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SATSANGA SABINE KORTE

Uma
lernt fliegen

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Herausgeber & Lektor Michael Nagula
Umschlag Frankl Design

Inhalt

Das Versprechen

Aufbruch 1

Aufbruch 2

Aufbruch 3

Aufbruch 4

Innehalten 1

Innehalten 2

Stillsein 1

Stillsein 2

Sterben 1

Sterben 2

Sterben 3

Bardo – Zwischenzustand

Neugeburt

Anhang

Satsangas Weg

Über die Autorin

Osho im Original

Weitere Literaturhinweise

 

 

Für Mahindra, Osho, Maharajji –

mit tiefer Liebe, Dankbarkeit und Respekt.

I have been in sorrows kitchen and licked all the pots.

Then I have stood on the peaky mountain

wrapped in rainbows,

with a harp and sword in my hand.

Zora Neal Hurston

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Das
Versprechen

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Es war ihr letzter Aufenthalt in dem kleinen Seminarzentrum in Taiwan. Jeder ihrer insgesamt fünf Aufenthalte in diesem Land, und speziell in diesem Zentrum, hatte Uma auf besondere Art und Weise geprüft. Doch dieses Mal war sie über eine Grenze gegangen. Sie fühlte sich gefährdet, wie jemand, der zu weit aufs Meer hinausgefahren ist und dort, von Stürmen umtobt, mutterseelenallein gegen meterhohe Wellen kämpft. Ihr seelischer Aufruhr übertraf alles, was sie glaubte, ertragen zu können. Wie eine Ertrinkende an einer Planke hielt sie an einigen heilsamen Gewohnheiten fest, die sie durch einen Großteil ihres Lebens begleitet und ihr immer wieder Halt gegeben hatten. Sie schrieb ständig Tagebuch, meditierte und praktizierte jeden Tag Yoga. Dies waren ihre Retter, nun mehr denn je.

An einem Tag, an dem eine besonders hohe Welle über sie hinwegschwappte, lag sie auf dem Fußboden ihres mit chinesischer Ästhetik eingerichteten Apartments. An beiden Hausseiten der Wohnung befanden sich Baustellen, und an diesem Tag erhöhte noch ein Pressluftbohrer im eigenen Haus das Inferno, das in den frühen Morgenstunden begann und sich erst spät am Abend legte. Sie hatte den Eindruck, innerlich und äußerlich in eine Hölle geraten zu sein. Ihre innere Hölle war hausgemacht, das war klar, und möglicherweise war der äußere Lärm nur ein Spiegel ihres Inneren. Aber keine noch so intelligente Analyse machte die Situation erträglicher für sie. Sie tanzte auf Rasierklingen.

Mechanisch zwang sie ihren Körper, die bekannten Yoga- Übungen auszuführen, aber immer wieder sank sie apathisch auf die Matte zurück und starrte ins Leere. Während sie so auf dem Fußboden lag, wünschte sie sich aus tiefstem Herzen, etwas von jemandem zu hören oder zu lesen, der auch an diesen Punkt gekommen war. Der ebenso weit wie sie aufs Meer hinausgesegelt war, der sich ebenso allein und gefährdet gefühlt hatte und der nun Zeugnis ablegte von seiner Zeit da draußen. Sie rieb sich auf an den Zitaten erleuchteter Meister und Weiser. Alles, was sie sagten, war wahr – aber wie kam Uma, die Schiffbrüchige, dort hin?

Ihre Meister hatten den Quantensprung geschafft. Sie hatten es vollbracht, aber zwischen ihnen und ihr schien es keine Brücke zu geben.

In diesen einsamen Stunden versprach sie sich selbst und gleichzeitig dem ganzen Universum, dass sie eines Tages Zeugnis ablegen würde von ihrer Reise. Aber erst, wenn sie gerettet war. Wenn sie wieder Boden unter den Füßen hatte. Wenn sie die Sonne wieder sehen konnte – vielleicht nicht erleuchtet, sicher noch kein Meister, aber doch ein bisschen weiser. Ein Seebär, der die dunkle Nacht der Seele kennt, dessen Mitgefühl und Menschenliebe gewachsen sind unter dem Gewicht des eigenen Leids.

Und hier ist Umas Geschichte. Der Bericht einer Schiffbrüchigen. Ich, die Erzählerin ihrer Geschichte, spiele keine weitere Rolle und habe lediglich die Aufgabe, alles, was geschehen ist, so getreu wie möglich wiederzugeben.

Uma wünscht, dass diese Zeilen für all jene geschrieben werden, welche die dunklen Stunden kennen – die sich verirrt haben, die glauben, nicht mehr auf dem Weg zu sein und das Vertrauen verloren haben. Aber auch für jene, die bereits dort waren oder vielleicht eines Tages die Fahrt aufnehmen werden dorthin. Denn der Weg zur Selbsterkenntnis, zum Erwachen im Göttlichen ist ein gefährlicher Weg. Wer dies bestreitet oder nicht glaubt, hat ihn noch nicht beschritten. Der Weg ins Licht führt auch durch die Dunkelheit, durch die Verwirrung, durch den Zweifel und die inneren Höllen.

Seit jener Reise, sagt Uma, ist tief in ihrem Inneren etwas ver-rückt, im wahrsten Sinne des Wortes. Was ihr früher so wichtig war, hat heute keinerlei Bedeutung mehr. Alles, was jetzt noch zählt, meint Uma, lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: Sie möchte tanzen. Tanzen mit Gott.

Sie war nie besonders gut darin, sich von ihren männlichen Tanzpartnern führen zu lassen. Sie wollte immer selbst bestimmen, wo es lang geht. Doch nun übt sie sich darin, das Universum, die göttliche Kraft, führen zu lassen. Manchmal meutert sie. Aber im Großen und Ganzen ist sie eine sehr wache und gelehrige Schülerin. Sie weiß, dass Gott sie liebt und ihr Zeit gibt, denn in der Zeitlosigkeit allen Seins gibt es davon jede Menge.

Auf gewisse Art und Weise, auch wenn das niemand hören möchte, hat Gott Umas Willen gebrochen, so wie man einem Wildpferd den Willen brechen muss, bevor man ihm einen Sattel aufsetzen kann. Vorher ließ es sich nicht lenken. Jetzt erst können die beiden mit ihrer endlosen Beziehung beginnen, Gott und Uma, Uma und Gott, mit ihrer Liebesgeschichte, ihrem Ritt, ihrem Tanz und Flug durch alle Lüfte, alle Universen – und auch durch die dunklen Tunnel – hinein ins Licht und weiter in die Unendlichkeit.

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Aufbruch

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1

Jede spirituelle Lehrzeit ist verbunden mit Rückzug, Alleinsein, dem Herausgenommenwerden aus der geschäftigen Welt der anderen. Als sei man krank. Es ist die Zeit des Winters, des Stillstands, der erstarrten Schönheit, der Trauer und des Todes. Das wusste Uma oder zumindest ein Teil von ihr. Der andere Teil ahnte noch nichts, war unbedacht und unbedarft wie der Archetyp des Narren in den Tarotkarten.

