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Umschlaggestaltung: Maria Wittek, München

Umschlagabbildung: Photocase/Shutterstock

Satz: Georg Stadler, München; Alexandra Noll, München


ISBN Print 978-3-86882-603-6

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-792-9

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86415-793-6


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Inhalt

Kahlina
Von Nähe und Distanzen
Der Statist
Der Naturbursche
Die Droge I
Black & White und Drogenspiele
Die Droge II
Magic
Das Objekt
Die Droge III
Ein Tag im Web
Spontanbesuch mit Saxofon
Die Droge IV
Der Literat
Gefühle
Der Berliner
Er
Profiländerung
Überraschende Nachricht
Schillernde Schizophrenie
Zwei Kranke?
Kahlina ist tot

Kahlina

Natürlich ist Kahlina nicht mein richtiger Name. Aber er ist schön, nicht wahr? Woher er stammt? Russisch, hat einmal einer meiner Flirtpartner vermutet. Wahrscheinlich wegen der Ähnlichkeit mit Kalinka.

Tatsächlich ist Kahlina meiner Fantasie entsprungen und ich hoffe, die deutsche Bürokratie ist heute so aufgeschlossen, dass ich meiner Tochter diesen wunderschönen Namen geben darf, wenn und wann auch immer sie geboren wird. Der Vater muss ihn natürlich auch mögen, aber das wird einfach als Auswahlkriterium definiert.

Es gibt Menschen, die behaupten, dem sogenannten Nick keine Bedeutung zu schenken. (Für alle Nichteingeweihten: Nick = short for Nickname, das Pseudonym, welches man sich im virtuellen Flirt­-
­raum gibt.) Gut, man trifft auf Namen, die tatsächlich nichts zu bedeuten haben. Stefan64, Mark11, ChrisBln oder Micha01 sind Menschen, die kein Pseudonym brauchen. Sie treten als die auf, die sie sind: offene, ehrliche Menschen, die meist auch ehrliche Absichten haben und schnell zur Sache kommen. Kein Schnickschnack, keine Wortspiele. »Techniker sucht Bankangestellte«, unter dieser Überschrift könnte ihre Suche laufen. Sie suchen Sandra68 oder MoniBln, aber bestimmt nicht mich. Jedenfalls hat mich selten ein solches Exemplar angeschrieben, und mich zieht es auch nicht auf ihre Profile, womit circa 40 Prozent aller virtuell Suchenden durch mein Beuteraster fallen.

Wenden wir uns den verbleibenden 60 Prozent zu. Da gibt es die Gruppe der Kuschelbären. Für Winnipuh, Habmichlieb, Schnulli, Baer99, Nennmichhasi, Katerchen und Snoopy ist jeder Mausklick zu viel. Und wer doch mal klicken will, der darf damit rechnen, von einem gaaaanz lieben männlichen Wesen, meist mit Bauch und Bart ausgestattet, angelächelt zu werden. Beliebte Kulisse: das heimische Wohnzimmer mit dezent grau-bordeaux gemusterter Sitzgarnitur und Grünpflanze.

Bei einer weiteren Gruppe ist der Name Programm: Was mich bei Bikertoni, Scarface, Langistsher, Klette, KingLoui und Breulerkeule erwartet, steht außer Frage. Ich habe nicht vor, mich in eine Lederkluft zu zwängen und die Wochenenden auf der Spinnerbrücke zu verbringen. Für alle Nichtberliner: Hier treffen sich bei gutem Wetter mehrere Hundert Biker, um die in der Sonne blitzenden Chromteile ihrer Maschinen zu präsentieren. Ein lohnendes Schauspiel, das definitiv in jede Stadtbesichtigung gehört. Aber ein Schauspiel, das man sich als normaler Mensch einmal gibt, und eben nur als Zuschauer. Bei Langistsher verspüre ich auch nicht das Verlangen, ihm zu einem anderen Namen zu verhelfen, und um die Klette mache ich lieber den größtmöglichen Bogen. Da wäre dann noch Alleinerziehend. Auch dieser Herr findet bei mir nicht die Unterstützung, die er sucht. Von Herren kann man bei Cunilingo, Nylonman, Fisty, Zungenkünstler, DerMasseur und IchleckDich wohl nicht reden. Leider gehören diese Exemplare zu der aufdringlichen Sorte, die einem permanent das Postfach zumüllen. Ob die jemals erfolgreich sind?

