Für Barry und Trudy. Sie haben ACBS durch eine schwierige Zeit geholfen und die Arbeit vorangebracht. Eure Vision war ansteckend, und dafür werde ich stets dankbar sein.

– S. C. H.

 

Meiner Ehefrau und lebenslangen Seelengefährtin Patti.

Dein scharfer Verstand, deine ständige Ermutigung und Unterstützung und die Tatsache, dass du mich völlig so akzeptierst, wie ich bin – mit gelegentlichen Änderungswünschen natürlich –, haben mich zu einem besseren Menschen gemacht.

Meinem Bruder Mark, der vor noch kaum einem Jahr von uns gegangen ist – du wirst immer in meinem Herzen bleiben.

Meiner Mutter Joyce, die mit 93 Jahren noch Romane liest, Viola spielt und all das tut, was das Leben ausmacht – du bist ein großartiges Vorbild.

– K. D. S.

 

Meinen Töchtern Sarah, Emma und Chelsea ...

Ich liebe euch bis zum Mond und zurück.

– K. G. W.

Vorwort

Neu in dieser Auflage

Die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) wurde in Buchform erstmals in der ersten Auflage (1999) des vorliegenden Werks vorgestellt. Das zugrunde gelegte Modell war damals noch nicht ausgereift, und wir hatten unsere Strategie der Wissensentwicklung noch nicht formuliert. Das war uns zwar bewusst, aber nach fast 20 Jahren war es wirklich überfällig, unser „Baby“ der Öffentlichkeit vorzustellen. Das erste Buch zur Bezugsrahmentheorie (relational frame theory, RFT) erschien zwei Jahre später.

Dann geschah etwas ziemlich Bemerkenswertes. Forscher und Therapeuten mit hohen Ansprüchen wurden auf die Methode aufmerksam und wandten sie in zunehmendem Maße selbst an. Die Therapeuten waren begeistert. Die RFT-Forschung nahm Fahrt auf. Ein weltweiter Dialog im Internet setzte ein, eine Vereinigung bildete sich, weitere Bücher erschienen. Regelmäßige nationale, internationale und regionale Konferenzen wurden abgehalten, und bereits existierende Fachverbände verhalfen der Methode zu immer größerer Publizität. Innovationen in der Ausbildung wurden eingeführt. Forschungsdaten wurden zahlreicher. Auf internationaler Ebene traten nicht englischsprachige Experten hervor. Die Entwicklung beschleunigte sich, und empirische Daten sowohl aus der Grundlagen- als auch aus der angewandten Forschung wurden immer stärker zur Basis der Weiterentwicklungen. Konstruktive Kritik trug zur weiteren Ausarbeitung der Methode bei.

Das Ergebnis dieser letzten Jahre ist ein beträchtlicher Fortschritt in Konzeption, Technik und Erfahrungswerten. Es ist uns gelungen, ACT auf sechs Schlüsselprozesse und deren Wechselwirkungen miteinander festzulegen, die sich wiederum um ein zentrales Anliegen, die psychische Flexibilität, drehen. Die Daten zeigten in zunehmendem Maße, dass die Wirksamkeit von ACT hauptsächlich auf folgenden Prozessen der psychischen Flexibilität beruht: kognitive Defusion, Akzeptanz, flexible Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Augenblick, das Selbst-als-Kontext, Werte und engagiertes Handeln (committed action).

Wir sahen, dass sich, wie wir es erhofft hatten, die ACT-Methoden mit anderen empirisch gestützten Ansätzen zu einem Ganzen zusammenführen lassen und dass psychische Flexibilität zu weiteren wichtigen Verhaltensprozessen führte. Die Bandbreite der psychischen Probleme, auf die die ACT-Methoden erfolgreich angewandt werden konnten, war beeindruckend und die Reichweite des Modells der psychischen Flexibilität ebenso: Mit ACT ließen sich nicht nur Depressionen und Heroinsucht behandeln; sie ließ sich auch gegen Diabetes und das Rauchen einsetzen. Die angewandten Protokolle unterschieden sich natürlich stark voneinander, und die verhaltenstechnischen Methoden waren oft spezifisch für die jeweilige Anwendung. Infolgedessen gibt es heute so viele ACT-Methoden, dass man sie nicht mehr in einem einzelnen Handbuch zusammenfassen kann – auch nicht in zwei oder zehn –, aber das Modell und seine verhaltensändernden Prozesse sind doch in einem breiten Spektrum von Anwendungen ähnlich.

Aus all diesen Gründen unterscheidet sich das vorliegende Werk deutlich von der ersten Auflage vor über zehn Jahren. Es konzentriert sich jetzt auf das Modell der psychischen Flexibilität als einheitliches Modell des menschlichen Handelns. Im Rahmen des vorliegenden Bandes erschien die Bezeichnung dieses Modells als „ACT-Modell“ (wie wir es gewohnt waren) als etwas zu einengend, weil das Modell über jeden Interventionsansatz hinausgeht. Die neue Auflage ist weniger eine therapeutische Schritt-für-Schritt-Anleitung, sondern eher eine Einführung in die natürliche Anwendung der ACT. Sie ist sowohl für Anfänger gedacht, die sich gerade erst mit dem Modell vertraut machen, als auch für erfahrene Anwender. Therapeuten müssen lernen, Prozesse der psychischen Flexibilität unmittelbar zu erkennen, wenn sie auftreten, und darauf modellgemäß reagieren, und genau dabei soll ihnen das vorliegende Werk helfen. Praktiker sind mit einigen Aspekten des ACT-Ansatzes bereits vertraut – sie müssen nur darauf achten, ihre Methoden so anzuwenden, dass sie mit dem Modell der psychischen Flexibilität funktionell konsistent bleiben. Ist diese Verknüpfung erst einmal richtig erfasst, kann mit der Anwendung sofort begonnen werden. Jawohl, weitere Ausbildung und Anleitung sind nötig, aber beginnen kann man sofort.