Es war ein klarer, sonniger, golden leuchtender Herbst, wie es sie nur noch selten in München gibt. Uma fühlte sich frei, als sei sie nichts und niemandem etwas schuldig. Der Sommer pulsierte noch in ihren Adern, die Wochen in Griechenland auf der Ferieninsel Korfu, wo sie jedes Jahr ein Seminar veranstaltete. Zum dritten Mal waren Uma und ihr »Meister«, wie sie ihren indischen Lehrer Sai Avatar Mahindra nannte, in dem Seminarzentrum im Norden der Insel gewesen und hatten gemeinsam eine Gruppe geleitet. Diesmal hatte sie Mahindra als besonders anstrengend empfunden.

Seit zehn Jahren war sie bei ihm. Davon waren die ersten drei Jahre, die sie insgeheim »die Lehrjahre« getauft hatte, die härtesten gewesen. »Lehrjahre sind keine Herrenjahre«, ermahnten die Schreinermeister, Friseurmeister, Schornsteinfegermeister ihre Lehrlinge früher. Die spirituellen Meister sagten andere Dinge. Etwa: »Am Anfang ist es bitter, am Ende ist es süß.« Aber es lief auf das Gleiche hinaus. Für ihren Meister war Uma auf drei Jahre mit ihren Kindern in den Vogelsberg gezogen, eine ländliche, raue, menschenleere Gegend östlich von Frankfurt, wo Schüler von Mahindra ein Zentrum für Yoga und Ayurveda aufgebaut hatten. Und hier, fern vom sonnigen, großstädtischen München, hatte er sie in die Lehre genommen, getriezt, getrieben, gesotten, poliert, in allen Waschgängen und auf sämtlichen Temperaturen gewaschen und geschleudert, bis sie durchlässiger war und mehr Licht verströmte. Und bis sich ganz nebenbei, und zu ihrem eigenen größten Erstaunen, ihr Herz öffnete, Blatt für Blatt wie eine Rose.

Nach drei Lehrjahren im Vogelsberg durfte sie nach München zurückkehren. Von nun an und weitere sieben Jahre lang hielt sie gemeinsam mit Mahindra Seminare in Deutschland, aber auch in Indien und auf Korfu, begleitete ihn auf seinen Vortragsreisen und ließ sich von ihm schulen. Am meisten lernte sie jedoch durch das pure, alltägliche Zusammensein mit einem Meister. Dies war ihre Gesellenzeit.

Bis jetzt war sie ihm immer ergeben gewesen. Doch in diesem Sommer auf Korfu änderte sich etwas, als hätte der Wind sich gedreht, sei stürmischer geworden, und sie müsse nun wie Mary Poppins ihren Schirm aufspannen, ihn in den Wind halten und sich von ihm forttragen lassen. In diesem Sommer war Uma unzufrieden und insgeheim kritisch mit ihrem Meister, ohne dass sie dies sogar vor sich selbst zugegeben hätte. Immer häufiger beschlich sie das Gefühl, sie befänden sie sich in einer Sackgasse. Ihre Gespräche wiederholten sich, manchmal Wort für Wort. Die Themen, mit denen er ihr vorschlug zu arbeiten, in der ihm höchst eigenen Weise, kaute sie so widerwillig und unlustig durch, wie sie als Kind über den Mathematik-Hausaufgaben gesessen hatte. Sie selbst konnte es noch nicht sehen, aber unter der Oberfläche zeigten sich bereits die Haarrisse ihrer Trennung. Wenige Monate später würde sie sich fühlen wie eine Tochter, die das Haus ihres Vaters verlassen muss, um ihren eigenen Weg zu gehen. Aber jetzt saß sie noch zuhause, ein grummelnder Teenager, der über die Enge der Heimat schimpft.

Und dennoch: In diesem sonnigen Herbst in München schien Umas Welt noch in Ordnung zu sein. Durchsonnt, braungebrannt, gut gelaunt machte sie sich daran, die Umzugskartons auszuräumen, die malerisch in ihrer neuen Wohnung verteilt standen. Kurz vor ihrem Abflug nach Korfu waren Sebastian, Uma und ihre jüngste Tochter Helen in eine neue Wohnung gezogen. Lara aber, ihre älteste Tochter, war nach Südafrika aufgebrochen, wo sie ein Jahr als Austauschschülerin verbringen wollte.

Sebastian war nicht nur Umas Ehemann, er war ihr Geliebter, ihr bester Freund, ihre größte Stütze. Seit sechzehn Jahren gehörten sie einander, hatten zwei Kinder aufgezogen, von denen Lara, die Große, ein »Beutekind« war. Sie stammte aus Umas erster Ehe, doch wenige Jahre nach ihrer Trennung war Umas Exmann, Laras Vater, schnell und für alle überraschend an einer Krebserkrankung gestorben. Sebastian hatte Lara liebevoll mit aufgezogen, sich nie davor gedrückt, ein richtiger Vater für sie zu sein. Ihre zweite Tochter, Helen, war Sebastians und Umas gemeinsames Kind.

Vor dem Umzug hatten sie mit ihren zwei Töchtern jahrelang in einer großen, poetischen, aber höchst renovierungsbedürftigen Fünf-Zimmer-Wohnung am Englischen Garten gelebt. Doch die jungen Mieter direkt unter ihnen waren Studenten, empfingen täglich einen Strom von Gästen und feierten jedes Wochenende Partys. Ihre schöne große Wohnung war immer laut und stank beständig nach Zigarettenrauch, der durch die alten Holzböden von unten zu ihnen nach oben trieb. Lara, die Große, wollte ins Ausland. Bald würde sie Abitur machen, und die Familie wurde kleiner. Es war Zeit für eine Veränderung.

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Uma spürte die Notwendigkeit von Veränderungen, lange bevor sie tatsächlich eintraten. Wie eine Visionärin, eine Prophetin, konnte sie die Ändervögel am Himmel entdecken und ihr Krächzen hören, ehe irgendjemand anders sie bemerkte. An einem Samstagnachmittag, ein paar Wochen vor ihrem Umzug, ruhten Sebastian und sie Arm in Arm auf dem großen Bett in dem prächtigen Jugendstilzimmer ihrer alten Wohnung. Sie hatten sich geliebt und lagen nun still beieinander, wärmten ihre Herzen an dem nachglimmenden Feuer. Während Uma ganz tief, ganz still, in ihr Innerstes eintauchte, empfand sie ihre Liebe zu Sebastian als erfüllt, ihre gemeinsame Reise als vollbracht. Die Erkenntnis stieg auf aus einem Seerosenteich von Liebe, Fülle und Überfluss – nicht aus dem Mangel, der Langeweile oder dem Zwiespalt. Sie hatte den Eindruck, dieser Liebe nichts mehr hinzufügen zu können, aber auch nichts fortnehmen zu wollen – sie war vollkommen. Und wie jedes Vollkommene, Perfekte, trug es in sich den Samen des Aufbruchs, der Umwandlung, der Veränderung.

