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Ophelia und das magische Museum

Karen Foxlee, geboren 1971 in Queensland/Australien, arbeitete viele Jahre als Krankenschwester, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte und Creative Writing studierte. Sie lebt als freie Autorin in Gympie/Queensland in Australien. Ihr literarisches Debut, das Jugendbuch »Das nachtblaue Kleid«, erschien ebenfalls bei Beltz & Gelberg.

Impressum

Dieses Buch ist erhältlich als:

ISBN 978-3-407-74907-9 Print

ISBN 978-3-407-74619-1 E-Book (EPUB)

© 2017 Gulliver

in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel

Werderstraße 10, 69469 Weinheim

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© 2015 Beltz & Gelberg

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Ophelia and the Marvelous Boy bei Alfred A. Knopf

© 2014 by Karen Foxlee

Übersetzung: Katharina Diestelmeier

Neue Rechtschreibung

Einbandgestaltung: Carolin Liepins, München, unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com (Schlüssel: ©VectorWeb, Bilderrahmen: © PinkPueblo, Typografie: © Le Chernina)

Gesamtherstellung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza

Printed in Germany

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Weitere Informationen zu unseren Autoren und Titeln finden Sie unter: www.beltz.de

Für meine Schwester Sonia

Schon kommt Nordwind auf, bringt bald Schnee zuhauf

Die Königin sah in Wirklichkeit ganz anders aus als in den Geschichten, die der Fabelhafte Junge erzählt bekommen hatte – früher als Kind vor dem Feuer und später von den Zauberern. Sie hatte keine Klauen. Keine scharfen Zähne. Sie war jung. Ihr helles Haar fiel ihr über die Schultern. Sie riss ihre blauen Augen weit auf und lächelte den König süßlich an.

»Ich mag ihn nicht, Liebling«, sagte sie, ohne auch nur die Stimme zu erheben. »Ich mag ihn ganz und gar nicht.«

»A…a…aber er ist doch der Fabelhafte Junge«, stammelte der König. Er wollte sie nicht verärgern; sie waren frisch verheiratet.

»Genau das ist das Problem«, sagte sie. »Ich habe gehört, dass er nicht altert. Dass er schon seit zehn Jahren hier lebt und immer noch genauso aussieht wie bei seiner Ankunft. Dass weder sein Haar noch er selbst gewachsen ist. Das finde ich zutiefst beunruhigend. Ich kann nicht ruhig schlafen, solange er hier frei herumstreunt. Und diese Geschichte, die man mir erzählt hat, von dem Schwert, das er bei sich trägt. Wie soll ich mich sicher fühlen, wenn ich so etwas höre?«

»Na, na«, sagte der König. »Er ist seit vielen Jahren mein treuer Gefährte.«

»Ich möchte, dass er eingesperrt wird«, sagte sie.

»Eingesperrt?«

»Wir sollten ihn einsperren. Wir sperren ihn in ein Zimmer und lassen ihn nur heraus, um ihn zur Schau zu stellen. Wir stellen ihn zusammen mit all meinen anderen Kostbarkeiten aus; er ist eine Rarität. Dann werde ich mich sicherer fühlen.«

»Ich weiß nicht«, sagte der König. »Er ist ein guter Junge; er tut uns nichts.«

Die neue Königin sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an.

Zu jener Zeit hatte es bereits angefangen zu schneien und hörte nicht wieder auf. Schnee bedeckte die Palastanlage, die einstmals grünen Gärten, den Heroldsbaum. Er färbte die Hügel und Felder weiß, deckte die Häuser zu. Ganze Dörfer verschwanden einfach. Seen froren zu und anschließend das Meer. Die Gesichter der Kinder wurden schmal und grau. Alte Damen kippten auf der Straße um und erfroren.

Als das Zimmer bereitet war, wurde der Fabelhafte Junge durch die langen Gänge geführt. Im Palast gab es Hunderte von Zimmern, Hunderte von Treppen und Hunderte von Vitrinen. Dort waren die Juwelen der Königin und ihre anderen regungslosen Trophäen ausgestellt: Schneelöwen und Schneeleoparden, weiße Elefanten, Schnee-Eulen – ein ganzer Raum voll davon, in der Zeit erstarrt, die Flügel ausgebreitet an die Schautafeln gepinnt.

Die großen Mosaike, die die Böden zierten, zeigten den Hochzeitsumzug des Königs und der Königin sowie winterliche Landschaften und Seeungeheuer, die ganze Bootsladungen von Menschen verschlangen.

»Wie bist du nur darauf gekommen?«, fragte der König, als er die Seeungeheuer sah.

»Das ist eine Geschichte, die ich mal gehört habe«, antwortete die Königin, »und die mir gut gefallen hat.«

Sie war wirklich sehr grausam.

