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Band 747

Peter Blickle

Die Reformation im Reich

4. überarbeitete und aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

 

 

Für

Imelda Schuler

4. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-022435-3

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-026723-7

epub:    ISBN 978-3-17-026724-4

mobi:    ISBN 978-3-17-026725-1

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Zur 4. Auflage

 

 

 

Eine Reformationsgeschichte, deren erste Auflage ein Jahr vor den Gedenkfeiern zum 500. Geburtstag von Martin Luther erschienen ist, sollte bei ihrer Neuauflage zweierlei anmerken. 1983 wurde von vielen als Vorbote einer Wiedervereinigung zweier geteilter deutscher Kulturen wahrgenommen und hatte einen kirchlichen, kultischen und nationalen Festcharakter, wie man ihn in Deutschland nicht für möglich gehalten hatte – trotz und wegen der Trennung in zwei Staaten. Unter dem Label Luther 2017 wird das heute wohl überboten. Die Evangelische Kirche in Deutschland und die Bundesrepublik Deutschland in Form der Bundesregierung haben sich zu einer Würdigung Martin Luthers vereint, die ohne Beispiel in der Geschichte des Protestantismus sein dürfte, zumal sie durch das Projekt »ReFo500« international unterstützt wird. Daran knüpfen sich allerhand Hoffnungen und Forderungen. »Die Neuzeit neu zu begründen« und »Kompass für die Welt«1 zu sein ist keine kleine Last, die der Fünfhundertjahrfeier des »Thesenanschlags« von 1517 auf die Schultern gelegt wird.

Die Reformationsforschung ist seit dem Erscheinen der 3. Auflage stark in die Obhut der Theologen übergegangen. Diese neigen heute zu einer Pluralisierung der Reformationstheologie. Dem entspricht, dass die Formen der kulturellen Aneignung der Reformation in lebensweltlich kleinen Räumen lokalisiert werden, womit sie sich gegen große Thesen sperren. Ein neuer Schwerpunkt, der sich aus den Geisteswissenschaften insgesamt speist, deutet sich in der Medien- und Medialitätsgeschichte der Reformation an.

Die 4. Auflage hält am Grundriss der ersten Auflage fest. Sie baut die neueren maßstäblichen Forschungen ein, soweit das bei der Vorgabe eines gleich bleibenden Umfangs möglich ist. Die bibliographische Aktualisierung beschränkt sich angesichts der erheblich verbesserten Möglichkeiten, Literatur rasch und umfassend elektronisch zu erfassen, auf grundsätzlich unentbehrliche Arbeiten für den jeweiligen Themenbereich. Neu sind den einzelnen Kapiteln und Abschnitten ein oder zwei Literaturhinweise beigegeben, die eine Vertiefung in den jeweiligen Sachbereich ermöglichen sollen. Die Auswahl der Titel beinhaltet kein Urteil über ihren wissenschaftlichen Wert, sondern folgt den Kriterien, die dem vorliegenden Büchlein zugrundeliegen. Dessen Anliegen ist wie bei seinem ersten Erscheinen nicht Originalität in der Interpretation, sondern Information über den zunehmend fremd gewordenen Gegenstand Reformation.

Dr. Daniel Kuhn hat den Band in die Obhut seines Lektorats und des Verlags W. Kohlhammer übernommen. Ihm danke ich für die Sorgfalt und den Sachverstand bei der Herstellung – von der Lektorierung bis zur Aktualisierung der Register.

Saarbrücken, im Sommer 2014

Peter Blickle

Aus dem Vorwort zur 1. Auflage

»Die Reformation im Reich« zu beschreiben, war für Theologen und Historiker immer eine verlockende Herausforderung, aber auch ein besonderes Wagnis. Das liegt am Problemreichtum des Gegenstandes und seiner perspektivischen Weite: Die Reformation muß verstanden werden als die weitestgehende Verzahnung sozialer und ideeller Bewegungen, die es in der europäischen Geschichte gegeben hat, und die Reformation muß berücksichtigt werden bei Periodisierungskonzepten der Weltgeschichte. Diese Spannweite gibt jeder Gesamtinterpretation naturgemäß etwas Unvollkommenes und Vorläufiges.

Die vorliegende Gesamtdarstellung ist aus den Erfahrungen des akademischen Unterrichts geschrieben als Einführung und damit in der Absicht verfaßt worden, Studierenden der Geschichte »die Reformation« im Frage- und Interessenhorizont einer heute überwiegend säkularisierten Generation nahezubringen. Dieser fehlt meist die konfessionell-kirchliche, um nicht zu sagen religiöse Bindung, die früher den Zugang zu diesem Thema sowohl durch theologische Kenntnisse wie persönliches Interesse erleichterte, in manchem freilich auch erschwerte. Das erklärt Aufbau und Charakter des Bandes.

Der Aufbau bringt die Erfahrung und Überzeugung zum Ausdruck, daß die Reformation in ihrer religiösen, sozialen und politischen Dimension für Historiker leichter verstehbar wird, wenn die theologischen und ethischen Aussagen der Reformatoren versuchsweise als Systeme in Abgrenzung zur geläufigen spätmittelalterlichen Theologie und Ethik zur Darstellung gebracht werden (Images Kap. 1). Auf diese Weise nämlich wird einsichtiger als bei der üblichen Art der chronologischen Darstellung, weshalb die Gesellschaft des 16. Jahrhunderts in allen ihren Ständen, Schichten und Gruppen von der reformatorischen Lehre so nachhaltig »ergriffen« wurde (Images Kap. 2) und damit unvermeidlich die Obrigkeiten zum Stellungnehmen gezwungen waren (Images Kap. 3).

[ … ]

Das Vorhaben hätte seinen Zweck verfehlt, wenn es sich allein durch interpretatorische Originalität ausweisen müßte, die bei einem derart häufig behandelten Gegenstand ohnehin nur sehr bedingt zu erreichen ist. Eine Einführung hat – nach meiner Einschätzung – Fakten und Daten zu liefern, ohne die strukturellen Zusammenhänge des Gegenstandes darunter zu begraben; sie hat die Zeit durch Quellenzitate zu Wort kommen zu lassen, ohne den Leser in der Fremde einer fernen Sprache hilflos stehen zu lassen; sie hat Forschungspositionen zu verarbeiten, ohne sich in peripheren wissenschaftlichen Kontroversen zu verlieren.

