Buchinfo

 

Endlich mal ein Urlaub ganz nach Annas Geschmack: Nur sie und ihr Dad, in einem paradiesischen Hotel in Italien. Das ist die Gelegenheit, sich einen Urlaubsflirt zu angeln! Der rehäugige Hotelboy Marco beißt auch gleich an und entführt Anna zu heimlichen Strandspaziergängen im Mondschein. Sie schwebt auf Wolke sieben. Doch dann sieht Anna ihn beim Eisessen mit anderen Girls – ob Marcos rehbraune Augen lügen können?

 

Freche Mädchen – freche Bücher!

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Autorenvita

 

Autor

 

© privat

 

Sabine Both, Jahrgang 1970, lebt und arbeitet als freie Autorin in Neuss. Eine rabaukige Kindheit, eine rebellische Pubertät und ein paar turbulente Jahre als Sozialarbeiterin haben genügend Stoff für jede Menge frecher Jugendromane angehäuft. Wenn Sabine Both gerade nicht auf den Spuren frisch verliebter Mädchen oder hormongesteuerter Jungen ist, küsst sie ihren Mann, beackert ihren Garten und bekocht ihre Freunde.

IT

 

 

 

 

 

Für Petra, Sylvia, Sandra,

Heike, Sandra + Michael

 

»Sweety, komm mal rüber! Anna, jetzt komm mal! Anna!«

Mama ruft. Sie ruft dauernd. Immer hat sie irgendeinen Gedanken, irgendwas furchtbar Wichtiges saust ihr durch den Kopf, und sie kann es auf keinen Fall für sich behalten. Wenn Alessandro nicht da ist, muss sie es mir erzählen. Und sollte ich mal nicht da sein, dann quatscht sie wahrscheinlich die Waschmaschine voll.

»Was ist denn?«

»Komm mal! Komm schnell! Unser Lied!«

Jetzt höre ich es auch. Unser Lied. Zumindest das, was Mama dafür hält. Dieser uralte Song. Wenn man ihr glauben will, haben wir schon dazu getanzt, als ich gerade auf meinen Beinen stehen konnte. You are the sunshine of my life.

Mama ist in null Komma nichts ekstatisch. Ich seufze, gebe mich geschlagen, greife nach Mamas ausgestreckten Händen und lasse mich im Kreis herumwirbeln. Viel schneller als der Takt. Sie liebt das. Bis uns schwindelig wird. Da kann auch ich nicht anders, als zu kreischen und zu lachen. Wir kreiseln immer schneller. Wenn jetzt einer loslässt, kracht er gegen die Wohnzimmermöbel. Ist schon mehrmals passiert. Macht aber nichts. Alessandro hat alles wieder zusammengehämmert, was wir zerdeppert haben. Er fand das lustig. Papa hätte die Krise gekriegt. Kein Wunder, dass es bei meinen Eltern nicht geklappt hat.

Seit sie geschieden sind, ist alles viel besser. Sie streiten sich nicht mehr und sie wollen aus dem anderen nicht mehr das machen, was er einfach nicht sein kann. Papa kann nicht werden wie Mama. Dauernd auf Achse, immer Verrücktheiten im Kopf, von morgens bis abends Botschafter der guten Laune. Und Mama kann nicht sein wie Papa. Still, verkopft, ein Erfinder, Denker und Forscher, dem man mit emotionalen Themen nicht kommen kann.

Ich weiß gar nicht, wieso die beiden überhaupt so lange verheiratet waren. Was fanden die bloß aneinander? Gut, hübsch sind sie beide, jeder auf seine Art. Papa wäre noch hübscher, wenn er seinen dämlichen, ach so pflegeleichten Bart abrasieren würde. Dann hätte er auch vielleicht mal Chancen auf dem Singlemarkt.

Mama war sofort wieder vergeben. Zum Glück hat Alessandro sich Mama geschnappt. Ich mag ihn. Und ich bin froh, dass Mama glücklich ist. Papa soll auch wieder glücklich sein.