Der Junge wehrte sich nicht, als er in sein Zimmer gebracht wurde. Er hatte sich bereits gewehrt. Seit der Hochzeit hatte er dreimal versucht, aus der Stadt zu fliehen, und war dreimal wieder eingefangen worden.

Rund um die Tür war ein Wandbild gemalt, das seine fabelhafte Reise darstellte. Auf dem Wandbild hatte der Junge sein Zauberschwert erhoben, aber an der Tür hatten sie ihm das Schwert abgenommen und es dem König ausgehändigt. Genau wie seine Tasche, die die Anweisungen und den Kompass enthielt. Der Junge sah den König an, aber dieser erwiderte seinen Blick nicht. Im Inneren des Zimmers fand sich nichts weiter als ein Bett, ein Stuhl und ein hoch gelegenes Fenster. Die Königin lächelte und sah sehr zufrieden aus. Sie befühlte den Schlüssel an der Kette um ihren Hals.

»Du bist mit allem, was du vorhattest, gescheitert«, sagte sie, als sie allein waren, nur der Fabelhafte Junge und sie. »Ich weiß nicht, warum die Zauberer ausgerechnet dich auserwählt haben, solch ein armseliges, bedauernswertes Geschöpf. Wie sind sie nur darauf gekommen, dass du mich besiegen könntest?« Sie wartete seine Antwort nicht ab. »Und dieser Zauber, der auf dir liegt, damit ich dir nichts anhaben kann – der ist nichts weiter als ein kleines Ärgernis. Sobald der Zauber erloschen ist, werde ich dich mit meinem Schwert durchbohren. Was bedeuten schon Jahre für mich? Ich werde eine Uhr bauen, die die Sekunden, Minuten, Tage und Jahre zählt. Und wenn sie abgelaufen sind, wird die Uhr schlagen, jawohl, und dann werde ich dir Schreckliches antun.«

Sie sagte das sehr liebenswürdig, als spräche sie über Marshmallows oder den Nachmittagstee.

»Ich werde das Schwert finden«, flüsterte der Junge. »Und die Person, die es führen wird.«

»Es wird zerstört werden«, sagte die Königin, »in tausend Teile zerhackt, eingeschmolzen.«

»Wir werden einen Weg finden, Euch zu besiegen«, sagte der Junge.

Das fand die Königin höchst amüsant und sie lachte laut. Dann ließ sie den Jungen allein zurück, machte die Tür zu und drehte den Schlüssel im Schloss.

Erster Teil

1

In dem Ophelia Jane Worthington-Whittard in einem verschlossenen Zimmer einen Jungen entdeckt und daraufhin gebeten wird, die Welt zu retten

Ophelia hielt sich nicht für besonders mutig. Nicht so wie Lucy Coutts, die Schulsprecherin aus ihrem Jahrgang, die einmal ein Baby in einem davonrollenden Kinderwagen gerettet hatte und damit auf der Titelseite aller Zeitungen gelandet war. Lucy Coutts hatte dicke, braune Haare und rosa Wangen, und sie nannte Ophelia Kleine, was alle zum Lachen brachte, sogar Ophelia, die damit zeigen wollte, dass ihr das nichts ausmachte.

Ophelia hielt sich nicht für mutig, aber sie war sehr neugierig. Sie war genau die Art Mädchen, das nicht an einem goldenen Schlüsselloch vorbeigehen konnte, ohne hindurchzuschauen.

Das Schlüsselloch befand sich in einer fremden Stadt, in der es immer schneite. Es befand sich im dritten Stock des Museums und gehörte zu Zimmer 303. Ophelia hatte keine Ahnung, wie sie dorthin gelangt war, sie wusste nur, dass sie ihren Füßen gestattet hatte zu gehen, wohin sie wollten.

Ihr Vater hatte einen Auftrag in dem Museum angenommen. Er war kurzfristig gebeten worden, Gefecht: Die größte Ausstellung von Schwertern der Weltgeschichte zu organisieren. Der letzte Kurator war überraschend verschwunden. Innerhalb von drei Tagen musste Ophelias Vater jetzt Hunderte von Schwertern vorbereiten, die an Heiligabend ausgestellt werden sollten.

Er hoffte außerdem, dass eine Woche in einer fremden Stadt genau das Richtige für seine Töchter wäre. Die beiden könnten auf Entdeckungsreise gehen oder Schlittschuh laufen. Und sie könnten weiße Weihnachten fern von ihrem Zuhause verbringen, das so still geworden war.

