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Bertrand Stern

Frei sich bilden

Entschulende Perspektiven

Eine reflektorische Einladung

Die Gestaltung von guten, sinnvollen, vor allem menschenwürdigen zwischengenerationellen Beziehungen ist für viele Menschen zum Gegenstand ihrer kritischen Auseinandersetzungen geworden. So, wie sie derzeit normativ vorgegeben sind, kann es offensichtlich nicht weitergehen – so weit die klare Erkenntnis. Allein was tun? Oder was lassen?

In den letzten Monaten und Jahren glaube ich in diesen komplexen Aspekten einen grundlegenden Wandel wahrgenommen zu haben. Nein, kein Wandel auf der Ebene von Politik oder Justiz, auch kein Wandel im Sinne von Mehrheiten; doch immerhin eine bei immer mehr Menschen anzutreffende Sensibilität, aus welcher heraus sich auf zwei Ebenen etwas bewegt: bei den einen mehr auf der Ebene der Unzufriedenheit mit den kritisierten Gegebenheiten; bei den anderen mehr auf der Ebene der Sehnsüchte nach dem, was gesünder, klarer, einfacher erscheint und zugleich im Lebendigen, im Menschlichen verankert ist. Nach mehr als vier Jahrzehnten der Auseinandersetzungen mit einem zivilisatorischen Modell, das ich als im Untergang sah und sehe, ist dieser Wandel selbstverständlich sehr erfreulich.

Diese Freude darf mich jedoch nicht darüber hinwegsehen lassen, welche Gefahren da lauern, wenn Menschen aus ihrer berechtigten Kritik heraus gewisse Schlüsse ziehen, die ich als problematisch oder gar als Sackgasse bezeichnen würde. Der Klarheit wegen, möchte ich dies hier benennen und hierfür fünf Muster darstellen, die ich aus dem Bereich der Schulkritik auswähle. Vorausgesetzt wird die Unzufriedenheit vieler Mütter und Väter damit, was ihren Töchtern und Söhnen in der Zwangsschule geboten oder aufgezwungen wird. Welche Reaktionen gibt es hierauf?

Angesichts des in Deutschland herrschenden Schulanwesenheitszwanges werden einige Eltern die Schulprobleme ihrer Töchter und Söhne damit »umschiffen« wollen, dass sie eine Ersatz- oder Alternativschule suchen. Dieses sozusagen übliche Reaktionsmuster entspricht dem von mir andernorts1 als den »zivilisatorischen Dreischritt Krise-Kritik-Reform« beschriebenen Vorgang; will heißen: die latente Unzufriedenheit oder der berechtigte Protest mündet unweigerlich in den – aus meiner Sicht zweifelhaften – Versuch einer Reform. Weshalb lehne ich Reformen so kategorisch ab? Weil Reformieren das bestehende, ohnehin marode System nur oberflächlich und scheinbar repariert, es sogar bestätigt und erneut stabilisiert. Kurz: die Grundfrage bleibt ungelöst!

Andere erhoffen sich einen Wandel, indem sie aus ihrem Glauben an die Politik neue Möglichkeiten durchsetzen wollen. Ob ihr Appell erhört wird – und verwirklicht?

Andere werden die Flucht in eines der Länder, in denen kein Schulanwesenheitszwang besteht, ergreifen: Womit hierzulande (und nicht selten für die Betroffenen selbst!) nichts gelöst ist!

Noch andere werden vor den Gegebenheiten kapitulieren: Schlimmstenfalls werden ihre als krank, abnorm oder problematisch eingestuften Töchter oder Söhne einer entsprechenden medizinischen oder psychiatrischen Behandlung unterzogen. Das leider allzu oft festzustellende Ergebnis ist schrecklich: entweder die Flucht in die »innere Emigration« oder eine klare und verständliche »Null-Bock-Haltung«. (Kapitulieren? Eine tiefere Analyse der Vorgänge würde offenbaren, was eine fehlende radikale Kritik bewirkt: nachdem die systematische Stigmatisierung von Menschen normativ verankert wird, kann diese Norm immerzu von Neuem bestätigt werden.)

Das fünfte »Muster« unterscheidet sich von den vorigen vor allem dadurch, dass dort, wo eine Bereitschaft bestand, auszuweichen, zu flüchten, zu reformieren, sich anzupassen, nun der von innen diktierte Wille sich offenbart, das Unerträgliche zu überwinden: durch eine Position, die ich beschreiben würde als: Ich bin hier, bleibe hier und werde hier dafür sorgen, dass endlich eintritt, was eigentlich selbstverständlich und logisch ist, nämlich dass das Lebendige und Menschliche sich entfalten kann. Es ist gewiss keine pflegeleichte, keine mühelose Möglichkeit, durch »Hier«-Bleiben »hier« aus der Sackgasse radikal auszubrechen und zu einem radikalen Wandel beizutragen! Ihre Voraussetzung sehe ich in der Radikalität im Ansatz: in einer Einstellung, die klar, also geklärt ist. Es ist ja naheliegend, dass diese Position, die nunmal im Leben, im Menschen verankert ist und folglich im Widerspruch zu den meisten »Normen der Normalität« in unserem »Modell:Zivilisation« steht, unbequem ist; vielleicht gar beängstigend? Hier begegnen sich, ja hier widersprechen sich die Logik des Lebens und die beanspruchte Logik einer – ohnehin in der Sackgasse steckenden – Zivilisation.