Im vorliegenden Band haben wir darüber hinaus versucht, die unmittelbaren Fundamente der ACT – den funktionellen Kontextualismus und RFT – leichter verständlich darzustellen. Anstatt den Lesern vorzuschlagen, die Kapitel über Theorie und Modell (2 und 3) einfach zu überspringen, wenn sie ihnen zu schwierig sind, haben wir große Mühe darauf verwandt, den Zugang zu ihnen einfacher zu gestalten. Vielleicht ist manches jetzt auch zu simpel geraten (natürlich haben wir einiges weggelassen), aber wir möchten gerne jedem, der sich mit der Methode befasst, die Möglichkeit geben, sich eine grundlegende Theoriekenntnis anzueignen, auf der er dann seine weitere Lektüre aufbauen kann. Es gibt Hunderte Fachartikel zur ACT, dem ihr zugrunde liegenden Modell und den theoretischen Grundlagen – das Ihnen hier vorliegende Buch ist nur eine Einführung. Des Weiteren stellen wir unsere Entwicklungsstrategie, die wir als kontextuelle Verhaltenswissenschaft (contextual behavioral science, CBS) bezeichnen, stärker in den Vordergrund, insbesondere im Schlusskapitel. Das erscheint in einem therapeutischen Handbuch vielleicht ungewöhnlich, aber wir wollen ACT keineswegs als allein selig machende Therapie propagieren und haben kein Interesse daran, eine Marke zu etablieren oder persönlich berühmt zu werden. Uns geht es vielmehr um den Fortschritt. Diesen versuchen wir zu fördern, indem wir unser Modell der Wissensentwicklung weiter verfeinern, und da man den Fortschritt am besten beschleunigt, holt man sozusagen alle Mann an Deck – ob nun Therapeuten, Grundlagenforscher, Anwendungsforscher, Philosophen oder Studenten. Eine offene, wertebasierte Gemeinschaft mit einem gemeinsamen Ziel kann sehr viel produktiver sein als Dutzende Professoren in einem Elfenbeinturm. Wenn das Entwicklungsmodell durch und durch verstanden ist, wird klar werden, warum wir nicht nach dem üblichen Spiel der empirisch gestützten Therapie verfahren (obwohl wir zugegebenerweise Teil dieser Tradition sind). Ja, randomisierte Versuchsreihen sind uns wichtig – aber viele andere Aspekte auch. Wir möchten empirisch gestützte Prozesse fest mit effektiven Verfahren verbinden (Rosen & Davidson, 2003). Wir haben eine Strategie, langfristig Fortschritte zu erzielen, und sind entschlossen, ihr zu folgen. Vielleicht funktioniert sie, vielleicht auch nicht, aber wir laden die Leser auf jeden Fall ein, uns auf dieser Reise zu begleiten.

Dass wir diese Sichtweise einnehmen, heißt nicht, dass ein Therapeut im praktischen Einsatz unbedingt ein RFT-Nerd sein oder seine Praxis schließen und Grundlagenforscher werden sollte. Therapeuten und andere Praktiker sind für die Entwicklung dieses Ansatzes wichtig, und sie erwarten zu Recht viel von der Verhaltenswissenschaft. Wir möchten zeigen, wie genau Fortschritt in der Grundlagenforschung wie auch in der philosophischen Hintergrunddiskussion auch jenen helfen kann, die ganz praktische Fragen haben.

Inzwischen kennen wir mehr als 60 Bücher, die weltweit zu ACT erschienen sind. Die Publikationsrate empirischer Quellen zu diesem Thema steigt rasch. Dieses Forschungs- und Entwicklungsprogramm ist in mehreren Überblicksartikeln ausführlich dargestellt worden (z. B. Hayes, Bissett et al., 2004; Hayes, Luoma, Bond, Masuda & Lillis, 2006; Öst, 2008), und selbst skeptische Rezensenten bescheinigen uns, dass wir Fortschritte gemacht haben (z. B. Powers, Vörding & Emmelkamp, 2009). Solche substanziellen Fortschritte haben es uns erlaubt, die Verweise auf Fachartikel in den meisten Abschnitten des vorliegenden Werks einzuschränken. Die erste Auflage enthielt noch einige sehr konzentrierte Passagen zu Empirik und Konzept – hauptsächlich um die Aufmerksamkeit der Fachwelt auf unser Modell zu lenken –, aber diese inhaltliche Dichte machte den Text auch schwerer verständlich. Wenn wir voraussetzen, dass sich interessierte Leser weitere Literatur über den vorliegenden Band hinaus selbst beschaffen, müssen wir nicht mehr für jeden einzelnen Punkt empirische Belege anführen. Wir haben genügend allgemeine Erklärungen eingefügt, um verständlich zu machen, wie wir die Daten konzeptionell bewerten, sowie ausreichend weiterführende Hinweise, die mit geringem zusätzlichen Aufwand die fachlichen Grundlagen zugänglich machen.

Einige der Ausgangsvorstellungen für ACT werden jetzt schnell von etablierten Ansätzen rezipiert. Kritiker behaupten oft, genau das hätten sie schon immer gesagt. Diese revisionistische Attitüde ärgert vielleicht ACT-Autoren mit einem guten Gedächtnis, aber neu hinzugekommene Leser brauchen sich daran nicht zu stören, denn Fortschritt spielt sich immer so ab. Andererseits wird man dem ACT-Modell natürlich nicht gerecht und nutzt seine Möglichkeiten auch nicht wirklich aus, wenn man hier und da etwas „Akzeptanz“ oder „Kognitive Defusion“ als Garnitur aufklebt. Wir möchten das Modell und seine Wissensentwicklungsstrategie in seiner Vollständigkeit darstellen, weil eine solche vollständige Vertrautheit auf lange Sicht vermutlich größere Fortschritte zeitigen wird als die alleinige Übernahme bestimmter Methoden oder Konzepte als Modeströmung, als ob es im Bemühen um bessere Therapien Moden geben könnte.

Das ACT-Modell ist inzwischen bekannt genug, um regelmäßig Kritik zu ernten. Skeptiker laden wir regelmäßig zu unseren Konferenzen ein; wir versuchen auf jede umfangreiche Kritik im Geist der Offenheit und Vernunft mit zusätzlichen Daten und zusätzlichen Bemühungen zur Weiterentwicklung des Modells einzugehen; wir möchten, dass sich die an Forschung und Praxis Beteiligten zu einer offenen, kooperativen Gemeinde Gleichberechtigter zusammenschließen, sodass jeder Interessierte daran teilhaben, die Ergebnisse nutzen und selbst Erkenntnisse beitragen kann. Es ist weder der Sinn der ACT, die Traditionen, denen sie entstammt, zu untergraben noch soll sie ein Allheilmittel sein. Unser Ziel in der ACT ist es, Leiden zu lindern, so gut wir können, und tagtäglich an der Weiterentwicklung der psychologischen Praxis mitzuarbeiten, um sie den Problemen des menschlichen Daseins besser anzupassen.

Ist das schließlich nicht das Ziel jedes Forschers und Praktikers in unserem Fachgebiet? Nicht lange, und unsere Namen werden vergessen sein, auch von unseren eigenen Nachkommen. Dann wird es nicht mehr darauf ankommen, wer wann was gesagt hat, sondern nur darauf, ob es Ansätze gibt, die den Menschen Nutzen bringen, denen unser Fachgebiet dient. Wir müssen uns darauf konzentrieren, was am besten hilft, und neue Wege finden, um zu helfen. Zu diesem Zweck aber müssen wir zusammenarbeiten und immer neue Verbindungen zwischen therapeutischer Kreativität und wissenschaftlicher Entwicklung einerseits schaffen und andererseits diese Entwicklung in der Praxis umsetzen. Der Inhalt des vorliegenden Buches soll dazu beitragen, und wir hoffen und vertrauen darauf, dass uns das auch gelungen ist.

