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Vorwort

Wer Rammstein fragt, wie die Gruppe auf ihren brachialen Rockstil, die schön schaurigen und manchmal schaurig schönen Texte und die unvergleichliche explosive Bühnenshow gekommen ist, mit der sie vor genau 20 Jahren mit ihrem ersten Album Herzeleid den Musikmarkt eroberte, erhält eine verblüffende Antwort: Es existierte keine konkrete Vorstellung von einem bestimmten Stil. Das Einzige, was die sechs ostdeutschen ­Musiker damals wussten, als sie sich zusammentaten, war, was sie nicht wollten. Zweifellos eine unkonventionelle Methode der Stilfindung. Doch was Rammstein angeht, haben sie damit ins Schwarze getroffen. Denn das, was am Ende sozusagen als Ausschuss übrig blieb, ist längst Legende – und in der deutschen Musikgeschichte einmalig.

Der ungewöhnlichste Aspekt an der Geschichte von Rammstein fällt dabei hierzulande den wenigsten auf: Keiner anderen Musikgruppe ist es bisher gelungen, im Ausland mit ausschließlich deutschen Texten wahrgenommen zu werden und damit auch noch erfolgreich zu sein. Dabei liebt Rammstein neben dem Spiel mit Feuer das mit der Rhetorik. Verbrannte Erde durch permanente Provokation, die Verwirrung stiftet, perverser Sarkasmus – kein Reizthema oder Klischee lässt die Band aus. Sogar der hässliche Deutsche aus dem dunkelsten Kapitel der Geschichte dieses Landes findet Eingang in ihre Show.

Umso bemerkenswerter ist, dass der Erfolg insbesondere in jenen Ländern groß ist, die wegen des Zweiten Weltkriegs noch immer ein manchmal distanziertes Verhältnis zu Deutschland haben. Länder wie Frankreich, England oder Russland etwa, wo die Rammstein-Jungs Stadien oder Amphitheater bis auf den letzten Platz füllen und im Handumdrehen das Publikum zum Kochen bringen. Das zu Zehntausenden die Texte, von denen im Internet Übersetzungen in zahlreichen Sprachen zu finden sind, aus vollem Hals mitsingt. Von A bis Z.

Noch beliebter als in Europa sind die ostdeutschen Schwermetaller in Amerika. Neben Till Lindemann gehören seit der Gründung 1994 Richard Kruspe, Paul Landers (beide Gitarre), Christoph Schneider (Drums), Oliver Riedel (Bass) und Flake Lorenz (Keyboard) Rammstein an. Ausgerechnet im Land der Fremdsprache Nummer eins, das seinen Ruf als fremdsprachenrenitente Nation rigoros verteidigt, muss man schnell sein: Die 18 000 Karten für ein Konzert im Madison Square Garden im Herzen New Yorks waren im Dezember 2010 in 30 Minuten ausverkauft. Und auch in den USA stimmt das Publikum kräftig in den Gesang mit ein. Was nicht mal Marlene Dietrich gelang, der Ikone unter den wenigen deutschen Weltstars. Dabei hatte die Diva ihre großen Hits, geschmeidige Chansons, während ihres amerikanischen Exils ins Eng­lische übersetzt.

Seit zwei Jahrzehnten rocken die Rammstein-Musiker nun volle Stadien und Hallen rund um den Globus. Sie haben fast 20 Millionen Tonträger verkauft, im In- und Ausland zahlreiche Musikpreise wie den World ­Music Award abgeräumt und diverse Goldene Schallplatten bekommen. Die vergangenen zwei Jahre prägte jedoch totale Funkstille, die Zukunft von Rammstein eingeschlossen. Das letzte Konzert liegt mehr als zwei Jahre zurück, die Veröffentlichung des letzten Studioalbums sogar sechs. Rammstein hat eine Kreativitätspause eingelegt. Und zwar eine ziemlich lange.

Höchste Zeit also für einen aktuellen Rückblick auf die Entwicklung des Sextetts. Und das nicht nur, weil es nach den auffallend ausgedehnten ­Soloaktivitäten einiger Bandmitglieder äußerst interessant werden könnte, wenn die drei Schweriner und drei Ostberliner auf die Bühne zurückkehren – sofern sie sich nicht auflösen, wie in der Vergangenheit schon oft gemunkelt. In den zwei Jahrzehnten seit der Gründung von Rammstein ist auch eine neue Generation von Fans herangewachsen, die nur wenig über die Vergangenheit der Musiker weiß. Etwa über ihr musikalisches Heranwachsen in der DDR, dessen Umstände weit mehr zum Stil der Band beigetragen haben, als dies auf den ersten Blick erkennbar ist. Und damit wird auch der vielen immer noch unerklärliche Erfolg nachvollziehbar.