Auf ihren zahllosen Spaziergängen durch den Englischen Garten hatten sie es bereits gewagt, über ihre ungelebten Träume und Sehnsüchte zu sprechen und ihnen, wie ungeborenen Kindern, die ans Licht drängen, eine träumerische Kontur zu geben. Das Gebiet des Lebens erweitern. Auch mal alleine sein. Oder einen Geliebten, eine Geliebte haben. Oder einen ganzen Winter, nicht nur ein paar Wochen, in Indien, einen ganzen Sommer in Irland sein. Manchmal redeten sie sich heiß, ließen blühende Phantasien vor sich aufsteigen, die wieder zusammenfielen, sobald sie die Haustür zu ihrer Wohnung aufschlossen. Die Struktur, die Pflichten, die Regeln einer harmonischen, geölten, gut funktionierenden Beziehung holten sie schnell wieder ein und wie eine Welle, die vom wilden Meer an den Strand zurückkehrt, auch die Liebe zu ihren Kindern, ihrer Familie.

Umas Familie nahm den ersten Platz in ihrem Herzen ein. Ihre beiden Töchter waren ihre Schätze, ihre Kronjuwelen, ihre kleine Familie war für sie Hort und Heimat zugleich. Sie selbst fühlte sich als spirituelles und emotionales Zentrum dieser kleinen Gruppe. Durch die harte Arbeit mit Mahindra war sie ruhiger geworden, verlässlicher, nicht mehr so quecksilbrig wie zuvor. Allerdings hatte die Abenteurerin und das Gottkind in ihr niemals Ruhe gegeben. Jeden Winter fuhr sie nach Indien, verbrachte dort Zeit mit Mahindra und und nahm die Kinder so lange und so oft wie möglich mit. Lara und Helen liebten Indien. Für sie waren Mahindra, Umas Meister, und ihre Arbeit für den ungewöhnlichen Inder ein selbstverständlicher Teil der Familienrealität. Dennoch wurden sie, wie die Kinder es bei Vergleichen mit Klassenkameraden vorsichtig formulierten, als eine »eher ungewöhnliche Familie« wahrgenommen.

Lara und Helen aßen vegetarisch, verbrachten viel Zeit in Indien und wurden von klein auf mit Mantras in den Schlaf gesungen. Vor Mathematik-Tests spielte Uma ihnen Mozart-musik vor, und vor anderen Prüfungen durchliefen sie abends im Bett phantasievolle Visualisierungssreisen – allerdings unter der Vorbedingung, dass die Kinder zuvor gelernt hatten. Sie sahen wenig fern, führten lange Gespräche am Küchentisch oder kuschelten endlos im Bett oder auf der Couch. Mutter zu sein war für Uma eine große, ernst zu nehmende, aber auch wundervolle Aufgabe, die sie mit viel Liebe, Leidenschaft, Phantasie und Kreativität bestritt. All dies hatte ihr der Meister beigebracht. Sie wusste nicht genau wie, aber irgendwie hatte er es geschafft, ihre besten Eigenschaften wachzuküssen, sie immer wieder daran zu erinnern, dass sie Frau und Mutter war und dass darin etwas Herrliches und Besonderes verborgen war, ein Geschenk Gottes.

Aber es gab auch Schatten: Nichts hasste Uma mehr als zu viel Häuslichkeit, Routine und Pflicht. Wenn die Abenteurerin und Nomadin in ihrem Inneren nicht genährt wurden, verlor sie ihre Farbe, ihre Leichtigkeit, ihr Lachen. Für alles, was sich wiederholte, stabil bleiben, einem Rhythmus gehorchen musste, war eher Sebastian zuständig: die Kinder lateinische Grammatik und Vokabeln abfragen, das Auto zum TÜV bringen – Uma vergaß, dass es so eine Einrichtung überhaupt gab –, der Müll, die Steuern, die Rechnungen für Telefon, Elektrizität, Wasser. Uma wusste alles über Heilung, die Wunden des Herzens, Psychologie, Gefühle oder auch darüber, wie man einen Geburtstagstisch für Kinder auf das Herrlichste dekoriert. Aber nie konnte sie sich den Literpreis für Benzin merken, und sie fürchtete sich vor den vollkommen unvermeidlichen Fragen, die ihr Vater stellte, wenn sie sich trafen: »Wie viel frisst er denn?« Gemeint war ihr Auto, und sie hatte schon Probleme, sich an den Fahrzeugtyp zu erinnern, geschweige denn an seinen Benzinverbrauch. Oder: Die Kaltmiete ihrer Wohnung, und wie hoch waren die Nebenkosten? Solche Zahlen waren für sie flüchtig, ihr Gehirn schien sie nicht wirklich festhalten zu können – oder zu wollen?

Für all dies war Sebastian da, ihr Held, ihr Fels in der Brandung, der die Realität von Zahlen, Maßen, lästigen Terminen mit Steuerberatern, Handwerkern und Automechanikern meisterte. Sebastian war der Ruhige, Kontrollierende, Ausgleichende, Konservative, Stabile. Sebastian war wie das notwendige und begrenzende Ufer für Umas Fluss, der wie alle Flüsse lebendig dahinfloss, sich beständig erneuernd, verändernd, mäandernd, lachend, murmelnd, grollend, rauschend. Und was würde aus einem Fluss ohne Ufer werden, ohne Begrenzung? Würde er sich nicht verlieren, versickern, verschwinden?

Obwohl sie die Ändervögel schon lange am Himmel kreisen sah, ahnte sie nicht, dass Sebastian und die Kinder, diese kleine Gruppe Menschen, die ihr das Wichtigste im Leben war, die ihr Halt und Struktur und Sinn und Richtung im Leben gab, bald schon in alle Richtungen auseinanderstieben würden. Und dass sie es sein würde, welche die Tür zu ihrem prachtvollen goldenen Familien-Käfig aufschloss.

Zwei große Lieben sollten gleichzeitig in Umas Leben treten und waren am Anfang nur schwer voneinander zu trennen. Vimal und Osho. Oder vielleicht sollte man besser sagen: Osho und Vimal.

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Osho war schon lange ein Teil von Umas Leben. Es schien ihr, als hätte sie den indischen Meister und Mystiker immer gekannt. Als verbände sie beide eine alte, nie wirklich gelebte Liebesgeschichte. Und das, obwohl er bereits 1990 seinen Körper verließ, als sie gerade schwanger war mit Helen. Aber sie hatte Oshos Bücher gelesen, seine Meditationen praktiziert und diese auch immer wieder in ihre Arbeit, ihre Seminare, einfließen lassen. Manche Sätze von Osho trafen sie bis ins Mark. Er sprach aus, was sie schon immer wusste, aber mit einer Klarheit, einer Poesie, einem Duft, der ihr Tränen in die Augen trieb.

