Ulrike Reiche

Yoga-Coaching

Der Weg zu einem gesunden Lebensstil

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Cover: Klett-Cotta Design

Unter Verwendung eines Bildes von © A. Boll

Illustration auf S. 86: © Matthias Emde, Fritz-Reuter-Straße 2, 60320 Frankfurt

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-89142-3

E-Book: ISBN 978-3-608-10572-8

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20053-9

Dieses E-Book entspricht der aktuellen Auflage der Printausgabe

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Einführung in den Kundalini-Yoga (nach Yogi Bhajan)

1.1 Die Quelle: Yogi Bhajan

1.2 Das Übungssystem des Kundalini-Yoga

1.3 Die Wirkweise des Kundalini-Yoga

1.4 Die persönliche Yoga-Praxis als spiritueller Entwicklungsweg

2. Einführung ins Coaching

2.1 Was ist »Coaching«?

2.2 Coaching als Entwicklungsprozess

2.3 Der systemische Ansatz im Coaching

2.3.1 Vorgehensweisen und Haltungen in der systemischen Arbeit

2.3.2 Systemische Fragen

2.3.3 Arbeiten mit Metaphern

2.4 Anforderungen an erfolgreiches Self-Coaching

2.5 Coaching-Anlässe

3. Einführung ins Yoga-Coaching

3.1 Die Einbeziehung spiritueller Aspekte

3.2 Wann ist es sinnvoll, einen Yoga-Coach einzuschalten?

3.3 Anforderungen an einen professionellen Yoga-Coach

4. Die Yoga-Coaching-Toolbox

4.1 Chakren – Eine Landkarte der Energie

4.2 Analysetool Chakra-System

4.2.1 Das erste Chakra – Wurzelchakra (Muladhara)

4.2.2 Das zweite Chakra – Sakralchakra (Svadhistana)

4.2.3 Das dritte Chakra – Nabelchakra (Manipura)

4.2.4 Das vierte Chakra – Herzchakra (Anahata)

4.2.5 Das fünfte Chakra – Kehlchakra (Vishuddha)

4.2.6 Das sechste Chakra – Das dritte Auge (Ajna)

4.2.7 Das siebte Chakra – Kronenchakra (Sahasrara)

4.2.8 Das achte Chakra – Elektromagnetisches Feld (Aura)

4.3 Yoga-Coaching als Gesundheits-Coaching

4.3.1 Praxistransfer: Die Integration von Yoga ins Coaching

4.3.2 Der präventive Ansatz der Yoga-Praxis

4.4 Yoga-Coaching zur persönlichen Entwicklung

4.4.1 Krisenbewältigung – Altes loslassen und Neues wagen

4.4.2 Biografiearbeit – Vergangenheitsbewältigung

4.5 Chancen und Grenzen des Yoga-Coachings

4.5.1 Yoga-Coaching in Ergänzung zu herkömmlichen Therapien

4.6 Coaching-Tools

4.6.1 Fragen zur Auftragsklärung

4.6.2 Das strukturierte Zielbild

4.6.3 Abschlussintervention

4.6.4 Neutralitäts-Check für Yoga-Coaches

Anhang

Anmerkungen und zitierte Literatur

Literaturempfehlungen

Informationen im Internet

Glossar

Zur Autorin

»Wir wollen herausfinden, wo bin ich, was bin ich,

was habe ich für Geschenke, was habe ich für Nachteile?

Als Yogis sehen wir, wie die Realität ist,

und fragen dann: ›Was kann ich tun? …‹

Wir sind keine Opfer.

Wir sind nicht ohne Möglichkeiten,

unser Selbst zu verändern, zu entwickeln.«

Yogi Bhajan

Einleitung

Vor Jahren fragte mich ein Freund, was eigentlich der besondere Nutzen des Yoga sei. Heute würde ich kurz und knapp sagen: Yoga befreit dich zum Leben!

Damals konnte ich meinem Freund spontan keine griffige Antwort geben, die auf den Punkt brachte, was mich selbst so sehr am Yoga faszinierte. Das irritierte mich zutiefst, da ich selbst bereits jahrelang intensiv Yoga ausübte und eben dabei war, mich als Yoga-Lehrerin selbstständig zu machen. Ich hätte es doch eigentlich wissen müssen?!