Steven C. Hayes

Kirk D. Strosahl

Kelly G. Wilson

Danksagung

Wir möchten uns gerne bei allen bedanken, die mit ihrer engagierten Mitarbeit die vorliegende Neuauflage ermöglicht haben. Barbara Watkins vom Verlag The Guilford Press war als Redakteurin stets mit hilfreichen Rückmeldungen und Ratschlägen zur Stelle. Michel Depuy half uns bei den Literaturhinweisen und der Recherche. Hilfreicher redaktioneller Rat kam von Claudia Drossel, Douglas Long, Robert „Tuna“ Townsend, Roger Vilardaga, Matthieu Villatte und Tom Waltz. Unsere Ehefrauen – Jacque Pistorello, Patti Robinson und Dianna Wilson – haben die drei Jahre des Schreibens und Umschreibens mit bemerkenswerter geistiger Gelassenheit ertragen. Dank gilt auch allen Therapeuten und Forschern in den Bereichen ACT, Bezugsrahmentheorie (relational frame theory, RFT) und Kontextuelle Verhaltenswissenschaften (contextual behavioral science, CBS), die zur intellektuellen und praktischen Entwicklung unserer Methode beigetragen haben und deren Ideen sich im vorliegenden Band wiederfinden.

1. Das Dilemma mit dem menschlichen Leiden

Nichts, was von außen kommt, sichert uns Freiheit vom Leiden. Selbst wenn wir Menschen alles besitzen, was wir von außen gesehen als Erfolg werten – gutes Aussehen, liebevolle Eltern, tolle Kinder, finanzielle Sicherheit, einen geliebten Lebenspartner –, genügt uns das nicht. Ein Mensch kann es warm und trocken haben, satt und gesund sein – und sich dabei trotzdem elend fühlen. Er kann Erlebnisse und Formen der Unterhaltung genießen, die in der nicht menschlichen Welt völlig unbekannt und auch nicht allen Menschen in der Bevölkerung zugänglich sind – HDTV-Fernsehen, Sportwagen, Urlaubsreisen in die Karibik –, und trotzdem psychisch schwer krank sein. Jeden Morgen kommt ein erfolgreicher Manager in sein Büro, schließt die Tür hinter sich und greift verstohlen in die unterste Schreibtischschublade nach der Schnapsflasche. Jeden Tag lädt ein Mensch, der alle materiellen Vorteile genießt, eine Pistole, schiebt sich den Lauf in den Mund und drückt ab.

Psychotherapeuten und Kliniker sind mit den düsteren Statistiken, die diese Fakten dokumentieren, nur zu gut vertraut. In den USA zeigen diese Daten zum Beispiel, dass fast 50 Prozent der Menschen im Laufe ihres Lebens an einer psychischen Störung erkranken, während die Anzahl der Menschen, die aufgrund der Probleme am Arbeitsplatz, in der Beziehung, mit den Kindern und mit den Herausforderungen des Lebens unter emotionalen Belastungen leiden, sogar noch höher liegt (Kessler et al., 2005). In den USA gibt es fast 20 Millionen Alkoholiker (Grant et al., 2004); mehrere Zehntausend Menschen begehen jährlich Selbstmord, zahllose weitere scheitern beim Versuch, sich umzubringen (Centers for Disease Control and Prevention, 2007).[1] Solche Statistiken betreffen nicht nur Ältere, denen das Leben seit Jahrzehnten zusetzt, sondern schon Jugendliche und Heranwachsende. Fast die Hälfte der Bevölkerung im College-Alter erfüllte in den letzten Jahren die Kriterien für mindestens eine Diagnose nach DSM (Blanco et al., 2008).

Wollten wir die Allgegenwärtigkeit des menschlichen Elends in den Industriestaaten mit Zahlen dokumentieren, könnten wir damit fast endlos fortfahren. Häufig führen Therapeuten und Forscher aus einem Problembereich eine Statistik nach der anderen an, wenn sie mehr Therapeutenplätze, bessere Finanzierung für psychiatrische Gesundheitsprogramme oder verstärkte Forschungsförderung in der Psychologie fordern. Gleichzeitig scheint sowohl an der Fachwelt wie an der Öffentlichkeit die bedeutsamere Botschaft dieser Statistiken als Ganzes vorbeizugehen. Nehmen wir all diese ehemals oder akut depressiven, süchtigen, angstgestörten, wütenden, selbstschädigenden, entfremdeten, besorgten, an Zwangsstörungen leidenden, zu Workaholics gewordenen, unsicheren, zwanghaft schüchternen, geschiedenen, intimitätsscheuen und gestressten Menschen zusammen, kommen wir unweigerlich zu einer erstaunlichen Schlussfolgerung: Psychische Leiden liegen im Wesen des menschlichen Lebens.

Darüber hinaus fügen die Menschen einander fortwährend Leid zu. Denken Sie daran, wie einfach es ist, andere Menschen zu entwürdigen und zu entmenschlichen. Die Weltgemeinschaft schwankt geradezu unter dem Gewicht der Entwürdigung mit allen daraus entstehenden menschlichen und wirtschaftlichen Kosten. An diese traurige Tatsache wird man jedes Mal erinnert, wenn man einen Teil seiner Kleidung ausziehen muss, um an Bord eines Flugzeugs zu gelangen, oder seinen Tascheninhalt auf ein Förderband legen muss, um in ein Amtsgebäude gelassen zu werden. Frauen bekommen für die gleiche Tätigkeit ein Viertel weniger Lohn als Männer, für Angehörige von Minderheiten ist es in Großstädten oft schwierig, ein Taxi zu bekommen, und Wolkenkratzer werden von Terroristen in Flugzeugen als Symbol dessen angegriffen, was ihnen verhasst ist; als Antwort darauf werden Bomben abgeworfen, weil man in dem Gebiet diejenigen zu treffen wünscht, die man für böse hält. Menschen leiden nicht nur, sondern lösen durch Vorurteile und Stigmatisierungen dieses Leiden aus, als sei dies so natürlich wie das Atmen.

Unsere populärsten Grundvorstellungen davon, was geistig gesund und was krank ist, haben mit dem menschlichen Leiden und der Tatsache, dass Menschen sich gegenseitig Leid zufügen, als allgemein menschliches Problem kaum etwas zu tun. Die westliche Verhaltensforschung und Medizin scheinen stark kurzsichtig gegenüber Wahrheiten zu sein, die nicht in ihre allgemein anerkannten Muster passen. Trotz überwältigender Belege für das Gegenteil heften wir menschlichem Leiden nur zu bereitwillig diagnostische Etiketten an, als ob es das Ergebnis einer Abweichung von der biomedizinischen Norm sei. Entwürdigung und Entmenschlichung sehen wir rein ethisch oder politisch – gerade so, als ob Vorurteile und Stigmata nur für die Unwissenden oder Unmoralischen gälten, aber nicht für die Leser von Büchern wie zum Beispiel dem vorliegenden. Es gibt einen „Elefanten im Zimmer“, den niemand bemerken zu wollen scheint. Es ist schwer, mit sich selbst und anderen Mitgefühl zu haben. Es ist schwer, ein Mensch zu sein.