So ist das mit dem Ausschlussprinzip. Wenn man auf diese Weise vorgeht, steht man schnell vor einem kläglichen Rest von vielleicht zehn Prozent, und das ist selbst in einer Stadt wie Berlin nicht besonders viel, bedenkt man auch noch die Eingrenzung durch das Alter und die sexuelle Ausrichtung. Letzteres mag vielleicht in Deggendorf eine untergeordnete Rolle spielen, in unserer Hauptstadt sollte man bei der Suche jedoch nicht vergessen, das Häkchen bei »hetero« zu setzen. Mann beziehungsweise Frau erspart sich dadurch die Enttäuschung, schmachtend an der Mattscheibe zu kleben und diesem süßen Gesicht auf einem traumhaften Body ihre Liebe kundtun zu wollen, nur um dann festzustellen, dass der Angebetete mit ihren Brüsten wenig anzufangen weiß.

So viel zur Bedeutung des Nicknamens. Will mir immer noch jemand erzählen, der Name hätte keine Bedeutung?

Was oder wer also steckt hinter Kahlina? Der Name ist schön und ungewöhnlich. Wir haben es hier demnach mit einer schönen und ungewöhnlichen Frau zu tun, mit einer ungewöhnlich schönen Frau wäre auch keine falsche Schlussfolgerung. Und auch »ganz schön ungewöhnlich« würde ich nicht bestreiten. Ein gewisses Selbstbewusstsein lässt sich nach diesen Aussagen wohl auch nicht mehr verhehlen. Arroganz wird mir häufig vorgeworfen, aber davon nehme ich Abstand.

Ich gehöre zur Generation Ally. Die Frauen und wohl auch Männer der Generation Ally sind Kinder der Achtziger. Aufgewachsen in einer Zeit, in der sich die Jugendlichen erstmals in derart viele Gruppierungen teilten, dass selbst wir den Überblick verloren, stellen wir erst heute erstaunt fest, dass wir eine Generation sind. Die Generation der Workaholics, die zügig ihr Studium beendet hat, um sich dann ganz dem Spaß der Arbeitswelt in hippen Agenturen und aus dem Boden schießenden New Economys zu widmen. Die Frauen meiner Generation waren derart damit beschäftigt, sich als angehende weibliche Führungskräfte in einer Männerwelt zu behaupten, dass sie ihr Frausein völlig vergaßen und vor lauter Selb­st­ständigkeit mit Mitte bis Ende 30 alle Männer in die Flucht schlagen. Wir haben erreicht, was wir wollten, Mann akzeptiert und respektiert uns, wir sind unabhängig, fahren teure Firmenwagen, kleiden uns in namhafte Label und leisten uns Wohnungen mit Dachterrassen. Wir sind am Ziel, ein Ziel, welches wir jahrelang verbissen verfolgt haben.

Und was macht man dort? Man blickt sich um und stellt fest, wie erschreckend einsam es dort ist. Endlich hat man Zeit, das Erreichte zu genießen. Doch mit wem? Und wie genießt man eigentlich? Auch das haben wir in all den Jahren verlernt.

»Halt, stopp!«, werden jetzt einige ausrufen. »Was ist mit den Wellnesswochenenden? Ist es kein Genuss, sich morgens massieren, nachmittags gleichzeitig maniküren und pediküren zu lassen und den Tag mit einem Glas Champagner zu beenden? Und wer kann es sich schon leisten, mal eben mit den angesammelten Meilen einen Flug nach Paris zu buchen?«

Ja, eine Zeit lang gelingt es, sich selbst vorzumachen, dass diese Oberflächlichkeiten der verdiente Lohn harter Arbeit sind und dass der Sinn des Lebens darin besteht, sich wie Carrie zu fühlen, die in Sex and the City Partys besucht, auf denen abgelegte Lover untereinander ausgetauscht werden. Aber eben nur eine Zeit lang.

