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und der verschwundene Filmstar

erzählt von Megan Stine und
H. William Stine

nach einer Idee von Robert Arthur

Kosmos

Umschlagillustration von Aiga Rasch (9. Juli 1941 – 24. Dezember 2009)

Umschlaggestaltung von eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage
der Gestaltung von Aiga Rasch

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele
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Aktivitäten findest du unter kosmos.de

© 2013, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan

Based on characters by Robert Arthur.

ISBN 978-3-440-14205-9

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Chaos in der Strandvilla

Peter Shaw fuhr mit seinem Wagen rechts heran. Der kleine orangefarbene Vega, Baujahr 1977, holperte über den unebenen Randstreifen und kam dann auf der Höhe des gegenüberliegenden Friedhofes zum Stehen. Peter zog die Handbremse an und beugte sich zum Rückspiegel vor. Ja, das rötlich braune Haar lag ordentlich am Kopf. Geschmeidig wand er sich zwischen Fahrersitz und Lenkrad hervor. Das war bei seiner Größe jedes Mal ein Kunststück.

Draußen öffnete er rasch den Kofferraum und holte einen Arm heraus. Es war ein schwerer, langer, behaarter Arm mit starken Muskeln. Allerdings endete er nicht in einer Hand, sondern in einer haarigen Pranke. Als Peter losmarschierte, wippte die Pranke im Rhythmus seiner Schritte auf und nieder.

Gerade wollte er die Straße überqueren, da blieb er jäh stehen und sah auf seine Uhr. Kurz nach neun. Verflixt … Schon vor einer Stunde hatte er sich mit Justus treffen wollen.

Vielleicht konnte er jetzt doch noch kurz anrufen. Gab es hier irgendwo ein Telefon? Ja – vor einer geschlossenen Tankstelle weiter vorn stand eine Zelle.

Peter trabte mit seiner ungewöhnlichen Traglast hinüber. Er steckte einen Vierteldollar in den Schlitz und wählte. Beim zweiten Klingelzeichen meldete sich eine wohlbekannte Stimme.

»Die drei Detektive, Justus Jonas.«

»Justus, ich bin’s, Peter. Den ganzen Morgen versuche ich schon, bei dir anzurufen.«

»Ich weiß«, sagte Justus.

Ich weiß. Für diese beiden Worte hatte der Erste Detektiv eine ausgeprägte Vorliebe.

»Gar nichts weißt du«, beschwerte sich Peter. »Du hast versäumt, den Anrufbeantworter einzuschalten, und da hab ich’s x-mal vergeblich probiert.«

»Das war kein Versäumnis. Der Anrufbeantworter ist tot, weil mir in der Werkstatt alle Sicherungen rausgeflogen sind«, antwortete Justus. »Und im Übrigen sehe ich klar, weil ich mir genau ausrechnen kann, wie es lief. Du warst nicht pünktlich da, folglich ist dir etwas Wichtiges dazwischengekommen.«

Peter konnte sich Justus ganz genau vorstellen, wie er jetzt an dem alten Stahlschreibtisch in dem zum Detektivbüro der drei ??? umgerüsteten Campinganhänger saß. Der Wagen stand in einer abgelegenen Ecke des Geländes, auf dem Justus’ Onkel in Rocky Beach unweit von Los Angeles seinen Schrott- und Trödelhandel betrieb. Vermutlich arbeitete Justus am Computer, oder er schmökerte in einem Ratgeber zur Gewichtsreduzierung.

»Okay, du hast wie immer recht. Da kam wirklich was dazwischen. Aber das ist nicht nur wichtig – es ist grandios. Rate mal, wo ich jetzt bin!« Justus’ Antwort wartete Peter lieber gar nicht erst ab – womöglich würde der Erste Detektiv sogar richtig tippen. »Ich bin vor dem Friedhof von Dalton, unten bei Huntington Beach, und bei mir hab ich den Trick-Arm, den mein Dad für einen Film angefertigt hat. Wieder so ein Horrorstück, ein Kassenschlager in Fortsetzungen. Jetzt drehen sie also Atemberaubend II.«

»Hmmm«, machte Justus.

