 war ein besonders berühmter Besucher auf der Fahrt durch den Park zum Schloss so entzückt, dass er immer wieder ausrief: »Wie malerisch, wie malerisch!«

Benjamin Disraeli, zur Zeit seines Besuchs Schatzkanzler und später zweimal britischer Premierminister, war mit einem eigens für ihn auf den Plan gesetzten Zug von Paddington nach Highclere gereist. Dort wurde er von einer Kutsche abgeholt und durch die London Lodge, den von klassizistischen Säulen getragenen und dem Wappen der Carnarvons gekrönten Torbogen, kutschiert.

Gegen die Herbstkälte gemütlich in Decken gehüllt, sah sich Disraeli auf der Fahrt durch Rhododendrenhaine und an heute stattlichen 150 Jahre alten Libanonzedern vorbei voller Bewunderung um. Jeder Ausblick war bezaubernd. Auf der Wegstrecke um den Dianatempel waren über den Baumkronen die Spitzen der Türmchen des immer noch eine Meile entfernten Schlosses zu sehen. Bevor sie auf die Auffahrt abbogen, betrachtete Disraeli das durch eine geschwungene Böschung begrenzte Gelände des Wildparks. Das letzte Stück des Weges zum Haus hatte Capability Brown mit besonderer Sorgfalt geplant. Da Highclere Castle das erste Mal aus einem schrägen Winkel heraus zu sehen ist, wirkt es noch größer und beeindruckender, als es tatsächlich ist. In der malerischen Parklandschaft, die Kontemplation und Kreativität geradezu heraufbeschwört, unternahmen Disraeli und sein Gastgeber, der 4. Earl of Carnarvon, am folgenden Tag einen wunderschönen Spaziergang bei strahlendem Sonnenschein. Sie unterhielten sich dabei über Staatsangelegenheiten.

Der 4. Earl, der Vater von Alminas Ehemann, hatte 40 Jahre lang politische Ämter bekleidet. Zur Zeit von Disraelis Besuch war er Kolonialminister – eine Position, die seiner Liebe zum Reisen entgegenkam und die ihn nach Australien, Südafrika, Kanada, Ägypten und Neuguinea führte. Meist war er mit seiner eigenen Jacht auf Fernreisen unterwegs, doch seine Amtsgeschäfte beinhalteten auch zahlreiche kürzere Aufenthalte in ganz Europa. Den Earl zeichnete eine große Wissbegierde aus. Er zählte zu den führenden Altphilologen seiner Generation und übersetzte neben Homer und Aischylos auch Werke Dantes. Insgesamt leistete er drei konservativen Kabinetten seine Dienste – unter Premier Lord Derby als Unterstaatssekretär für die Kolonien, unter Disraeli als Kolonialminister und unter Lord Salisbury als Lord Lieutenant of Ireland, als Repräsentant des Königs und Vorsteher der Exekutive in Irland. Man schätzte ihn wegen seiner harten Arbeit, seiner Gründlichkeit und seiner Prinzipientreue, die ihn zweimal dazu veranlasste, sein Amt niederzulegen: einmal aufgrund von Disraelis Handhabung der orientalischen Frage und einmal bei dem heiklen Thema der Homerule, der autonomen Selbstverwaltung Irlands.

Der von dem 4. Earl und seiner Gemahlin eingeführte Brauch, an den Wochenenden Geselligkeiten abzuhalten, fand bald Nachahmer in vielen anderen großen Häusern. Diese Veranstaltungen dienten nicht allein der Gesellschaftspflege, sondern boten auch die Gelegenheit, wichtige Kontakte zu knüpfen. Dank der bedeutenden Rolle, die der Earl im öffentlichen Leben spielte, wurde Highclere Castle bald zu einem Dreh- und Angelpunkt der Macht.

Der Earl war in der glücklichen Lage, in seiner Gattin die perfekte Begleiterin eines Politikers gefunden zu haben. Lady Evelyn war die Tochter des Earls of Chesterfield. Die Trauung fand im September 1861 in der Westminster Abbey statt – eine Ehre, die zum ersten Mal seit Jahrhunderten einem Paar zuteilwurde, das nicht der königlichen Familie angehörte. Ihre Aufrichtigkeit, Güte, Intuition und schnelle Auffassungsgabe machten Lady Evelyn zu einer großen Stütze des Earls. Die Eheleute luden zahlreiche Politiker, Regierungsbeamte, Intellektuelle und Reisende nach Highclere Castle ein. So versammelten sich Kompetenz und Fachwissen, Probleme wurden bei Spaziergängen im Park oder bei Brandy und Zigarre im Raucherzimmer oft leichter gelöst als in der angespannten Atmosphäre von Westminster.

Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor: Winifred wurde 1864 geboren, ­George Edward, der Sohn und Erbe, der später Almina heiraten würde, kam 1866 vier Monate vor Disraelis Besuch zur Welt. 1870 war das Jahr der Geburt von Margaret, und am 30. Dezember 1874 wurde das Baby geboren, das auf den Namen Victoria getauft werden würde.

Von der Geburt ihres letzten Kindes erholte sich Lady Carnarvon nicht mehr. Sie überlebte noch einige Tage, in denen sich Königin Victoria laufend nach dem Befinden von Mutter und Kind erkundigte. Die Königin lebte zu jener Zeit nach dem Tod ihres geliebten Gatten Prince Albert seit 14 Jahren fast völlig zurückgezogen, pflegte sich über das Leben ihrer Freunde zu informieren. Als sie die Nachricht erhielt, dass eine Genesung von Lady Carnarvon wohl ausgeschlossen sei, brachte sie den Wunsch zum Ausdruck, Patin des neugeborenen Kindes zu werden.

Nach einer kurzen Phase der Besserung verstarb Evelyn am 25. Januar 1875. Wie ihr Ehemann war auch ihre Mutter, die nicht von ihrem Krankenbett gewichen war, am Boden zerstört. Die Tagebuchaufzeichnungen ihrer Schwägerin, Lady Portsmouth, halten die stoische Tapferkeit fest, mit der Evelyn sich ihrem Schicksal beugte. »Ich bin unendlich betrübt«, schrieb Lady Portsmouth. Lady Carnarvon wurde in der Bibliothek von Highclere Castle aufgebahrt und anschließend in der Familienkapelle in einer wunderschönen Ecke des Parks beigesetzt.

Für die ganze Familie war es ein schrecklicher Verlust. Entbindungen waren in jener Zeit mit großen Risiken verbunden, selbst wenn es die Position der Frauen gestattete, sich der besten medizinischen Versorgung zu versichern. Winifred war zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre, George (der nach seinem Ehrentitel, Lord Porchester, Porchy gerufen wurde) acht Jahre, Margaret vier Jahre und Victoria gerade einmal drei Wochen alt. Obwohl in aristokratischen Familien die Fürsorge für die Sprösslinge überwiegend den Kindermädchen oblag, war Lady Carnarvon von ihren Kindern sehr geliebt worden, und diese waren angesichts des Verlustes untröstlich. Nach Evelyns Tod wurden die Kinder abwechselnd von zwei liebevollen, jedoch schon ein wenig betagten Tanten aufgezogen – ein etwas chaotisches Arrangement, das vor allem die beiden älteren Geschwister eng zusammenschweißte. Wie sein eigener Sohn später vermuten sollte, mag der Verlust der Mutter in solch jungen Jahren einen Gutteil zu dem verschlossenen Wesen des 5. Earls of Carnarvon beigetragen haben.

Die Wochenendveranstaltungen auf Highclere Castle wurden ausgesetzt, als die Familie in die offizielle Phase der Trauer eintrat. Im England des 19. Jahrhunderts galt vor allem seit Königin Victorias Entscheidung, sich nach dem Tod ihres Gemahls Prince Albert im Dezember 1861 aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen, strenge Regeln für das Verhalten nach einem Trauerfall. Ein spezieller Kleidungsstil war gefordert, und von den Hinterbliebenen wurde erwartet, dem gesellschaftlichen Leben fernzubleiben. Ein Witwer trug in der Regel ein Jahr lang einen schwarzen Gehrock, die Kinder waren mindestens sechs Monate lang in Schwarz gekleidet, um dem Tod eines Elternteils Ausdruck zu verleihen. Sogar die Dienerschaft legte schwarze Armbinden an. Nach dem Tod eines engen Angehörigen war es keiner Dame und keinem Herrn von Stand gestattet, Bälle zu besuchen, geschweige denn, sie selbst zu veranstalten.

Nach angemessener Zeit gelangte der 4. Earl zu dem Entschluss, dass das Leben weitergehen müsse. 1878 betrat er bei einem Verwandtschaftsbesuch in Greystoke Castle im Lake District ein Haus voller Lachen und angeregter Konversation. Für den Earl muss diese Reise wie eine Rückkehr ins Leben gewesen sein, die schließlich zu einem Heiratsantrag an seine Cousine Elizabeth (Elsie) Howard führte. Elsie war mit 22 Jahren 25 Jahre jünger als er. Aus der sehr glücklichen, 12 Jahre andauernden Ehe gingen zwei Söhne, Aubrey und Mervyn, hervor. Lady Phillimore, eine Freundin des Earls, schrieb an ihren Mann: »Sie sind sehr glücklich, die beiden, und verströmen nur eitel Sonnenschein.«

Zweifellos wurde auch für die Kinder aus erster Ehe dank der Stiefmutter, zu der sie bis zuletzt eine innige Beziehung hegten, das Leben unbeschwerter. Da Elsie warmherzigen, mütterlichen Wesens war, bedeutete ihre Anwesenheit auf Highclere Castle für Porchy, der ein kränkliches Kind gewesen war, sich wieder eines gefestigten Zuhauses gewiss zu sein. Außerdem konnte die Rolle des Anwesens als gesellschaftliches und politisches Zentrum wiederbelebt werden.