Irgendwann passieren merkwürdige Dinge: Man läuft an einem Sommertag beschwingt über den Ku’damm und stellt sich vor, wie sexy es wäre, eine kleine Kugel vor sich herzuschieben. Unmöglich? Genau dieser Meinung war ich auch, im letzten Jahr an einem warmen Sommertag, als mir ebendieser Gedanke durch den Kopf schoss. »Unmöglich, dass ich das jetzt gerade gedacht habe. Ich doch nicht! Ich und Kinder? No way, die hatten noch nie einen Platz in meinem Leben.« Schon mit 14 war mir klar, dass ich keine Kinder haben werde. Halslose schreiende Ungeheuer, die aus Frauen Muttertiere machen. »Abstruser Gedanke, das muss die Hitze sein.«

Einmal kurz schütteln und weitergehen, als wenn nichts gewesen wäre. Sonnenbaden auf der Dachterrasse, den Schampus immer griffbereit, shoppen gehen und mit dem Cabrio am Wochenende mal eben nach Hamburg düsen. Das Leben ist schön. Und dann, mitten auf der Fahrt durch das eintönige Brandenburg, kommt ganz kurz die Erinnerung an diesen merkwürdigen Gedanken von neulich. Irgendetwas bewegt sich links, ganz am Rande des Blickfeldes, und zieht die Aufmerksamkeit nur einen kurzen Moment von der Fahrbahn ab. Und so ganz zufällig fliegt da ein Storch, so als wolle er das gerade Gedachte noch einmal unterstreichen. »So ein Unsinn, blanker Zufall.« Und schon wieder weggewischt.

Aber spätestens auf der Rückfahrt, als für nur einen ganz kurzen Augenblick wieder dieser Gedanke kommt und dann dort am Horizont … »Nein, das kann jetzt nicht sein. Das ist doch nicht wieder …?« Oh doch, es ist ein Storch!

Ja, spätestens dann ist es nicht mehr nur der Hitze zuzuschreiben. Spätestens dann überlegt man sich, ob an der Geschichte mit den Zeichen doch etwas dran ist. Und ganz langsam verändert sich die Wahrnehmung. Überall tauchen gut aussehende Männer auf, die liebevoll ihre Babys durch die Gegend tragen. Besteht etwa doch die Möglichkeit, Kind und Karriere unter einen Hut zu bringen? Laufen da draußen haufenweise Männer rum, die nur darauf warten, ihre Vaterpflichten voll Hingabe erfüllen zu dürfen? Und wenn dem so ist und ich mein Leben bisher gelebt habe wie ein Mann, warum kann ich es dann nicht auch weiterhin tun? Kurze Babypause, gerade ausreichend zum Abstillen, und dann zurück in den Job. Zu Hause kümmert sich ein gut aussehender Mann um den Haushalt, wechselt stinkende Windeln und wartet abends mit einem grandiosen Essen auf mich. Männer sind sowieso die besseren Köche.

Gar kein schlechter Gedanke, wären da nicht ein paar Faktoren, die ein Leben dieser Art schier unmöglich machen:

Erstens: Der Job füllt mich nicht mehr aus und ich habe immer gelebt, um zu arbeiten, und wollte nie arbeiten, um zu leben. Und was wäre denn das für ein Leben? Vorbei mit dem Schampus, Schluss mit den Kurztrips, aus dem Arbeitszimmer wird ein Kinderzimmer, und da der Mann als Zweitverdiener ausfällt und nun auch noch ein drittes Maul zu stopfen wäre, ist es auch vorbei mit der finanziellen Unabhängigkeit. Der Verlust des Arbeitsplatzes wäre plötzlich eine ernst zu nehmende Bedrohung und auf mir würde eine Verantwortung lasten, der ich bisher geflissentlich aus dem Weg gegangen bin.

Zweitens: Wer will sich nach einem anstrengenden Tag schon die banalen Probleme eines erziehenden Vaters anhören? »Du, die Kleine bekommt Ausschlag von den Höschenwindeln. Sie schreit den ganzen Tag und ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.« Statt des attraktiven Mannes mit modisch verwegener Kurzhaarfrisur erwartet mich ein unrasierter, völlig überforderter Kerl mit dunklen Ringen unter den Augen und schlecht ausrasiertem Nacken, der einschläft, noch bevor ich mich ausgezogen habe, und sich meinen Annäherungsversuchen mit dem Vorgeben von Migräne entzieht. Im umgekehrten Fall stürzen sich die Männer zu diesem Zeitpunkt in ihre Karriere. Pech für mich und viele Frauen, denen es genauso geht. Wir sind eigentlich am Ziel und wollen nicht mehr.