»Und diesen Arm bringe ich jetzt gleich zu Jon Travis, dem Regisseur. Aber das ist noch nicht alles. Mein Dad meint, Travis könnte mir vielleicht einen Job bei seiner Crew verschaffen. Das wäre die Sache!«

»Sicher. Aber da musst du dich in Acht nehmen«, sagte Justus.

»Was soll das heißen?«

»Dass es bei den Dreharbeiten zum ersten Film eine Menge höchst merkwürdiger Vorfälle gegeben hat.«

»Zum Beispiel?«, hakte Peter nach.

Doch ehe Justus antworten konnte, fiel Peters Geldstück scheppernd im Apparat durch.

»Erzähl ich dir später«, sagte Justus noch. »Ich weiß, dein Kleingeld ist alle.« Er legte auf.

Tja, der Bursche hat den vollen Durchblick, das muss man ihm lassen, sagte sich Peter auf dem Rückweg zum Friedhof. Sonst wäre er ja auch nicht der Anführer der drei ???. Wie konnte er nur wissen, dass das mein letzter Vierteldollar war? Und was sollte diese Andeutung zu merkwürdigen Vorfällen bei dem vorausgegangenen Film mit dem »atemberaubenden« Titel?

Peter überquerte die Straße. Zum Friedhof ging es zunächst einen grasbewachsenen Hang hinunter. Als kleiner Junge hatte er sich vor Friedhöfen gegrault. Doch das war vorbei und der Friedhof hier war keineswegs zum Fürchten. Dort ging es nämlich quicklebendig zu.

Der Abhang endete in einem ebenen Plateau, aus dem Grabsteine aufragten. Danach fiel das Gelände von Neuem ab, und weitere Terrassen und Hänge folgten bis hinunter zum Talgrund. Das Aufnahmeteam hatte sich ganz unten eingerichtet. Auf den höher gelegenen Flächen hatten sich kleine Gruppen Neugieriger eingefunden, um sich das Treiben von oben anzusehen.

Als Peter an den Zuschauern vorüberging, sah er zwei Schülerinnen, etwa in seinem Alter. Die eine beäugte die Filmleute durch ein Fernglas. »Was machen sie jetzt?«, wollte die andere wissen.

»Sie schaufeln eifrig ein Grab und unterhalten sich dabei«, antwortete das Mädchen mit dem Fernglas.

»Siehst du ihn schon? Ist Diller Rourke jetzt auch da?«, fragte das andere Mädchen. »Wenn ich ihn nicht bald zu sehen kriege, ist der Frust bei mir perfekt. Er hat so irre magnetische Augen.«

»Nun beruhig dich mal, Cassie. Du machst dich ja lächerlich.«

Peter musste grinsen. Haben die noch nie bei Dreharbeiten zugeschaut?, fragte er sich. Sicher nicht. Und schon gar nicht bei einem Film mit dem neuesten Superstar aus Hollywood, Diller Rourke. Es war schon ein Glück, wenn man einen Vater hatte, der beim Film arbeitete und einen da mal reinschnuppern ließ.

Peter ging die nächsten beiden Hänge hinunter und arbeitete sich an Scheinwerfern, Filmleuten und offenen Gräbern vorbei zum Aufnahmebereich vor. Atemberaubend II würde ein echter Horrorfilm werden, das stand bereits fest. Er handelte von einem Mann, der scheintot beerdigt wird, sich jedoch aus dem Grab befreien kann und zu den Lebenden zurückkehrt – allerdings in einen Zombie, ein mordlüsternes Monster, verwandelt. Man durfte also auf einen tollen Gruselkrimi gespannt sein.

Ganz unten in der Tiefe fand er Jon Travis, den Regisseur von Atemberaubend II. Er saß auf einem Klappstuhl, hatte die Füße auf einen großen Grabstein gelegt und sprach in ein schnurloses Telefon. Pullover und Hose waren schwarz, passend zu den langen, dunklen Haarsträhnen. Er war ein gutes Stück kleiner als Peter.