Was habe ich ihm wohl seinerzeit geantwortet? Wahrscheinlich habe ich ausgeführt, dass Yoga eine anerkannte Methode zum Stressabbau ist und zahlreiche positive Effekte auf die physische und psychische Gesundheit hat, die wissenschaftlich glaubhaft belegt sind. Möglicherweise habe ich darauf verwiesen, dass Yoga weit mehr als »Turnen auf der Matte« ist und neben Körper- und Atemübungen auch Entspannungstechniken und verschiedene Meditationsformen sowie Mantra-Chants umfasst; und dass eben diese vielfältige Kombination aus körperlichen Aktivitäten und mentaler Entspannung erst die Stressbewältigungsmechanismen trainiert. Sicherlich habe ich ihm dargelegt, dass der Yoga eine uralte Tradition hat, die mehrere Tausend Jahre alt ist. Als solche ist er an sich keine Religion, wenngleich verschiedene yogische Praktiken, wie z. B. Meditation und Kontemplation, Eingang in die verschiedenen religiösen Strömungen gefunden haben. Ich bin mir sicher, dass ich ihn seinerzeit davon überzeugen wollte, dass der Yoga, so wie ich ihn in der Tradition des Kundalini-Yoga kennen und unterrichten gelernt habe, von jedem Mann und jeder Frau, unabhängig von der jeweiligen Konstitution, gleichermaßen ausgeübt werden kann; weil Kopfstand und andere akrobatisch anmutende Haltungen nicht zwangsläufig zu jeder Yogastunde dazugehören. Und in diesem Stil werde ich wohl damals weitergesprochen haben …

Das alles hat auch heute noch seine Gültigkeit und ist im Grundsatz richtig. So weit gut und schön. Zwischen damals und heute liegen einige arbeitsreiche Jahre, in denen ich umfangreiche Erfahrungen mit meiner eigenen intensiven Yoga-Praxis, als hauptberufliche Yoga-Lehrerin, als systemische Beraterin für Privatpersonen und Unternehmen, als Yoga-Ausbilderin, Autorin und letztlich als Gründerin eines Unternehmens sammeln durfte. Diese intensive Beschäftigung mit den verschiedenen Facetten und Einsatzmöglichkeiten des Yoga hat mich den Yoga selbst wahrhaftig mit Leben füllen lassen. Möglich war dies vor allem aufgrund des Begleitumstandes, dass sich zunehmend viele Menschen für Methoden und Denkansätze interessieren, die die Gesundheit fördern und/oder Heilungschancen verbessern. Nach aktuellen Schätzungen betreiben mittlerweile ca. 5 Millionen Menschen im deutschsprachigen Raum regelmäßig Yoga (Spiegel 14/2012). Viele von ihnen suchen nach Orientierung für eine ausgewogene Lebensführung bzw. eine gesunde Selbststeuerung im Alltag, die die üblichen schulmedizinischen Therapieansätze sinnvoll ergänzt bzw. über sie hinausweist. Von diesem Trend habe ich selbst wie auch viele andere Yoga-Lehrer und -Schulen profitiert. Die zunehmende Ausbreitung des Yoga geht einher mit einer wachsenden Palette von differenzierten Angeboten. Die Bandbreite reicht von Yoga für spezielle Zielgruppen, z. B. Yoga für Kinder oder Business-Yoga, über Programme zu verschiedenen Gesundheitsthemen, z. B. Hormon-Yoga, oder Yoga-Einzelunterricht bis hin zu Gong-Meditation und Mantra-Singen. Gleichzeitig wächst in der Öffentlichkeit der Anspruch an die Professionalität des Yoga-Lehrers und an die Wirksamkeit des jeweiligen Arbeitsansatzes.

So erscheint die Frage nach dem Nutzen des Yoga heute in einem anderen Licht als vor Jahren. Doch letztlich ist und bleibt Yoga immer etwas, das der einzelne Mensch ausübt. Die Yoga-Praxis knüpft stets am Individuum an, das, indem es sich selbst wahrnimmt und aus seinem Potenzial zu schöpfen beginnt, mit seinem Verhalten die Welt beeinflusst und verändert. Die Voraussetzung hierfür ist, dass der Mensch »erwacht«, dass er also erkennt und einsieht, dass er selbst – und letzten Endes nur er selbst und niemand anderes – Einfluss auf das eigene Wohlbefinden hat. Dies umfasst ausdrücklich auch die Option, auf die jeweiligen Lebensbedingungen einzuwirken und diese zu gestalten. Und dass es ihm dank dieses Umstandes möglich ist, sich eigenverantwortlich durch das Leben zu steuern, Herausforderungen zu meistern und sich unter Stress zu regulieren. Ein kompetenter Yoga-Lehrer wird ihn auf diesem Weg begleiten, sein Denken und Verhalten gleich einem Coach reflektieren und ihm hilfreiche Instrumente an die Hand geben.