1.1 Gesunde Normalität: die zugrunde liegende Annahme des psychologischen Mainstreams

Die Medizin ist Zeuge der „Biomedikalisierung“ des menschlichen Lebens geworden und war auch selbst daran beteiligt. Die westliche Zivilisation hat quasi das Freisein von körperlichem oder geistigem Leiden zu einem Götzen erhoben. Die Wunder der modernen Medizin „haben die Menschen überzeugt, dass Heilung die Ursache von Gesundheit ist“ (Farley & Cohen, 2005, S. 33) – nicht nur physischer, sondern jeder Art von Gesundheit. Belastende Gedanken, Gefühle, Erinnerungen oder Erlebnisse wurden vor allem als „Symptome“ verstanden. Hat jemand eine bestimmte Art und Anzahl von diesen „Symptomen“, wird ihm eine bestimmte Abweichung oder sogar eine Erkrankung zugeschrieben. Etiketten verdecken oft die bedeutsame Rolle des Verhaltens und der sozialen Umgebung bei der Bestimmung des physischen und geistigen Gesundheitszustands. Wer früher Probleme hatte, die durch schweres, fettiges Essen ausgelöst wurden, hat heute eine Störung, gegen die man eine lila Pille verschrieben bekommt. Der Schlafmangel, der aus den ungesunden Lebensgewohnheiten in einer Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft resultiert, gilt jetzt als Störung, die zeitweilig entweder durch teures CPAP-Gerät, das für konstanten Sauerstoff-Überdruck sorgt, behoben werden kann oder durch eines der neuen Schlafmittel, die in ihrer Gesamtheit einen Milliardenumsatz bringen. Die Tendenz, psychische Probleme generell nicht anders als körperliche medizinisch zu behandeln, hat sogar Auswirkungen auf die Wasserversorgung der westlichen Länder – in unseren Flüssen und sogar in den Speisefischen finden sich inzwischen nachweisbare Mengen an Antidepressiva (Schultze et al., 2010)! Selbst wenn sie vorschriftsgemäß verschrieben werden, wirken solche Mittel nur in den extremen Fällen besser als ein Placebo (Fournier et al., 2010; Kirsch et al., 2008); solche Fälle aber sind viel zu selten, als dass, verschriebe man die Medikamente nur diesen Patienten, die Qualität der Wasserversorgung beeinflusst werden könnte.

Die Vorstellung, dass man menschliches Leiden am besten in Begriffen bioneurochemischer Anomalität beschreibt, hat eine oberflächlich betrachtet ansprechende Kehrseite, nämlich dass der Mensch im natürlichen Gleichgewicht automatisch gesund und glücklich sei. Diese Annahme einer gesunden Normalität liegt den traditionellen medizinischen Ansätzen zur körperlichen Gesundheit zugrunde. Angesichts des vergleichbar großen Erfolgs der Schulmedizin ist es nicht überraschend, dass Verhaltensforschung und Psychiatrie sich diesem Ansatz angeschlossen haben. Traditionell wird physische Gesundheit einfach als Fehlen von Krankheit definiert. Sich selbst überlassen, so die Annahme, hält sich der Körper in einem Zustand der Gesundheit, die aber durch Infektionen, Verletzungen, Giftstoffe, eine Abnahme der physischen Fähigkeiten oder ein Entgleisen der körpereigenen Prozesse gestört werden kann. In ähnlicher Weise, so die parallele Annahme in der Psychiatrie, sei der Mensch inhärent glücklich, sozial eingebunden, altruistisch und im Frieden mit sich selbst – aber dieser typische Zustand der geistigen Gesundheit könne durch bestimmte Gefühle, Gedanken, Erinnerungen, Ereignisse oder Gehirnzustände gestört werden.

Als logische Folge aus der Annahme eines Grundzustandes einer gesunden Normalität geht man davon aus, dass abnormale Prozesse die Ursache geistiger und physischer Störungen sind. Diese Annahmen führen zu einem Denken und Diagnostizieren in Syndromen. Die Identifikation von Syndromen – Kombinationen von Anzeichen (äußerlich erkennbar) und Symptomen (vom Leidenden geäußerte Beschwerden) – ist gewöhnlich der erste Schritt bei der Identifikation einer Krankheit. Krankheiten sind funktionale Einheiten, das heißt Gesundheitsstörungen mit bekannter Ätiologie, bekanntem Verlauf und bekannter Reaktion auf Behandlungen. Nach der Identifikation der Syndrome beginnt die Suche nach den abnormalen Prozessen, die dieser bestimmten Kombination von Anzeichen und Symptomen zugrunde gelegt werden, und der Versuch, sie so zu verändern, dass die unerwünschten Ergebnisse verschwinden.

Diese Annahmen und die durch sie bedingten diagnostischen Strategien sind im Bereich der körperlichen Gesundheit insgesamt sinnvoll, wenn auch hier nur von begrenzter Reichweite. Gesundheit ist schließlich mehr als die bloße Abwesenheit von Krankheit (World Health Organization, 1947), und allgemein verbreitete Symptome wie Fieber, Husten, Durchfall oder Erbrechen haben auch adaptive Funktionen, die übersehen werden können, wenn man sich auf die Symptome anstatt auf ihre möglichen Funktionen konzentriert (Trevathan, McKenna & Smith, 2007). Insgesamt funktioniert das Konzept der gesunden Normalität jedoch, da der Aufbau des menschlichen Körpers daraufhin angelegt zu sein scheint, als natürliches Ergebnis der biologischen Evolution einen vernünftigen Grad an physischer Gesundheit zu gewährleisten. Wenn einzelne Menschen genetisch nicht gesund genug sind, um eine erfolgreiche Fortpflanzung zu gewährleisten, merzt die Evolution diese Gene oder ihre Expression mit der Zeit aus. Körperliche Anzeichen und Symptome sind zur Identifikation von Krankheiten oft sinnvoll. Die natürliche Selektion sorgt im Allgemeinen dafür, dass die strukturelle Entwicklung eines Organismus seinen selbsterhaltenden und reproduktiven Funktionen dient. Abweichungen im Aufbau zeigen daher gewöhnlich Fehlfunktionen an und sind oft nützlich bei der Identifikation spezifischer Krankheiten. Zu Beginn der HIV- / AIDS-Epidemie beispielweise brachten extrem seltene Krebsformen die Forschung dazu, sich auf eine bestimmte Untergruppe von Personen zu konzentrieren, was wiederum die Entdeckung des Virus erleichterte. Die natürliche Selektion allein genügt aber nicht, um auch eine derartig enge Verbindung zwischen der Form und Funktion von Verhaltensweisen zu gewährleisten, und die biomedizinische Diagnosestrategie läuft Gefahr, übermäßig strapaziert zu werden, wenn man sie auf psychische Leiden anwendet.