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. Zur 4. Auflage
  2. Aus dem Vorwort zur 1. Auflage
  3. Einleitung
  4. 1 Kirche und Reformation
  5. 1.1 Volksfrömmigkeit und Kirchenkritik – die Ausgangslage der reformatorischen Bewegung
  6. 1.2 Die theologischen Grundpositionen und deren Folgen für Ethik und Politik
  7. 1.2.1 Martin Luther
  8. 1.2.2 Huldrich Zwingli
  9. 1.2.3 Thomas Müntzer
  10. 1.3 Das Spektrum der Reformationstheologie – Zusammenfassung
  11. 2 Gesellschaft und Reformation
  12. 2.1 Adelige Rezeption der Reformationstheologie
  13. 2.2 Die Reformation – ein »urban event«?
  14. 2.2.1 Grundzüge der spätmittelalterlichen Stadt
  15. 2.2.2 Die Reformation in den Städten
  16. 2.2.3 Systematisierung der Stadtreformation
  17. 2.3 Evangelium versus Feudalismus – die Rezeption der Reformationstheologie in der ländlichen Gesellschaft
  18. 2.3.1 Feudale Ordnung und bäuerliche Gesellschaft
  19. 2.3.2 Reformatorische Vorstellungen der Bauern
  20. 2.3.3 Die Bedrohung der feudalen Ordnung durch die Revolution von 1525
  21. 2.3.4 Revolution und Reformation – vom Zusammenhang der Ereignisse
  22. 2.4 Die Marginalisierung reformatorischer Kleingruppen – der Exodus der Täufer aus der Geschichte
  23. 2.5 Feinde – »Türken« und Juden
  24. 2.6 Reformation und Gesellschaft – modellhafte Deutungsversuche
  25. 3 Staat und Reformation
  26. 3.1 Zwischen Worms (1521) und Speyer (1529) – die territorialstaatliche Verfestigung der Reformation
  27. 3.1.1 Reich oder Fürsten
  28. 3.1.2 Eidgenossenschaft oder Magistrate
  29. 3.2 Kappeler Krieg und Schmalkaldischer Krieg – die militärische Auseinandersetzung um die Reformation
  30. 3.3 Der Augsburger Reichstag 1555 und der Religionsfriede
  31. 3.4 Konfessionalisierung als politische Verwertung der Reformation – Zusammenfassung
  32. 3.5 Öffentlicher Raum, Haus und Frauen
  33. Die Reformation – eine Epochenwende im Reich?
  34. Literaturverzeichnis
  35. Anmerkungen
  36. Personen-, Orts- und Sachregister

Einleitung

 

 

 

Die Reformation gilt als Ereignis von »epochaler« Bedeutung. Die traditionelle Periodisierung der Weltgeschichte, die mit der Reformation die Neuzeit beginnen lässt, bringt diese Auffassung am deutlichsten zum Ausdruck. Was Reformation im herkömmlichen Verständnis bedeutet, lässt sich thesenhaft mit einem kursorischen Blick auf die Wirkungen der Reformation vergegenwärtigen. Den Stellenwert der Wirkungen der Reformation hat die Forschung mit der Bezeichnung »Weltwirkung« sehr hoch angesetzt1. Darunter wird negativ die Aufspaltung der christlich-abendländischen Einheit, positiv die Herausbildung einer neuen Kultur verstanden. Beide Erscheinungen haben dieselben Ursachen: Mit der Entfaltung einer alternativen Theologie zu jener der spätmittelalterlichen römischen Kirche wird das Verhältnis des Menschen zu Gott neu bestimmt; in der Dialektik von neuer Theologie und empirisch vorfindbarer Welt entsteht notwendigerweise eine neue Sozialethik; diese »reformatorische Ethik« verändert das Verhältnis des Christen zu Gesellschaft, Wirtschaft und Staat.

Ernst Troeltsch, einer der bedeutendsten Religionssoziologen, Geschichtsphilosophen und Kulturhistoriker zu Beginn des 20. Jahrhunderts, hebt auf drei Momente des fundamentalen Wandels ab, der durch die Reformation bewirkt wurde: Es sind die »religiös begründete und geweihte Verselbständigung der nationalen Kulturen«, »der mit einer prinzipiellen Kritik des Herkommens verbundene Individualismus der persönlichen Glaubensüberzeugung« und »die religiöse Heiligung der diesseitigen Weltarbeit«2.

Das von Troeltsch betonte gemeinsame Substrat des »Protestantismus«, wie er die reformatorischen Richtungen begrifflich zusammenfasst, hat freilich nicht dazu geführt, dass sich lediglich zwei Kulturen – die katholische und die protestantische – ausgeprägt hätten. Vielmehr gibt es zur je spezifischen Reformation eine ihr entsprechende Kultur. »Luthertum« und »Calvinismus« trennt nicht nur das unterschiedliche religiöse Bekenntnis, sondern auch eine unterschiedliche Auffassung von einer ethisch vertretbaren Wirtschaftsordnung beispielsweise. Das lässt sich damit erklären, dass der Protestantismus seine Theologie aus der individuellen Interpretation des Evangeliums als der Offenbarung Gottes gewinnt. Konsequenterweise entstehen so viele Theologien, davon abgeleitet unterschiedliche ethische Aussagen und mit ihrer Verwirklichung unterschiedliche Ausformungen von Gesellschaft, Wirtschaft und Staat. Worin die »Weltwirkungen« der Reformation gesehen wurden, kann auswahlweise und doch mit einem hohen Anspruch auf Repräsentativität am Luthertum (1), am Calvinismus (2) und am Täufertum (3) gezeigt werden.

(1) Aus Anlass seines 70. Geburtstags wurde Thomas Mann 1945 in den USA gebeten, einen Vortrag über »Germany and the Germans« zu halten3. Manns Absicht war es, »einem gebildeten amerikanischen Publikum zu erklären, wie doch in Deutschland alles so kommen konnte«. Das Dämonische, Gewalttätige, Grobe des deutschen Faschismus, der die Welt ein Jahrzehnt in Atem gehalten hatte, und die »gewaltigen Werte«, die Deutschland geschaffen hatte, suchte Mann zu erklären. Eine Personalisierung dieser Probleme sah er in Luther. Luther war für ihn »eine riesenhafte Inkarnation deutschen Wesens«. Er bekannte seinen Zuhörern in Washington:

»Ich liebe ihn nicht [ … ]. Das Deutsche in Reinkultur, das Separatistisch-Antirömische, Anti-Europäische befremdet und ängstigt mich, auch wenn es als evangelische Freiheit und geistliche Emanzipation erscheint, und das spezifisch Lutherische, das Cholerisch-Grobianische, das Schimpfen, Speien und Wüten, das fürchterlich Robuste, verbunden mit zarter Gemütstiefe und dem massivsten Aberglauben an Dämonen, Incubi und Kielkröpfe, erregt meine instinktive Abneigung«.

Auf der anderen Seite würdigte Mann die positive Bedeutung Luthers als Befreier aus scholastischen Zwängen und als Erwecker des individuellen Gewissens. Damit habe Luther »der Freiheit der Forschung, der Kritik, der philosophischen Spekulation gewaltigen Vorschub geleistet« und, indem er die »Unmittelbarkeit des Verhältnisses des Menschen zu seinem Gott herstellte […], die europäische Demokratie befördert«. Luther war ein »Freiheitsheld«, aber eben ein Freiheitsheld »im deutschen Stil, denn er verstand nichts von Freiheit«, da ihm alle Regungen der politischen Freiheit im tiefsten zuwider waren. So ist Luther gleichermaßen ein Repräsentant wie ein Verursacher einer im Grunde konservativen politischen Haltung – eine Interpretation, die sich jener Traditionslinie zuordnen lässt, die Luther für das deutsche Obrigkeitsdenken mitverantwortlich macht.