Der Körper ist nur eine vorübergehende Behausung, eine Karawanserei, eine Bleibe für die Nacht. Am Morgen müssen wir weiterziehen. Aber das Bewusstsein ist auf einer ewigen Wanderschaft, einer Reise ohne jeden Anbeginn und ohne jedes Ende. Es ist eine Reise der Tänze und der Lieder, der Musik und der Poesie, eine festliche Reise, eine Zeremonie ohne jeden Anlass. (1)

Uma musste zu ihm wie zu einem langersehnten Geliebten, auch wenn dieser sich nicht mehr in seinem Körper befand. Und dafür verließ sie Mahindra, ihren ersten Meister, der ihr immer wie ein spiritueller Vater erschienen war. Zu Beginn fand Uma es ganz leicht, sich von ihrem Vater zu trennen, um sich in die Arme ihres Geliebten zu begeben. Später würde sie dieser Schritt in einen immensen Zwiespalt, eine immer größere Verzweiflung treiben, aber noch ahnte sie davon nichts. Gut so. Gut, nicht zu wissen.

Entweder Osho brachte sie zu Vimal oder Vimal setzte Uma zu Füßen des Meisters ab, dies würde sich nie ganz klären lassen. Sie begegnete Vimal auf Korfu, in dem Zentrum, in dem sie ihre Seminare abhielt und er als Therapeut arbeitete. Zwölf Jahre lang hatte Vimal bereits in unmittelbarer Nähe von Osho gelebt. Doch davon wusste sie nichts.

Ursprünglich waren sie nur Freunde gewesen, ja Uma war sogar überzeugt, dass Vimal keine großen Sympathien für sie hegte. In dem Jahr bevor sie zusammenkamen, umarmten sie sich zum Abschied, und die elektrische Ladung zwischen ihnen war so groß, dass Uma Vimal von sich stieß und sich vorschnell aus der Umarmung löste. Das hätte sie warnen können. Aber sie schlitterte hinein in ihr eigenes Schicksal, frohen Herzens und voller Illusionen.

Ein Jahr später, als die Dinge ihren Lauf nahmen, als sie mit dem Meister grummelte und ihre Beziehung zu Sebastian als erfüllt empfand, als ihre älteste Tochter Lara ausgezogen war, um ihr Jahr in Südafrika zu beginnen und sie die letzten Umzugskisten in ihrer neuen Wohnung auspackte, begannen Vimal und sie ihre Liebesgeschichte. Zunächst entspann sich ein harmloser E-Mail-Kontakt, dann legte Vimal, auf dem Weg von Korfu nach Genf, wo er seine Eltern besuchte, einen Zwischenstopp bei Uma in München ein. Sie fingen Feuer, beschlossen sich in Zürich, in der Mitte zwischen Genf und München zu treffen – und diese anderthalb Tage besiegelten ihre Verbindung. Die wogenreichste, turbulenteste, schwärzeste, schmerzhafteste Zeit in Umas Leben begann mit Attacken von Glückseligkeit.

Vimal wartete auf dem Züricher Bahnhof auf sie. Dieser Bahnhof war der erste von unzähligen Bahnhöfen, Flughäfen weltweit, an denen sie im Laufe ihrer gemeinsamen Zeit immer wieder aufeinandertreffen würden. Vimal war ein moderner Nomade. Die längste Zeit, vier Monate im Jahr, die er überhaupt irgendwo fest wohnte, war Korfu. Ansonsten pendelte er zwischen Indien, Thailand, Taiwan, China, aber auch Paris, London und Genf, lebte aus dem Koffer und behandelte Menschen als Cranio-Sacral-Therapeut. Er besaß besondere Hände, Hände wie Antennen, die alles spürten, fühlten, ertasteten, mit jedem Knochen, jeder Sehne, jeder Muskelschicht des Körpers seiner Klienten kommunizierten. Sein Wissen, seine Präsenz, seine totale Aufmerksamkeit machten die Behandlungen zu etwas Besonderem, Einzigartigem, öffneten den Raum für Linderung, Heilung und immer wieder auch für ungewöhnlich tiefe Einsichten, die im Inneren der Menschen aufstiegen, wenn er sie berührte.

Umas Ankunft in Zürich war einer jener Eindrücke, die man nie vergisst, die sich für immer einfräsen in die Festplatte der Erinnerungen, weil sie mit einer so tiefen außergewöhnlichen Empfindung verbunden sind. Sie lief den Bahnsteig hinunter, ohne Vimal sofort zu erkennen, und als sie endlich aufeinandertrafen, versanken sie erleichtert in eine lange Umarmung. Sofort wurde die Zeit ausgeschaltet, als existiere diese Dimension nicht in dem Raum, den sie nun betraten. Sie legten ihre Stirn an der Stelle des Dritten Auge aneinander, als erinnerten sie sich an das, was zu tun sei. Und dann geschah es: Etwas in Umas Inneren öffnete sich wie eine Lotusblüte. Sie begann Welten, Universen, Milchstraßen und Sternenmeere von innerer Ausdehnung und Grenzenlosigkeit zu durchlaufen. Die Geräusche des Bahnhofs und die Geschäftigkeit um sie herum traten in den Hintergrund, obwohl sie sich ihrer bewusst war. Sie war pures Gewahrsein, während in ihr diese immense Ausdehnung stattfand, als weite sich ihr Inneres in einer einzigen auslaufenden Welle bis hinein in die Unendlichkeit.

Sie vergaß, wie lange sie so standen. Später versuchten sie beide diese Erfahrung zu wiederholen, die Vimal als ebenso intensiv empfunden hatte wie Uma. Sie verbrachten lange Minuten in Umarmungen an fremden oder heimischen Flughäfen. Sie spürten einander, nahmen sich wahr, versanken im Energiefeld des anderen, aber nie wieder war es so wie bei jenem ersten Mal in Zürich, als diese stille Explosion nach innen geschah und sich endlos ausdehnte.

War das Osho gewesen, der Uma einen Vorgeschmack auf die Expansion gab, die sie erleben konnte, wenn es ihr gelang, am Ball zu bleiben? Vielleicht. Sie wusste, dass die Meister manchmal so arbeiten.

Als Uma ihren Meister Mahindra vor vielen Jahren in Goa kennen gelernt hatte, hatten sie eines Abends gemeinsam am Strand meditiert. Mitten in der Meditation geschah etwas in ihrem Brustbereich. Sie zerfloss vor Liebe, sie wurde durchspült von einer enormen Welle der Dankbarkeit, die ihren ganzen Körper erfasste und jede Zelle überflutete. Diese Empfindungen waren mit normalen Gefühlen nicht zu vergleichen, sie waren so umfassend, so tief, so reich und von einer so besonderen Qualität, als höre jemand zum allerersten Mal in seinem Leben Musik und bekäme sie sogleich von einem großen, exzellenten Symphonie-Orchester vorgespielt. Uma war trunken mit Gott. Aber diese Trunkenheit war nur ein kleiner Vorgeschmack, ein Schuss himmlischer Schnaps, den der Meister benutzte, um sie zu sich zu holen und zu harter Arbeit an sich selbst heranzuziehen.