Er war allerdings sehr beschäftigt, zu beschäftigt, um sich um sie zu kümmern. So wies er Ophelia an, in der Nähe ihrer großen Schwester Alice zu bleiben. Aber Alice hatte keine Lust, sich irgendwelche Exponate anzuschauen. Sie wollte nirgendwohin und nichts tun. Sie wollte den ganzen Tag mit ihren Kopfhörern dasitzen, düstere Musik hören und düstere Gedanken denken. So war sie seit dem Tod ihrer Mutter, also seit genau drei Monaten, sieben Tagen und neun Stunden.

»Ich gehe später mit dir Schlittschuh laufen«, hatte Alice, allerdings ziemlich halbherzig, gesagt.

Also war Ophelia den ganzen Vormittag allein umhergestreift. Sie war treppauf und treppab gelaufen. Sie hatte Fahrstühle, die von Stockwerk zu Stockwerk ratterten und quietschten, betreten und verlassen. Es gab große Galerien mit unermesslichen Schätzen und glänzende Säle mit glitzernden Relikten der Vergangenheit. Es gab beeindruckende Gemälde alter Meister, prächtige Statuen und riesige Krüge, und an den Decken tanzten gemalte Engel. Ophelia gab sich die größte Mühe, sich für all diese Dinge zu interessieren.

Sie legte den Kopf schräg und nickte beifällig.

Sie schlug interessante Fakten in dem eher nutzlosen Museumsführer nach.

Sie versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken.

Glücklicherweise führten die strahlenden Säle zu dunklen Fluren. Und die dunklen Flure führten ihrerseits zu düsteren Räumen. Und die düsteren Räume enthielten kleinere, seltsamere Sammlungen. Es waren diese Orte, die Ophelias Herz schneller schlagen ließen.

Sie stieß auf einen abgeschiedenen Raum voller Teelöffel.

Der zu einem Raum führte, der nur Telefone enthielt.

Der zu einem düsteren Spiegelkabinett führte.

Sie durchquerte eine Ausstellung mit ausgestopften Elefanten. Sie schlich auf Zehenspitzen durch einen ruhigen Pavillon voller verschlissener präparierter Wolfskörper. Sie drängte sich durch die Menge in der Galerie der Zeit und sah die berühmte Winterzeituhr, die so laut tickte, dass sich die Leute die Ohren zuhalten mussten. Sie lief einen langen, dämmrigen Gang entlang, in dem Porträts schwermütiger Mädchen hingen.

Es war sehr kalt. Fenster standen offen und ließen beißende Funken aus Eis und Schnee herein. Der Wind pfiff durch die Galerien und Treppenhäuser und brachte die Spinnweben an den Kronleuchtern zum Tanzen.

Selbst mit einem Plan war dies ein verwirrender Ort. Schilder wiesen in die falsche Richtung und niemand machte sich die Mühe, sie gerade zu rücken. Das Schild Porzellan 1700 – 1850 n. Chr. führte zu Kleidung und Kultur der Renaissance. Das Schild Kleidung und Kultur der Renaissance führte zu Artefakte der Bronzezeit. Das Schild Artefakte der Bronzezeit wiederum führte zu einer beeindruckenden roten, verschlossenen Tür.

Es hatte keinen Zweck, die Wärterinnen zu fragen. Die Wärterinnen saßen in Ecken, wo sie strickten oder dösten. Manchmal keiften sie grundlos und fauchten wie Furien, dann wieder ließen sie zu, dass Kinder auf die Vitrinen kletterten und dabei die Messinggriffe als Fußstützen nutzten. Manchmal stürmten sie auf Leute zu, die einfach nur zu lange an derselben Stelle standen, und dann wieder lächelten sie ein breites, zahnloses Lächeln und boten einem altes Obst aus ihren großen, schwarzen Handtaschen an.

In dem Museum der Stadt, in der es immer schneite, konnte man sich sehr leicht verirren. Das hatte Miss Kaminski, die Museumsdirektorin, selbst gesagt. Miss Kaminski war umwerfend schön. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem eleganten Knoten geschlungen und eine Wolke schweren Parfüms umgab sie. Sie lächelte Ophelia und Alice an, bevor sie ihrem Vater eine perfekt manikürte Hand auf den Arm legte.