Das findet Mama auch. Sie hat ihm schon tausend Vorschläge gemacht, die er alle ignoriert. Sie hat sogar schon ein heimliches Blind Date organisiert, gesagt, Papa habe ein Treffen mit einer angesagten Hirnforscherin, und dann war es doch nur eine ihrer Freundinnen und Papa hat die Flucht ergriffen.

Unvermittelbar, so nennt Mama ihn und findet, dass das Alleinsein ihm nicht guttut.

Papa behauptet, er wäre glücklich, so, wie es ist. Aber das kann er uns nicht weismachen. Niemand ist glücklich ohne Liebe. Ich übrigens auch nicht. Bei mir ist es auch schon viel zu lange her. Und das eine Mal war irgendwie nicht richtig. Zwei Wochen »gehen« mit Sven, ein Kuss auf die Wange und zweimal Händchen haltend durch die Stadt – das ist nichts. Ich bin genauso überfällig wie Papa. Aber solange noch Hoffnung für Papa besteht, besteht auch noch welche für mich.

You are the sunshine of my life. Jetzt ist es zu Ende und Mama sinkt erschöpft aufs Sofa. Ich werfe mich neben sie.

»Sag mal, Mama, wieso seid ihr, also du und Papa, eigentlich zusammengekommen, wenn ihr doch gar nicht zueinandergepasst habt?«

»Wir haben uns angezogen wie zwei Magnete.«

»Echt?«

»Dein Vater mich jedenfalls. Er hat erst mal nichts mitgekriegt, er war mit irgendeiner Quantenphysiknummer beschäftigt, lief mit Diktafon durch den Park und ist alle paar Meter über seine eigenen Füße gestolpert.«

»Und das fandest du anziehend?« Ich muss lachen.

»Ich fand ihn unheimlich süß und dachte: Den musst du kennenlernen!«

»Da hast du nicht lang gefackelt, wie ich dich kenne.«

»Stimmt. Ich war damals in meiner Hippie-Phase …«

»Damals?«

»Damals hat sie angefangen …« Mama lacht. »Ich war mit ein paar Freunden zum Yogamachen im Park. Dein Vater hat uns genauso wenig wahrgenommen wie die spielenden Kinder und die Sommersonne.«

»Hat er damals auch schon seine Cordhosen angehabt?«

»Ja, genau. Und ein viel zu warmes Hemd. Ich bin jedenfalls raus aus dem herabschauenden Hund und zu ihm gelaufen.«

»Einfach so?«

»Einfach so. Wenn man was will, dann sollte man es sich auch nehmen.«

»Ist notiert.«

»Jedenfalls habe ich ihn angequatscht und er hat kaum ein Wort rausgekriegt und hat sich bestimmt dreimal verabschiedet, ohne dass ich ihn hab gehen lassen. Was man wirklich will, lässt man sich nicht so leicht wieder wegnehmen.«

Ich kritzle auf einen unsichtbaren Notizblock. »Alles klar.«

»Irgendwann hatte ich ihn. Er hat mir einen superlangen Vortrag über dieses Quantenphysikding gehalten und ich hab ihn am Ende mit einer Verabredung für den Abend überrumpelt.«

»Und dann?«

»Dann nahm die Sache ihren Lauf. Ich hab ihn einfach nicht mehr in Ruhe gelassen und irgendwann hat auch dein Vater gemerkt, dass es noch etwas anderes als Formeln und Gleichungen auf der Welt gibt.«

»Dich!«

»Und Sex.«

»Mama!«

Mama lacht. »Wir haben uns gegenseitig bereichert. Ich hab ihm Lebendigkeit gebracht, er hat mich fasziniert mit seinem Wissen.«

»Und wieso habt ihr euch dann getrennt?«

Mama seufzt. »Wir waren kaum einen Monat zusammen, als ich mit dir schwanger wurde. Wir schwebten auf Wolke sieben. Wir waren so glücklich über dich. Unser Sternchen.«

»Jaja, weiter im Text.«

»Aber mit den Jahren haben wir uns immer mehr auseinanderentwickelt.«

»Und dann habt ihr entschieden, euch zu trennen.«

»Ja.« Mama nickt und ist einen Moment weit weg. »So in etwa war das. Ich hab dann Alessandro kennengelernt und mich verliebt. Und dein Vater …«

»Der hat leider noch immer niemanden kennengelernt.«

»Aber wir arbeiten dran.« Mama hält die Hand hoch. Ich soll abklatschen.