Die zehn Jahre mit Mahindra hatten Uma gestählt, sie gab sich keinerlei Illusionen mehr hin. Die meisten Menschen gingen zu einem Meister in der irrigen Meinung, dort irgendetwas zu bekommen. Auch Uma hatte dies am Anfang geglaubt. Tatsächlich sah zunächst auch alles danach aus. Man erfuhr eine unbekannte Süße und Weite, eine Liebe, die so außerordentlich und verführerisch ist, dass man ihr nachlief wie ein Blinder, der sich am Duft der Rosen orientiert. Aber ein Meister besitzt nicht das geringste Interesse daran, einem Schüler irgendetwas zu geben. Denn ein wirklicher Meister weiß, dass der Suchende bereits perfekt ist, dass sich seine Vollkommenheit jedoch unter einem Mäntelchen aus Illusionen, Konditionierungen, Personas, Masken, Hoffnungen und Selbsttäuschungen verbirgt. Und so würde ein wahrer Meister immer nur eines tun: Beständig etwas wegnehmen. Schicht um Schicht abkratzen von der Persönlichkeit des Schülers mit ihren Identifikationen, ihrem Festhalten an Beruf, Image, Aussehen, Erfolg, Geld, Familie, Freunden, all den Strukturen, die ihm angeblich Halt und Sicherheit geben. Und der Meister würde nicht aufhören, an all diesen Strukturen zu rütteln, als schüttele er Kirschen vom Baum. Und seltsamerweise wusste er immer, wann der Baum so weit war und die Kirschen reif sein würden.

Aber kein Mensch würde sich freiwillig auf einen solchen Weg begeben, einen Weg, auf dem man mit großer Sicherheit alles verlor, während es gleichzeitig völlig unklar blieb, was man dafür bekam. Deshalb verführten die Meister. Jeder auf seine Art und mit seinen Mitteln, aber immer war es Verführung, Momente der Süße, der Liebe, der Ausdehnung, die einen anlockten, bis die Falle zuschnappte.

Und so ging es auch Uma, nun schon zum zweiten Mal in ihrem Leben. Wann immer sie die Augen schloss, konnte sie die außergewöhnliche Erfahrung mit Vimal am Züricher Bahnhof zurückrufen. War es Osho, der sie durchströmte und Vimal einfach nur als Medium benutzte, oder erschufen Vimal und sie diese Erfahrung gemeinsam? Sie wusste es nicht, und vielleicht war es auch nicht wirklich wichtig. Sie war bereits geködert, hing im Netz.

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Ihre größte Mutprobe bestand nun darin, bei der Wahrheit zu bleiben. Sebastian und sie führten eine ehrliche und sehr liebevolle Beziehung. Sie hatten sich gegenseitig versprochen, sich niemals anzulügen, denn Lüge und Betrug, so schien es ihnen, war schmerzhafter als Offenheit und das Eingeständnis, dass das Leben so ist, wie es ist: voller Verlockungen, Farben, Düfte, neuer Erfahrungen, Verführungen.

Unzählige Male hatten sie theoretisch besprochen, wie sie es machen wollten, wenn es passierte, aber die Realität entpuppte sich als schneidender, kälter, schroffer, als sie erwartet hatten. Sebastian war verzweifelt, als Uma aus Zürich zurückkehrte. Sie hatte ihn nicht belogen, hatte ihm gesagt, dass sie Vimal treffen würde. Er fühlte sich unsicher, verstoßen, betrogen, verlassen. Sie hatten beide nicht damit gerechnet, dass Menschen im Bereich von Liebe und Beziehungen nur theoretisch Erwachsene sind, aber sofort zu Kindern werden, wenn der sichere Zufluss an Liebe und Zuneigung, den der Partner darstellt, plötzlich gefährdet ist. Der kleine Junge in Sebastian war zutiefst verstört und verängstigt. Uma, die nicht nur seine Ehefrau, Freundin und Vertraute war, sondern irgendwie auch seine Mutter, war fortgegangen, hatte ein anderes Kind genährt, an ihren Brüsten saugen lassen, während er allein zurückblieb, im Ungewissen und ohne Liebe.

All dies zu erkennen, brach Uma das Herz. Es war nicht so einfach, wie sie es sich vorgestellt hatte, die Gebiete des Lebens zu erweitern.

Vimal indes entschwand in den Winter des Nomaden und Sannyasins. Erst nach Japan, um dort Behandlungen zu geben, dann nach Indien ins Osho Meditation Resort, das nun ein internationales Meditations- und Seminarzentrum geworden war. In den folgenden Monaten hielten sie täglich E-Mail-Kontakt und strickten, einander schreibend, weiter an ihrer Liebesgeschichte. Für Sebastian verlor Vimal als E-Mail-Partner in weiter Ferne an Bedrohlichkeit. Doch Sebastian und Uma konnten nicht so tun, als sei nichts gewesen. Das Schiff ihres Lebens war ins Schwanken geraten, die erste Kursabweichung zeigte sich schon auf den Monitoren. Sie rangen um Klarheit. Konnte ihre Beziehung einen Liebhaber ertragen – wollten sie das? Und was wurde aus Sebastians Träumen, Sehnsüchten, Plänen? Uma hatte wie immer den ersten Zug gemacht, war vorausgeprescht, eine Eigenschaft, die ihr vertraut war.

Irgendwo hatte sie einmal gelesen, dass die Art und Weise, wie man geboren wird, großen Einfluss darauf hat, wie man sein Leben angeht. Berichten ihrer Mutter zufolge war Uma eine Sturzgeburt gewesen. Gerade noch war ihre Mutter mit der Lachgas-Maske beschäftigt, die man zu jener Zeit den Gebärenden zur Linderung der Schmerzen gab, da kam eine Hebamme, riss ihr die Maske vom Gesicht und rief bestürzt aus: »Um Himmels willen, bei Ihnen haben ja schon die Presswehen eingesetzt!« Und dann, innerhalb von Minuten, war Uma auch schon da.

Von Vimal, der sich als Cranio-Sacral-Therapeut mit Geburtsvorgängen auskannte, erfuhr Uma später, dass eine Sturzgeburt aus der Sicht des Babys keineswegs eine fröhliche, leichte Rutschpartie ist. Lachgas, das inzwischen längst nicht mehr eingesetzt wird, verwandelt die direkte Umgebung des Fötus in ein hochgiftiges Terrain. Offensichtlich verließ Uma die schützende Gebärmutter im Eiltempo, weil es dort nicht mehr auszuhalten war. Inwieweit sich ihre schnelle Geburt, die Flucht aus dem Kokon und das eilige Hineingleiten in die Welt tatsächlich auf ihr Leben auswirkte, ließ sich natürlich nicht genau bestimmen. Dennoch bemerkten Nahestehende, Freunde und auch Uma selbst, wie leicht es ihr fiel, sich zu verändern, Wohnungen aufzugeben, Umgebungen zu wechseln, Freunde zurückzulassen. Insgesamt war sie immer eher ein wenig zu schnell als zu langsam, zu früh als zu spät. »Meine jüngste Tochter ist ein Nestflüchter«, sagte ihre Mutter manchmal zu Bekannten. Früher war Uma dies als ein Vorteil erschienen, aber mit zunehmendem Alter erkannte sie, dass alles seinen Preis hat. In der harten Schule des Meisters musste sie mehr als ein Mal unbequeme Situationen aussitzen, dranbleiben, sich festbeißen, durchhalten, dableiben, was nicht unbedingt ihrer Natur entsprach.

