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Entwicklung und Bildung in der Frühen Kindheit

 

Herausgegeben von Manfred Holodynski, Dorothee Gutknecht und Hermann Schöler

Georg Peez

Kinder zeichnen, malen und gestalten

Kunst und bildnerisch-ästhetische Praxis in der KiTa

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-028731-0

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-028732-7

epub:    ISBN 978-3-17-028733-4

mobi:    ISBN 978-3-17-028734-1

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VORWORT DER HERAUSGEBERIN UND DER HERAUSGEBER

Die Lehrbuchreihe »Entwicklung und Bildung in der Frühen Kindheit« will Studierenden und Fachkräften das notwendige Grundlagenwissen vermitteln, wie die Bildungsarbeit im Krippen- und Elementarbereich gestaltet werden kann. Die Lehrbücher schlagen eine Brücke zwischen dem aktuellen Stand der einschlägigen wissenschaftlichen Forschungen zu diesem Bereich und ihrer Anwendung in der pädagogischen Arbeit mit Kindern.

Die einzelnen Bände legen zum einen ihren Fokus auf einen ausgewählten Bildungsbereich, wie Kinder ihre sozio-emotionalen, sprachlichen, kognitiven, mathematischen oder motorischen Kompetenzen entwickeln. Hierbei ist der Leitgedanke darzustellen, wie die einzelnen Entwicklungsniveaus der Kinder und Bildungsimpulse der pädagogischen Einrichtungen ineinandergreifen und welche Bedeutung dabei den pädagogischen Fachkräften zukommt. Die Reihe enthält zum anderen Bände, die zentrale bereichsübergreifende Probleme der Bildungsarbeit behandeln, deren angemessene Bewältigung maßgeblich zum Gelingen beiträgt. Dazu zählen Fragen, wie pädagogische Fachkräfte ihre professionelle Responsivität den Kindern gegenüber entwickeln, wie sie Gruppen von Kindern stressfrei managen oder mit Multikulturalität, Integration und Inklusion umgehen können. Die einzelnen Bände bündeln fachübergreifend aktuelle Erkenntnisse aus den Bildungswissenschaften wie der Entwicklungspsychologie, Diagnostik sowie Früh- und Sonderpädagogik und bereiten für den Einsatz in der Aus- und Weiterbildung, aber ebenso für die pädagogische Arbeit vor Ort vor. Die Lehrbuchreihe richtet sich sowohl an Studierende, die sich in ihrem Studium mit der Entwicklung und institutionellen Erziehung von Kindern befassen, als auch an die pädagogischen Fachkräfte des Elementar- und Krippenbereichs.

Mit dem Band »Kinder zeichnen, malen und gestalten« erklärt der renommierte Kunstpädagoge Georg Peez, Professor am Institut für Kunstpädagogik der Goethe-Universität Frankfurt am Main, dem Leser auf inspirierende Weise die Kunst und die bildnerisch-ästhetische Praxis in der KiTa, ein für die Frühe Bildung so wichtiges Thema. Von den einen als Malen und Basteln belächelt, von anderen als selbstbildende Heilsquelle verklärt, zeichnet er ein faszinierendes und vielsagendes Bild, welche entwicklungspsychologische Bedeutung das Malen, Zeichnen und Gestalten für Kinder einnehmen kann und wie pädagogische Fachkräfte in der KiTa dazu beitragen können, dieses Potenzial mit den Kindern zu erschließen. Malen, Zeichnen und Gestalten beinhalten für Kinder nicht nur ein Ausprobieren im Material, sondern immer auch eine Kommunikation ihrer Beziehung zur Welt und zu den eigenen Erlebnissen in ihr. Malen, Zeichnen und Gestalten mit Kindern verkörpern und ermöglichen eine Begegnung und ein Mitfühlen mit ihren persönlichen Realitätsverarbeitungen. Den Leserinnen und Lesern dieses Potenzial bildnerisch-ästhetischer Praxis in fundierter und anschaulicher Weise nahezubringen, ist das große Verdienst des vorliegenden Bandes.

Wesentliche Erkenntnisse zur bildnerisch-ästhetischen Entwicklung vom Säugling bis zum Zehnjährigen werden vom Autor informativ und kompetent zusammengetragen und vor dem Hintergrund aktueller Modelle der bildnerischen Entwicklung diskutiert. Dabei dient ihm die Kinderzeichnung von den ersten Kritzelzeichnungen bis zum verschachtelt gezeichneten narrativen Plot als kristalliner Kern, an dem sich die Entwicklung der bildnerischen Gestaltungsfähigkeiten von Kindern veranschaulichen lässt.

Professionalität in der bildnerisch-ästhetischen Bildung benötigt auch eine Kenntnis bestehender Diagnoseverfahren, angefangen bei standardisierten Zeichentests bis zu qualitativen Analysen von Kinderzeichnungen. Dieses Spektrum an Verfahren wird instruktiv und übersichtlich vorgestellt, wie die pädagogische Fachkraft zu einer Einschätzung der bildnerisch-ästhetischen Fähigkeiten eines Kindes kommen kann, um darauf aufbauend entwicklungsförderliche Anregungen und Angebote zu planen und zu gestalten.

Darüber hinaus nimmt Georg Peez die Leser und Leserinnen mit auf eine inspirierende Reise zu Fragen, was Kreativität sei, ob Kinder schon »Künstler« seien, wie mit Anforderungen von Inklusion und kultureller Vielfalt umgegangen werden kann und wie sich Sexualität in Kinderzeichnungen ausdrückt. Eingängig sind auch die Erläuterungen und Anregungen, bildnerisch-ästhetische Praxis nicht nur auf die Praxis in der KiTa zu beschränken, sondern durch den Besuch von Museen und Ausstellungen den Kindern auch die Welt der Ästhetik und Kunst nahezubringen.