»Wir arbeiten dran!« Ich schlage ein. »Papa braucht wieder jemanden, der ihm Feuer unterm Hintern macht.«

»Unbedingt.«

»Stell dir zwei von seiner Sorte vor.«

»Da passiert so viel, wie wenn du zwei Regenschirme zusammengeklappt an die Tür lehnst.«

»Also, gesucht wird jemand wie du, nur nicht so schlimm.«

»Nicht so schlimm?« Mama lacht.

»Du bist schon sehr viel von allem. Eine abgeschwächte Form von dir. Jemanden, der Papa mitreißt und schnappt, aber ihn nicht nervt.«

»Na, du hast ja ein Bild von mir.« Mama lacht immer noch. »Aber du hast recht. Genau so jemanden braucht Papa. Dumm nur, dass er nie vor die Tür geht und Singlefrauen nicht einfach so hereinschneien. Und selbst wenn sie das tun, die meisten ergreifen schlagartig die Flucht, wenn er ihnen von dieser Quantenphysik oder intelligenten Computerviren erzählt.«

Ich nicke. Ja, Papa ist wirklich schwerstens zu vermitteln. Einmal habe ich ihn mit einer Bäckereiverkäuferin reden hören, die ihn eindeutig gut fand. Und er drückt ihr ein Gespräch über die Wahrscheinlichkeit, dass sich in einem Brötchen ein Haar befindet, rein. Ich hab das mal versucht. Hab angesetzt, mit ihm über einen Jungen aus meiner Schule zu reden, den ich cool fand. Er hat so schnell das Thema gewechselt, dass mir fast schwindelig wurde.

Mama reibt sich die Hände. »Und was machen wir heute?«

»Keine Ahnung!«

Es ist der erste Ferientag. Wie immer haben wir überhaupt nichts geplant. Alle anderen aus meiner Klasse wissen, wo es hingeht. Nach Mallorca. Nach Ibiza. An die Ostsee. Wenn ich gefragt werde, kann ich nur sagen: keine Ahnung. Bei uns ist nie was normal. Auch der Urlaub nicht. Pauschalreisen – negativ. Irgendwohin wird es uns schon treiben, sagt Mama immer. Wir haben ja den Bus.

Der Bus. Meine Hassliebe. Es ist so einer, wie sie die Hippies früher hatten. Uralt. Total bunt. Überbunt. Mama ist eben Künstlerin. Nur leider steht ihre Kunst nicht im Museum oder gar in Galerien, wo man Geld dafür bekommen könnte, sondern sie ist dafür da, mich von der Schule abzuholen. Peinlich. Mit diesem Bus kann man nicht irgendwer sein. Man ist immer die mit dem Bus. Die mit dem Bus, in dem die bunte Mutter sitzt. Die bunte Mutter mit dem jungen Freund. Der junge Freund, der gerne mit nacktem Oberkörper in dem Bus sitzt. Dem bunten.

Ich hab mir schon oft gewünscht, die mit dem Golf zu sein. Mit dem Golf und der Mutter mit dem Pagenschnitt. Die mit dem Mann, der in der Bank arbeitet.

Mein Leben in der Schule wäre leichter.

»Wir könnten schwimmen gehen. Nacktschwimmen! Im Badesee.«

»Mama. Im Badesee darf man nicht nackt schwimmen.«

»Ach, ist doch egal! Wir suchen uns ein geschütztes Plätzchen und hüpfen einfach rein.«

»Und wenn uns einer sieht?«

»Wir sind doch beide eine Augenweide!«

»Ich bin echt zu alt für so was!«

»Zum Freisein ist man nie zu alt, mein Küken.«

»Ich bin nicht du!«

Ich bin nun mal die Mischung aus Mama und Papa. Fifty-fifty. Eine Prise Verrücktheit und eisernen Willen von Mama, ein bisschen Schüchternheit und Bodenständigkeit von Papa.