Mochte Elsie auch nachsichtig sein, ließ Porchys Vater keinen Zweifel daran, dass Disziplin und Fleiß für einen Mann, der einmal beträchtliche Pflichten übernehmen würde, erstrebenswerte Eigenschaften waren. Der 4. Earl liebte Schabernack, doch er stellte sein Handeln mit großer Ernsthaftigkeit in den Dienst der Öffentlichkeit – sowohl auf Highclere als auch in den Ämtern, die er bekleidete. Er erwartete von seinem Sohn, dass dieser sich dem Studium zuwandte. »Eine gute Bildung ist das beste Erbe, das wir unseren Kindern mitgeben können«, erklärte er.

Porchy entdeckte zwar seine Liebe zu Büchern und zum Lesen – sein »größter Trost« –, den akademischen Fleiß seines Vaters hatte er jedoch nicht geerbt. Er verließ Eton, ohne einen Abschluss zu machen. Für kurze Zeit zog er eine militärische Laufbahn in Betracht, da er jedoch bei der Musterung durchfiel, begann er, um die Welt zu reisen. Glücklicherweise war sein Vater großzügig und wohlwollend und konnte aufgrund seiner eigenen Leidenschaft für das Reisen die Rastlosigkeit seines Sprösslings gut nachvollziehen. Obwohl sich der 4. Earl gelegentlich über Porchys Hang zum Leichtsinn ärgerte, schätzte er doch die natürliche Intelligenz und Neugier seines Erben. Für Porchys Ausbildung wurde gesorgt, indem ein Hauslehrer mit ihm reiste. Deshalb sprach der junge Mann einigermaßen fließend Deutsch und Französisch und war auch in den alten Sprachen bewandert. Außerdem wurde er in Mathematik, Musik und Geschichte unterrichtet.

Zwei Jahre später besuchte Porchy das Trinity College in Cambridge, wo er sich als Erstes erbot, in seinem Zimmer die Farbe von den Wänden zu schaben, um die ursprüngliche Holzvertäfelung freizulegen. Er liebte die Antiquitätengeschäfte der Stadt und war häufiger auf der Rennbahn von Newmarket zu finden als in der Bibliothek. Porchy hielt sein Studium zwei Jahre lang durch, dann erwarb er die 33 Meter lange Jacht Aphrodite und segelte damit von Vigo zu den Kapverdischen Inseln und von den Karibischen Inseln nach Rio de Janeiro. Er hörte in Buenos Aires italienische Opern und ließ sich davon überzeugen, nicht über die Magellanstraße zurückzukehren, da diese Route in jener Jahreszeit zu gefährlich war. Seine nächste Reise führte ihn nach Südafrika. Dort ging er auf Elefantenjagd und bekam einen gehörigen Schrecken, als ein Dickhäuter den Spieß umdrehte und er sich auf einen Baum flüchten musste.

Er las sehr viel über die Länder, die er bereiste, lernte, seinen Mann zu stehen, entwickelte Geduld, Selbstvertrauen und Gelassenheit. Der Alltag auf See verlangte von ihm Mannschaftsgeist – sei es, wenn er das Ruder übernahm, weil der Kapitän betrunken war, oder wenn er bei einem chirurgischen Eingriff assistieren musste. Den Sommer verbrachte er für gewöhnlich in der Stadt und besuchte die Oper. Anschließend ging er in Bretby in Nottinghamshire, einem weiteren Anwesen der Carnarvons, oder in Highclere auf die Jagd. Dort blieb er bis in den Herbst hinein, bis er wieder zu seinen Reisen aufbrach. Porchy sammelte Bücher, Gemälde und Bekanntschaften etwa in gleichem Maße. Obwohl immer dringlicher von ihm erwartet wurde, sich in die Belange der Familie einzubringen, ließ man ihm doch freie Hand.