Dies ist der Ausgangspunkt meiner Arbeit mit Einzelpersonen: mithilfe des Yoga den Menschen quasi bei sich selbst abzuliefern, ihn in seine eigene Kraft zu führen, so dass er sich selbst zu dem Leben ermächtigt, das er für sich wählt. Für mich ist Yoga ein Weg der Persönlichkeitsentwicklung und bewussten Lebensführung. Gesundheitsfördernde Nebenwirkungen eingeschlossen.

In diesem Buch lernen Sie diesen speziellen Ansatz kennen, den ich Yoga-Coaching nenne. Meine Vorgehensweise im Yoga-Coaching basiert einerseits auf der Tradition des Kundalini-Yoga (nach Yogi Bhajan) und andererseits auf Methoden aus der systemischen Arbeit. Diese Kombination erlaubt es, die jeweilige Lebenssituation ganzheitlich zu betrachten und Wirkungszusammenhänge herauszuarbeiten. Je nach Problemstellung werden im Yoga-Coaching folgende Dimensionen berücksichtigt:

Neben der systemischen Beratung integriere ich im Yoga-Coaching Körperübungen und Meditationen aus dem Kundalini-Yoga. Diese Tradition umfasst Haltungen und Atemübungen, die der gleichen Quelle wie der Hatha-Yoga entspringen. Die spezielle Kombination von Haltung, Atmung und geistigem Fokus sowie eine ausgefeilte Meditationspraxis unterscheiden sich jedoch von anderen Yoga-Traditionen sowohl hinsichtlich der physischen und energetischen Wirkung. Kundalini-Yoga gilt als effiziente Technik, die sich auch von ungeübten Menschen leicht erlernen lässt und problemlos in jeden Alltag passt.

Auch wenn in dieses Buch Empfehlungen aus dem Kundalini-Yoga nach Yogi Bhajan eingeflossen sind, so lässt sich der hier vorgestellte Coaching-Ansatz auch auf andere Yoga-Traditionen übertragen. Denn das übergeordnete Ziel eines jeden Yogas ist immer dasselbe, so wie es Patanjali am Anfang des Yoga-Sutra formuliert hat: yogas citta-vritti nirodhah – Yoga ist der innere Zustand, in dem die seelisch-geistigen Vorgänge zur Ruhe kommen1. Wenn dies gelingt, ist der Übende mit allen Sinnen ganz im Hier und Jetzt zu Hause und ruht vollkommen in sich selbst. Gemeinhin wird dieser Zustand der mentalen Ruhe als außerordentlich entspannend und erhebend wahrgenommen. Erfahrungsgemäß entfalten sich in diesem Bereich sogenannte Schlüsselkompetenzen wie Reflexionsfähigkeit, Empathie und Mitgefühl ebenso wie die Fähigkeit des emotionalen Selbstmanagements. All dies trägt dazu bei, dass der Übende sich selbst erfolgreich(er) durch sein Leben steuert. Dies lässt sich beispielsweise erkennen an einer verbesserten Selbstregulation unter Stress, einem erhöhten Selbstbewusstsein durch die von ihm selbst eingesetzten Fähigkeiten und Ressourcen und einer inneren Klarheit über die eigenen Werte und Ziele. All diese Aspekte sind besonders wichtig in jenen Situationen, die als herausfordernd erlebt werden und in denen dem Betroffenen persönliches Wachstum durch Veränderung seines Verhaltens oder der Lebensumstände abverlangt werden – und die ihn ins Coaching bzw. die Beratung geführt haben.

Die Yoga-Praxis hat, wie eingangs erwähnt, zahlreiche Effekte. Bei entsprechender Offenheit und/oder Erfahrung des jeweiligen Klienten unterstützt ein spezifisches Übungs-Programm sowohl die Gesundheit als auch die persönliche Entwicklung, fördert Verhaltensänderungen und damit den Fortgang des Coaching-Prozesses.

In diesem Buch wird es in erster Linie darum gehen, das Bewusstsein für einen guten Umgang mit den eigenen Ressourcen zu schärfen.