»Dann eben in voller Montur. Wir ziehen uns ganz dick an und springen als Michelin-Männchen ins Wasser. Wer schneller untergeht, hat verloren.« Mama kramt auf dem Couchtisch nach einem Skizzenblock. Die liegen bei uns überall rum, weil Mama und Alessandro unter Garantie zwanzig Mal am Tag eine Eingebung haben.

»Das ist herrlich absurd!« Mama kritzelt los. »Dick wattierte Männchen an einem spießigen Badestrand. Und die dickbäuchigen Gäste staunen.«

So was ist Mamas neuestes Steckenpferd. Die Wirklichkeit auf die Schippe nehmen. Knallbunt.

»Mama, können wir nicht ganz normal schwimmen gehen wie andere Leute auch?«

»Hm. Wenn’s sein muss.« Mama grinst. »Ich ruf mal Alessandro an, ob er auch kommt.«

Sie wählt. »Chérie! Baden im See mit deinen zwei Grazien?«

Sie kichert und wendet sich an mich. »Er kann es kaum erwarten. Und eine Überraschung hat er auch für uns.«

 

Ausgerechnet. Ich sehe aus dem einen Augenwinkel Alessandro, aus dem anderen Sanni und Birte aus meiner Klasse. Sie liegen hinter ihren großen Sonnenbrillen auf zwei rosafarbenen Badetüchern und tun so, als würden sie nicht herschaun. Aber sie müssen gucken. Alessandro ist nicht zu übersehen, und erst recht nicht das, was er gerade tut. Er steht am Ufer, beugt und hebt sich, wedelt und fuchtelt und brummelt irgendwelches Zeug. Er behauptet, das sei Schamanismus. Ich sage, es ist Irrsinn.

»Können wir nicht lieber …«, will ich das Unvermeidbare vermeiden, aber Mama wedelt schon ihrerseits mit den Armen und stürmt auf Alessandro zu.

»Huhu!«, ruft sie. »Na, bereitest du die Geister des Wassers auf uns vor?«

Er lacht. Und Birte und Sanni lachen auch. Leise, verstohlen. Und abfällig.

»Anna!« Alessandro winkt mir. Sannis und Birtes Köpfe drehen sich um, sie zählen eins und eins zusammen, aaah, das sind die zwei Verrückten aus dem Bus, Annas Familie, und setzen hämische Gesichter auf.

»Hallo, Anna.«

»Hallo«, brumme ich und gehe wackelig an ihnen vorbei, bis zu Alessandro, dem ich ins Ohr flüstere: »Kannst du bitte sofort damit aufhören?!«

»Wieso denn? Ich …«

»Weil ich es sage. Einfach machen.«

Er schaut sich um, sieht in meinem Rücken wohl, dass wir spezielles Publikum haben, und nickt. »Für dich tu ich doch fast alles.«

»Wo ist denn die Überraschung? Her damit!« Mama stürzt sich von hinten auf Alessandro und wirft ihn um. Die beiden kugeln ins Wasser und führen sich auf wie zwei Welpen. Keine Frage, da hätte Alessandro auch weiter Geister anrufen können.

»Haben! Haben! Haben!«, ruft Mama und kitzelt Alessandro.

»Rette mich mal!«, ruft er.

Ich zeige ihm einen Vogel. Das hätte mir gerade noch gefehlt, vor Birte und Sanni eine Wasserschlacht zu vollführen. Mir hat schon die letzte Schulstunde gereicht, um mir mal wieder von ihnen klarmachen zu lassen, dass ich anders bin.

Das war so:

Birte: Na, und du, wo fährst du hin?

Ich: Weiß nicht.