Und drittens, und das ist das eigentliche K.o.-Kriterium: Wir sind Frauen, ausgestattet mit emotionaler Intelligenz, angeborener Fürsorglichkeit und der notwendigen Portion Wärme und Mutterliebe, die ein kleines zartes Wesen gerade in den ersten Lebensjahren so dringend benötigt. Unmöglich können wir die Erziehung einem Mann überlassen, der, auch wenn er sich noch so sehr bemüht, einem Kind die wichtigen Dinge im Leben nun einmal nicht geben kann. Wir sind Frauen, die es zu etwas gebracht haben, weil sie im entscheidenden Moment immer mit angepackt haben. Wir können nicht loslassen, und ausgerechnet hier sollen wir das plötzlich lernen? Ausgeschlossen!

Ist er nun also wieder abgehakt, der Gedanke, sich doch noch eigenen Nachwuchs zuzulegen? Kann man beziehungsweise Frau diesen Gedanken eigentlich so richtig ablegen, solange rein biologisch die Uhr noch sauber tickt? Bei allen vernünftigen Argumenten, die gegen eigene Kinder sprechen, die Natur hat ein kleines Stück Mami in jede Frau eingebaut. Mein persönliches Stück Mami war eingekerkert, an schweren Ketten ins Verlies gesperrt. Diesen Job hatte ich schon als Jugendliche erledigt und dachte, ich sei das fremdartige Wesen damit ein für allemal los. Aber wie Mütter nun mal sind, sie finden immer einen Weg. Und was lernen wir auf unserem Weg? Selbstfindung bedeutet, im Laufe des Lebens alle Persönlichkeitsmerkmale zu entdecken und zu integrieren, um zu einem runden Ganzen zu werden.

Gut, Mami, entdeckt habe ich dich, auch wenn ich noch nicht so genau weiß, wohin du als Puzzlestück in mir gehörst. Mal sehen, ob du irgendwann zum Einsatz kommst. Zunächst aber muss ein passender Erzeuger gefunden werden. Mit der Frage, ob er dann auch erzeugen darf, beschäftige ich mich, wenn ich weiß, ob ich ihn heiraten würde. Nur rein hypothetisch, denn heiraten will ich ja genauso wenig wie Kinder kriegen. Ich meine, das wäre schon schön, irgendwie romantisch: der Mann fürs Leben! Jemand, mit dem man alt wird. Jemand, auf den man sich immer verlassen kann. Das klingt so lange toll, bis aus »zuverlässig« »zu verlässlich« wird. Wenn man heute schon weiß, wie die nächsten 100 Abende aussehen, wie man begrüßt wird, wenn man heimkommt, an welchen Abenden das Fernsehprogramm so schlecht ist, dass mehr gezappt als geguckt wird und dass das eine Mal Sex, das man in diesen
100 Tagen haben wird, garantiert zum Orgasmus führt, weil man ein eingespieltes Team ist, dann ist »bis dass der Tod uns scheidet« so romantisch wie ein Rülpser nach dem ersten »Ich liebe dich«. Und genauso authentisch. Männer sind nicht romantisch, sie tun nur manchmal so. Uns zuliebe.

Meine Recherchen haben ergeben, dass sich die Gemeinde der Flirt- oder Datingcommunity-Besucher ab Mitte 30 in zwei Lager teilt. Die eine Fraktion besteht aus Frauen und Männern, die die Erfahrung der Familiengründung schon hinter sich gebracht haben. Geschiedene Mütter und Väter, von denen sich nun einer mit den mehr oder weniger halbwüchsigen Kindern herumplagt. Die Männer erkennt man an den leicht bis stark ergrauten Schläfen, die Frauen an den Sorgenfalten.

Der anderen Fraktion gehöre ich an: nie verheiratet und auch nie gewollt und keine Kinder, bisher auch nicht gewollt. Diese Fraktion ist an ihrem jugendlichen bis kindlichen Gesichtsausdruck zu erkennen. Auch wenn einige von uns mit eindeutigen Malen eines ausschweifenden Lebensstils gezeichnet sind, in den Augen leuchtet noch immer diese naive Unschuld, die nur jemand haben kann, der noch nie in seinem Leben Verantwortung für andere Menschen übernommen hat. Gut, da gibt es die Führungskräfte und die Selbst
ändigen, die natürlich Verantwortung tragen, aber was ist dagegen die lebenslange Verantwortung für das eigen Fleisch und Blut? Wir sind die Unbeschwerten. Die, die keine wahren Sorgen kennen. Wir sind die, die Therapeuten aufsuchen, sich mit Religionen beschäftigen, Gesangsunterricht nehmen, meditieren, schamanische Wochenendseminare oder »Tantra für Singles«-Kurse belegen.