»Die beiden sollten hier besser nicht allein herumstreunen. Das Museum ist sehr groß und es sind bereits mehrere Mädchen für immer verschwunden.«

Aber Ophelia hatte keine Angst. Es war viel besser, allein unterwegs zu sein. Es war eine Erleichterung, aus der Werkstatt herauszukommen, in der ihr Vater sich an die Arbeit gemacht hatte, sobald sie in der Stadt angekommen waren. Ohne Unterlass packte er Schwerter aus, polierte Schwerter, katalogisierte Schwerter. Ihr Vater wusste alles, was man über Schwerter wissen konnte. Auf seiner Visitenkarte stand:

MALCOLM WHITTARD

FÜHRENDER INTERNATIONALER SCHWERT-EXPERTE

»Ich habe einen sehr knappen Zeitplan, Ophelia. Heiligabend!«, sagte er jedes Mal, wenn Ophelia versuchte, mit ihm zu reden. »Ich bin sicher, dass es hier mehr als genug Dinge gibt, mit denen Alice und du euch beschäftigen könnt.«

Falls ihr je dieses Museum besucht: Das Schlüsselloch zu Zimmer 303 befindet sich ganz in der Nähe eines berühmten Bodenmosaiks mit einem Seeungeheuer, das auf dem Plan mit einem Kraken gekennzeichnet ist. An diesem ersten Morgen spazierte Ophelia eine ganze Weile auf den Mosaikwellen und der Mosaikgischt umher. Sie lief alle acht glänzenden Tentakel komplett ab und sah sich die Menschen an, die dem Ungeheuer aus dem Maul fielen. Sie beugte sich vor und blickte dem Monster direkt ins Auge.

Ihrer Mutter hätte das gut gefallen. Mehr als alles andere wünschte sich Ophelia Jane Worthington-Whittard, dass ihre Mutter noch am Leben wäre.

Neben dem Seeungeheuermosaik bemerkte sie eine Galerie, die mit einem roten Seil abgesperrt war. Ophelia duckte sich unter dem Seil hindurch und ging hinein. Es war eine kleine Ausstellung kaputter Steinengel. In dem Raum gab es keine Wärterin, daher berührte sie einige Flügel, wissend, dass sie das eigentlich nicht tun sollte. Es war sehr still, nichts war zu hören. Nichts als ihre eigenen Schritte und ihr eigener Atem. Der Raum hatte einen eigentümlichen, abgestandenen Geruch. Hier war schon lange niemand mehr gewesen.

In der Ecke des Raumes gab es eine ganz normal aussehende graue Tür. Darüber befanden sich die kleinen silbernen Ziffern 302. Ophelia öffnete die Tür.

Der Raum hinter der normalen grauen Tür war auch beinahe normal. Der Fußboden hatte ein Schachbrettmuster. An den hohen Fenstern hingen zerschlissene geraffte Samtvorhänge und man konnte über die Stadt schauen. Der Himmel war ebenfalls grau.

Der Raum wäre auch gewöhnlich gewesen, wenn es die Bühne im hinteren Teil nicht gegeben hätte und das verblasste Wandbild mit Bergen, einem blauen Meer und einem Jungen mit einem Schwert. Über dieser Szene standen in einem Bogen aus goldenen, rissigen und abblätternden Buchstaben die Worte:

DER FABELHAFTE JUNGE

Es gab eine kleine Tür. Sie war zwischen den spitzen, blauen Wellen mit ihren weißen Schaumkronen versteckt, und in der kleinen Tür befand sich ein goldenes Schlüsselloch.

Ophelia ging über den Schachbrettboden, betrat die Bühne über eine Stufe und schritt über die Holzbretter. Sie kniete sich vor das Schlüsselloch und presste ihr Gesicht gegen die Tür, um hindurchzusehen.

Sie tat es, ohne nachzudenken.

So war sie einfach.

Sie rechnete nicht mit etwas Ungewöhnlichem.

Sie rechnete nicht damit, direkt in ein großes, blaugrünes Auge zu blicken.

»Hallo«, sagte der Besitzer des Auges, eine Jungenstimme. »Ich komme in Freundschaft und ganz ohne Arg.«

Ophelia landete auf ihrem Hintern und kroch rückwärts von der Tür weg. Ihr Herz machte einen Satz und setzte kurz aus. Sie tastete in der Tasche ihres blauen Samtmantels nach dem Inhalator und atmete einen Sprühstoß ein.

»Wer bist du?«, fragte sie oder versuchte sie zumindest zu fragen; die Worte klangen ganz piepsig.

»Ich habe keinen Namen«, sagte die Stimme. »Er wurde mir von einem Protektorat aus Zauberern aus dem Osten, Westen und der Mitte genommen, um mich zu schützen.«

»Ich glaube aber nicht an Zauberer«, entgegnete Ophelia.

»Komm näher«, sagte die Stimme.

Jeder hätte gewarnt: »Geh nicht näher.« Ophelia war nicht dumm. Sie gehörte sogar zur Londoner wissenschaftlichen Gesellschaft für Kinder, die sich jeden Dienstagabend traf. Natürlich würde sie nicht näher gehen. Das sagte schon ihr gesunder Menschenverstand.

Ophelia kniete sich hin und starrte das Wandbild an. Die schöne Bergkette, das türkisfarbene Meer, den Jungen mit der ernsten Miene und dem erhobenen Schwert. Sie zog fest an ihren Zöpfen, weil sie sich dann manchmal besser fühlte.