Man mag die distanzierte Haltung Thomas Manns gegenüber Luther und im weiteren gegenüber dem Luthertum zum Teil als Folge einer extrem deutschfeindlichen politischen Gesamtkonstellation des ersten Nachkriegsjahres werten, doch ist nicht zu übersehen, dass zeitgleich kritische Stimmen zu Luther und zum Luthertum überall dort deutlich zu hören waren, wo immer es galt, das Phänomen des Nationalsozialismus zu erklären4.

Der Schweizer Theologe Karl Barth hatte bereits 1938 in einem Vortrag ausgeführt, es sei »mit Händen zu greifen«, dass Luther und Calvin in den Fragen, die das Verhältnis des Christen zum Staat betreffen, »uns etwas schuldig geblieben sind«, und es sei die Aufgabe der Gegenwart und ihrer Theologen, dieses Vakuum auszufüllen. Deutlicher äußerte sich Barth ein Jahr später in einem Brief nach Frankreich: Deutschland leide

»an der Erbschaft eines besonders tiefsinnigen und gerade darum besonders wilden, unweisen, lebensunkundigen Heidentums. Und es leidet an der Erbschaft des größten christlichen Deutschen: an dem Irrtum Martin Luthers hinsichtlich des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium, von weltlicher und geistlicher Ordnung und Macht, durch den sein natürliches Heidentum nicht sowohl begrenzt und beschränkt als vielmehr ideologisch verklärt, bestätigt und bestärkt worden ist«5.

Der Philosoph Max Scheler, kaustischer Kritiker der zweifelhaften moralischen Normen des wilhelminischen Deutschland und der Weimarer Republik, stellt Luther an den Beginn einer »deutschen Krankheit«6. Zu ihren Symptomen gehören das Auseinandertreten von »Innerlichkeit« und »Äußerlichkeit«, von Geist und Macht, von »privater« Literatur, Kunst und Philosophie einerseits, »öffentlicher« Politik, Wirtschaft und Technik andererseits. Wechselseitige Missachtung und Geringschätzung von Geist und Macht führten dazu, dass beide ihre Verantwortung für das Ganze verlören, so aber je ein relativ autonomes Dasein führten.

»In den unsagbaren Tiefen der ›reinen Innerlichkeit‹ wird der Geist, werden die Ideen, werden Taten und Gesinnung, werden Schönheitssinn und Religion, wird selbst Christus in der Tat schlechthin harmlos, verantwortungslos, bedeutungslos; und je mehr sie dieses werden, desto hemmungsloser können Herrschsucht, Klassenegoismus, Beamtenroutine, Militärdressur, und ebenso blinder Arbeits-und Betätigungsdrang wie geschmack-und geistfreie Genußsucht sich bei denen auswirken, die zur Innerlichkeit – zu diesem einzigen Luxus der Dienenden und Gehorchenden nicht verpflichtet sind«.

Die »Innerlichen« hingegen bilden ein umso maßloseres Selbst-, ja Gottähnlichkeitsgefühl in sich aus,

»als sie für ihren systematischen Verzicht auf Verwirklichung, Darstellung ihres ›Innerlichen‹ im ungefügten ›Äußerlichen‹ jede Art von Narrenfreiheit von ihren Ernährern eingeräumt erhalten«7.

Max Scheler beklagt die Kluft zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit, nicht die mit der Innerlichkeit an sich verbundenen Werte. Insofern ist sein Urteil über den Protestantismus, wie bei allen, die auf die Bedeutung der Reformation reflektiert haben, zwiespältig. Das gilt auch für Historiker im engeren Sinn.

Jacob Burckhardt anerkennt als »geistiges Resultat« der Reformation, dass »unendlich viel mehr Einzelne geistig geweckt und gereift (wurden) als vorher. Und durch die Verinnerlichung der Religion wurde das seelische mehr und in viel weiteren Kreisen ausgebildet.« Zur Bilanz der Reformationsfolgen gehört für ihn aber auch das Entstehen neuer Orthodoxien. Luthers Angriff auf die alte Kirche führt dazu, dass sich im Katholizismus theologische Positionen dogmatisch verfestigen, was als Abgrenzung gegenüber dem Protestantismus gar nicht vermeidbar war. Der Anspruch der alten Kirche auf »Katholizität« diktierte aber auch eine offensive Auseinandersetzung mit dem Protestantismus.

Als Glaubensgemeinschaft konnte sich der Protestantismus nur im Schutz der weltlichen Gewalt behaupten. Deren Interesse an der Reformation war aber rein fiskalischer und politischer Art: Säkularisierung von Kirchengut und Erwerb bischöflicher Rechte erklären, weshalb die deutschen Fürsten für Luther votierten. Die weltliche Gewalt ist es auch, die zur Stabilisierung ihrer politischen Macht eine Dogmatisierung der prinzipiell nicht gebundenen Lehrmeinung der evangelischen Kirchen betrieb und durchsetzte. Die Orthodoxien in beiden konfessionellen Lagern mit ihren politischen Implikationen sind ein Schritt hinter die Renaissance, die neue Formen der Selbstverwirklichung des Menschen ins Recht gesetzt hatte. Dass die protestantischen Länder später Stätten der Geistesfreiheit wurden, geschah »nicht, weil sie protestantisch, sondern insofern sie es nicht mehr mit Eifer waren«8.

In Mann, Barth, Scheler und Burckhardt personalisiert sich ein leidenschaftliches und mitleidendes Interesse der Literatur, der Theologie, der Philosophie und der Geschichte am Luthertum. Das Phänomen Reformation – ins Personale gewendet Luther – war und ist noch immer eine offensichtlich starke Herausforderung für eine Standortbestimmung der Gegenwart. In der Interpretation von Mann, Barth, Scheler und Burckhardt hat die Reformation geradezu »schicksalhaften« Charakter für die deutsche Geschichte. Geschichte konkretisiert sich so in zweifacher Weise: als reale Wirklichkeit in der Gegenwart und als Argument.

Als geschichtsmächtige Kräfte haben Calvinismus und Täufertum eine noch höhere Bewertung als das Luthertum erfahren. Beide freilich sind nicht derart widersprüchlich interpretiert worden wie Luther und das deutsche Luthertum.

(2) Die weltgeschichtliche Bedeutung des Calvinismus hat Max Weber mit der sogenannten »Calvinismus-Kapitalismus-These« hervorgehoben9. Sie lässt sich in zwei zentrale Aussagen zerlegen, die den Stellenwert von Religion für innerweltliche Entwicklungen beschreiben und die Bedeutung des Calvinismus innerhalb der Religionen festlegen: allgemein gilt, dass religiöses Bewusstsein soziales Verhalten determiniert, im Besonderen gilt, dass keine Religion derart tiefgreifende reale Veränderungen herbeigeführt hat wie der Calvinismus.