1.2 Das Märchen von der psychiatrischen Krankheit

Unsere gegenwärtige Herangehensweise an psychisches Leiden beruht auf der Vorstellung, dass die Betrachtung topografischer Merkmale (d. h. Anzeichen, Symptome und deren Kombinationen) zur Definition wirklich funktionaler Krankheitseinheiten führt, die auch zeigen, warum diese Merkmale auftreten und wie man sie am besten verändert. Das Fachgebiet der Psychopathologie wird von diesen Annahmen und den sich aus ihnen ergebenden Analysestrategien völlig dominiert. Nur wenige forschende Psychologen und Psychiater scheinen es vermeiden zu können, sie zu übernehmen. Wie auch immer, psychische Krankheiten sind in Wirklichkeit eher ein Mythos als eine Realität.

Angesichts der außerordentlichen Aufmerksamkeit, die das Anomalitätsmodell in der Psychologie und Psychiatrie erfährt, überrascht es, dass es bisher kaum Fortschritte in der Einführung von mentalen Syndromen gibt (Kupfer, First & Regier, 2002). Nach dem Bezug auf das inzwischen ausgereizte und veraltete Beispiel der allgemeinen Parese hat es bisher keine weiteren Erfolgsgeschichten zu erzählen gegeben. Leider hält dieses Manko die Forschung nicht davon ab, weiterhin zu behaupten, dass solche psychischen Syndrome schon bald eigenständige Krankheitseinheiten repräsentieren werden. Wir stehen kurz vor dem Durchbruch – so heißt es immer – und stehen unmittelbar davor, das Gen, den Neurotransmitter oder den Neuromodulator zu finden, der für die Ätiologie der psychischen Erkrankungen verantwortlich ist. Ein Jahrzehnt nach dem anderen vergeht, und wer ein gutes Gedächtnis hat, sollte auch legitimerweise seinen ursprünglichen Skeptizismus weitervertreten dürfen. Eine kurze Durchsicht des Krankheitsverzeichnisses der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entlarvt diese Geschichte als das Märchen, das sie ist. Keines der häufigsten psychischen Krankheitssyndrome erfüllt auch nur die grundlegendsten Kriterien für eine reguläre Einordnung als Krankheitszustand – selbst so dramatische wie Schizophrenien oder bipolare Störungen.

Jede neue Auflage des DSM enthält eine Überfülle „neuer“ psychischer Störungen, Unterstörungen und pathologischer Dimensionen. Der Entwurf des DSM-5[2] lässt erahnen, dass dieser expansionistische Trend weiter anhält. Ein immer größerer Anteil der Menschheit fällt damit in den Bereich der alles beherrschenden psychiatrischen Nosologie. Ein solcher diagnostischer Expansionismus wäre akzeptabel, wenn er die Gesamteffektivität der Psychiatrie verbessern würde – das aber tut er nicht. Stattdessen sehen wir uns einer klassischen babylonischen Sprachverwirrung gegenüber, in der eine schlecht funktionierende Nosologie immer wieder mit neuen Dimensionen, Konzepten und Symptomlisten übergeklebt wird, um das Scheitern des Gesamtunternehmens zu maskieren (siehe Frances, 2010).

Das gegenwärtige diagnostische System weist zahlreiche Mängel auf, dennoch wollen wir uns hier nur mit einigen wenigen befassen. Die „Komorbiditätsraten“ bei Störungen sind so hoch, dass sie die grundlegende Definitionsintegrität des gesamten Systems infrage stellen. So weist zum Beispiel die Major Depression Komorbiditätsraten von nahezu 80 Prozent auf (Kessler et al., 2005). So erstaunlich hohe Werte deuten weniger auf echte „Komorbidität“ hin, sondern auf ein schlechtes Diagnosesystem. Die treatment utility, die Brauchbarkeit dieser Kategorien in der Behandlungspraxis (Hayes, Nelson & Jarrett, 1987), ist außerdem bemerkenswert gering, weil dieselben Behandlungen bei zahlreichen Syndromen angewandt werden (Kupfer et al., 2002). Diese Beobachtung untergräbt einen der wichtigsten Diagnosezwecke, nämlich die gesteigerte Effizienz der Behandlungswahl. Das System übergeht Schlüsselausprägungen psychischen Leidens (Beziehungsprobleme, Existenzkrisen, Suchtverhalten und so weiter), und selbst seine Befürworter stimmen zu, dass es solche normalen Lebensprozesse wie Kummer, Furcht oder Traurigkeit pathologisiert (Kupfer et al., 2002).

Wenn die Versicherung für psychiatrische Behandlungskosten pauschal aufkommt und Störungen nicht mehr „hoch diagnostiziert“ werden müssen, um eine Zahlung zu erreichen, haben die weitaus meisten Klienten in psychologischer Behandlung überhaupt keine diagnostizierbare Erkrankung (Strosahl, 1994). Selbst wenn man die Klienten mit einem Etikett wie „Panikstörung mit Agoraphobie“ oder „Zwangsstörung“ versehen kann, muss sich die Therapie doch trotzdem um andere Bereiche des Lebens wie Arbeitsplatz, Kinder, Beziehungen, sexuelle Identität, beruflichen Aufstieg, Wut, Traurigkeit, Alkohol und den Sinn des Lebens kümmern. Tragischerweise nimmt die Fähigkeit nicht westlicher Kulturen, Leiden so zu bewältigen, dass das Verhalten gegenüber sich selbst und der Gesellschaft normal bleibt, eher ab statt zu, während die DSM-Vision des menschlichen Leidens sich über die ganze Welt ausbreitet und normale menschliche Probleme zu Krankheiten erklärt (Watters, 2010).

Die Konzentration auf Syndrome bringt uns dazu, Behandlungsansätze zu entwickeln, die die bloße Symptomreduktion übermäßig betonen und die funktionalen und positiven Marker geistiger Gesundheit herunterspielen. Die Gesamteffekte einer Psychotherapie auf den funktionalen Status und die Lebensqualität sind oft gering, und die bedeutendsten Effekte stellen sich in der Schwere der Symptome ein. Verringerte Häufigkeit und Schwere der Symptome sind nur begrenzt korrelativ zu Verbesserungen in der sozialen Funktion oder allgemeinen Lebensqualität. Trotzdem werden die Studierenden der Psychopathologie unverdrossen dazu ausgebildet, fast jedes Charakteristikum fast jeder Syndromkategorie zu erkennen. Fachzeitschriften der klinischen Psychologie und Psychiatrie enthalten fast ausschließlich Forschungsarbeiten zu Syndromen; in den meisten Ländern, in denen die psychiatrische Forschung staatlich gefördert wird, beschränkt sich die Förderung fast völlig auf das Studium dieser Syndrome.