Sanni: Also, wir fahren wieder nach Ibiza. Das war letztes Jahr schon so geil. Tolles Hotel. Super Animation. Und die Jungs – einfach spitze. Es hat keine drei Tage gedauert, da hatte ich einen Urlaubsflirt. Der schreibt mir immer noch. Schade, dass er so weit weg wohnt.

Birte: Ohne Urlaubsliebe geht so ein Urlaub ja auch wirklich gar nicht. Wir fahren nach Fuerte, da ist das auch ganz einfach mit dem Kennenlernen. Ich denke, das dauert keine zwei Tage. Und du, Anna? Wie war dein letzter Ferienflirt?

Ich: Negativ.

Sanni: Gar keinen?

Ich: Positiv.

Birte: Du Arme. Na ja, kann ja noch werden.

Und dann hat sie mir auf die Schulter geklopft und ist mit Sanni abgezogen und ich musste nicht mal hören, ich konnte auch sehen, dass sie sich einig waren: Das wird nie was! Und wahrscheinlich haben sie recht. Alessandro will mit dem Bus zu irgendeinem Schamanentreffen. Mama will inspirierende Naturerlebnisse. Wo zur Hölle soll es da einen Ferienflirt für mich geben?

»Also …« Alessandro macht es spannend. Zurück aus dem Wasser zückt er seinen Nie-ohne-meinen-Skizzenblock und hält ihn uns vor die Nase. »Da!«

»Was ist das?« Zwei Tauben, die in einem bunten Bus sitzen. Eine Prinzessin, die mit einem bärtigen Alten in einem Gummiboot auf den Wellen tanzt.

»Das sind die Ferien dieses Jahr«, orakelt Alessandro. »Janine und ich, wir machen Urlaub im Bus, und Anna fährt schick und voll pauschal in die Ferien. Mit Hartmut.«

»Was???« Ich war doch gar nicht im Wasser, kann also auch keins in den Ohren haben.

Alessandro erklärt alles noch einmal und grinst breit.

»Mit Papa?« Der Papa, der Urlaubsreisen für überflüssig hält, weil er doch in seinem Kopf überallhin reisen kann. Der Papa, der lieber bei heruntergelassenem Rollladen am PC sitzt und sich den Kopf über physikalische Gesetzmäßigkeiten heiß denkt. Der Papa, der im Schrank nicht eine kurze Hose hat? »Papa fährt nie in Urlaub!«

»Dieses Jahr schon!«

»Hast du ihn bestochen? Bedroht? Unter Drogen gesetzt?«

»Ich habe einfach nur von Mann zu Mann mit ihm gesprochen. Ich habe ihm gesagt, dass Janine und ich mal für uns sein müssen. Und dass du mal einen Urlaub brauchst, den du dir wünschst. Einen, wie deine Klassenkameraden ihn machen. Das sagst du doch immer. Du willst mal all-inclusive. Mit Animation. So für mächtig viel Kohle. Und Hartmut hat doch genug und gibt eh nie was aus. Es geht nach Italien. Er freut sich.«

»Er hat bestimmt gerade über den Urknall nachgedacht und hätte auch eine Waschmaschine gekauft, wenn ihm jemand eine angedreht hätte.«

»Er war ganz bei Sinnen.« Alessandro klopft sich selbst auf die Schulter. »Es musste ihm nur mal einer klarmachen, was er wirklich will.«

So richtig kann ich mir die Szene immer noch nicht vorstellen. Alessandro fährt fünfzig Kilometer, klingelt bei Papa und taucht schillernd bunt in die Eremitenhöhle ein. Nicht dass Papa und Alessandro sich noch nie gesehen hätten. An meinen Geburtstagen, an Weihnachten, bei Familienfesten haben sie schon öfter zusammengestanden und ein paar Worte gewechselt. Es herrscht keine dicke Luft zwischen den beiden. Aber dass Alessandro ihm verklickert, er bräuchte mal Zeit mit Mama alleine und ich …