Um hierbei gezielt vorzugehen und die geeigneten Übungen auszuwählen, benötigen Sie neben einer persönlichen Yoga-Praxis fundierte Kenntnisse über die infrage kommenden Techniken sowie über die elementaren Energiemodelle aus der yogischen Philosophie, dem System der Chakren und Energiekörper. All dies wird in der Regel im Rahmen einer Yoga-Lehrerausbildung vermittelt. Doch auch wenn Sie kein (Kundalini-)Yoga-Lehrer sind, ist die Lektüre dieses Buches hilfreich für Sie. Es ermöglicht Ihnen, sich anhand der hier vorgestellten Konzepte das wertschätzende Welt- und Menschenbild des Yoga zunutze zu machen, um zum Beispiel komplexe Situationen besser zu durchschauen und schneller auf den Punkt zu kommen. Dies erlaubt Ihnen, als Coach gezielte Fragen zu stellen und (körperorientierte) Interventionen auszuwählen, die den Klienten auf seinem Weg unterstützen.

Im Folgenden sind einige Anknüpfungspunkte des Yoga-Coachings aufgeführt, die in diesem Buch vorgestellt werden:

Auf das Coaching-Ziel abzielend

Auf den Coaching-Prozess abzielend

Yoga-Coaching bedeutet, aus diesen vielfältigen Einsatzmöglichkeiten zu schöpfen. Trotz dieser offensichtlichen Komplexität habe ich mich um eine systematische Annäherung an die unterschiedlichen Themenfelder und um konkrete Handlungshilfen bemüht, sodass praxisnahe Lösungsansätze im Vordergrund stehen.

Noch eine Empfehlung zur Lektüre dieses Buches: Sie können es von der ersten bis zur letzten Seite lesen. Sollten Sie über einen der zugrunde liegenden methodischen Ansätze – Kundalini-Yoga oder systemische Beratung und Therapie – bereits profunde Kenntnisse und Erfahrung verfügen, lassen Sie das jeweilige Einführungskapitel aus und steigen Sie direkt in die Coaching-Praxis ein. Schließlich eignet sich das Buch als Nachschlagewerk, sofern Sie mit dem Ansatz des Yoga-Coachings vertraut sind und situativ nach Impulsen suchen.

Wie auch immer Sie dieses Buch einsetzen mögen – ich habe meine Arbeit getan, wenn Sie Anregungen und Erkenntnisse gewinnen, die für Sie persönlich und/oder für Ihre Arbeit von Nutzen sind.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Freude und Inspiration beim Lesen!

1. Einführung in den Kundalini-Yoga (nach Yogi Bhajan)

1.1 Die Quelle: Yogi Bhajan

Yogi Bhajans vollständiger Name ist Harbhajan Singh Puri. Er wurde am 26. August 1929 im Norden Indiens (damals Pakistan) geboren und verstarb am 7. Oktober 2004 in Espanola/USA.

Bereits im Alter von 16 Jahren wurde er von seinem Meister Sant Hazar Singh als Meister des Kundalini-Yoga anerkannt. Daneben hatte er weitere Yoga-Lehrer, so z. B. Acharya Narinder Dev von Yoga Smriti, der Hatha-Yoga und dessen Auswirkung auf das Gleichgewicht des Nervensystems unterrichtete. Dieser Ansatz spielt in der später von Yogi Bhajan entwickelten Kundalini-Yoga-Tradition eine wichtige Rolle; es existieren zahlreiche Übungsreihen und Meditationen, die auf das Nervensystem einwirken, den Stressabbau fördern und die Resilienz stärken.

Yogi Bhajan brachte eine konventionelle Ausbildung zum Abschluss, schlug eine Beamtenlaufbahn beim indischen Staat ein und gründete eine Familie. In den 1960er-Jahren folgte er Einladungen nach Kanada und in die USA, um Yoga zu unterrichten. Er verstand Yoga vor allem als ein System, das neben Körper-, Atem- und Meditationsübungen auch Heiltechniken wie Sat Nam Rasayan und yogische Massage, Gatka – eine Kampfkunst, die vor allem von den Sikhs in Indien entwickelt wurde –, Ernährungs- und Lebensführungslehren des Ayurveda sowie yogische Lebensweise umfasst.