Das Problem ist nicht nur diese Konzentration auf das Syndromdenken. Die Positive Psychologie zum Beispiel lenkt unsere Konzentration auf die Stärken und Tugenden, die Gemeinschaften und Einzelne gedeihen lassen. Sie stimmt also in vielerlei Hinsicht mit dem Ansatz überein, den wir im vorliegenden Band entwickeln. Die Positive Psychologie kann allerdings die tiefer liegenden Schwierigkeiten, die dem gegenwärtigen System innewohnen, nicht lösen, bevor sie nicht die dimensionalen zentralen Prozesse erforscht, von denen die Muster menschlichen Leidens ausgelöst werden, die wir unmittelbar vor Augen haben. Das heißt, wir brauchen eine Erklärung.

Die etablierte klinische Forschung nähert sich dem Gebiet der geistigen Gesundheit im Besonderen und des menschlichen Leidens im Allgemeinen unter der Voraussetzung der Existenz einer gesunden Normalität; infolgedessen versteht sie belastende Geisteszustände als Anzeichen von Störung und Krankheit. Hätte diese Strategie zu sehr viel effektiveren Formen der Psychotherapie geführt, hätten wir auch kaum einen Grund, uns dagegen zu wenden. „Ja“, könnten wir dann sagen, „menschliches Leiden ist allgegenwärtig, aber das müssen wir dem Priester, Pfarrer oder Rabbiner überlassen. Unsere Aufgabe besteht darin, klinische Syndrome zu behandeln und ihnen vorzubeugen. Das wollen unsere Patienten schließlich, und wir sind ja auch ziemlich gut darin.“

Eine solche Aussage aber können wir nicht machen. Während unser Fachgebiet einigermaßen wirkungsvolle Behandlungsmethoden für die verbreitetsten „psychischen Störungen“ gefunden hat, ist die Größenordnung der Effektstärke gering. Und sie hat sich seit Jahren nicht mehr nennenswert vergrößert. Die evidenzbasierte Medizin weist immer wieder auf dieses Problem hin, aber nur wenige in der Forschung scheinen das zu beachten. Solange die Stiftungsgelder weiter an die Universität oder das Institut fließen, sind ja auch alle zufrieden. Solange die Fachzeitschriften sich so ausschließlich auf das Krankheitsmodell konzentrieren, wird niemand umdenken.

Die meisten erfahrenen Therapeuten werden eine tiefe Skepsis gegenüber dem bestehenden Diagnosesystem einräumen und zustimmen, dass die Betonung störungsbasierter Therapien in vielerlei wichtiger Hinsicht defizitär ist. In der Praxis sieht man schnell den Unterschied zwischen dem Versprochenen und dem Gelieferten. Therapeuten bemängeln oft, dass die Forschung sich viel zu sehr mit der Form der psychischen Probleme befasst und viel zu wenig mit der Funktion dieser Probleme im Leben des Patienten. Andere Kritiker verweisen auf den fehlenden Zusammenhang zwischen der Therapie einer bestimmten Störung und den sozialen, kulturellen und kontextuellen Einflüssen, die den Symptomen ihre Bedeutung verleihen.

Selbst die Vorkämpfer der psychiatrischen Nosologie fangen an, den Syndromansatz infrage zu stellen. Wenn wir Vorträge über die Probleme halten, die der Syndromansatz in sich birgt, lesen wir die unten folgenden Zitate mitunter ohne Quellenangabe vor und fordern die Zuhörer auf, zu erraten, wer das gesagt hat. Irgendjemand im Publikum ruft dann gewöhnlich zurück: „Sie selbst!“ Das stimmt aber nicht. Die folgenden Äußerungen stammen aus dem Bericht des Planungsausschusses der American Psychiatric Association für die fünfte Fassung des DSM (Kupfer et al., 2002) – also derselben Organisation (die in derselben Tradition handelt), die den Turm zu Babel errichtet hat, in dem wir leben. Der Bericht könnte kaum vernichtender sein. Die kursiven Hervorhebungen haben wir hinzugefügt, um einige der verstörendsten Eingeständnisse hervorzuheben:

Das Ziel, diese Syndrome zu bestätigen und gemeinsame Ätiologien zu entdecken, ist bisher nicht erreicht worden. Trotz zahlreicher Vorschläge ist nicht ein einziger Labormarker als spezifisch für irgendein der im DSM definierten Syndrome erwiesen worden. (S. xviii)

Epidemiologische und klinische Studien zeigen extrem hohe Komorbiditätsraten zwischen den einzelnen Störungen und untergraben damit die Hypothese, dass die Syndrome distinkte Ätiologien repräsentieren. Des Weiteren zeigen epidemiologische Studien bei zahlreichen Störungen einen hohen Grad kurzfristiger diagnostischer Instabilität. In der Therapie ist mangelnde Spezifität die Regel und keine Ausnahme. (S. xviii)

Zahlreiche, wenn nicht die meisten Erkrankungen und Symptome stellen ein in gewissem Umfang willkürlich definiertes Übermaß normaler Verhaltensweisen und kognitiver Prozesse dar. Dieses Problem führt zu dem Kritikpunkt, dass das System gewöhnliche Erscheinungen des menschlichen Lebens pathologisiert. (S. 2)

Die sklavische Übernahme von Definitionen aus DSM-IV hat möglicherweise die Forschung im Bereich der Ätiologie psychischer Störungen behindert. (S. xix)

Die Verselbstständigung von DSM-IV-Einheiten bis hin zu dem Punkt, dass sie als äquivalent mit Krankheit betrachtet werden, wird die Interpretation von Forschungsergebnissen eher erschweren als erleichtern. (S. xix)

Alle diese Begrenzungen des gegenwärtigen Diagnoseparadigmas legen nahe, dass Forschung, die sich ausschließlich auf die Verfeinerung der DSM-Definition von Syndromen konzentriert, möglicherweise überhaupt keinen Erfolg bei der Suche nach den zugrunde liegenden Ätiologien haben kann. Dafür müsste zunächst wahrscheinlich ein noch nicht abzusehender Paradigmenwechsel erfolgen. (S. xix)

Trotz der Unverblümtheit des Berichts der Arbeitsgruppe zeigen die veröffentlichten Entwürfe zum DSM-5 deutlich, dass diejenigen, die unsere psychiatrische Nosologie kontrollieren, diese Probleme noch nicht gelöst haben (Frances, 2010).

Die Arbeitsgruppe hat richtig erkannt, dass es eines völlig neuen Ansatzes bedarf. Das vorliegende Buch handelt davon, wie man einen nötigen Paradigmenwechsel bewerkstelligt – bei den Patienten, im Fachgebiet und bei uns selbst. Dieser Wechsel betrifft die Grundlagen, das Verhalten und die Erfahrung, aber auch den Intellekt. Das Fachgebiet braucht ein einheitliches transdiagnostisches Modell im Rahmen eines breiten wissenschaftlichen Bemühens um eine nützlichere und integrierte Psychologie (siehe auch Barlow, Allen & Choate, 2004).