»Wie schön!« Mama fällt Alessandro und mir gleichzeitig um den Hals. »Das werden tolle Ferien für uns alle!« Sie wendet sich an mich und schaut mir tief in die Augen. »Und das ist doch DIE Gelegenheit. Wenn du Papa zwei Wochen unter deinen Fittichen hast. Wenn ihr in einem traumhaften, entspannten Ambiente weit weg von seinem Schreibtisch Zeit verbringt. Wenn all die allein reisenden Singlefrauen deinen Vater in Badehose sehen. Dann kannst du ihn mit links an die Frau bringen.«

Und mich an den Ferienflirt, denke ich und werfe einen Blick auf Sanni und Birte. »Entschuldigt mich mal kurz«, sage ich und stapfe auf die beiden zu. »Ich wollte nur schnell erzählen: Ich fahre dieses Jahr nach Italien. All-inclusive. Mit Animation. Und die Jungs sollen da alle Rehaugen haben und voll auf deutsche Touristinnen abfahren.«

Sie gucken mich an, als wäre Mitleid die einzig wahre Option für mich.

»Wie schön für dich«, flötet Sanni.

»Dann wünschen wir dir viel Spaß«, sagt Birte.

Und ich muss es nicht mal hören, ich kann, als ich gehe, im Rücken spüren, dass sie sagen: Sie könnte überall hinfahren, verrückt, wie sie ist, findet die sowieso keinen Jungen, der sie will.

 

»Wusstest du eigentlich, dass das Rauschen des Meeres einem physikalischen Gesetz unterliegt?«

»Nein, wusste ich nicht, Papa. Aber du wirst es mir sicher gleich erklären.« Ich grinse. Das ist also Papas Art, sich auf unseren Urlaub vorzubereiten. Ich kaufe mir einen neuen Bikini und Papa stöbert in seinem viel zu großen Gehirn nach physikalischen Gesetzen, die es ihm erlauben, sich auf das Abenteuer Ferienklub einzulassen.

Während er mir einen Vortrag über kollabierende Wasserbläschen hält, gehe ich parallel meine Liste durch. Ich habe noch nie für einen richtigen Urlaub gepackt, ich darf nichts vergessen. Sonnencreme. iPod. iPad. Handy. Drei kurze Hosen. Brauche ich auch lange?

»Hier!« Als hätte er meine Gedanken gelesen, legt Papa mir fünf Seiten ausgedrucktes Tabellenmaterial vor die Nase. Die Wetterkurven von Italien der letzten fünf Jahre. »Empirisch gesehen …«

Jetzt referiert Papa wetterfeemäßig über Hochs und Tiefs und ich streiche die Fleecejacke von meiner Liste.

»Hast DU eigentlich schon gepackt?«, frage ich.

»Alles fertig. Dahinten steht der Koffer.«

Ich schaue in die Ecke, in die Papa zeigt, aber da ist nichts zu sehen. Nur Kartons. Die Rechner und Gerätschaften, die Papa immer wieder kauft, werden in Kartons geliefert. Und die verwahrt er, falls er mal was reklamieren muss, und, wie ich vermute, auch weil er sich nicht trennen kann. Sie sind ihm lieber als Möbel.

Ich hab ihm schon ein paarmal gesagt, dass es bei ihm ganz schön chaotisch aussieht. Aber er hat den Kopf geschüttelt: Das sei Ordnung und Beständigkeit, auf Hartmut-Art. Und irgendwie stimmt das auch. Bei Papa ist, außer dass ab und zu ein Karton dazukommt, immer alles gleich. Wenn ich zur Tür hereinkomme, habe ich ein Gefühl von Sicherheit, von Klarheit. Ich muss nicht denken. Es gibt zwei Stühle, zwei Teller, zwei Gabeln, zwei Messer und einen Löffel. Der ist für mich, weil Papa es ablehnt, etwas zu essen, für das man einen Löffel benötigt. Altes Brei-Trauma aus Babytagen.