1971 wurde Yogi Bhajan zum Meister des weißen Tantra, das noch heute in der ganzen Welt in seinem Namen angeleitet wird. Beim weißen Tantra-Yoga kommen in der Regel Hunderte Menschen zusammen, um gemeinsam zu meditieren und ihre Selbsterfahrung zu vertiefen. Da Yogi Bhajan von Hause aus Sikh war, flossen Elemente seiner religiösen Ausrichtung in dieses Yoga-System mit ein. Zwischen Sikhismus und Yoga bestehen historisch belegte Verbindungen, da mindestens ein Teil der Sikh-Gurus auch Yoga-Meister waren. Das mit dem Sikhismus verbundene Wertesystem spiegelt sich im Lebensweg Yogi Bhajans deutlich wider: So wie der erste Sikh-Guru Nanak bereits lehrte, dass der Pfad zu Gott aus produktiver Arbeit und dem weltlichen Leben eines »Haushälters« bestehe, so beschränkte sich Yogi Bhajan nicht darauf, Yoga zu unterrichten und ein spiritueller Lehrer zu sein. Vielmehr gründete er mehrere Unternehmen, die ihm selbst und seiner Familie sowie zahlreichen seiner Schüler eine unabhängige wirtschaftliche Existenz ermöglichten. In vielen seiner Vorträge hat er erklärt, dass Erfolg und Reichtum keineswegs im Widerspruch zu einer spirituellen Ausrichtung stehen. Vielmehr war für ihn die Entwicklung einer spirituellen Lebenspraxis eine unabdingbare Voraussetzung für all diejenigen, die in der Welt wirksam und erfolgreich sein wollen. Seine Intention war es, den Menschen im Westen eine Yoga-Form zu vermitteln, die in relativ kurzer Zeit Erkenntnisse und Bewusstheit zeitigt, damit sie den Herausforderungen des Alltags gewachsen sind und ihr Leben frei gestalten können. Er vermittelte Kundalini-Yoga als ein starkes und effizientes Übungssystem, das die Basis für einen Lebensweg bildet, auf dem der Mensch gleichermaßen irdisches als auch himmlisches Glück finden kann.

In der von Yogi Bhajan begründeten Tradition des Kundalini-Yoga hat der Sikh Dharma insofern eine wichtige Bedeutung, als er ein bestimmtes Wertesystem repräsentiert und den Maßstab definiert, an dem sich jeder Kundalini-Yoga-Lehrer orientieren soll. Er selbst hat sich zu diesem Zusammenhang wie folgt geäußert:

»Ich habe Euch Techniken gelehrt, die es Dir erlauben, für alle Formen Deines Seins Sorge zu tragen und sie zu verfeinern. Als ich anfing, Kundalini-Yoga zu unterrichten, begann ich auch, den Menschen Sikh Dharma zu erklären. …

Viele Menschen gewinnen Ansehen und wollen dann in ihrer persönlichen Identität verehrt werden, anstatt die Menschen zu ihrer eigenen unendlichen Identität zu führen. Zusammen mit Kundalini-Yoga müssen Werte vermittelt werden.

Sikh Dharma wird auch als ›der Weg des Schülers‹ bezeichnet. ›Sikh‹ bedeutet eigentlich SchülerIn. Der Weg besteht darin, rein zu werden, voller Integrität, Wahrheit und Bewusstsein. …

Es gibt 3 Dinge, die ich am Sikh Dharma besonders mag: Es ist nicht erlaubt, Leute zu bekehren; es gibt keinen erzwungenen Wechsel zu einer anderen Religion, und es gibt nichts, was nicht so vollendet wäre, wie Gott es geschaffen hat. …

Kundalini-Yoga ist das Yoga des Menschen, der mit beiden Beinen im Leben steht. Es ist das Yoga, das es einem Menschen ermöglicht, in seiner Welt zu leben, die Ekstase seines Bewusstseins zu erfahren, um dieses Bewusstsein im Dienste der Menschheit anzuwenden.

Die Persönlichkeit des Lehrers beruht auf reinem Dienen. Es ist Dein zu leistender Dienst, zu erheben, die Erhabenheit des Geistes der anderen aufrechtzuerhalten, das Licht weiterzureichen und Wissen zu vermitteln. …

Die Kombination des Wissens aus dem Kundalini-Yoga und der Demut des Sikh Dharma bringt ein gut kombiniertes Gleichgewicht hervor. Es liegt an Dir: Wie weit möchtest Du Dich selbst übertreffen? Mit Deinem Ego und Deinen Werten wirst Du nicht lang überdauern. …

Baue all Deine Vorurteile ab und arbeite mit konzentrierter Kraft und der Ausrichtung auf das Dienen. Die Demut im Kundalini-Yoga und im Sikh-Bewusstsein ist dieselbe. …