Sich etwas mehr mit der Vergangenheit von Rammstein zu beschäftigen hätte bestimmt auch einer ganzen Reihe kritischer, vornehmlich westdeutscher Feuilletonisten nicht geschadet, als die Gruppe mit donner­artigem Getöse in die Musikszene des wiedervereinten Deutschlands einschlug. Dieser Zeit voraus gingen Zensur und Stasi-Überwachung, die Spuren hinterlassen haben. Bei den Menschen und in ihrer Musik. Denn das, was die Staatsführung der DDR vor allem für die Erhaltung ihrer Macht und gegen den Willen des eigenen Volks unternahm, schränkte einerseits die Möglichkeiten für Musiker und ihre Entfaltung deutlich ein. Andererseits waren sie gezwungen zu improvisieren, kreativ zu sein und eine eigene Sprache zu entwickeln, um vor den Häschern des Regimes etwa mit ­Metaphern Haken zu schlagen.

Während Rammsteins martialische Selbstironie im Ausland von Anfang an vor allem bejubelt wurde, sorgte die Band mit ihren Springerstiefeln, Stechschritt und Fackeln auf der Bühne in Deutschland oft nur für Schaumbildung vor dem Mund. Kaum jemand, der Rammstein in die rechtsradikale Ecke geschrieben hat, weiß oder wollte wissen, dass die Wurzeln der Jungs im DDR-Punk liegen, der wie der im Westen und überall sonst auf der Welt mehrheitlich linken oder anarchistischen Ideologien nahesteht. Oder dass sich auch in Ostdeutschland Punks mit Skinheads angelegt und geprügelt haben. Ja, auch in der DDR gab es Rechtsradikale.

Allgemein bekannt hingegen ist, dass alle wichtigen Entscheidungen der Band im Kollektiv, demokratisch getroffen werden – die Songs in ihrer Entstehung eingeschlossen. Den Bühneninszenierungen und auch den aufwendig produzierten Musikvideos ist das nicht anzumerken. Dort ­dominiert vor allem einer: Till Lindemann. Was nicht nur daran liegt, dass er als Sänger im Mittelpunkt steht. Vor allem ist es seine Art, Terminator-gleich seine Rolle in den von ihm geschriebenen Songs auszu­leben, zu verkörpern. Kein anderes Bandmitglied vereint wie er den krassen Unterschied zwischen lärmendem Bühnentier und einem, der Stille und Zurückgezogenheit liebt. Am Mikro mimt der Sohn eines Kinderbuchautors und Dichters pathetisch Machos, Masochisten und Menschenfresser, während er privat ein ruhiges Leben genießt, angeln geht und Gedichte schreibt.

Nazi-Kritik wird an Rammstein inzwischen kaum noch geäußert. Ganz im Gegenteil: Viele der Blätter, die einst kein gutes Haar an der Band ließen, sind plötzlich Feuer und Flamme für die Jungs und ihre Musik. Rammstein ist fast überall salonfähig geworden. Böser Metal-Sound und perverse Provokation sind auf einmal auch in Intellektuellenkreisen Kult.

Was genau hat Rammstein so übermäßig berühmt gemacht, worin unterscheidet sich die Gruppe von anderen Rockbands? Und wie geht es nun mit Rammstein weiter? Während Till ein erstes Soloalbum veröffentlicht hat, Flake ein Buch über sich geschrieben und Richard mit seiner anderen Band Emigrate ein zweites Album veröffentlicht hat, hat die Band angekündigt, sich im Herbst zu treffen und über ihre Zukunft zu beraten. Denn trotz der letzten enorm erfolgreichen Tournee in Amerika und in Europa lasten mehrere Krisen auf den Schultern der Band, die Mutmaßungen über weitere Konzerte oder die Produktion eines neuen Studioalbums unbeantwortet lässt.

Wer den Werdegang der Musiker in den vergangenen zwei Jahrzehnten verfolgt hat, weiß, dass sie eines niemals tun würden: die Gruppe aus reinem Selbstzweck am Leben erhalten. Dafür lieben sie die Musik zu sehr, haben sie zu viel Herzblut in Rammstein gesteckt und legen sie viel zu großen Wert auf ihre Glaubhaftigkeit, der sie ihren Erfolg verdanken. Die Lust am Rocken – sie wurde bisher von kaum einer Band überzeugender verkörpert als von Rammstein, die, angetrieben von der Sehnsucht, Ärger zu machen, die Öffentlichkeit mit Tabuthemen aufgemischt und wachgerüttelt haben. Offenbleiben muss vorerst, ob und wie Deutschlands bekannteste und erfolgreichste deutschsprachige Rockband das Feuer, das am Anfang in ihr glühte und das sie knapp zwei Jahrzehnte am Leben erhalten konnte, wieder entfachen will.