Bei Papa gibt es nur das Nötigste, keinen Schnickschnack, keine Überraschungen. Bei Mama gibt es aus siebzehn verschiedenen ertrödelten Service jeweils maximal sieben Teile. Und sucht man einen Löffel, muss man schon mal die ganze Küche auf den Kopf stellen, weil Mama aus einem Impuls heraus alles umgeräumt hat, um irgendeine neue Regalkonstruktion in den Mittelpunkt zu rücken.

Kein Wunder, dass die beiden nicht zusammenbleiben konnten.

»Wo ist dein Koffer?«

»Na, da! Der große!«

»Du meinst die winzige Aktentasche? Du kannst doch unmöglich alles, was du für zwei Wochen brauchst, in dieses Teil gepackt haben.«

»Nicht? Pullover, Hose, ein Dutzend Unterhosen und Unterhemden. Der Laptop kommt extra.«

»Was ist mit einer Badehose? Mit einem Strandtuch?«

Papa verzieht das Gesicht bei dem Gedanken, in einer Badehose auf einem Strandtuch zu liegen.

Wusste ich es doch! »Papa. Diesen Urlaub, den willst du doch nicht wirklich, oder?«

»Doch, natürlich!«

»Papa!«

»Ich will nichts mehr! Abgesehen davon, herauszufinden, wie das mit dem Urknall genau abgelaufen ist.«

»Ich fühle mich geehrt.«

»Und den Nobelpreis in Physik.«

»Papa!« Ich boxe ihm in die Rippen und wir müssen beide lachen.

»Und was das Badetuch angeht, pack du mir doch eins in deinen Koffer mit ein, ja?«, schlägt Papa vor.

Also kommt es noch als letzter Punkt auf meine Liste. »Fertig!«

»Na, dann können wir ja jetzt.« Papa reibt sich erfreut die Hände. Er wartet schon die ganze Zeit darauf, meine ungeteilte Aufmerksamkeit zu bekommen. Für sein neuestes Baby. Ein Sternenhimmel-erklär-Computerprogramm, das er bereits an eine Softwarefirma verkauft hat. Wahrscheinlich fahren wir davon in den nicht gerade billigen Urlaub.

Papa macht die Rollläden runter, fummelt am Computer, und der Beamer wirft das übliche Sternenwirrwarr an die Wand. Dann startet die Software und führt mich raumschiffmäßig und selbst für Laien wie mich verständlich und überaus witzig durch das All.

»Das ist echt cool!« Ich bin begeistert. »Du solltest immer so was erfinden und programmieren, dann würden wir reich werden wie Bill Gates.«

»Aber dann hätte ich keine Zeit mehr für die wirklich wichtigen Dinge.«

»Mich!«

»Dich!« Papa nickt. »Und das Denken und Forschen. Es gibt so viele interessante Fachbereiche auf der Welt und ich habe nur einen Bruchteil davon im Auge.«

»Auch du hast nur ein Gehirn.«

»Und da ist noch Platz.«

Papa fährt das Programm runter und seufzt. »Ist es nicht wunderbar zu wissen, wo dein Platz im Universum ist?«

»Solange ich im Flugzeug den Platz am Fenster bekomme, soll es mir recht sein.«

Er lacht.

»Und dann haben wir auch noch Zeit für meinen Privatkurs im Hacken?«, nutze ich die Gelegenheit.

Papa windet sich.

»Och, bitte, nur noch ein Mal. Zeig mir doch bitte, wie man an das Adressbuch von anderen kommt. Und wie man Dateien ins ewige Nirwana schicken kann und …«

»Ich weiß nicht.«

»Ich werde mein Wissen auch für mich behalten und nie anwenden!«, schwöre ich wie immer.

Papa seufzt. »Na gut. Aber nur noch das eine Mal.«

Und die nächsten hundert Male, die nur noch das eine Mal sind, wie die hundert Male davor, die auch schon das eine Mal waren. Papa kann sich gegen meinen Scheidungskind-Dackelblick einfach nicht erwehren. Und ich liebe es, mit ihm über kriminellen Machenschaften zu hocken und imaginären Gegenagenten das virtuelle Leben schwer zu machen.