»So, nun sagen Sie mir mal: Wo steckt Diller Rourke?«, brüllte Jon Travis ins Telefon. »Wo bleibt unser Wunderknabe, der Superstar? Sie hatten mir garantiert, dass er pünktlich zu jedem Aufnahmetermin erscheint und seinen Text perfekt beherrscht!« Er hörte sich die Erwiderung seines Gesprächspartners an und verzog verächtlich den Mund. »Sie sind doch sein Agent! Da darf ich wohl erwarten, dass Sie es wissen. Wir wollen drehen, und seit zwei Stunden hält er den Betrieb hier auf! Ich könnte ihm den Kragen umdrehen! Schaffen Sie ihn mir her!« Bei seinen letzten Worten warf Travis das Funktelefon einer jungen Frau mit langem, rotem Pferdeschwanz zu, die in der Nähe stand.

Travis ist genauso, wie Dad ihn mir geschildert hat, dachte Peter. Jähzornig, selbstherrlich und tyrannisch. Vielleicht hat ihn das zu einem so guten Regisseur für Horrorfilme gemacht. Seine Filme sind ja wirklich hervorragend und kommen beim Kinopublikum erstklassig an.

»Margo, versuch du’s weiter in Dillers Strandvilla!«, rief Jon dem Mädchen mit dem roten Pferdeschwanz zu. Dann sah er Peter. »Was ist denn das? Ein Rückenkratzer?«

Peter gab Jon den behaarten Arm. »Ich bin Peter Shaw. Das ist der Arm, den mein Dad für die Szene mit dem Sarg ausgetüftelt hat.«

Der Regisseur sah sich den Arm an und musste anerkennend lächeln. »Der ist ja fabelhaft. Absolut perfekt. Dein Vater ist der beste Trickexperte, den ich kenne. Er weiß immer ganz genau, was mir vorschwebt.« Er reichte den Arm an einen Mitarbeiter weiter. »Na, und warum bist du nicht in der Schule?«, fragte er Peter.

»Die fällt heute aus. Lehrerkonferenz«, erklärte Peter.

»Ah, da habt ihr’s ja gut. Hör mal, dein Dad erzählt immer, dass du ein ganz geschickter Autobastler bist. Stimmt das?«

Peter nickte.

»Okay. Mir ist da kürzlich nachts eine neue Idee für eine Autoszene gekommen, aber dazu brauche ich jemanden, der das fix hinkriegt. Bist du technisch gut ausgerüstet?«

Wieder nickte Peter. »Ich habe einen Freund, Ty Cassey«, sagte er. »Wir zwei machen fast alles möglich. Soll das Auto fliegen?«

»Nee, danke«, sagte Jon. »Es soll Blut vergießen – macht ihr so was auch möglich?«

Peter nickte zum dritten Mal.

»Aus der Scheibenwaschanlage soll Blut hervordringen«, fuhr Jon fort. »Wenn das bei euch aber nur müde rausblubbert wie Ketchup, dann seid ihr nicht besser als andere Nieten. Der Saft muss kraftvoll und pulsierend herausspritzen – wie aus einer durchtrennten Schlagader. Richtig echt muss das aussehen, und wenn ihr so was nicht schafft, dann sag’s mir lieber gleich und stiehl mir nicht meine Zeit.«

»Welcher Wagentyp soll es sein?«, fragte Peter ganz gelassen.

»Ein Jaguar XJ6, was sonst«, sagte Jon. »Fünfundvierzigtausend Dollar für ein Auto hast du wohl noch nicht hingeblättert.«

Peter versuchte Fassung zu bewahren. Besser nicht zugeben, dass er seinen letzten Gebrauchtwagen für 750 Dollar erstanden hatte …

»Ist gebongt«, sagte er.

»Okay, dann geht das klar«, meinte Jon. »Wir haben die Sache schon mit Exclusive Cars in Hollywood perfekt gemacht, du musst dir nur die Schlüssel holen. Den Wagen nimmst du gleich mit in eure Werkstatt. Und am Montag bringst du ihn mir zum Studio.« Ungeduldig drehte er sich wieder zu Margo mit dem Funktelefon um.