Und so war es auch jetzt nicht weiter erstaunlich, dass Uma, die Visionärin und Reformerin, den ersten Schritt getan hatte und nicht Sebastian, der Friedliche, Vorsichtige, Schützende.

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Manche Zeiten im Leben sind schnell wie Gebirgsbäche im Frühling, die sich von Felsen und Berghängen ins Tal hinabstürzen. Dieser Herbst und frühe Winter war so eine Zeit in Umas Leben, eine Zeit des Aufbruchs und der stürzenden Wasser. Sie war aufgekratzt, hoch schwingend und erfuhr die erstaunlichsten Energiephänomene in ihrem Körper. Es war, als ob Osho auf einer rein energetischen Ebene auf sie einwirkte. Und dies schien durchaus möglich zu sein.

Uma wusste, dass jeder Meister ein bestimmtes Energiefeld erzeugt. Manche bezeichnen es auch als »Buddhafeld«. Doch nicht nur Meister, sondern auch Fußballfans, Altersheime, Gefängnisse, Krankenhäuser, Kegelclubs, Familien, Paare, ja, jede Art von Gruppe, weben ein gemeinsames Energiefeld. Das Feld, das ein Meister hervorbringt, ist jedoch ein sehr besonderes und kann auch Jahrhunderte nach seinem Tod noch wirken. Im Buddhafeld eines Meisters beschleunigen sich die Dinge und oft passieren Merkwürdigkeiten, die man sich nicht genau erklären kann, die aber zur eigenen Entwicklung, Veränderung, ja, Erleuchtung beitragen, vorausgesetzt, man ist offen und empfänglich dafür.

Als Uma zum ersten Mal nach Poona ins Osho Meditation Resort kam, begegnete ihr gleich hinter dem großen Eingangstor Vimals Exfreundin. Kendra war der letzte Mensch, den Uma gerade treffen wollte. Sie tat, als würde sie Kendra nicht bemerken, was zunächst funktionierte. Doch sobald sie sich im Meditation Resort, einer großen Parkanlage mit vielen Gebäuden und offenen Cafés, bewegte, begegneten sie einander auf Schritt und Tritt – es war wie verhext. Vimal behauptete, dies sei oft so im Resort. Wenn man etwas mit jemand zu klären habe, dann liefe er einem ständig über den Weg, doch sobald es aufgelöst sei, begegne man sich kaum noch. Und so war es auch wirklich. Nachdem Uma ihr in zwei Tagen etwa sechs Mal begegnet war, rangen sie sich zu einer klärenden Aussprache durch und versöhnten sich. Danach sahen sie einander kaum noch.

So und auf unzählige andere Weise wirkt das Buddhafeld. Es erhellt einem immer einen Aspekt seiner selbst, den man vergessen oder verdrängt hat und mit dem man sich nicht auseinandersetzen will. Im Buddhafeld wird der Schüler mit seinen ureigensten Konfliktthemen konfrontiert, sei es Macht, Kontrolle, Eifersucht, Neid, Geiz oder Gier, Angst vor Einsamkeit, vor Nähe, vor Autorität, vor dem Gefühl von Wertlosigkeit. Die Nähe des Meisters, die man so ersehnt, rückt nur den Spiegel heran, den man so fürchtet.

Uma war nicht so unbedarft, dass sie Klöster oder Ashrams oder Zentren wie das Resort für Orte hielt, an denen die Bewohner besonders respektvoll miteinander umgingen. Sie wusste, dass die hohe Schwingung des Buddhafelds alles zutage und ans Licht treten ließ, was man vielleicht schon ein ganzes Leben lang versucht hatte, zu verstecken. Das Buddhafeld eines Meisters in einem Ashram mochte ein Platz der Klärung, der Reinigung, der Erkenntnis und des Lichts sein – aber nicht zwingend ein Ort des Friedens. Schüler eines Meisters waren keinesfalls bessere oder gar liebevollere Menschen. Das Einzige, was Uma mit Sicherheit über die Schüler eines Meisters sagen konnte, sie selbst inbegriffen, war dies: Wenn sie es ehrlich meinten, waren sie mutiger als andere. Sie waren bereit zur Selbsterkenntnis, zum Blick in den Spiegel und damit in die Abgründe ihres Wesens. In der Hoffnung, eines Tages weiser, klarer, erleuchteter wieder daraus aufzutauchen, doch dafür gab es keine Garantie. Der Ausgang eines solchen Unternehmens blieb immer ungewiss. Deshalb waren Mut und Vertrauen die wichtigsten Eigenschaften eines wirklichen Schülers.

Und beides besaß Uma. Mut und ein kindliches, unschuldiges, zutiefst unvernünftiges Vertrauen, dass der Weg, dem sie folgte, richtig war.

Von allen Nachrichten, die Osho ihr jemals zukommen ließ, berührte sie deshalb diese am meisten. Es war ein Zitat auf einem vergilbten Zettel, den Vimal in einem seiner alten Koffer fand:

Dies ist Vertrauen

der Mut, dein sicheres Leben zu riskieren für ein

unbekanntes Ende.

Niemand weiß, ob es dir gelingen wird, das Ende zu

erreichen oder nicht.

Niemand weiß, ob überhaupt irgendjemand jemals am

Ende angelangt ist.

Aber jetzt ist das unerheblich.

Jetzt rechnest du nicht, kalkulierst nicht,

jetzt wagst du den Sprung.

Jetzt hat nur dieses Abenteuer eine Bedeutung

und nichts sonst.

Und du bist bereit, alles dafür zu opfern.

Dies ist es, was Jesus meint, wenn er sagt:

»Er hat seine Eigenen geliebt in dieser Welt.«

Ihr seid meine Eigenen.

Wenn ich dein Herz berührt

und dort die Sehnsucht erweckt habe, diese vollkommen

unmögliche Sehnsucht,

frei zu sein,

falls ich wie ein wilder Vogel für dich war

und die Fesseln deiner häuslichen Gewohnheiten

gesprengt habe

und du bereit bist, vielleicht noch unsicher, aber bereit zu

fliegen, bereit, es zu versuchen, dann gehörst du zu mir. (2)

Im Herbst und frühen Winter vor Umas Aufbruch warteten diese Worte noch auf sie in einer fernen Zukunft, die sie sich nicht ausmalen konnte. Noch war sie voller Optimismus und Zuversicht. Noch glaubte sie, zwei Männer, zwei Meister, zwei Lieben in ihrem Leben unterbringen zu können. Hatte sie denn nicht immer ungewöhnlich gelebt?

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Uma ahnte noch nicht, dass man auf dieser Reise nichts behalten kann. Sie musste alles loslassen, bereit sein, alles herzugeben, um am Ende nackt dazustehen. In ein paar Jahren würde sie an diesem Punkt angekommen sein und es wissen. Aber jetzt wiegte sie sich in falschen Hoffnungen. Osho hatte sie noch nicht von den Klippen gestoßen, sie befand sich noch nicht im freien Fall. Sie besaß den Mut der Naiven und Anfänger, die noch nicht in die Schlacht gezogen sind – obschon all die Jahre engster Nähe zu ihrem Meister Mahindra sie hätten warnen können. Doch was nützten die Warnungen jemand, der aufbrechen will, um fliegen zu lernen? Sie würden ihn nur schwächen und seine Zweifel verstärken.