Kundalini ist Gewahrsein. Demnach leben wir mit vollem Gewahrsein ein Dharma, und zwar als Menschen, die SchülerInnen des harmonischen, feinsinnigen und selbstlosen Handelns sind. Daraus besteht die Beziehung. Es geht dabei um ein Leben im Einklang mit der Seele und in keinerlei Weise um ›Religion‹.«2

Diese grundsätzlichen Aussagen zur Beziehung zwischen Kundalini-Yoga und Sikh Dharma zielen darauf ab, den Yoga nicht etwa im Stile der westlichen Leistungsgesellschaft als reine »Methodik« oder kühle »Technik« zur Körperoptimierung anzuwenden, sondern gleichermaßen seelische und spirituelle Aspekte zu berücksichtigen. Genauso wenig geht es darum, aus dem Yoga eine Religion zu machen oder gar zum Sikhismus zu konvertieren. Vielmehr soll der Praktizierende dafür sensibilisiert werden, seine Yoga-Erfahrungen in Bezug zu seinem eigenen Wohlbefinden und seiner Persönlichkeitsstruktur zu setzen, und selbstkritisch überprüfen, inwiefern sein Denken und Handeln sowohl den persönlichen Bedürfnissen und Maßstäben als auch denen der Gesellschaft gerecht wird.

Diese von Yogi Bhajan bewusst gewählte Beziehung zwischen Yoga-Praxis und Sikh Dharma soll den Yoga praktizierenden Menschen, insbesondere den Yoga-Lehrer, davor schützen, das durch den Yoga erlangte Wissen und Einsichten allein zum persönlichen Vorteil zu nutzen. Die Yoga-Praxis ermöglicht dem Menschen, das eigene Potenzial zu entfalten und dieses dann für die Gemeinschaft nutzbar zu machen.

Diesen Anspruch hat Yogi Bhajan auch auf seine eigene Person angewendet. Zwei bekannte Aussagen von ihm sind »Liebe nicht den Lehrer, liebe die Lehren!«3 und »Ich bin gekommen, Lehrer zu erschaffen, nicht, um Schüler zu sammeln.«4 Er hat durch sein Wirken und die Ausbildungs- und Organisationsstrukturen, die auf seine Veranlassung hin entstanden sind, dafür Sorge getragen, dass der Grad der Abhängigkeiten von seiner Person soweit wie möglich reduziert wird und die von ihm unterrichteten Schüler schließlich selbst zu Lehrern des Kundalini-Yoga werden konnten und in diesem Geist seine Lehren von Generation zu Generation weitergeben.

Neben dieser grundlegenden Einstellung zur Praxis des Kundalini-Yoga definierte Yogi Bhajan weitere Empfehlungen, die weitgehend in die »Ethischen Richtlinien« für Kundalini-Yoga-Lehrer eingeflossen sind. Im Coaching-Kontext erhalten zwei Regeln eine besondere Bedeutung, da sie explizit auf eine bestimmte Haltung hinweisen, die ein Yoga-Lehrer gegenüber seinen Schülern einnehmen sollte:

Das Gebot des Ablieferns5

(Law of Deliverance)

Übergib Deine Schülerinnen der Unendlichkeit und nicht Dir selbst. Erhebe die Schülerinnen zur Erkenntnis ihrer eigenen inneren Unendlichkeit. Verbinde die Schülerinnen mit dem Fluss der Lehren des Kundalini-Yoga, der immer bei ihnen bleiben und sie unterstützen wird.

Dieses Gebot zielt darauf ab, den Schüler mithilfe der Kundalini-Yoga-Praxis in die Lage zu versetzen, sich selbst zu erkennen. D. h., der Schüler wird sich zunehmend seiner Stärken und Fähigkeiten bewusst; er erkennt, welchen Anteil er an seiner derzeitigen Lebenssituation hat. In der Yoga-Praxis macht er die Erfahrung, dass er selbst auf seine Empfindungen, Emotionen und Gedankengänge Einfluss nehmen kann und zudem in der Lage ist, die notwendige physische und psychische Kraft aufzubauen, um Veränderungen in seinem eigenen Sinne herbeizuführen. Die Begleitung bzw. Inspiration durch den Yoga-Lehrer ermöglicht es dem Schüler mehr und mehr, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen und es aktiv zu gestalten. Dies führt ihn in eine Position der Stärke und insbesondere in die Unabhängigkeit von seinem Yoga-Lehrer und anderen Autoritäten: er wird quasi bei sich selbst abgeliefert und zum Meister seines eigenen Lebens.