Warum wir das tun? Nachdem wir beruflich unser Ziel erreicht haben, stellen wir fest, dass unser Beruf nicht unsere Berufung ist. Manchmal stellen wir das auch fest, bevor wir unser Ziel erreicht haben. Aber zu was sind wir berufen? Bisher haben wir gearbeitet und uns in der Freizeit mit Partys abgelenkt. Wehe, es gab ein Wochenende, das noch nicht verplant war. Nichts ist schlimmer, als auf die Frage »Was machst du am Wochenende?« keine Antwort parat zu haben, die nach viel Spaß und einem großen Freundeskreis klingt. Die Frage nach der Berufung aber stellt sich jedem früher oder später, wenn er oder sie sich nicht dem Familienleben verschrieben hat. Und die Antwort darauf bedingt eine ziemlich genaue Kenntnis der eigenen Person: Wer bin ich, was kann ich, was will ich?

Drei simple Fragen, die einen in ein tiefes Loch stürzen können, wenn sich die Antworten als Blackbox erweisen. Fragen aber, denen man nicht ausweichen kann, wenn man von einem erfüllten Leben träumt und feststellt, dass dies nichts, aber auch gar nichts mit materiellen Dingen zu tun hat. Was machen wir jetzt mit unserer hippen Dachgeschosswohnung? Schmücken wir sie mit Bildern vom letzten Tauchurlaub auf den Azoren? Kaufen wir uns jedes Jahr von unserem Bonus ein Kunstwerk? Beglücken wir uns mit Ringen, die uns ja sonst keiner schenkt, oder lieber mit Ketten, an die uns sonst niemand legt? Wir können uns alles leisten, nur glücklich macht es uns nicht.

Also begeben wir uns auf die Suche. Wir verlassen die gewohnten Pfade der Freizeitaktivitäten und probieren Neues aus. Statt in den Fernseher glotzen wir regelmäßig auf arabische Schriftzeichen, meditieren und versuchen, uns von unserem Gedankenmüll zu befreien. Wir suchen das andere, wir suchen uns selbst und wir suchen die Liebe. Nicht irgendeine Liebe, kein Abklatsch dessen, was wir schon so oft erlebt haben. Wir suchen die wahre Liebe, den Seelenpartner, den Menschen, der nur für uns auf der Welt ist. Warum auch sollten wir uns mit weniger zufriedengeben? Schließlich haben wir nicht gelernt, uns zu begnügen.

Doch bevor uns dieser eine Mensch begegnen kann, bevor wir überhaupt in der Lage sind, ihn zu erkennen, müssen wir uns selbst genau unter die Lupe nehmen. Was erwarten wir vom Leben, was genau möchten wir mit diesem Menschen teilen? Wir sind die erste Generation, die sich den Luxus leisten kann, sich diese Fragen zu stellen. Aber genau genommen ist es kein Luxus. Es ist harte Arbeit, manchmal schmerzhaft zu erkennen, wie unvollkommen man ist, wie dämlich man war und wie weit man noch vom Ziel entfernt ist: Selbstliebe, Zufriedenheit, Ruhe. Und dann, wenn man mit sich allein so schön glücklich ist, dann ist man zur wahren Liebe erst fähig.

So jedenfalls steht es in vielen schlauen Büchern geschrieben. Intellektuell verstehe ich das, aber ich kann mich auch nicht dagegen wehren, dass ein nicht unbedeutender Teil des enormen Frustpotenzials, das diese Aussage beinhaltet, sich auf mein Gemüt schlägt. Werde ich jemals mit straffen Lippen den für mich bestimmten Menschen küssen? Werden wir ohne Krückstock Seite an Seite durch den Rest unseres Lebens gehen können? Wenn ich das möchte, dann muss ich mich mit der Selbstfindung ganz schön beeilen.