1.3 Die Perspektive der Akzeptanz- und Commitment-Therapie

Der im vorliegenden Werk beschriebene Ansatz wird als Akzeptanz- und Commitment-Therapie oder ACT bezeichnet. Die Abkürzung wird dabei immer als ein Wort ausgesprochen, also wie das englische Verb act („handeln“). Vielleicht weil sie in Buchstaben gesprochen (A-C-T) etwas zu sehr an ECT (die Abkürzung für Elektrokonvulsions-Therapie) erinnert – eine eher unangenehme Assoziation[3] –, vielleicht aber auch, weil uns der Begriff als Wort dazu aufruft, sich aktiv am Leben zu beteiligten.

In der ACT-Perspektive entsteht menschliches Leiden hauptsächlich aus normalen psychischen Prozessen, besonders solchen, die mit der Sprache zu tun haben. Selbst bei einer vorhandenen physiologischen Dysfunktion (wie zum Beispiel Diabetes oder Epilepsie) ist der Satz „Der gute Arzt behandelt die Krankheit, der große Arzt behandelt den Patienten, der krank ist“ eine vernünftige Maxime.

Das bedeutet nicht, dass es keine abnormalen Prozesse gäbe. Es gibt sie ganz eindeutig. Wenn jemand eine Hirnverletzung erleidet und sich daraufhin ungewöhnlich verhält, ist dieses Verhalten nicht nur auf normale psychische Prozesse zurückzuführen (obwohl diese Prozesse immer noch für die Bewältigung der Folgen der Verletzung relevant sein können). Vielleicht wird für Schizophrenie, Autismus, bipolare Störung und so weiter eines Tages dasselbe nachgewiesen, obwohl die tatsächlichen Belege für eine einfache organische Ätiologie in diesen Bereichen sehr begrenzt sind, wie das Fehlen spezifischer und sensitiver Biomarker für diese Leiden zeigt (siehe das erste „beunruhigende Eingeständnis“ von Kupfer et al., 2002, oben). Selbst bei solchen schweren psychischen Krankheiten geht das zugrunde gelegte ACT-Modell allerdings davon aus, dass die gewöhnlichen Prozesse, wie sie in selbstreflektiver Sprache und Gedanken verkörpert sind, die Kernprobleme solcher Leiden sogar verstärken können (für detaillierte Belege zu diesem Punkt siehe Kapitel 13). Wie viele Stimmen auch immer ein Mensch hört und wie viele Panikattacken ihn auch heimsuchen mögen, bleibt diese Person doch ein denkendes, fühlendes und sich erinnerndes menschliches Wesen. Die Art der Reaktion auf eine Halluzination ist vielleicht wichtiger für das gesunde Funktionieren als die Halluzination selbst, und gemäß der Sicht der ACT wird diese Reaktion entscheidend von normalen psychischen Prozessen bestimmt.

Beispiel Selbstmord

Es gibt kein dramatischeres Beispiel dafür, wie sehr das Leiden zum Leben gehört, als den Selbstmord. Der freiwillige Tod ist natürlich der am wenigsten wünschenswerte Ausgang des Lebensweges; und dennoch spielt ein überraschend großer Teil der Bevölkerung irgendwann einmal mit dem Gedanken daran, und ein schockierend hoher Prozentsatz versucht es dann tatsächlich.

Selbstmord bedeutet, sich selbst bewusst, absichtlich und überlegt das Leben zu nehmen. Zwei Tatsachen sind dabei unbestreitbar: 1) Selbstmord tritt in allen menschlichen Gesellschaften auf, 2) er kommt nachweislich bei keinem anderen Lebewesen vor. Die vorliegenden Selbstmordtheorien tun sich schwer, diese beiden Fakten logisch zu erklären. Aus jeder menschlichen Gesellschaft der Gegenwart und der Vergangenheit gibt es Berichte über Selbstmorde. Etwa 11,5 von 100.000 Menschen begehen in den USA jährlich Suizid (Xu, Kochanek, Murphy & Tejada-Vera, 2010), was 2007 fast 35.000 Selbsttötungen bedeutet hat. [In Deutschland nehmen sich jährlich ca. 11.000 bis 12.000 Menschen das Leben. Die Suizidrate beträgt somit ca. 13,5 pro 100.000 Einwohner. Das Verhältnis der Suizidrate von Männern zu Frauen liegt bei 3:1 (www.kriminalpolizei.de; Stand 2007).] Bei Säuglingen und Kleinkindern tritt Suizid nicht auf, setzt aber in den ersten Schuljahren ein. In der Gesamtbevölkerung sind Selbstmordgedanken und -versuche relativ häufig. Eine von der Substance Abuse and Mental Health Services Administration in Auftrag gegebene Studie rechnete eine jährliche Rate ernsthafter Selbstmordgedanken bei 8,3 Millionen Menschen hoch und kam auf einen Prozentsatz von 1,2 bei Selbstmordversuchen junger Erwachsenen – wobei diese Zahl in Verbindung mit Drogenmissbrauch noch höher lag (2009). Studien zur Selbstmordhäufigkeit während des ganzen Lebens legen nahe, dass etwa 10 Prozent aller Menschen irgendwann einmal versuchen, sich selbst zu töten, während weitere 20 Prozent mit Selbstmordgedanken kämpfen und konkrete Pläne entwickeln. Dazu kommen noch 20 Prozent der Menschen, die zwar Selbstmordgedanken hegen, aber keinen konkreten Plan fassen. Insgesamt also leidet etwa die Hälfte der Bevölkerung irgendwann im Leben einmal an mäßiger bis schwerer Suizidalität (Chiles & Strosahl, 2004). Das ist eine erschreckend hohe Zahl, wenn man die Einstufung von Suizidneigungen als „abnormal“ aufrechterhalten will.

Ebenfalls für unsere Diskussion relevant ist die Tatsache, dass Selbstmord bei nicht menschlichen Lebewesen nicht vorkommt. Im Laufe der Zeit sind mehrere angebliche Ausnahmen angeführt worden, die sich bei Nachprüfung jedoch stets als unzutreffend erwiesen haben. Der norwegische Lemming ist vielleicht das klassischste Beispiel dafür. Wenn seine Populationsdichte so hoch steigt, dass nicht mehr alle Tiere genug Nahrung finden, wird bei der gesamten Gruppe ein Verhaltensmuster sinnlosen Umherlaufens ausgelöst, das bei vielen Tieren mit dem Tod endet – gewöhnlich durch Ertrinken. Aber Suizidalität bezeichnet nicht nur den Tod, sondern auch die psychischen Aktivitäten, die den Betreffenden auf seinen eigenen Tod als Konsequenz dieser Aktivitäten einstimmen. Wenn ein Lemming ins Wasser fällt, versucht er herauszuklettern, und gelingt ihm das, stürzt er sich nicht wieder hinein. Dagegen gibt es zahlreiche dokumentierte Fälle von Selbstmördern, die den Sprung von einer Brücke überlebten und daraufhin sofort abermals von derselben Brücke sprangen.