Der Winter in der neuen Wohnung erzeugte in Uma ein Gefühl der Enge. Sie lebte und arbeitete mit Sebastian im gleichen Raum, wegen der teuren neuen Dachterrassen-Wohnung hatten sie ihr altes Büro nicht behalten können. Es war seltsam, ihrem geliebten und in höchstem Maß vertrauten Mann gegenüber zu sitzen und versteckt hinter dem Bildschirm des Computers Nachrichten von Vimal zu empfangen. Sie tat nichts heimlich, vertuschte nichts, Sebastian wusste, dass sie Kontakt hatten, aber das Klare und Reine ihrer Beziehung war getrübt. Noch waren sie ein Paar, und sie stellten sich der Herausforderung gemeinsam, genau wie sie es früher getan hatten. So wie sie die Hausgeburt ihrer Tochter Helen in einem einsam gelegenen irischen Landhaus hinbekommen hatten. Oder die Beerdigung von Ulrich, Umas Exmann und Laras Vater. Oder die Erziehung der Kinder, die zahllosen Umzüge, die Arbeit für den Meister – es gab nichts, was sie nicht mit vereinten Kräften gemeistert hätten. Rückblickend fügte sich dies zu einem Mosaik von unzähligen kleinen und großen Siegen, als wären sie gemeinsam drei Mal um die Welt gesegelt, hätten Stürme überlebt, Segel geflickt, ihr Boot immer wieder flott bekommen – und bei all dem den Sinn für die Liebe, die Schönheit und die Harmonie nie verloren. Sie waren ein großartiges Paar. Sie wollten dies nicht aufs Spiel setzen. Auch Uma, die Risikobereite, die Grenzgängerin fand sich dazu nicht bereit. Denn abgesehen von den Kindern war Sebastian für Uma der liebste, vertrauteste, wertvollste Mensch auf der ganzen Welt. Und so wandten sie auch diesmal die Taktik an, die sich immer am besten bewährt hatte. Sie probierten es gemeinsam, nicht gegeneinander. Sie würden auch einen Lover, einen neuen Meister irgendwie hinbekommen.

Allerdings war Sebastians Beziehung zu Umas Meister Mahindra immer eigenartig geblieben. Er respektierte ihn, er lebte mit ihm, so wie man einen höchst seltsamen Onkel der Ehefrau akzeptiert und höflich zu ihm ist, ohne sich je recht auf ihn einzulassen. Er tat alles, worum Mahindra oder Uma ihn baten. Meist spielte er den Chauffeur, holte den Meister ab und brachte ihn zurück, er organisierte Räume für Vorträge, kopierte Werbung, kaufte ein, versorgte die Kinder. Er fühlte sich wohl in der Rolle des Dieners, der die gute Sache unterstützt, sich aber diskret im Hintergrund hält und nicht an vorderster Front kämpft. Uma hatte sich dem Meister mit Haut und Haaren verschrieben. Durch ihn waren so viele tiefgreifende Veränderungen in ihr passiert, notwendige Prozesse, inneres Sterben und Auferstehen, sie vertraute diesem ungewöhnlichen Mann. Für Uma bedeutete es ein unglaubliches, riesiges Geschenk, dem Meister begegnet zu sein. Sie riss das Papier auf, packte das Geschenk aus, benutzte es und ließ zu, dass es sie veränderte. Sebastian betrachtete das Geschenk von allen Seiten und beschloss, es hübsch eingepackt stehen zu lassen. Er blieb vorsichtig und sagte erst einmal »Nein«, wie er auch fremdes Essen zunächst immer misstrauisch beäugte. Und so existierte der Meister für ihn lediglich als eine Art Kuriosität in ihrem gemeinsamen Leben, die er hinnahm, weil er Uma liebte und weil er ihr vertraute. Immer wieder hatte sie das Schiff ihrer Beziehung in neue, fremde, unsichere Gewässer gelenkt, aber nie waren sie aufgelaufen. Letztlich hatten alle Veränderungen immer wieder zu mehr Weite und Ausdehnung und zur Entdeckung neuer Gebiete geführt. Was immer Mahindra Uma lehrte, gab sie an Sebastian weiter, und so färbte sich auch seine Sichtweise der Welt mit der Weisheit ihres Gurus. Auf gewisse Weise war Uma, stellvertretend für Mahindra, Sebastians Meisterin.

Uma, die Indien liebte und sich dort beinahe schon zu Hause fühlte, hatte es noch nie seltsam gefunden, einen Guru zu haben. In Indien besaßen viele Familien einen Guru, für sie war das so normal wie für eine deutsche Familie die Existenz eines Hausarztes. Die Vorstellung, dass es hochentwickelte Seelen gab, die auf die Erde kamen, um diejenigen, die noch im Dunkeln tappten, näher ans Licht zu bringen, war für die Inder so selbstverständlich, dass niemand auf die Idee kam, darüber zu diskutieren. Obwohl Uma wusste, dass die Beziehung zwischen einem Guru und seinem Schüler sehr vielschichtig und individuell ist, konnte sie die Sache mit dem Meister durchaus pragmatisch sehen. Einen Guru zu haben, das war für sie, als ginge sie zu einer anstrengenden Yoga-Klasse, um sich dort fordern zu lassen. Einem Meister zu dienen, das bedeutete das Ende des wohligen Übens zuhause auf der eigenen Yoga-Matte, wo man seine Grenzen nie wirklich austarierte. Und wie ein guter Yogalehrer nahm ein spiritueller Lehrer einen mehr heran, als einem lieb war.

Aber was trieb einen Menschen dazu, sich auf so etwas einzulassen? Uma hatte keine endgültige Antwort darauf. Je länger sie lebte, umso bewusster wurden ihr die Schönheit und das Mysterium jedes einzelnen Menschen und seines Lebens. Sie befanden sich in einer Mysterienschule. Jede Lebensgeschichte verlief anders, jeder sang sein Lied, tanzte seinen höchst eigenen Tanz und schrieb dabei, bewusst oder unbewusst, seine ganz eigene persönliche Liebesgeschichte mit der göttlichen Existenz. Keine Geschichte glich der anderen. Dies war nun Umas Liebesgeschichte, und in ihrer gab es Gurus, wie Osho. Und sie sagten Sätze, an die Uma glaubte:

Nicht einen einzigen Menschen gibt es auf der Welt, der sich nicht – bewusst oder unbewusst – danach sehnt, größer, großartiger, umfassender zu sein, der nicht versucht, nach dem Mond und nach den Sternen zu greifen. (3)