»Diller Rourkes Anschluss ist dauernd belegt, Mr Travis«, meldete sie.

Jon riss das Telefon an sich und warf es auf den Boden. Dann wandte er sich an einen anderen Mitarbeiter. »Nimm meinen Wagen, Kevin. Fahr mit Margo los und hol mir Diller aus Malibu Court hierher. Wenn’s sein muss, mit Gewalt. Einer, der den Hörer neben den Apparat legt und mich hier zappeln lässt, ist kein Star, sondern ein Lümmel.«

»Wird erledigt, Jon«, sagte Kevin. Er rückte seine Goldrandbrille zurecht. »Nach Malibu Court … geht das von der Küstenautobahn nach Süden ab oder nach Norden?«

Jon Travis starrte Kevin wortlos an. Er sah aus, als wolle er dem jungen Mann gleich an die Kehle springen.

»Ich kenne mich da aus«, meldete sich Peter. »Ich wohne in Rocky Beach, gleich hinter Malibu.« Mann, dachte er, so eine Chance, einem Star wie Diller Rourke zu begegnen! Notfalls kaufe ich mir eben rasch eine dieser dämlichen Übersichtskarten, mit denen die Touristen sich an die Villengrundstücke der Filmgrößen heranpirschen.

»Schön«, sagte Travis. »Vielleicht kannst du als Mechaniker meinen Star auf Touren bringen.« Rasch kritzelte er die Adresse auf einen Zettel. »Zeig den beiden den Weg zu Dillers Haus am Meer, und dann bringt ihn her. Wenn ihr euch verfranzt, dann seht zu, wie ihr zurechtkommt. Verschont mich bloß mit Rückfragen.« Mit einer unwirschen Handbewegung entließ er Peter und seine beiden Mitarbeiter.

Der Duft des weichen, kostbaren Leders stieg Peter in die Nase, als sie in Travis’ rotem Mercedes 560 SEL Platz genommen hatten. Margo und Kevin auf den Vordersitzen plauderten übers Geschäft, aber Peter schaltete ab. Dafür ließ er sich tief und behaglich in das üppige Lederpolster der hinteren Sitzbank zurücksinken. Der bildschöne, starke Wagen war mit allem nur denkbaren Zubehör ausgestattet: Telefon, Fernseher, Videorekorder, 200-Watt-Lautsprecheranlage mit Dolby-Klang, Minibar – kompletter Luxus. Schade, dass sie nur etwa eine Stunde bis Malibu fahren würden und nicht nach Indiana.

Als sie das kleine Ferienparadies an der Pazifikküste erreichten, nahm Kevin das Gas weg.

»Hier zu wohnen wär mein Traum«, sagte Margo, als sie an den Strandvillen der Reichen und Prominenten vorüberfuhren.

»Wo geht’s jetzt lang?«, fragte Kevin.

»Links abbiegen«, sagte Peter.

Nach etwa zwei Kilometern fuhren sie vor Diller Rourkes Haus vor. Es war ein ebenerdiger Bau aus Zedernholz und Glas. Auf dem Platz neben der Einfahrt waren zwischen Sträuchern und Stauden zahlreiche Verkehrszeichen von Autobahnen und Landstraßen und allerlei Schilder mit Straßennamen aufgestellt. Eigenartiges Sammler-Hobby, fand Peter. Ob das alles rechtmäßig erworben war?

Margo und Kevin gingen zur Haustür und klingelten. Peter hielt sich ein wenig zurück. Hier am Ziel verschaffte es ihm nun Unbehagen, dass er einem berühmten Star begegnen sollte. Was sollte er eigentlich zu ihm sagen? Hi – Sie sind ja ganz große Klasse? Wie kommen Sie plötzlich zum Gruselthriller, wo Sie doch bisher der Typ für Abenteuerfilme waren – bringt Horror mehr Geld? Unmöglich. Na ja, vielleicht konnten sie sich auf der Rückfahrt zum Friedhof über Autos oder dergleichen unterhalten.

Kevin klingelte mehrmals, doch ohne Erfolg. Dann klopfte Margo energisch an die Tür. Auch das führte zu nichts. Die beiden sahen sich verdutzt an.