Weber ist aufgefallen, dass sich der Kapitalismus in jenen Ländern besonders wirksam entfalten konnte, in denen sich der aus dem Calvinismus kommende »asketische Protestantismus« etabliert hatte. Die kausale Verknüpfung bei der Erscheinungen geschieht derart, dass kapitalistisches Verhalten als Folge theologischer Positionen und ethischer Normen verstanden wird: Die bei Calvin besonders stark ausgeprägte Prädestinationslehre war für die religiös ergriffenen Menschen des 16. und 17. Jahrhunderts unerträglich. Im Bewusstsein, möglicherweise von Gott verdammt zu sein, konnte der gläubige Mensch in der Welt nicht leben. Die Seelsorge des Calvinismus suchte aus dieser existenziellen Angst einen Ausweg. Sie fand ihn, indem sie die theologischen Elemente von Calvins Lehre in besonderer Art miteinander verknüpfte. Weil die Welt nur der Verherrlichung Gottes zu dienen hat, ist sie zum strengen Vollzug seiner Gebote verpflichtet. Das verweist zentral auf die Nächstenliebe, die sich im Nutzen für den anderen, konkret: in der Erfüllung der Berufsaufgaben, aktualisiert. Eine solche Verwirklichung des göttlichen Willens gewährleistet nicht, gut reformatorisch, die Erwählung, aber sie gilt als ein Zeichen der Erwählung. Die Brücke zwischen Berufserfolg und Gnade wardamit gebaut. »Kapitalistisch« ausgeformt werden konnte das calvinistische Berufsethos dadurch, dass zur Verpflichtung des Christen auf Nächstenliebe der calvinische Imperativ Askese trat. Beides verbot den Konsum der Früchte der Arbeit. Das Prinzip des Kapitalismus konnte real werden.

(3) Die historische Bedeutung des Täufertums liegt in den von ihm entwickelten Naturrechtsvorstellungen, insofern diese für die Formulierung der Menschenrechte in den Verfassungen der transatlantischen Staaten von Bedeutung geworden sind. Das täuferische Naturrecht ist aus zwei Grundpositionen entwickelt worden: der Ablehnung einer Verbindung von Christentum und Staat einerseits und dem Selbstverständnis als heilige Gemeinde andererseits. Freiheits- und Gleichheitsvorstellungen konnten sich von hier aus entwickeln. Ihre Heiligkeit beweist die Gemeinde in der praktischen ethischen Leistung. Norm ethischen Handelns ist das Gesetz Gottes in Form der Bergpredigt (Matthäus 5–7). Die Verwirklichung der Bergpredigt wird zum Maßstab für die Lebendigkeit des Christentums. Das hat innerhalb der Täufergemeinden und verwandter Denominationen zu einer erstaunlichen Caritas (liebende Fürsorge) geführt, die auch das Privateigentum in beachtlichem Umfang einschränkte. Diese Beobachtung vor Augen, hat Ernst Troeltsch den Täufern wie allen Sekten »einen Kommunismus der Konsumtion« bescheinigt10. Der im Eigentumsverständnis schon deutlicher ausgeformten Kategorie der Brüderlichkeit entspricht eine ausgeprägte Gleichheitsvorstellung der Täufer. Sie konnte sich entfalten in einer Kirche, die auf der Gemeinde gründete, Gemeinde aber verstanden als die Gemeinschaft der sich willentlich zur Nachfolge Christi verpflichtenden Individuen.

Die Kategorien Gleichheit und Brüderlichkeit ließen sich wegen der Staatsferne der Täufer besonders gut behaupten. Die gesellschaftliche Randexistenz der Täufergemeinden hat sie gegenüber hierarchischen Ordnungen der europäischen Gesellschaftsordnung gewissermaßen abgeschirmt. Die Verweigerung dem Staat gegenüber hat aber auch Freiheitsvorstellungen entwickeln und behaupten helfen, die sich im geläufigen europäischen Staatskonzept von Obrigkeit und Untertan vor dem 18. Jahrhundert kaum entfalten konnten11.

Das Luthertum mit seinem mitteleuropäischen Zentrum und seinen Ausstrahlungen in die skandinavischen Länder, der Calvinismus mit seiner Verankerung in der Schweiz, den Niederlanden und Frankreich und seinen Fernwirkungen nach England und Amerika, das Täufertum mit seinen mährischen und niederländischen Schwerpunkten und seiner schließlichen Ausdehnung nach Nordamerika und Kanada haben wirtschaftliche, soziale und politische Strukturen der westlichen Welt entscheidend mitgeprägt. Von Weltwirkungen der Reformation spricht man somit nicht zu Unrecht.

Die Reformation beginnt als innerkirchliche Reformbewegung; ihre erstaunliche Breitenwirkung lässt aus der innerkirchlichen Reformbewegung bald eine soziale Bewegung werden; Reformation als kirchliche Bewegung und als soziale Bewegung fordert den Staat zur Stellungnahme heraus. Das mag es rechtfertigen, die Komplexität des Gegenstandes Reformation im dreifachen Zugriff zu analysieren und darzustellen: Kirche und Reformation (1), Gesellschaft und Reformation (2) und Staat und Reformation (3) bringen die Spannweite der reformatorischen Bewegung zum Ausdruck. Bezogen auf das Reich, von dem allein hier die Rede sein soll, ergeben sich aus diesem Ansatz auch zeitliche und thematische Präzisierungen: Zeitlich reicht die Darstellung bis zum Augsburger Religionsfrieden von 1555, der die reformatorische Bewegung zu einem gewissen Abschluss bringt, indem er das für Jahrhunderte gültige Prinzip des cuius regio eius et religio (Wessen Herrschaft, dessen Religion) festlegt; thematisch erfasst die Darstellung die »Reformation« insoweit, als sie in diesem zeitlichen Rahmen im Reich von Bedeutung geworden ist – das gilt für Luther, Zwingli und Müntzer, nicht aber für Calvin.

Die Bevorzugung des hier gewählten systematischen Ansatzes gegenüber einem chronologischen rechtfertigt sich durch die Interpretation des Reformationsgeschehens selbst. Kirche und Reformation umschreibt plakativ den Sachverhalt, dass sich vor dem Hintergrund von spätmittelalterlicher Religiosität und Kirchenkritik die Reformationstheologie als eine neue Theologie entwickelt und mit ihr in der Auseinandersetzung mit der real vorfindbaren Welt eine neue Ethik. Damit stellt sich die Frage, wie Gesellschaft und Reformation sich zueinander verhalten, näherhin: wie die Gesellschaft die reformatorische Theologie und die reformatorische Ethik rezipiert, welche Momente und Elemente sie aufnimmt und warum sie diese aufnimmt. Da unbestreitbar ist, dass die Reformation in der gesamten Gesellschaft eine starke Resonanz gefunden hat, die Gesellschaft der Frühneuzeit ihrerseits jedoch in ihrer ständischen Differenzierung in Adel, Bürger und Bauern durchaus Momente der gesellschaftlichen Spannung enthält, ist weiter zu fragen, ob es eine stände- oder gruppenspezifische Rezeption der Reformation gab. Die Desintegration des »Protestantismus« aus der alten Kirche und die Irritationen der Gesellschaft durch die Reformation verlangten eine Antwort von den Inhabern der öffentlichen Gewalt im Reich. Somit stellt das Kapitel Staat und Reformation die Frage nach den vorrangigen Interessen der Obrigkeiten, die Reformation in ihren Schutz zu nehmen beziehungsweise sich ihrer zu bemächtigen.