»Warum kannst du nicht rauskommen?«, fragte Ophelia.

»Ich bin eingesperrt.«

»Ein Gefangener?«

»Ja«, antwortete die Stimme.

Ophelia hätte weggehen können. Sie hätte aufstehen und rückwärts den Raum verlassen können. Sie hätte ihren Füßen den ganzen Weg vorbei an den Steinengeln und über das Seeungeheuermosaik folgen können. Sie hätte den langen Gang mit den gemalten Mädchen entlanglaufen und sich durch die Menge in der Galerie der Zeit drängen können. Sie hätte die feuchten, knarrenden Stufen hinunterrennen können, immer weiter hinunter bis zu ihrem Vater, der Schwerter klassifizierte, zuordnete und katalogisierte. Und wenn Mr Whittard sie dann fragen würde, was sie gemacht hatte, hätte sie sagen können: »Überhaupt nichts. Es ist furchtbar langweilig hier.«

Aber das tat sie nicht. Stattdessen krabbelte sie auf allen vieren langsam auf das Schlüsselloch zu.

»Was willst du?«, fragte sie.

Das blaugrüne Auge wurde von dunklen Wimpern eingerahmt. Als sich der Besitzer des Auges zurücklehnte, konnte Ophelia sehen, dass es ein Junge war. Er hatte ein freundliches Gesicht. Er strich sich den Pony aus den Augen. Wenn er lächelte, erschien ein Grübchen auf seiner rechten Wange.

»Ich brauche deine Hilfe«, sagte der Junge. »Um die Welt zu retten.«

Das hatte Ophelia nicht erwartet. Sie ärgerte sich.

»Ich bin ja so froh, dass du da bist, obwohl du ziemlich spät kommst«, fuhr er fort. »Der Einzige, mit dem ich reden kann, ist Mr Pushkinova, und jetzt, da das Ende näher rückt, bin ich schon ewig nicht mehr rausgelassen worden.«

»Wer hält dich hier fest?«, fragte Ophelia.

»Ich bin ein Gefangener Ihrer Majestät, der Schneekönigin«, sagte der Junge.

»Ich glaube aber nicht an Schneeköniginnen.«

»Glaubst du an Zauberschwerter?«

»Na ja …«, sagte Ophelia. Sie wollte nicht unhöflich klingen.

»Große magische Uhus? Kummervögel?«

»Was?«

»Wie steht’s mit Geistern?«, fragte der Junge und beugte sich wieder vor.

Sie dachte eine Weile nach. Das Lächeln um das große blaugrüne Auge wurde schwächer; das Lid schloss sich kurz.

»Geister?«, hakte der Junge nach.

Ophelia kaute auf ihrem Fingernagel. »Unter Umständen könnte ich an die mögliche Existenz von Geistern glauben, aber ich bin mir nicht sicher. Ich müsste die Beweislage genauer prüfen.

»Woran glaubst du dann?«, fragte der Junge.

Sein Tonfall gefiel ihr nicht. »Ich glaube an eine Menge Dinge«, sagte Ophelia und versuchte, sehr bestimmt zu klingen. »Es gab einen Urknall; die Sterne treiben immer noch auseinander. Der Mond hat eine gewisse Entfernung von uns, aber manchmal ist er uns näher und manchmal ist er weiter weg – deshalb gibt es Ebbe und Flut. Alles auf der ganzen Welt kann wissenschaftlich klassifiziert werden. Ich zum Beispiel gehöre zum Reich der Tiere, zum Stamm der Chordatiere, zur Klasse der Säugetiere, zur Ordnung der Primaten, zur Familie der Menschenaffen, zur Gattung Homo, zur Art Homo sapiens. Ich esse nur Tiere der Klasse Pisces, und auch nur, wenn sie Sardinen heißen. Ich glaube eigentlich nicht an Einhörner, Drachen oder irgendwas Magisches.«

Sie löste den Mund vom Schlüsselloch und presste ihr Auge dagegen.

»Na ja, ich bekomme nur Haferbrei zu essen«, sagte der Junge, »und dass es keine Einhörner und Drachen gibt, weiß schließlich jeder. Aber du könntest möglicherweise an Geister glauben?«

»Möglicherweise«, antwortete sie.

»Gut, ich habe dir viel zu erzählen«, sagte er. »Wenn du dich entscheidest, mir zu helfen, musst du den Schlüssel zu dieser Tür finden. Wir müssen mein Schwert finden, ein Zauberschwert, und die Besagte Person, die weiß, wie es zu führen ist. Auf der Winterzeituhr gibt es eine Zahl in dem kleinen Fenster ganz unten auf dem Zifferblatt, direkt unter der Tür zum Schlagwerk, die uns verrät, wie viel Zeit wir noch haben.«

Ophelia biss sich auf die Unterlippe.