Die Selbsttötung kann beim Menschen verschiedenen Zielen dienen, aber die ausdrücklich angegebenen Ziele entstammen meist dem Alltagsregister an Emotionen, Erinnerungen und Gedanken. Bei der Untersuchung von Abschiedsbriefen stellt sich zum Beispiel heraus, dass in ihnen gewöhnlich die ungeheure Bürde des Lebens betont und auf einen zukünftigen Zustand (der Existenz oder Nichtexistenz) verwiesen wird, in dem diese Bürde nicht mehr zu tragen sei (Joiner et al., 2002). Obwohl Abschiedsbriefe oft Liebeserklärungen und den Ausdruck von Scham über den Suizid enthalten, erklären die Betroffenen oft auch, das Leben sei unerträglich schwer (Foster, 2003). Die am häufigsten mit Suizid verbundenen Emotionen und Geisteszustände sind Schuld, Angst, Einsamkeit und Traurigkeit (Baumeister, 1990).

Der Suizid als Phänomen zeigt die Grenzen und Fehler der rein syndromorientierten Betrachtungsweise des menschlichen Leidens auf. Suizid ist kein Syndrom, und viele Menschen, die sich selbst das Leben nehmen, können nicht einfach mit einem Syndrom-Etikett versehen werden (Chiles & Strosahl, 2004).

Wenn die absolut „ungesündeste“ Aktivität überhaupt im Leben der meisten Menschen in irgendeiner Form präsent ist, bei anderen fühlenden Lebewesen jedoch nicht, drängt sich eine offensichtliche Schlussfolgerung auf: dass die Menschen irgendetwas Einmaliges an sich haben müssen, das dafür verantwortlich ist. Genauer gesagt, muss hier ein bestimmter Prozess wirken, der so schnell zu so viel psychischem Leiden führt – einer, der für die menschliche Psyche charakteristisch ist. Die der gegenwärtigen Psychopathologie zugrunde liegende Forschungsstrategie wird ihn nicht unbedingt entdecken, weil sie sich nicht spezifisch auf die alltäglichen Einzelheiten des menschlichen Handelns konzentriert. Selbst wenn wir so gut wie jedem Menschen ein oder mehrere diagnostische Etiketten anhängen würden, würde kein Fortschritt im Studium der Psychopathologie unsere Verpflichtung verringern, uns mit der Allgegenwart menschlichen Leidens zu befassen. Alle Menschen leiden – einige nur mehr als andere. Es ist geradezu normal, „abnormal“ zu sein.

Zerstörerische Normalität

Die Allgegenwart des Leidens selbst legt nahe, dass es Prozessen entstammt, die entstanden sind, um die Anpassungsfähigkeit des menschlichen Organismus zu fördern. Diese Beobachtung ist die Kernvorstellung hinter der Annahme der zerstörerischen Normalität, also der Vorstellung, dass gewöhnliche und sogar sinnvolle psychische Prozesse des Menschen zu zerstörerischen und dysfunktionalen Ergebnissen führen können, indem sie eventuell vorhandene abnormale physiologische und psychische Leiden verstärken und verschärfen.

Als ACT in den 1980er-Jahren entwickelt wurde, war sie als transdiagnostischer Therapieansatz konzipiert, der auf den gewöhnlichen zentralen Prozessen beruhte, die wir für das psychische Leiden beim Menschen für verantwortlich hielten. Wir begannen mit einigen relativ einfachen und unkomplizierten Fragen:

Ein entscheidender Schlüssel zu relevanten Antworten auf diese schwerwiegenden Fragen war ein einfacher Blick in den Spiegel. Eingeschlossen im runden Schutzschild des Kopfes war ein Organ mit einer extrem strahlenden „Oberseite“ und einer genauso problematischen Kehrseite.

Es stimmt demütig, dass diese Vorstellung – dass normale und notwendige psychische Prozesse wie ein zweischneidiges Schwert wirken können – vielen religiösen und kulturellen Traditionen innewohnt, aber in der Psychologie und den anderen Verhaltenswissenschaften sehr viel weniger berücksichtigt wird. Die jüdisch-christliche Tradition (und übrigens die meisten anderen religiösen Traditionen, ob östlich oder westlich, ebenso) umfasst die Idee, dass menschliches Leiden im Wesentlichen der Normalfall im Leben sei. Es ist die Mühe wert, sich diese religiöse Tradition als konkretes Beispiel dafür anzuschauen, wie weit die Manie für medizinische Syndrome uns von unseren kulturellen Wurzeln in diesen Fragen entfernt hat. Die Genesis, der Anfang aller Dinge, ist wohl ein angemessener Beginn für unsere Betrachtung über menschliche Sprache und menschliches Leiden.

Die Ursprünge des Leidens nach jüdisch-christlicher Tradition

Die Bibel lässt keinen Zweifel am Ursprung des menschlichen Leidens. In der Schöpfungsgeschichte heißt es: „Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen in unserm Bild, uns ähnlich“ (1 Mo 1,26)[4], und Adam und Eva wurden in einen idyllischen Garten gesetzt. Die ersten Menschen waren unschuldig und glücklich: „Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und sie schämten sich nicht“ (1 Mo 2,25). Sie müssen nur ein Gebot einhalten: „Vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, davon darfst du nicht essen; denn an dem Tag, da du davon isst, musst du sterben!“ (1 Mo 2,17). Die Schlange erzählt Eva, dass sie nicht sterben wird, wenn sie von diesem Baum isst, sondern: „Gott weiß, dass an dem Tag, da ihr davon esst, eure Augen aufgetan werden und ihr sein werdet wie Gott, erkennend Gutes und Böses“ (1 Mo 3,5). In gewisser Weise hat die Schlange recht, denn nach dem Essen der Frucht „wurden beider Augen aufgetan, und sie erkannten, dass sie nackt waren“ (1 Mo 3,7).

Das ist eine sehr kraftvolle Geschichte, und eine sehr lehrreiche. Die meisten religiösen Menschen würden auf die Frage, ob es gut sei, den Unterschied zwischen Gut und Böse zu kennen, wahrscheinlich erwidern, das sei sogar die Quintessenz moralischen Verhaltens. Das mag schon stimmen, aber die Schöpfungsgeschichte lässt anklingen, dass diese Art der Urteilskraft auch die Quintessenz von etwas anderem ist, nämlich dem Verlust der Unschuld des Menschen und dem Beginn seines Leidens.

In der biblischen Erzählung hat der Gewinn der Urteilskraft unmittelbare und direkte Folgen. Die zusätzlichen negativen Konsequenzen der Strafmaßnahmen Gottes folgen später. Adam und Eva leiden bereits, bevor Gott ihren Ungehorsam entdeckt. Als sie erkennen, dass sie nackt sind, „hefteten“ sie sofort „Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze“ (1