 

Als ich am nächsten Morgen aufwache, sitzt Papa schon wieder am Rechner. Er merkt gar nicht, dass ich aufstehe, die Zähne putze, mir Milch aus dem Kühlschrank hole und sie hinter seinem Rücken schlürfe. Er starrt auf den Bildschirm, auf dem eine mindestens zehnzeilige Formel wächst.

»Buh!«, mache ich. Und er schreckt tatsächlich zusammen.

»Oh, guten Morgen, mein Stern. Gut geschlafen?«

»So gut wie immer bei dir. Elektrosmog sei Dank. Sag mal, du weißt aber schon, dass du in Italien auch mal das Hotelzimmer verlassen musst, oder?«

»Wirklich?« Papa tut verblüfft.

»Jaja. Das ist so im Urlaub. Man liegt am Strand. Man flaniert an der Promenade rum. Und man löffelt Eis.«

»Löffeln?«

»Du darfst es auch mit Messer und Gabel essen.« Ich setze mich auf Papas Schoß und schaue ihn eindringlich an. »Du kannst mir ruhig sagen, wenn Alessandro dir unaussprechlich viel Geld geboten hat, damit du mit mir wegfährst. Oder wenn er dich bedroht hat. Er kann doch Tai-Chi.«

»Sternchen. Alessandro hat kein Geld. Und wenn du mich fragst, wird sich auch keine seiner Klecksereien jemals zu Geld machen lassen. Und ich kann Mikado, also hat er keine Chance. Er hat einfach nur recht. Du hast es verdient, mal einen richtigen Urlaub zu machen. Außerdem hab ich die Kohle.«

»Und die opferst du für mich statt für einen neuen Karton?« Ich schaue mich um. »Du hast noch nicht so viele!«

»Auf alle Fälle. Du gewinnst gegen die Kartons. Wir zwei, vierzehn Tage zusammen. Wo wir schon nicht mehr zusammenleben. Das wird wunderbar!«

»Oder sonderbar.«

»Auf alle Fälle bar.«

»Wie selbstlos du doch bist, Papa.«

»Nicht wahr?«

»Dann könntest du doch auch den Laptop zu Hause lassen.«

»So selbstlos nun auch wieder nicht! Und jetzt mach, dass du nach Hause kommst. Dein Zug geht in einer Stunde, wir müssen uns beeilen. Und dein Koffer packt sich schließlich nicht von allein.«

Da ist sie wieder vorbei, meine Zeit im Paralleluniversum. Im Reich der Unauffälligkeit. Zurück geht es zu Bus und Geistern, zu Chaos und Pinselmeistern.

 

»Guck mal, was ich für dich habe!« Mama steht schon in der Tür. »Hab ich selbst designt. Anna an der Adria.«

Sie hält mir ein mit Textilfarbe malträtiertes Strandkleid vor die Nase. »Und das hier ist die Sonne. Wenn sie aufgeht, dann taucht sie das ganze Kleid in ein lichtes Orange.«

Mama weiß ganz genau, dass ich das niemals anziehen werde. In mir steckt kein Hippie. Da haben die Gene einen Bogen um mich gemacht. Ich freue mich trotzdem. Die Geste zählt.

»Kommt zuoberst in meinen Koffer. Ein Ehrenplatz. Und jetzt hilf mir mal packen.«

Das hätte ich besser nicht gesagt. Ich hatte kurz vergessen, wie Mamas Art zu packen aussieht. Sie steht vor dem Schrank und wirft wahllos und in hohem Bogen irgendwelches, Hauptsache buntes, Zeug in den Koffer. Ich versuche verzweifelt, meiner Liste treu zu bleiben. Und am Ende ist der Koffer überfüllt und weigert sich zuzugehen.

»Oh, ich hab noch was vergessen! Ein Strandtuch für Papa. Und, um sicherzugehen, gibst du mir bitte eine Badehose von Alessandro?«

Mama lacht. »Du meinst, Hartmut zieht die an?«