»Ich habe meinem Vater gesagt, ich sei nur kurz weg«, sagte sie.

»Bitte, Ophelia«, sagte der Junge.

Natürlich konnte sie nicht die Welt retten. Sie war erst elf und ziemlich klein für ihr Alter, außerdem hatte sie X-Beine. Dr. Singh hatte zu ihrer Mutter gesagt, wahrscheinlich werde sich das auswachsen, vor allem, wenn sie Gesundheitsschuhe trüge, aber darum ging es nicht. Sie hatte auch ziemlich starkes Asthma, das bei Kälte, beim Rennen, und wenn sie sich erschreckte, schlimmer wurde. Ophelia fand, dass das alles schon Beweis genug war, dass sie nicht helfen konnte. Sie entfernte sich von dem Schlüsselloch.

Eigentlich sollte alles ganz einfach sein. Mr Whittard arbeitete, und Alice und Ophelia liefen Schlittschuh. Sie würden zur Eisbahn auf dem Platz neben dem riesigen Weihnachtsbaum gehen. Die fremde Stadt sollte sie von schrecklichen Dingen ablenken. Das Eislaufen würde ihnen helfen, ein wenig von ihrer Trauer zu vergessen. Und jetzt war hier ein Junge und bat sie, unmögliche Dinge zu tun. Er machte alles kompliziert.

»Nachdem du bei der Winterzeituhr warst, musst du den Fahrstuhl im Dinosauriersaal suchen«, sagte der Junge. »Der bringt dich in den siebten Stock. Dort musst du den linken Korridor nehmen. Der rechte Korridor führt zum Zimmer der Königin. Im linken Korridor werden die Kummervögel gehalten – du musst aufpassen, dass du sie nicht weckst. Ganz am Ende des Korridors steht ein kleiner, weißer Schrank mit einer kleinen, weißen Schublade. Du musst mir den Schlüssel bringen, der in der Schublade liegt.«

Er erteilt bloß Befehle, dachte Ophelia. Sieh auf die Uhr, nimm hier den Fahrstuhl, hol dort den Schlüssel.

»Warum wurdest du von einem Protektorat aus Zauberern auserwählt?«, fragte sie. Am besten ging man den Dingen durch Fragen auf den Grund. »Und wie kann man jemandem den Namen wegnehmen? Ich glaube eigentlich nicht, dass das geht.«

Der Junge seufzte. Es war der Seufzer von jemandem, der es eilig hat, jedoch weiß, dass er innehalten und ganz von vorn anfangen muss, wenn er etwas erreichen will.

»Rück näher heran«, sagte er. »Dann erzähle ich es dir.« Und durchs Schlüsselloch sprach der Junge:

Man sollte annehmen, dass die Dinge mit der Zeit verblassen. Die Erinnerungen, meine ich. Aber das tun sie nicht. Sie werden sogar deutlicher. Ich kann immer noch den Fluss neben der Stadt sehen, an dem ich mit Julius, Rohan und Fred gespielt habe. Wir ließen Steine übers Wasser hüpfen, bauten Flöße und segelten bis zum Wehr.

Als ich auserwählt wurde, konnten die Leute das nicht verstehen. Sie sagten: »Wieso gerade er? Er ist doch bloß ein gewöhnlicher Junge.« Aber die Zauberer hören nicht auf solches Gerede. Sie stehen stundenlang still und denken nach, und am Ende wissen sie immer genau, was sie tun.

Die Zauberer hatten alle zwölfjährigen Jungen zum Marktplatz bestellt.

»Es gibt einen Jungen, der eine gefährliche Reise unternehmen soll, um der Besagten Person ein Zauberschwert zu bringen, damit die Schneekönigin besiegt werden kann«, sagte der Große Zauberer mit seiner ruhigen, leisen Stimme.

»Wir haben ihn geträumt«, sagten die Zauberer im Chor. »Wir haben ihn in unseren Visionen gesehen.«

Als meine Mutter das hörte, blieb sie unbeeindruckt. »Ich glaube, wir gehen lieber angeln«, sagte sie.

Wir verbrachten den ganzen Tag im Wald und fingen glitzernde Forellen, einen ganzen Eimer voll, und selbst als ich müde war, wollte sie noch nicht nach Hause. Wie ich jetzt weiß, lag das natürlich daran, dass sie ahnte, ich könnte der auserwählte Junge sein.