Dieses vergnügliche Leben wurde zunächst durch den Tod des 4. Earls im Juni 1890 unterbrochen. Porchy gelang es, von seiner Reise nach Australien und Japan rechtzeitig an das Krankenbett seines Vaters in dessen Haus am Portman Square in London zu eilen. Seit 1889 hatte sich der Gesundheitszustand des Earls zusehends verschlechtert, und Freunde aus all seinen Lebensbereichen bewunderten seine Geduld. Dem Earl wurde eine außerordentliche Fähigkeit, Freundschaften aufrechtzuerhalten, nachgesagt. Arthur Hardinge, ein alter Freund und Veteran aus dem Krimkrieg, schrieb: »Er war einer der größten Gentlemen, denen ich je begegnet bin. Er schenkte anderen nicht leicht sein Vertrauen, doch wenn er es tat, dann in vollem Maße.«

Sein Sarg wurde von London nach Highclere gebracht und wie zuvor jener seiner Frau in der Bibliothek aufgebahrt. Lady Portsmouth erinnerte sich später: »Die Queen [Victoria] und der Prince [of Wales] kamen in einem eigenen Zug zur Grabkapelle. Canon Lydonn hielt einen wundervollen Trauergottesdienst ab. … Manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich es nur geträumt, doch seine letzten Worte waren: ›sehr glücklich‹.«

Bei seinem Tod hinterließ der Earl sechs Kinder. Sein Erbe, George, der Lord of Porchester, war nun der 5. Earl of Carnarvon.

Diese Nachfolge beinhaltete für Porchy zunächst einmal keine Veränderung seines Lebensstils. Nach dem Begräbnis seines Vater und der Testamentseröffnung ging der neue Lord Carnarvon wieder auf Reisen und überließ Aubrey, Mervyn und seine beiden jüngeren Schwestern Margaret und Victoria (die auf den Rufnamen Vera hörte) weiterhin der Obhut von Elsie. Die Familie lebte abwechselnd in Highclere Castle, in Bretby in Nottinghamshire, in London, auf Elsies Anwesen, Teversal, und in einer Villa im italienischen Portofino, die der 4. Earl seiner Witwe vermacht hatte. Winifred, Lord Carnarvons ältere Schwester, hatte gerade den künftigen Lord Burghclere geheiratet. Lady Portsmouth schrieb in ihrem Tagebuch: »Die liebe Winifred hat sich – leider – mit Mr ­Herbert Gardner, einem unehelichen Sohn des verstorbenen Lord Gardner, verlobt, doch wenn dieser aufrichtige Zuneigung zu ihr empfindet, klare Prinzipien verfolgt und ein freundliches Wesen hat, was will man mehr – sie ist ein von Herzen liebes Kind, und ich wünsche ihr, dass sie glücklich wird.«

Lord Carnarvons Vater war ein ebenso umsichtiger wie erfolgreicher Mann gewesen und hatte die Familie finanziell abgesichert. Die Anwesen wurden von vertrauenswürdigem Personal gut geführt, es gab also nichts, was den neuen Earl entgegen seiner Neigungen zu Hause festhalten konnte.

Lord Carnarvon hatte seinen Vater zweifellos geliebt – sein Leben lang sprach er mit Wärme und Respekt von ihm –, doch nachdem alles geregelt und alle Details geklärt worden waren, war er bereit, sein Erbe anzutreten und seinen bereits luxuriösen Lebensstil noch verschwenderischer zu gestalten – noch mehr Reisen, noch mehr Antiquitäten, noch mehr von allem. Seinem Aufenthalt in Ägypten im Jahr 1898 sollte dabei besondere Bedeutung zukommen, zog er doch eine lebenslange Obsession nach sich, die sich als äußerst kostspielig erweisen würde.

Drei Jahre später war der Earl zwar nicht bankrott, aber hoch verschuldet. Jachten, antiquarische Bücher und Kunstschätze sind nicht gerade preiswert, und die Kosten für den Unterhalt von Highclere Castle, dem Haus in London am Berkeley Square sowie den weiteren Anwesen waren beträchtlich. Lord Carnarvons Schulden beliefen sich auf 150 000 Pfund – eine gewaltige Summe, die für einen jungen Mann seines Standes zu jener Zeit jedoch keineswegs ungewöhnlich war. Da sich der Prince of Wales als Mittellosester unter den Adligen mit größter Extravaganz hervortat, war es für die obere Gesellschaftsschicht üblich, weit über die eigenen Verhältnisse zu leben. Lord Carnarvon war zwar unbekümmert, aber nicht verantwortungslos. Durch das Vorbild seines Vaters war er sich seiner Verpflichtung bewusst, den patriarchalischen und im Grunde feudalen Lebensstil, wie er in Highclere Castle immer noch gepflegt wurde, aufrechtzuerhalten. Ganze Familien waren von ihm abhängig, und er wollte keinesfalls sein geliebtes Zuhause verlieren. Es war an der Zeit, sich nach einer Möglichkeit der Absicherung seiner finanziellen Zukunft umzusehen.