Die Reformation ist gleichermaßen ein geistesgeschichtliches wie ein sozialgeschichtliches Phänomen. Konkret ergibt sich daraus als leitende Fragestellung der folgenden Überlegungen inwieweit Theologie und Ethik der Reformatoren aus der Verfasstheit der Gesellschaft herauswachsen und wie – vice versa – Theologie und Ethik der Reformatoren die Verfasstheit der Gesellschaft und ihre politische Ordnung verändern konnten12.

Vertiefende Literatur

Peter Marshall, The Reformation. A Very Short Introduction, Oxford 2009 [deutsch (Reclam) Stuttgart 2014].

1         Kirche und Reformation

 

 

 

 

1.1        Volksfrömmigkeit und Kirchenkritik – die Ausgangslage der reformatorischen Bewegung

»Das Spätmittelalter gab«, nach dem Urteil von Arnold Angenendt, »der Christianisierung in Deutschland einen geradezu einzigartigen Schub«1. Der erste Ansatz zur Erklärung der Breitenwirkung und der Erfolge der Reformation muss, insofern Reformation als innerkirchliche Erneuerungsbewegung verstanden sein wollte, die Formen der Volksfrömmigkeit und den Inhalt der Kirchenkritik bestimmen.

Für die Erfassung der Volksfrömmigkeit stellt sich das Problem der quantitativen Gewichtung und der zeitlichen Einordnung. Die Ausdrucksformen der Frömmigkeit lassen sich nur bedingt über statistisch verwertbare Quellen messen; die seit etwa 1400 breitere Quellenbasis im Vergleich zu den vorangehenden Jahrhunderten macht es nicht immer leicht, Erscheinungen der Religionsausübung als solche der Vorreformationszeit zu bestimmen. In der Regel stehen Formen der Frömmigkeit in einem Kontinuum, das weit über das 15. Jahrhundert zurückreicht2 und in den Jahrzehnten vor der Reformation allenfalls gewisse Zuspitzungen erfährt3. Dennoch ergeben die vielen verstreuten Nachrichten insgesamt ein Bild, das – folgt man den zusammenfassenden Darstellungen der Kirchengeschichtsschreibung – eine in den letzten Jahrzehnten vor der Reformation erheblich gestiegene Heilssehnsucht und ihr korrespondierende religiöse Übungen zeigt – un immense appétit du divin (einen ungeheuren Hunger nach dem Göttlichen), wie Lucien Febvre in einer klassisch gewordenen Formulierung gesagt hat.

Der Nachweis lässt sich führen über die Devotio-moderna-Bewegung, das Verhältnis zu Bibel und Predigt, das Stiftungswesen, die Formen der sakramentalen Frömmigkeit, der Schmerzensmannfrömmigkeit,der Marienfrömmigkeit,das Wallfahrtswesen und den Heiligen- und Reliquienkult.4

Die Devotio moderna stellt eine religiöse Erneuerungsbewegung dar, die im ausgehenden 14. Jahrhundert einsetzt und ihren Höhepunkt im 15. Jahrhundert erreicht5. Ihre Wurzeln hatte sie in einer vita religiosa (religiöses Leben) der Laien, deren Bedeutung Kaspar Elm wieder ans Licht gehoben hat, eingeschreint in den Wissenschaftsbegriff der »Semireligiosen«6, der seinerseits aus der zeitgenössischen Terminologie heraus entwickelt wird. Die Devotio moderna, orientiert auf eine Vertiefung der inneren, persönlichen Frömmigkeit und steht damit der Mystik nicht fern, sie entfaltet eine auf die Christusverehrung zentrierte Religiösität, die sich als werktätige Frömmigkeit nach außen zu erkennen gibt. Organisatorischer Rahmen dieser Bewegung werden kleine Laiengesellschaften, die »Brüder (Schwestern) vom gemeinsamen Leben« von denen diese innerkirchliche Bewegung getragen wird7. Programmatisch hat Thomas von Kempen (1379/80–1471) das Ziel der Devotio moderna in seiner Imitatio Christi (Nachfolge, eigentlich Nachahmung Christi) zum Ausdruck gebracht, ein Werk, das weit in die Neuzeit gewirkt hat. Heute wird davon ausgegangen, »daß die semireligiosen die religiösen Gememschaften quantitativ einholten, wenn nicht gar überholten«8, also bedeutender als die Klöster selbst wurden. Dennoch bleibt der räumliche Einflussbereich der Devotio moderna im Wesentlichen auf Nord- und Niederdeutschland beschränkt, wenngleich durch die Augustinerchorherren eine Ausstrahlung auf den mittel- und süddeutschen Bereich nachzuweisen ist.

Die Devotio moderna hat ihre Christusfrömmigkeit aus der Schriftlesung bezogen. Das weist auf die Bedeutung der Bibel hin, die im 15. Jahrhundert kontinuierlich wächst. Zwar gab es deutliche Reserven der Kirche gegenüber dem Bibelstudium durch Laien, weil der Bibeltext als zu kompliziert galt, um in unkontrollierter Form, ohne die priesterliche Interpretation und damit ohne die Auslegung der Kirche, dem Kirchenvolk überlassen zu werden; dessen ungeachtet ist eine verstärkte Beschäftigung mit der Bibel im 15. Jahrhundert nicht zu übersehen9. In keinem Land gab es vor der Reformation so viele Bibelübersetzungen in der Landessprache wie in Deutschland10.