Während wir im Wald waren, stellten sich die Jungen auf dem Marktplatz in einer Reihe auf. Auch ein paar als Jungen verkleidete Mädchen waren darunter, weil manche Mütter sich wünschen, dass ihre Kinder Großes vollbringen, und dachten, die Rolle könne dabei helfen. Als meine Mutter und ich nach Hause kamen, war es längst dunkel, und sie glaubte, wir wären in Sicherheit. Aber an unserem kleinen Küchentisch saß der Große Zauberer und erwartete uns.

»Er ist es«, sagte er.

»Woher wisst Ihr das?«, fragte meine Mutter, die keine Angst vor einem Streit hatte.

Du denkst vielleicht, Zauberer sprechen dauernd Zaubersprüche, rühren Zaubertränke an und verwandeln Blech in Gold, und es stimmt, manchmal tun sie das, aber berühmt sind sie hauptsächlich dafür, dass sie in einen Zustand verfallen, in dem sie nachdenken und geradeaus starren, bis die Zukunft verschwommen sichtbar wird. Sie lesen die Zukunft in Pfützen und Tautropfen und manchmal sogar in glänzenden Löffeln.

»Weil es gesehen wurde«, sagte der Zauberer und seufzte. »Und weil er gutmütig ist. Die Schneekönigin wird ihn haben wollen und deshalb kann er sie fortlocken von hier ins andere Reich. Dort angelangt, wird er sie vernichten.«

Gutmütig. Nicht mutig oder stark oder besonders.

Das waren die Eigenschaften, auf die die Entscheidung hätte gründen sollen, wenn es nach den Bewohnern der Stadt gegangen wäre. Aber die Wahl fiel auf mich, weil ich gutmütig war. Tja, das gefiel ihnen nicht. Und trotz vieler Erklärungen beruhigten sie sich lange nicht.

»Die Schneekönigin liebt es mehr als alles andere, gute Dinge zu vernichten«, erklärten die Zauberer. »Sie will, dass aus guten Dingen böse werden, aus bösen Dingen traurige und aus traurigen Dingen auf immer zu Eis erstarrte Dinge.«

Aber bald hatten die Bewohner der Stadt das vergessen. Es war immer noch Sommer, musst du wissen, und die Bedrohung eines Einmarsches aus dem Norden schien sehr fern. Der Weizen wogte golden auf den Feldern und die Rosen waren so groß wie Teller.

»Du bist ein ganz normaler Junge«, murmelte meine Mutter, als sie mich am ersten Tag meiner Ausbildung im Haus der Zauberer fertig machte. »Du hast keine Ahnung von Schwertern und Reisen. Und du bist stinkfaul und äußerst vergesslich.«

Trotzdem lieferte sie mich an der Haustür der Zauberer ab und versuchte, sich das Weinen zu verkneifen. Sie strich mir mit den Händen übers Haar und sagte, ich solle brav sein und gut aufpassen, was man mir beibrachte.

Sie nahmen mir meinen Namen weg. Das war das Erste, was sie taten. Sie nahmen ihn mir mit einem Zauberspruch weg und einer der jungen Zauberlehrlinge schnappte ihn sich und legte ihn in eine schmuddelige Samtschatulle.

Du sagst jetzt vielleicht, das sei unmöglich, aber nur, weil dir noch nie dein Name weggenommen wurde. Noch nicht einmal der König konnte es glauben, als ich hierherkam. Er hat mir oft gesagt, ich müsse mich nur in eine ruhige Ecke setzen und gründlich darüber nachdenken. Aber egal, wie sehr ich grübelte, ich fand meinen Namen nicht wieder. In meinem Verstand war nichts weiter als eine leere Stelle wie eine frisch gestrichene Wand. Und so ging es auch allen anderen, die mich kannten – meiner Mutter, zum Beispiel, als sie mich am Nachmittag abholen kam. Sie wollte meinen Namen sagen und hielt inne, und Tränen stiegen ihr in die Augen.

Und du denkst vielleicht, ein Name sei bloß ein Name, nichts weiter als ein Wort, aber so ist es nicht. Dein Name gehört zu dir. Dort, wo er sich mit dir verbunden hat, ist er in deine Haut, dein Wesen und deine Seele eingedrungen. Als sie daher meinen Namen mit ihrem Zauberspruch entfernten, wog er in ihren Händen so schwer wie ein Stein, aber er war so unsichtbar wie der Wind, und es war nicht nur die Erinnerung an meinen Namen, sondern ich selbst. Ein winziges Stück von mir, das sie mir wegnahmen und verwahrten.

Dadurch, dass sie diesen Teil von mir behielten, während ich mich auf den Weg in die andere Welt machte, würden sie mir wieder zurückhelfen können, hofften sie. Aber genau wussten sie es nicht. Schon lange war niemand mehr dort gewesen.