In dem Versuch, ihr Schiff auch diesmal wieder gemeinsam flott zu bekommen, unternahmen Sebastian und Uma in diesem Winter und Frühjahr unzählige Spaziergänge in ihrem »neuen« Park. Sie wohnten jetzt nicht mehr am Englischen Garten, sondern am Nymphenburger Park, der, wie es hieß, ein Zubringer des deutschen Teils vom Jakobsweg war. Tatsächlich entpuppte sich der Park in seinen Tiefen, welche die vielen Touristen des dazugehörigen Schlosses nie erforschten, als ein durch und durch magischer Ort, der sie beide tröstete, beruhigte und nährte. In all ihren Gesprächen versuchten sie, dem Geheimnis des Lebens, vor allem aber der Liebe, auf die Spur zu kommen. Wenn es Liebe gibt und wenn sie wahr ist, so lautete Umas These, dann muss sie auch in der Lage sein, sich verändern zu dürfen. Uma glaubte an eine Art alchemistischen Prozess, welcher der Liebe erlaubte, sich immer wieder neu zu definieren und in anderen Farben zu brillieren. Sie weigerte sich hinzunehmen, dass die Liebe einfach enden könnte, entweder weil einer von zwei Partnern sie »ermordete«, in dem er sich jemand anderem zuwandte, oder weil sie mit der Zeit aus Monotonie oder Routine oder mangelnder Polarität einen leisen, schleichenden Tod starb. In dieser Zeit wagten Uma und Sebastian noch nicht, sich diese Frage zu stellen, aber später, nach ihrer Trennung, die bereits am Horizont heraufdämmerte, hatten sie den Mut dazu: Waren auch sie beide, das Traumpaar, nicht auf direktem Weg, sich in all ihrer Harmonie in eine Sackgasse hineinzutanzen, an deren Ende sie genau dieser stille Tod der Liebe erwartete? Irgendwann würde auch die letzte lodernde Flamme des Feuers verglimmt sein, und während sie in der Glut stocherten, würden sie feststellen, dass sie eigentlich nur noch gute Freunde waren. Warum auch Unmögliches wie immerwährende Leidenschaft verlangen? Aus Freundschaft erwuchs doch letztlich die sanfteste Form der Liebe, die ehrlichste, weil man an diesem Punkt nicht mehr mit Illusionen, Erwartungen und Projektionen hantierte, sondern den anderen einfach so nahm, wie er war. Man kannte sich so gut. So ist das Leben.

Ein Akzeptieren schwang darin mit. Aber auch etwas Schläfriges, Müdes, Einlullendes. Vielleicht war es das, was Uma aufschreckte, sie wiederum zu einer Kursänderung antrieb – und auch das, was Osho in ihr Leben brachte, als hätte sie heimlich um einen Tornado gebetet, in dessen Staubwolken wie ein Vorbote der kommenden Zerstörung Vimal auftauchte. Denn im Laufe der folgenden Wochen und Monate wurde klar, dass weder Sebastian noch Uma so weiter leben wollten. Nach all den Jahren Gemeinsamkeit konnte es keine Dreierbeziehung, keinen Lover geben, den sie in fernen Ländern besuchte. Uma musste sich entscheiden.

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»Wenn ich Vimal jetzt aufgebe, was macht das dann mit mir?« Eines Nachmittags saß Uma in ihrem Zimmer auf der Yoga-Matte und ging mit dieser Frage tiefer und tiefer nach innen. Die Antwort kam verblüffend schnell: »Dann stirbst du.« Sie musste es nicht wirklich analysieren. Jener Teil in ihr, der immer wach und lebendig und offen für neue Erfahrungen blieb, ihn würde sie ersticken müssen. Oder gehen und Sebastian verlassen. Sie fand eines so schlimm wie das andere. Beides tat höllisch weh.

Zunächst einmal steckte sie den Kopf in den Sand, doch das brachte weder Erleichterung noch Entwicklung. Sie lebten weiter freundlich mit- und aneinander vorbei, aber ihre Tage waren gezählt. Es lag in der Luft. Die Wohnung war angefüllt mit Schmerz. Unsichtbare Risse entstanden zwischen ihnen. Plötzlich gab es Fremdheit, Geheimnisse und Distanz. Uma konnte ihm nicht mehr erklären, was sie wirklich dachte und fühlte. Wie sollte sie Sebastian beibringen, dass er für sie nichts von seinem Wert verloren hatte? Sie wollte ihn nicht eintauschen gegen etwas Besseres. Wie auch? Er war ein so vollkommener Lebensgefährte, dass es ihr unmöglich erschien, etwas ähnlich Perfektes zu finden. Nichts lag ihr ferner.

Als Uma Vimal in ihr Leben ließ, geschah das, um in ein neues, anderes, größeres Erfahrungsfeld einzutauchen. Sie ahnte nicht im Geringsten, was sie dies kosten, wie sehr es sie fordern würde. Aber auch Sebastian hatte einst genau diesen Weg genommen.

An einem milden Frühlingsabend im April verließ Sebastian ohne jede Vorwarnung seine langjährige Ehefrau, eine karrierebewusste junge Ärztin, um mit Uma zusammenzuziehen. Bei seiner Frau hatte er sich immer wieder gegen Kinder ausgesprochen. Er fand Kinder anstrengend und nervig und hatte sich mit ihr in einem ruhigen, kontrollierbaren, kinderlosen Leben eingerichtet. Als Uma auf dem Spielplan erschien, brachte sie einen quirligen, zweijährigen Blondschopf namens Lara in ihre Beziehung, die sein Herz im Sturm eroberte. Binnen kurzem bekamen sie noch eine gemeinsame Tochter, und Sebastian entpuppte sich mehr und mehr als der liebevollste, fürsorglichste und auch glücklichste Familienvater, den man sich nur vorstellen konnte. Sebastians Exfrau musste diese Entwicklung staunend, aber auch mit einem Stich im Herzen, verfolgt haben. Was war in den Mann gefahren, an dessen Seite sie elf Jahre gelebt und der sich Kindern gegenüber immer desinteressiert und abweisend gezeigt hatte? Hatte er sie betrogen und belogen? Nicht wirklich. Sebastian war wie alle Menschen einfach nur viel tiefgründiger und vielschichtiger, als es ihm selbst bewusst war. Und wie so oft war es gerade die Erfahrung gewesen, die er am stärksten ablehnte – Kinder zu haben –, die sein Herz am meisten öffnete.

Sebastians Leben an Umas Seite – und da ahnte er noch nichts von ihrer Leidenschaft für fremde Länder und indische Meister –, war anstrengend, atemberaubend, unberechenbar, voller überraschender Wendungen. Er hatte sich in ein neues und sehr viel unbequemeres Erfahrungsfeld begeben als bei seiner ersten Frau – und dafür ihre Beziehung »ermordet«. Nicht, weil er gemein war oder sie verletzen wollte. Er folgte einfach nur dem Ruf des Lebens nach Wachstum und Veränderung. Und das tat Uma jetzt auch. Es hatte, wenn sie es recht bedachte, gar nichts mit Sebastian, seiner Person oder ihrer Liebe zu tun. Sie folgte nur ihrer inneren Wahrheit, einer Kraft, die stärker und größer war als sie selbst.