Schließlich drehte Kevin den Türknauf und zu seiner Überraschung ließ sich die Tür öffnen. Er zögerte noch kurz und stieß sie dann weit auf. »Hallo, Diller!«, rief er und beugte sich in die Diele vor. Noch immer rührte sich nichts.

Als Kevin und Margo ins Haus traten, kam auch Peter näher heran. Was war hier los? Aus dem Hausinnern hörte er noch einmal »Hey, Diller!«, und dann war es still – viel zu still. Peter war plötzlich hellwach. Hier stimmte etwas nicht. Rasch ging auch er in Diller Rourkes Haus – und blieb jäh stehen.

Fassungslos blickte sich Peter im Wohnzimmer um. Es war, als hätte in diesem Haus ein Wahnsinniger gewütet. Alle Möbel waren umgestoßen, auch die hohen Stehlampen und die Topfpflanzen. Eine verrückte Skulptur – ein riesiges Bein, aus dem vier Füße wuchsen – lag auf der Seite. Fast alles Zerbrechliche war zertrümmert und die Bruchstücke lagen überall im ganzen Raum verstreut. Es sah aus wie auf einem Schlachtfeld. Oder wie eine Szene aus einem Horrorfilm. Aber das hier war Wirklichkeit.

Margo und Kevin standen wie gebannt mitten im Raum. Peter sah ihnen sofort an, dass sie keine Ahnung hatten, was jetzt zu tun war. Sie hatten einen Schock bekommen und sie hatten Angst.

»Was ist hier passiert?«, brachte Margo schließlich heraus.

»Wir sollten mal in den übrigen Räumen nachsehen«, meinte Peter.

»Wieso das?«, fragte Kevin.

»Was sollen wir da finden?« fragte Margo, noch immer wie betäubt.

Peter sah sich noch einmal in dem völlig verwüsteten Raum um. Mit düsterer Miene sagte er: »Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen.«

Hollywoods Gerüchteküche

»Das hört sich ja furchtbar an. Oder machst du etwa Witze?«, fragte Margo besorgt.

Peter gab keine Antwort. Er wusste nur, dass hier etwas nicht stimmte. Sein Herz pochte heftig und er konnte kaum atmen. Die Luft im Raum war verbraucht. Ihm wurde ein wenig schwindlig.

»Also los, sehen wir uns weiter um«, sagte Peter endlich. Er schüttelte den Kopf, um wieder klar zu werden.

Unter seinen Schuhen knirschte es. Er konnte im Wohnzimmer kaum einen Schritt machen, ohne auf Glassplitter zu treten. Er ging durchs Haus und achtete sorgfältig darauf, dass er die umgestürzten Stühle, Lampen und sonstigen Beweise der Verwüstung nicht berührte.

Was ist hier geschehen?, dachte Peter, während er in Dillers Schlafzimmer trat. Der Telefonhörer lag neben dem Apparat. Das war die Erklärung für den ständig belegten Anschluss.

»Diller ist nicht hier. Meinst du, es wurde eingebrochen?«, fragte Margo, die Peter gefolgt war. »Vielleicht kam er auch nach Hause, während der Einbrecher noch da war.«

»Fraglich«, meinte Peter. »Ein Dieb reißt meistens alles Zeug aus Schubladen und Schränken heraus. Aber er wirft keine Möbelstücke um. Haben Sie den Eindruck, dass hier etwas gestohlen wurde?«

Margo öffnete zwei Schubladen einer hohen Kommode. »Da liegt alles ordentlich drin«, stellte sie fest.

»Wieso bist du so gut über Einbrüche informiert?«, wollte Kevin von Peter wissen.

Ich bin Detektiv, wollte Peter eigentlich sagen. Doch er ließ es lieber sein. Bin ich denn in Justus’ Augen wirklich ein Detektiv?, fragte er sich. Nein. Peters Stärke war das Einsteigen durch Fenster oder das Niederschlagen eines Angreifers. Und damit hatte es sich auch schon.

»Gehen wir lieber wieder«, meinte Margo.