Als ich feststellte, dass mein Name weg war, wurde ich so wütend wie ein wilder Eber. Ich trampelte im Klassenzimmer des Obergeschosses herum, einem kahlen Zimmer mit Holzfußboden, ohne Tisch und Stuhl. Dort musste ich stundenlang stehen. Ich musste dem Unterricht der Zauberer lauschen, in dem es dauernd darum ging, höflich zu sein, still zu stehen, Bäumen zuzuhören, und der überhaupt nichts mit Magie zu tun hatte. An jenem ersten Tag hämmerte ich gegen die Wände. Ich schrie: »Gebt mir meinen Namen zurück!«

Der Große Zauberer kam persönlich und sagte mir, ich solle nicht so einen Radau machen. Zauberer mögen keinen Lärm, musst du wissen. Was meinen Namen anging, sagte der Große Zauberer mit seiner langsamen, ruhigen Stimme: »Nun, du wirst dich mit der Zeit daran gewöhnen und es ist nur zu deinem Besten. Wenn das Protektorat deinen Namen behält, wird dir das ermöglichen, eines Tages durch den Meridian zurückzukehren, der die Grenze zwischen dieser Welt und jener darstellt. Zumindest hoffen wir das.«

Was mir nicht viel Zuversicht gab.

Den ganzen Sommer über musste ich jeden Tag zu ihnen kommen und sie brachten mir so viel wie möglich bei. Sie brachten mir bei, dass ich immer die Wahrheit sagen solle, mir immer die Zeit nehmen, den Notleidenden zu helfen, und dann noch irgendwas über magische Uhus, aber diesen Teil habe ich nicht mitbekommen, weil ich nicht zugehört habe. Wieder und wieder musste ich sagen: »Ich wurde von einem Protektorat aus Zauberern aus dem Osten, Westen und der Mitte ausgewählt, um dieses Schwert zu bringen, damit die Schneekönigin besiegt werden kann.« Ich wurde ganz heiser, so oft habe ich es wiederholt. Und sie brachten mir bei, dass ich in der anderen Welt auf einen freundlichen und gerechten Herrscher treffen würde.

Ich fragte sie: »Kennt ihr denn seinen Namen?«, aber sie sahen mich nur geduldig an.

Mit der Zeit gewöhnte ich mich jedoch an diese Zauberer, die wirklich alle sehr freundlich waren. Falls du gehört haben solltest, dass Zauberer ausschließlich Kekse essen, dann hast du die Wahrheit gehört. Die Kekse im Haus der Zauberer backte Petal, die nicht groß und dünn war wie die anderen, sondern klein und rund. Sie war außerdem eine Frau und ganz offensichtlich ebenfalls ein Zauberer, was in meinen Augen erst recht keinen Sinn ergab.

An jenem ersten Tag durfte ich aus dem Klassenzimmer hinunter in die Küche gehen, wo Petal gerade Teig knetete. Sie saß im Sonnenschein, der durch die großen Küchenfenster hereindrang, ihre roten Haare leuchteten, ihre kräftigen Arme kneteten den Teig. Sie schlug mit der Faust auf den Teig ein, hob ihn hoch und knallte ihn auf den Tisch, bis Mehlwolken aufstoben und über ihr niedergingen. Sie lächelte mich an.

»Ich backe Kekse«, sagte sie.

Ich antwortete nicht, sondern starrte mürrisch vor mich hin.

Petal hatte ein breites, ruhiges, sonnengebräuntes Gesicht und große, mit hübschen Sommersprossen übersäte Hände. »Bist du sehr traurig wegen deines Namens?«, fragte sie.

»Wärt Ihr das etwas nicht?«, entgegnete ich.

»Doch, das wäre ich, du hast recht. Aber eines Tages wird er wieder dir gehören.«

»Aber ich will ihn jetzt wiederhaben. Er gehört mir und man darf nicht stehlen.«

»Ganz recht«, sagte Petal. »Ganz recht.« Sie nahm ein kleines Stück Teig und formte daraus den groben Umriss eines kleinen Männchens. »Hier, sieh mal.« Sie nahm das kleine Männchen in die Hand, hielt es an ihren Mund und blies ihm eine winzige Seele ein. Dann legte sie es auf den Tisch, und es stand auf und tanzte darüber hinweg, drehte sich, wirbelte herum und schlug Rad.

Es war das erste Beispiel für Zauberei, das ich in diesem Haus sah, und es brachte mich zum Lachen.

»Könnt Ihr das noch mal machen?«, fragte ich.

»Das könnte ich schon«, sagte sie. »Aber dann müsste ich mich für den Rest des Tages hinlegen, und ich habe viel zu tun.«

Die Zauberer riechen nach Erde und Pilzen. Ihr Geruch bleibt noch Stunden, nachdem sie einen Raum verlassen haben, darin zurück. Ja, auf gewisse Weise gewöhnte ich mich an die Zauberer.