Der hier erkennbare Rückgriff auf das Wort der Schrift hat eine Entsprechung in dem starken Interesse der Gläubigen an der Predigt, mit der eigens die Prädikanten durch besondere Stiftungen von Korporationen oder Privatpersonen in den Städten beauftragt waren. Unterweisung der Bürger aus der Bibel und aus den Kirchenvätern sowie Katechese für die Jugend waren meist die speziellen Aufgaben dieser Prediger. Man kann dieses ausgeprägte Interesse des Bürgertums als Bedürfnis nach rationaler, intellektueller Auseinandersetzung mit Religion interpretieren. Denn man wird in der Tat bezweifeln dürfen, ob die geläufigen, vielfach als vulgär-scholastisch einzustufenden Predigtthemen dem Bürger, geschweige denn dem Bauern etwas zu sagen hatten:

»Ob Gott alle Seelen von Anbeginn der Welt geschaffen oder erst nach und nach, und dann ob außerhalb oder innerhalb des Körpers? Ob die Seligen im Himmel vor Gott ewig stehen oder sich auch bisweilen setzen werden? Ob sie bekleidet oder nackt sind? In welchem Theile des Himmels der Thron Gottes steht? Wo werden die Todten auferstehen, wenn ihre Glieder zerstreut sind?«11

Nicht weniger wirksam und von wohl größerer Faszination war freilich jene Form der Predigt, die mit Wunderheilungen verbunden war oder als Moralpredigt Kriterien für die konkrete diesseitige Lebensbewältigung anbot. Johannes von Capistrano (1386–1456) ist ein Repräsentant für eine solche Art der Volkspredigt. Die suggestive Kraft seiner Heilungen und die Leidenschaft seiner Predigt faszinierten Tausende von Hörern in Österreich, Mähren und Sachsen. Verzückte Bußriten folgten seinem Auftritt in Nürnberg – ein Turm der Eitelkeiten, bestehend aus Würfel- und Kartenspielen, kostbaren Gewändern, Frauenzöpfen und Prunkschlitten, wurde verbrannt12, eine Nürnberger Parallele zum Florenz Savanarolas. Weniger in die Breite, dafür mehr wohl in die Tiefe wirkte Geiler von Kaysersberg (1445–1510) in Straßburg, nicht zuletzt durch den stark sozialkritischen Charakter seiner Predigten.13 Sein vorrangiges Ziel war die Schärfung des Gewissens seiner Zeitgenossen für eine Reform des kirchlichen und sozialen Lebens. Sein und anderer Volksprediger »großer Erfolg« liegt »in der weltzugewandten, aktuellen Zuspitzung« der »Moralpredigt begründet, nicht etwa darin, daß sie den Inhalt der biblischen Botschaft tiefer erfaßt hätten«14.

Die Predigt, die in Europa seit dem Auftreten der Franziskaner und Dominikaner einen deutlichen Aufschwung innerhalb der Kirche genommen hatte, gewann durch die Stiftung von Prädikantenstellen weiter an Bedeutung. Nicht selten übertraf der Prädikant an theologischer Bildung den neben ihm amtierenden Pfarrer, weil die Stiftungsurkunde eine solche Position einem mit akademischen Graden ausgewiesenen Theologen vorbehielt. Die Predigt steht freilich im größeren Zusammenhang des spätmittelalterlichen Stiftungswesens.

Stiftungen an die Kirche hat es immer gegeben: durch die Könige im Früh- und Hochmittelalter, den Adel im Hochmittelalter, das Bürgertum im 14. und 15. Jahrhundert und schließlich auch durch die Bauern im 15. und 16. Jahrhundert. Entsprechend den unterschiedlichen wirtschaftlichen Möglichkeiten der Stifter reichten die Dotationen an die Kirche von umfangreichen Königsgutsbezirken bis zu kleinen Messstiftungen in Form von Gelddeputaten. Die Stifter der Vorreformationszeit sind die Bürger und Korporationen in den Städten – etwa die Zünfte – und die Bauern: Den großen Kapellenstiftungen in den städtischen Münstern von Straßburg, Ulm und Freiburg entsprechen die Messstiftungen oder Messstipendien der Bauern in den dörflichen Kirchen. In der Vorreformationszeit gab es gelegentlich sogar zu wenig Priester, um alle gestifteten Messen lesen zu lassen15. Predigtpfründe und Messpfründe sind die bevorzugten Stiftungen der Zeit. Mit der Messpfründe hoffte der Stifter, für sich und seine Familie eher das Heil zu erlangen: 1000 Seelenmessen ließ Graf Werner von Zimmern 1483 für sich lesen16.

Der Hochschätzung der Messe als Vermittlerin von Gnaden entspricht die sakramentale Frömmigkeit. Sie hat sich im 15. Jahrhundert auch in einer ausgeprägten Hostienfrömmigkeit ausgedrückt. Obwohl der Laie von der Liturgie der Messe weithin ausgeschlossen war – das Geschehen mit zu vollziehen, scheiterte an der lateinischen Sprache des Gottesdienstes und an der häufigen Abtrennung der Laiengemeinde vom Hochaltar durch den Lettner –, hat sich beim gemeinen Mann die Vorstellung verfestigt, durch die Teilnahme an der Erhebung der Hostie im Vorgang der Wandlung besondere Gnaden zu erlangen17. Züge von Gläubigen durchwanderten die Seitenkapellen in den großen Stadtkirchen, an denen die vielen Priester die Messe lasen, um jeweils der Elevation beizuwohnen. Theologisch war eine solche Haltung, die von der Präsenz bei der Wandlung besondere Gnaden erhoffte, gewiss anfechtbar. Die Kirche selbst hat freilich wenig getan, um dieses Missverständnis zu korrigieren: Einerseits galt es das ganze Mittelalter über als selbstverständlich, den Laien den Kanon durch das stille Lesen des Priesters vorzuenthalten – die Wandlungsworte vor Missbrauch und Spott zu schützen, diente als Begründung18 –, womit das Magische der Wandlung unbeabsichtigterweise betont wurde; andererseits wurde die fortschreitende Verehrung der Hostie durch die seit dem 14. Jahrhundert verstärkt aufkommenden Fronleichnamsprozessionen deutlich gefördert. Wenn auch das Laterankonzil von 1215 beschlossen hatte, die einmalige jährliche Kommunion für die Gläubigen verpflichtend zu machen, so war damit der innere theologische Zusammenhang von Wandlung und Kommunion nicht deutlich genug betont19.

Der Verehrung der Hostie am nächsten steht die spätmittelalterliche Schmerzensmannfrömmigkeit.Der leidende, gepeinigte, gegeißelte und dornengekrönte Christus, der Mann der Schmerzen, wird zu einem Mittelpunkt der religiösen Kontemplation und betenden Andacht. Dafür lässt sich die bildende Kunst ins Feld führen, die in den Darstellungen des geschlagenen Christus bei Tilman Riemenschneider, Albrecht Dürer, Mathias Grünewald und Martin Schongauer einen ihrer Höhepunkte erreicht20. Die Orientierung auf den geschundenen, nach Golgatha gehenden Christus, nicht auf den auferstehenden, triumphierenden Christus, könnte ein Indiz für die Nöte und Ängste der vorreformatorischen Gesellschaft sein21. Doch wie sich die Hostienfrömmigkeit am Rande des theologischen Kerns der Transsubstantiation bewegt, so verirrt sich auch die Schmerzensmannfrömmigkeit zusehends ins Marginale: Die Verehrung der fünf Wunden, die Verehrung des Blutes Christi treten in den Vordergrund. Joseph Lortz hat dafür die prägnante Kurzformel der »Peripherierung« verwendet22. Diese Beurteilung gilt auch für die Marienfrömmigkeit23, die sich als Rosenkranzfrömmigkeit in den vorreformatorischen Jahrzehnten herausbildet. Indizien sind dafür die deutliche Zunahme der Rosenkranzgebete und der Rosenkranzbruderschaften. Eine verständliche, freilich nicht ausreichende Erklärung findet die Rosenkranzfrömmigkeit im Bedürfnis der Menschen nach Gnaden. Durch Erlass Albrechts von Mainz 1514 konnte ein Mitglied der Rosenkranzbruderschaft für jeden gebeteten Rosenkranz 7700 Tage Ablass gewinnen, ein Ausdruck dafür, dass der Rosenkranz den Zugang zu Gott besonders erleichtert.