»Nicht so schnell, ja?«, wandte Peter ein. Er ging zurück ins Wohnzimmer. Dieses widerliche Knirschen!

Augen auf, Peter, ermahnte er sich. Überall Glassplitter und Scherben. Das hat etwas Wichtiges zu bedeuten, und du blickst nicht durch. Was war das eigentlich für Glas?

In diesem Augenblick erinnerte sich Peter an etwas, das Justus oft in seinen lehrreichen Ratschlägen zur Spurensuche erwähnte: Wenn etwas in die Brüche ging und du nicht herausbekommst, was es einmal war, dann sieh dir an, was noch heil ist.

Es hörte sich absurd an, aber so war das meistens bei Justus – und in 98 Prozent aller Fälle behielt er am Ende recht. Also durchsuchte Peter als Erstes die Küche. Er öffnete die Schränke und sah sich die Ansammlung von Trinkgläsern an.

»Hey!« Kevin fasste Peter an der Schulter. »Falls du etwa vorhast, dir ein Souvenir mitzunehmen – ich würd’s lassen.«

»Ich will nur feststellen, woher die Glassplitter stammen«, erklärte ihm Peter.

Kevin nahm ganz friedlich seine Hand weg. »’tschuldigung, Mann. Bin stark genervt.«

Die Gläser standen vollzählig und geordnet an ihrem Platz – offenbar war kein einziges zerbrochen. Als Nächstes sah sich Peter die Fensterscheiben an. Sie waren ebenfalls alle unversehrt. Nach Vasen zu fahnden lohnte sich nicht. Auf dem Fußboden lagen keine Blumen und nirgends war Wasser verschüttet.

Es fanden sich keine Anhaltspunkte, obwohl Peter mehrmals durch die Räume des Hauses schritt. Keinerlei Verdachtsmomente. Wenn Justus hier wäre, dachte Peter, dann hätte er jetzt bestimmt schon fünf Theorien. Verflixt, aber Justus war schließlich nicht der einzige Detektiv. Und wäre Justus Jonas nicht maßlos verblüfft, wenn Peter Shaw diesen Fall selbstständig aufklärte? Und Bob Andrews desgleichen. Freilich ließ sich der dritte Mann nicht mehr so oft in ihrem Team blicken, denn sein Job bei der Rockmusik-Agentur nahm seine Freizeit fast vollständig in Anspruch.

Auf der Rückfahrt zum Friedhof war Peter ziemlich schweigsam. Er hörte vorwiegend zu, während Margo und Kevin über Dillers Verschwinden diskutierten. Diller habe das Haus schon verlassen, ehe dieses Chaos angerichtet worden war, meinten sie. Oder er sei nach einem Kampf geflüchtet. Oder er habe im Vollrausch sein Haus auf den Kopf gestellt und sei in ein Motel gegangen.

Nach einiger Zeit hörte Peter gar nicht mehr hin. Wenn er diesen Fall auf eigene Faust aufklären wollte, würde er vor allem den Hergang selbst rekonstruieren müssen. Nur hatte er dazu noch keinerlei Vermutungen.

»Hey, geht’s hier weiter geradeaus?«, fragte Kevin und fing Peters Blick im Rückspiegel ein.

»Endlich eine Frage, die ich beantworten kann«, meinte Peter lachend. »Nein. Rechts abbiegen, Richtung Autobahn, und dann nach Süden.«

Wieder auf dem Friedhof angekommen, fanden Peter, Kevin und Margo den Regisseur Travis in einer frisch ausgehobenen Grube vor. Er erklärte gerade einem Darsteller, wie er von oben Erde hineinschaufeln sollte.

Daneben stand ein älterer Mann, schlank und sonnengebräunt – wohl ein begeisterter Tennisspieler. Er trug eine weiße Hose und ein pfirsichfarbenes Polohemd, das seine Bräune und sein silberweißes Haar vorteilhaft zur Geltung brachte.

»Fehlanzeige? Wo ist Diller?«, fragte Jon Travis.

»Könnten wir Sie mal vertraulich sprechen?« Peter sah ins Grab zu dem Regisseur hinunter.