Ich sprach vorhin den Wandel an, den ich in letzter Zeit wahrgenommen habe. Immerhin steht, wer diese Radikalität und Lebendigkeit beansprucht, nicht mehr, wie vor Jahrzehnten, allein da, wird nicht mehr zum Spinner abgestempelt, als krank oder verrückt betrachtet, bestenfalls zum Utopisten beschimpft. Verbündete? Immer mehr Menschen ist deutlich geworden, dass es wie bisher ohnehin nicht weiter geht; insbesondere dass unsere zwischenmenschlichen Beziehungen sich ändern müssen. Wohlan! Um jedoch in diesem Wandel nicht vom Sog eines negativen Systems mitgerissen zu werden, bleibt es eine unabdingbare Notwendigkeit, sich auch reflektorisch zu verwurzeln: Die Triftigkeit einer Position nicht zu ignorieren, bedingt nunmal ein Bewusstsein, eine Deutlichkeit, ja ein Wissen.

Insofern sei diese Publikation, mit welcher der Leipziger tologo verlag seinerseits neue Wege beschreiten will, jener schon lange nicht mehr zu vernachlässigenden Minderheit gewidmet, die sich mit keinem der hier prototypisch dargestellten Muster anfreunden kann und zum Ausbruch aus der institutionalisierten Entmündigung und Bevormundung aktiv beitragen wollen. Die fünf in diesem Buch enthaltenen und sich ergänzenden Beiträge mögen in diesem Sinne einiges klarstellen und zum weiteren Dialog einladen.

Am Anfang steht ein Interview, das die Zeitschrift »unerzogen« aus Anlaß der ersten EUDEC in Leipzig, im Jahre 2008, mit mir zu verschiedenen Aspekten, Bedingungen, Konsequenzen des Frei-Sich-Bildens gemacht hatte. (An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich jenen Menschen danken, die mich darum baten, dieses Gespräch als Einleitung in die Thematik einzusetzen, weil für sie dieser Beitrag offensichtlich so wesentlich oder gar wegweisend gewesen sei – selbstverständlich komme ich diesem Wunsche gerne nach!)

Ihm folgt … eine Grabrede! Hiermit soll die überwundene und obsolete Institution Schule endgültig verabschiedet werden, weil Menschen aus ihr ausgebrochen sind, die ihre Lebendigkeit und Menschlichkeit höher bewertet haben als die normativen Zwänge, für welche diese Institution steht!

Es folgt ein Interview mit zwei Musikern aus dem Himalaja, die Erfahrungen dort wie hier haben; sie bieten uns Einblicke in eine andere Praxis der Erkundung des Lebens – gibt es Wirksameres um der institutionalisierten Enteignung und Bevormundung zu begegnen, sich ihnen zu entziehen, als auf das Selbstverständliche zurückzugreifen, dieses Selbstverständliche in Erinnerung zu rufen und im Hier-und-Jetzt konkret präsent zu halten?

Ein Beitrag über 30 Jahre »deutsche Kinderrechtsbewegung« gilt vor allem der Erinnerung an ein zu würdigendes Manifest, den sog. »Kinder-Doppelbeschluß«. Dieser leider immer noch ob seiner Triftigkeit aktuelle Beitrag könnte besonders für jene interessant sein, die meinen, den Wandel politisch herbeiführen zu können …

Diesen vier Beiträgen, die im »unerzogen Magazin« publiziert und hier an manchen Stellen nur leicht verändert wurden, schließt sich als fünfter Beitrag die Rede an, die Bundespräsident Joachim Gauck aus Anlass der 25jährigen Jahresfeier der Leipziger Ereignisse von 1989 am 7. Oktober 2014 in Leipzig gehalten hat – nein, nicht die Originalrede, sondern eine von mir nur »etwas« veränderte Rede. Ist es nicht erstaunlich, was dieser wirklich kleine Wechsel in Position, Blick und Wortwahl bedingt? Eigentlich naheliegend, dass unser Bundespräsident diese Frage thematisieren würde, welche immerhin etwa ein Viertel bis ein Fünftel der bundesdeutschen Bevölkerung betrifft, oder? Welcher »Dissident« – nein: im offiziellen Vokabular der Schule heißt sie oder er »Renitent«! – wird sich auf die bundespräsidentschaftliche Rede berufen, um seine legitimen Rechte auf Freiheit und auf Respekt vor seiner Würde zu reklamieren?

Eine Publikation wie diese verstehe ich als Einladung zum Dialog. In diesem Sinne freue ich mich, wenn diese Beiträge nicht nur eine radikale Kritik nähren und eine Positionsbestimmung unterstützen, sondern wenn sie vor allem zum konstruktiven Dialog einladen. Zögern Sie, werte Leserin, werter Leser, nicht, mit mir in Kontakt zu treten und mit mir über dies und jenes zu diskutieren. Denn selbst wenn nicht alles, was in diesem Buch gesagt wird, auf Ihre volle Zustimmung stoßen sollte: den sowohl ersehnten wie erforderlichen Wandel wird es erst geben können, wenn Menschen sich vernetzen und sich wirksam unterstützen.

Bertrand Stern

Mai 2015


1 Bertrand Stern: Ratlosigkeit als Chance. In: Weile statt Eile! – unterwegs zu einer Kultur der Muße? Klemm+Oelschläger, 1996.