Die Marienfrömmigkeit hat im Wallfahrtswesen einen besonderen Ausdruck gefunden, denn die Wallfahrten konzentrieren sich auf Marienheiligtümer24: 1519 setzt die Wallfahrt zur »Schönen Maria« in Regensburg ein, bereits 1520 sind dort 118 961 Gläubige gezählt worden. Anlässlich der 14-tägigen Heiltumsfahrt nach Aachen 1496 haben 140 000 Gläubige die Marienkirche besucht und 85 000 Gulden gespendet. Neben die Marienwallfahrten treten im Spätmittelalter verstärkt die Wallfahrten zu Bluthostien: Heiligenblut, Walldürn, Wilsnack, Brügge sind solche neu entstehenden Zentren der Frömmigkeit. Allen Wallfahrten liegt der Glaube zugrunde, Gott, Maria und die Heiligen seien an von ihnen bevorzugten Orten auch bereit, den Menschen in besonderem Maße zu helfen25.

Die Heiligenverehrung geht von der Auffassung aus, dass der Mensch durch die Fürsprache der Heiligen bei Gott das Heil eher erlangen könne, gründet aber auch in der Auffassung, dass der Heilige dem Menschen im diesseitigen Leben helfen würde. Das erklärt, weshalb bald für jedes menschliche Gebrechen und Bedürfnis ein bestimmter Heiliger verehrt wurde. Wenn gegen Feuersbrunst, gegen Halsschmerzen, für eine gute Ernte und vieles andere mehr jeweils bestimmte Heilige angerufen wurden, ist das eine Vorstellung vom Walten des Göttlichen in der Geschichte. »Der Segen des Heiligen entmächtigte die kosmischen Kräfte«26. Die Kraft der Heiligkeit wurde auch in ihre Reliquien gebannt, der Heilige ist so nicht wirklich tot. Das entsprach heidnischen Vorstellungen. Michael Mitterauer hat darauf eine große These gegründet. Die »Realpräsenz« der Heiligen in Reliquien sei die Voraussetzung für die Akzeptanz der Realpräsenz von Christus in Brot und Wein beim Abendmahl der Gemeinde gewesen. Danach verdankt das Christentum seinen Sieg auch der heidnischen Grundierung einer agrarischen Gesellschaft; die kosmische Bedrohung einer agrarischen Welt ermöglicht es, ein Dogma des Christentums durchzusetzen27.

Mit magischen Zeichen wird das alltägliche Leben umstellt. Das zeugt vielleicht von Angst und erklärt zu einem Teil die Verbreitung besonderer Kulte wie die Verehrung der Vierzehn Nothelfer, die im 15. Jahrhundert verstärkt aufkommt.

Noch schärfer beleuchtet wird die neue Bedeutung, die der Heilige in der Vorreformationszeit gewinnt, durch die Beobachtung, dass sich jetzt erst die Gewohnheit durchsetzt, Kindern Heiligennamen zu geben, so dass die germanischen Vornamen fast völlig verschwinden28. Freilich darf auch nicht übersehen werden, dass am Vorabend der Reformation bereits erste Stimmen gegen eine zu unkritische Heiligenverehrung vernehmbar werden29.

Der Eindruck könnte sich aufdrängen, die Frömmigkeit der Vorreformationszeit hätte sich auf weite Strecken im Grenzbereich zu magisch-animistischen Praktiken bewegt. Besonders der zahlenmäßig breiten Schicht der Bauern wird in der Regel unterstellt, ihr »Christianisierungsgrad« sei vergleichsweise gering gewesen30. Diese Einschätzung darf man bezweifeln, weil durch Stiftungen der ländlichen Gemeinden sich die Seelsorge erheblich verbesserte31: für die Pfalz nahm zwischen 1420 und 1520 die Zahl der Seelsorgestellen um 20–30% zu. Im Thurgau32 sind von den 1520 bestehenden 162 Seelsorgestellen rund ein Viertel von bäuerlichen Gemeinden eingerichtet worden. In Graubünden erfolgten zwischen 1384 und 1525 119 Stiftungen durch bäuerliche Nachbarschaften; das bedeutete, »ein Viertel der hauptamtlich tätigen Priester« wurden über kommunale Stiftungen unterhalten33. Immer ging es den Gemeinden nach Ausweis der Stiftungsbriefe darum, die Zahl der Messen möglichst auf alle Tage der Woche auszudehnen, die Kinder am Ort taufen und die Toten im Dorf bestatten zu können34.

Offenbar ist die kommunale Stiftungstätigkeit weit verbreitet35. Stiftungen sind auch dort nachzuweisen, wo sie die Pfarreiorganisation nicht oder kaum berührten, also nicht zu Abspaltung (Separation) von der Mutterpfarrei führten. Für Tirol ließ sich zeigen36, dass die Zahl der Pfarreien vom 13. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts praktisch gleich blieb. Um diese Pfarreien herum entstand jeweils ein Kranz von Filialen, die von Priestern versehen wurden, die oft im Haus des Pfarrherrn residierten. Vergleichbare Berechungen für die Vorreformationszeit andernorts fehlen, doch jüngere Forschungen haben zeigen können – besonders eindrücklich für die Pfalz –, wie verbreitet und intensiv insgesamt auch vor dem 15. Jahrhundert die Stiftungstätigkeit der Bevölkerung war37.

Allgemein jedoch hält die jüngere Pfarreiforschung38 diese Beobachtungen eher für Ausnahmen und verweist beim Enstehen der Pfarreien mit Recht auf die Bedeutung der Grundherrschaft und Vogtei39. Das kann aber das Phänomen Stiftung in seiner Bedeutung nicht verkleinern, wenn man in Anschlag bringt, dass es doch große Teile Oberdeutschlands von Tirol bis ins Wallis und von der italienischen Sprachgrenze bis nach Franken mitgeprägt hat. Problemorientierte Forschungsüberblicke, aber auch Einzelhinweise, etwa aus Thüringen, deuten jedenfalls darauf hin, dass das Thema noch nicht ausgeschöpft ist40.