Travis kletterte herauf und ging mit Peter, Kevin und Margo einige Schritte beiseite. Der braun gebrannte Mann mit dem silberweißen Haar blieb ihnen jedoch auf den Fersen. Und schon legte er den Arm um Peters Schulter. »Ich bin Marty Morningbaum, der Produzent von Atemberaubend II, also der Mann, der die Schecks unterschreibt und Travis auf die Finger sieht, damit er keine krummen Sachen macht. Und wenn es hier etwas Wichtiges zu besprechen gibt, dann darf ich das doch wohl mit anhören.« Seine Stimme klang freundlich und vertrauenerweckend – er wirkte wie ein wohlwollender, netter Onkel.

»Diller war nicht zu Hause«, berichtete Peter.

Marty Morningbaum sah Peter betroffen an. Peter versuchte, sich zu befreien, doch Marty hielt seine Schulter mit eisernem Griff gepackt. Ein Piepsen drang in Peters Ohr. Ach so, das war das Terminsignal in Marty Morningbaums Armbanduhr. »Du willst mir wohl unbedingt noch eine Sorge aufladen, wie?«, sagte Marty. »Muss das sein? Ich hab doch schon graue Haare. Wer bist du eigentlich?«

»Er ist Shaws Junior«, warf Jon ein.

»In Dillers Haus herrscht das totale Chaos«, berichtete Margo. »Da sieht es aus wie nach einer wüsten Schlägerei.«

»Schlägerei?« Jon lachte. »Diller ist kein Schlägertyp. Der tut keiner Fliege was zuleide. Den starken Mann hängt er nur im Film raus.«

»Na, womöglich ging das in Dillers Haus ab, ohne dass er dabei war«, sagte Marty. »Der treibt sich am Ende ganz woanders rum – beim Stadtbummel oder beim Surfen. Nun bleibt mal auf dem Boden, Leute. Horrorszenen wollen wir filmen, aber nicht erleben.«

»Völlig richtig, Mr Morningbaum«, pflichtete ihm Kevin bei. »Fest steht nur, dass niemand da war, dass der Telefonhörer nicht aufgelegt war und dass Diller seit Stunden außer Haus sein muss.«

»Er war schon die letzte Nacht nicht da«, stellte Peter richtig. Alle sahen ihn verblüfft an.

»Woher weißt du das?«, fragte Margo.

»Wir waren in seinem Schlafzimmer. Haben Sie das Bett gesehen? Darin hat er jedenfalls nicht übernachtet«, erklärte Peter.

»Sieh mal an – so klug wie der Vater, scheint mir«, sagte Marty Morningbaum. »Na, das sind ja höchst sonderbare Vorkommnisse.«

Aha, dachte Peter, vielleicht bin ich als Detektiv gar nicht so übel – auch ohne Justus.

»Mr Morningbaum, vielleicht kann ich Ihnen bei der Suche nach Diller helfen«, erbot er sich kurz entschlossen. »Meine Freunde und ich sind Detektive. Wir haben schon viele rätselhafte Fälle aufgeklärt …« Er gab dem Produzenten eine Karte der drei ???.

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»So, Detektive?« Der Produzent lächelte. »Nein, nein. Das ist wirklich nicht nötig. Diller ist momentan nicht auffindbar, aber als vermisst kann er erst nach Ablauf von vierundzwanzig Stunden gelten. So würde es jedenfalls die Polizei sehen, und das zu Recht.«

»Vierundzwanzig Stunden? Marty, soll das etwa heißen, dass dieses Bürschchen mit dem Zahnpastalächeln uns einen ganzen Drehtag kosten wird?«, knurrte Jon. »Na schön, dann muss ich wohl ein paar Extraszenen einschieben. Vorhin kam mir nämlich eine fantastische neue Idee – dazu brauch ich mal eben ein paar Ratten, möglichst groß und fett, und ein Skelett oder zwei –«

»Das steht nicht im Drehbuch, Jon«, bemerkte Marty gelassen.

»Na und? Hier ist doch alles aufgebaut. Die Crew ist vollzählig angetreten, sollen die Leute etwa jetzt schon Feierabend machen?«