Das Gebot der Aufrechterhaltung6

(Law of Sustenance)

HALTE DURCH! Sobald Du diejenige oder derjenige bist, die/der das höhere Bewusstsein der SchülerInnen repräsentiert, darfst Du diese Projektion niemals enttäuschen. Wenn Du es tust, ist dies gleichbedeutend mit Karma, durch das Du Dich selbst begrenzt und das Dir eine Lehrerin oder ein Lehrer schicken wird, die/der Dich in die Irre führt. Sei wie der Geist: stabil, zeitlos, würdevoll und vertrauenswürdig.

Diese Regel bezieht sich keineswegs darauf, als Yoga-Lehrer besondere Leistungen vollbringen zu müssen, den Ansprüchen seiner Schüler gerecht zu werden oder gar ihre Probleme zu lösen. Zu unterrichten heißt auch nicht, jemanden zu führen oder zu steuern. Vielmehr geht es darum, das eigene, durch eine kontinuierliche Yoga-Praxis erhöhte Bewusstsein und Energieniveau dafür einzusetzen, den Schüler in seine eigene, tiefe Erfahrung zu führen. Dies ist nur möglich, wenn der Yoga-Lehrer keine egoistischen Ziele verfolgt und sich nicht in Emotionen verliert, sondern in seinem Unterricht einen neutralen Erfahrungsraum kreiert. Eine wesentliche Voraussetzung hierfür ist, dass der Yoga-Lehrer selbst beständig auf einer bestimmten Bewusstseinsebene verankert ist, um seinen Schülern eine Orientierung zu bieten und sie auf diese Ebene anheben zu können. Dies erreicht er durch eine konsequente, regelmäßige Yoga-Praxis, die Basis seiner persönlichen Anbindung ist. Yogi Bhajan hat Kundalini-Yoga als »die höchste Wissenschaft der Erfahrung und Bewusstheit« bezeichnet. In dem Maße, in dem der Yoga-Lehrer praktiziert und sein Bewusstseinsraum entwickelt, kann der Schüler zu Erkenntnis und Einsicht gelangen. Dieser Raum sollte keinesfalls limitiert werden (z. B. dadurch, dass der Yoga-Lehrer seinem Schüler bestimmte Übungen nicht zutraut oder aber sich selbst nicht zutraut, das eigentlich Richtige bzw. Wichtige zu unterrichten oder zu kommunizieren). So kann es notwendig sein, den Schüler »wachzurütteln«, z. B. durch Provokation und Konfrontation. Oder um es in Yogi Bhajans Worten auszudrücken: »Wenn Ihr seht, dass ein/e SchülerIn Fehler macht, und Ihr habt nicht den Mumm oder Mut zu sagen: ›Du machst Deine Sache schlecht, Du Idiot. Du wirst in der Hölle enden.‹ Dann habt Ihr es vermasselt und nicht er oder sie.«7

Doch der Yoga-Lehrer sollte es nicht dabei belassen, falsches bzw. schädliches Verhalten zu benennen. Ebenso wichtig ist es, die Person an die ihr innewohnenden Stärken zu erinnern und ihr Aufgaben zu stellen, für die sie ihre Fähigkeiten nutzen und ausbauen kann. So wird dem Schüler ein persönliches Wachstum möglich, in dessen Dienst der Yoga-Lehrer steht.

Verletzt der Yoga-Lehrer dieses grundlegende Unterrichts-Prinzip, z. B. indem er zuerst seine eigenen Interessen statt die Entwicklung seines Schülers verfolgt oder aber den Prozess nicht bis zum Ende bringt, wird er keinen nachhaltigen Erfolg haben – es werden sich ihm Hindernisse in den Weg stellen, mit denen er sich auseinanderzusetzen hat.