Die finanziellen Opfer der Gemeinden sind beachtlich: 600–800 Gulden Stiftungskapital waren in der Regel erforderlich, um die sakramentale Versorgung des Dorfes mit Messen sicherzustellen. Das ist das Hauptanliegen der Bauern. Welche heilsgeschichtlichen Vorstellungen damit verbunden waren, hat Rosi Fuhrmann sehr behutsam und, soweit das nach Lage der Dinge überhaupt möglich ist, genau herausgearbeitet41; die dieser Arbeit folgenden Untersuchungen haben sowohl die Fragestellung als auch die Ergebnisse für andere Regionen durchaus als tragfähig bestätigt42. Die Bauern handeln im Rahmen der kirchlichen »Dogmatik«, denn die Heilsnotwendigkeit der Sakramente gehört zum Kernbestand der Theologie der römischen Kirche, und die Eucharistie gewinnt im Spätmittelalter in Theologie und Liturgie zunehmend an Bedeutung43. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch das kommunale Pfarrerwahlrecht in der Innerschweiz, im Gebiet um den Vierwaldstättersee, neu interpretieren. Zweifellos begünstigte hier die politische Entwicklung des Spätmittelalters, nämlich die Ablösung feudaler Rechte zugunsten der Gemeinden, die weitgehende Autonomie der Gemeinden in kirchlichen Angelegenheiten; doch darf auch nicht übersehen werden, dass den Kommunen das Pfarrerwahlrecht nicht in den Schoß fiel, sie es vielmehr durch hohe finanzielle Aufwendungen erwarben oder gerichtlich erstritten. Über Patronat und Wahlrecht konnte man dem Pfarrer Auflagen machen: ihn zur Residenz zwingen und damit die sakramentale Versorgung sicherstellen, ihm die Anrufung des geistlichen Gerichts verbieten und damit Bann und Interdikt von der Gemeinde fernhalten. Spätmittelalterliche Frömmigkeit, vor allem die der einfachen Leute, erschöpft sich somit keineswegs in Magie, sie ist in hohem Maße auch kirchlich gebundene und dogmatisch korrekte Frömmigkeit44.

Inwieweit lassen sich diese und weitere Einzelbeobachtungen systematisieren und möglicherweise in einen Begründungszusammenhang bringen? Frömmigkeitspraktiken sind sicher auch von der Art der beruflichen Tätigkeit, dem sozialen Status und dem Bildungsgrad abhängig, unbeschadet der Tatsache, dass Menschen einer bestimmten Zeit ein gemeinsames, sie verbindendes Interesse an Religion haben. Letzteres kommt zum Ausdruck in der ständeübergreifenden Praxis der Heiligen- und Reliquienverehrung – vom einfachen Bauern bis zum Kurfürsten von Sachsen; ersteres in dem an die stadtbürgerliche Gesellschaft gebundenen Interesse an Predigt und Evangelium. Angezeigt wird damit ein – freilich noch sehr vager – Interaktionsmechanismus von Frömmigkeitsformen (allgemeiner: Religion) und der Verfassung der Gesellschaft beziehungsweise gesellschaftlicher Gruppen. Das ist ein heuristisch wichtiger Gesichtspunkt, weil er die Frage aufwirft, inwieweit Religion (und damit auch Theologie) gesellschaftlich vermittelt ist. Religion wird so keineswegs als Ideologie gesellschaftlicher Gruppen denunziert, denn noch bleibt offen, wenn man schon von »Interaktion« spricht – was hier mit voller Absicht geschieht –, inwieweit Religion per se gesellschaftliches Bewusstsein und Sein festlegt. Den jetzt ins Blickfeld gekommenen Abhängigkeiten kommt man ein weiteres Stück näher, wenn man sich mit der Kirchenkritik der vorreformatorischen Zeit befasst.

Die Formen der Kirchenkritik,die häufig als »Antiklerikalismus« begrifflich gefasst werden, lassen sich im Einzelnen als Kritik am Papsttum,an der Geistlichkeit, an der geistlichen Gerichtsbarkeit und an der Theologie zur Darstellung bringen.

Kritik am Papsttum wird in besonders in den »Gravamina deutscher Nation« erkennbar, die seit dem späten 15. Jahrhundert von den Reichsständen auf den Reichstagen eingebracht werden. Als »Beschwerden« des Reiches richten sie sich gegen die Einflussnahme der Kurie auf die Besetzung kirchlicher Stellen in Deutschland (Domkapitel, Konvente, Pfarreien, Pfründen aller Art) und gegen die »Fiskalisierung« der Spiritualia (Weihsteuern, Stolgebühren, Ablass). Als »Forderungen« des Reiches münden sie in eine umfassende Reform der Kirche und laufen in letzter Konsequenz, sollte sich die Kurie gegen die Reformatio (Erneuerung) sperren, auf ein Nationalkonzil hinaus. Die Gravamina deutscher Nation gründen in dem europaweit aufkeimenden Nationalismus, den man vielleicht besser mit »nationaler Sonderung« umschreiben könnte: in kirchenorganisatorischen Formen hatte er sich in Frankreich in der Form des »Gallikanismus« bereits durchgesetzt, und er sollte sich in den 1530er Jahren als »Anglikanismus« in England etablieren. Im Reich jedenfalls herrschte die Vorstellung, dass nur über die Erweiterung der Autonomie der Reichskirche oder eine Rückbesinnung der Gesamtkirche selbst auf ihre primär religiöse Funktion die Ausbeutung Deutschlands zur Finanzierung des luxuriösen Renaissancepapsttums einzudämmen sei.

Von größerer Bedeutung als die Kritik am Papsttum war zweifellos die Kritik an der Geistlichkeit selbst, sowohl dem niederen wie dem höheren Klerus44. Schlechte seelsorgerische Betreuung, zweifelhafter moralischer Lebenswandel und dilettantische theologische Bildung wurden den Geistlichen von den Laien vorgeworfen. Um diese Kritik verstehen zu können, bedarf es einiger Hinweise auf die kirchenrechtlichen und -organisatorischen Rahmenbedingungen, die in gewissem Umfang die Position der Geistlichen determinierten. Für die Situation des niederen Klerus sind zum guten Teil zwei Erscheinungen des Spätmittelalters verantwortlich zu machen: das Inkorporationswesen und das Pfründenwesen.

Mit Inkorporation wird jener Vorgang bezeichnet, der eine Pfarrkirche einer geistlichen Institution unterstellt: einem Kloster, einem Domkapitel oder einem städtischen Spital. In der Regel setzt die Inkorporation voraus, dass das inkorporierende Institut – etwa das Kloster – im Besitz des Patronatsrechts der Pfarrei ist45. Das bedeutet, dass der Patronatsherr – im vorliegenden Fall das Kloster – den Pfarrer einsetzt oder dem Bischof zur Einsetzung vorschlägt (Präsentationsrecht), über das Kirchenvermögen (Kirchenfabrik) verfügt und die Lasten der Pfarrkirche (etwa Baukosten) trägt. In aller Regel erlaubt die Pfarrei dem Pfarrer ein standesgemäßes Leben, zumal zur Normalausstattung einer Pfarrerstelle ein Hof (Widdumgut) gehört. Mit der Inkorporation, die durch den jeweiligen Diözesanbischof 464748