1.2 Das Übungssystem des Kundalini-Yoga

Kundalini-Yoga ist keine Erfindung der Neuzeit, sondern entspringt den gleichen uralten Quellen wie die anderen großen Yoga-Traditionen. Er vereint verschiedene Elemente, die auch in diesen bekannt sind bzw. praktiziert werden:

Kundalini-Yoga operiert also im Rahmen eines ganzheitlichen Körpermodells:

Körperhaltungen (Asana) und Körperbewegungen auf der Ebene des physischen, materiellen Körpers, Atemübungen (Pranayama) und Handhaltungen (Mudra) auf den Ebenen des energetischen, feinstofflichen Körpers und die Meditation auf der mentalen Ebene. Die Übergänge zwischen diesen Ebenen sind fließend, ineinander verwoben und werden gleichzeitig angesprochen:

Körperübungen: Gespür für sich selbst und die eigenen Grenzen entwickeln, Körpersignale wahrnehmen und zuordnen können, Selbstregulation trainieren.
Bewusstes Atmen: Kraft tanken und verbrauchte Energie abgeben. Emotionale Balance.
Tiefenentspannung: Stressbewältigung und Freisetzung von Spannung.
Meditation: Konzentration, Reflexion und Vorstellungskraft, innere Stille, Achtsamkeitstraining.

Die Yoga-Übungen sprechen den gesamten Körper an. Bei nach innen gerichteter Aufmerksamkeit und einem konzentrierten Nachspüren einzelner Übungen werden die Empfindungen beobachtet, was zu einer verfeinerten Wahrnehmung führt. Unterstützt wird dies durch einen Rückzug der Sinne (Pratyahara) und der Ausführung von Übungen mit geschlossenen Augen, was die Intensität äußerer Impulse mindert und es erleichtert, die Achtsamkeit bei sich selbst zu halten. Die Übungen selbst haben einen massageähnlichen Effekt und wirken stimulierend auf bestimmte Körperzonen, die als Reflexpunkte für verschiedene Organe fungieren. So ist es möglich, mit spezifischen Yoga-Übungen gezielt auf Organfunktionen einzuwirken. Der meditative Aspekt vieler Übungen und die Meditationen selbst führen zu einem Zustand der Betrachtung, der frei ist vom Denken und zu einer ganzheitlichen Wahrnehmung hinlenkt, in der Körpersignale und Gefühle gleichzeitig verarbeitet werden.

Durch die vielfältigen Facetten seiner Übungspraxis führt der Weg des Kundalini-Yoga, bildlich gesprochen, den Menschen von äußeren Anforderungen hin zu den eigenen Bedürfnissen und verschafft ihm damit in schwierigen Situationen mehr Spielraum, mit diesen umzugehen und die Balance zwischen Psyche und Körper zu erhalten.

Der Praxisteil dieses Buches baut auf dem Chakra-Energiesystem auf, einem der grundlegenden Konzepte im Yoga. Das Chakra-System verbindet physische, mentale und seelische Aspekte miteinander. Dieser Ansatz erlaubt einerseits die ganzheitliche Betrachtung des Menschen, und andererseits liefert es dem Yoga-Coach zahlreiche Anknüpfungspunkte für gezielte Fragen und Interventionen. Energetisch betrachtet hat Kundalini-Yoga – ebenso wie der Hatha-Yoga – das Aufsteigen der Kundalini-Energie zum Ziel. Der Hatha-Yoga fokussiert darauf, die unterschiedlichen Energien zusammenzuführen, um durch das entstehende energetische Gleichgewicht das Bewusstsein zu erhöhen. Der Kundalini-Yoga hingegen kombiniert dem Hatha-Yoga ähnliche Körperhaltungen, dynamische Bewegungsabläufe und bewusste Atemführung mit speziellen Meditationen und Mantras und bezieht von Beginn an deren psychomentale Wirkung in die Übungspraxis ein.

Die Vereinigung der wesentlichen Aspekte aller Yoga-Richtungen ermöglicht es dem Praktizierenden, mithilfe des Kundalini-Yoga seine Urteilsfähigkeit zu erhöhen und die Intuition zu entwickeln. Damit wird Selbstbestimmtheit im persönlichen Leben verankert. Es geht darum, den jeweils individuellen Weg zu mehr Gesundheit, Ausgeglichenheit und Selbstentfaltung zu finden. Aus diesem Grunde ergänzt Kundalini-Yoga methodisch alle diejenigen Coachings, die auf persönliche Entwicklung sowie den Erhalt bzw. die Wiedererlangung der Leistungsfähigkeit des Klienten abzielen. Aber auch in anderen Kontexten vermag der umfassende körper- und zugleich achtsamkeitsorientierte Ansatz des Kundalini-Yoga eine wertvolle Unterstützung des Coaching-Prozesses sein. Mehr Details dazu finden Sie im Praxisteil.

1.3 Die Wirkweise des Kundalini-Yoga