Georg Peez hat mit diesem Buch ein eindrucksvolles Lehrbuch zur bildnerisch-ästhetischen Bildung vorgelegt, von dem wir hoffen und uns wünschen, dass es den ihm gebührenden Status eines Standardwerkes für die bildnerisch-ästhetische Bildung erhalten möge.

Münster, Freiburg und Heidelberg im Juni 2015

Dorothee Gutknecht, Hermann Schöler und Manfred Holodynski

Inhalt

  1. Vorwort
  2. 1 Einführung
  3. 2 Eingrenzung und Begriffsklärungen
  4. 2.1 Zusammentreffen von Bewegung und Material
  5. 2.2 Mit den Sinnen wahrnehmen und empfinden: »ästhetisch« erleben
  6. 2.3 Unsere Sinne
  7. 2.4 Rezeption, Produktion und Reflexion
  8. 2.5 Kulturelle Teilhabe und Bildkompetenz
  9. 2.6 Bildnerische Gestaltung im »Konzert der Künste«
  10. 2.7 Kinderbilder im Papierkorb
  11. 2.8 Malen, Zeichnen, Basteln, plastisches Gestalten
  12. 2.9 Bildnerisch-ästhetische Erfahrungsprozesse
  13. 2.10 Ästhetische Erfahrungs- und Bildungsprozesse in der KiTa
  14. 3 Bildnerische Entwicklung und Phasen der Kinderzeichnung
  15. 3.1 Modelle und Phaseneinteilungen zur Systematisierung von Entwicklung
  16. 3.2 Früheste Materialerkundungen
  17. 3.3 Schmieren
  18. 3.4 Kritzelphase
  19. 3.5 Sinnunterlegtes Kritzeln
  20. 3.6 Konzeptkritzel, erste Mensch-Darstellung und Streubild
  21. 3.7 Frühe Schemaphase
  22. 3.8 Mittlere Schemaphase
  23. 3.9 Späte Schemaphase
  24. 4 Weitere Modelle bildnerischer Entwicklung
  25. 4.1 Psychoanalytisch orientierte Ansätze
  26. 4.2 Tiefenpsychologisch orientierte Ansätze
  27. 4.3 Zeichnen und Malen als Ausdruckshandlung – »Formulation« nach Arno Stern
  28. 4.4 Zeichnungen als Mitteilungen – kommunikationstheoretisch orientiertes Verständnis
  29. 4.5 Formal-grafisch orientierte Ansätze
  30. 4.6 Bildnerische Entwicklung im plastischen Gestalten
  31. 4.7 Die Verwendung von »Farbe« – Vom Ausdruck zur Darstellung
  32. 5 Zeichentests
  33. 5.1 Zeichentests als Diagnoseinstrumente
  34. 5.2 Entwicklungsbezogene und projektive Tests
  35. 5.3 Mensch-Zeichen-Tests
  36. 5.4 Der »Mann-Zeichen-Test« (MZT)
  37. 5.5 »Familie in Tieren«
  38. 5.6 »Test zum Schöpferischen Denken – Zeichnerisch« (TSD-Z)
  39. 5.7 Gütekriterien für Zeichentests und darüber hinaus
  40. 6 Methoden zur Analyse von Kinderzeichnungen
  41. 6.1 Beobachten, Dokumentieren und Forschen
  42. 6.2 »Drei Qualitäten einer Zeichnung« (Barbara Wichelhaus und Hans-Günther Richter)
  43. 6.3 »Modifizierter Ansatz zur Charakterisierung der Stufen der Kinderzeichnung« (Christa Seidel)
  44. 6.4 »Handlungsmodell zur Analyse von Kinderzeichnungen« (Hermann Hinkel)
  45. 6.5 »Modell zur qualitativ-empirischen Analyse von Kinder- und Jugendzeichnungen« (Annette Wiegelmann-Bals)
  46. 6.6 »Ebenen in Kinderzeichnungen« (Norbert Neuß)
  47. 6.7 Datenschutz
  48. 7 Machen Kinder »Kunst«?
  49. 7.1 Kinderzeichnungen als Anregung für die bildende Kunst
  50. 7.2 »Kunst«-Ansprüche an Kinderbilder aus pädagogischer Sicht
  51. 8 Kreativität
  52. 8.1 »Schlüsselkompetenz« Kreativität
  53. 8.2 Kreativität – Was ist das?
  54. 8.3 Kreativität bei Kindern
  55. 8.4 Kreativitätsförderung in der KiTa
  56. 8.5 Objektive und subjektive Kreativität
  57. 9 Ästhetisch-bildnerische Kompetenzen und Standards in Bildungsplänen
  58. 9.1 Grundsätzliches zu Kompetenzen und Standards
  59. 9.2 Ein kritischer Blick in die fachspezifischen Anteile einiger Bildungspläne
  60. 9.3 Dekorative Funktionalisierung von Kinderbildern
  61. 9.4 Fachspezifische Schwerpunkte in den Bundesländern
  62. 9.5 Fachspezifische Kompetenzen aus Sicht der Kunstpädagogik
  63. 9.6 Über 40 Jahre alte Fähigkeitsbeschreibungen neu betrachtet
  64. 10 Kulturelle Vielfalt
  65. 10.1 Kulturelle Einflüsse und physiologische Voraussetzungen
  66. 10.2 Transkulturelle Studien zur Kinderzeichnung
  67. 10.3 Forschungsmethodische Herausforderungen
  68. 10.4 Bildnerische Gestaltung im Rahmen einer kultursensitiven Frühpädagogik
  69. 11 Heterogenität, Inklusion und Kompensation
  70. 11.1 Inklusion und Kompensation als Herausforderungen in KiTa und Gesellschaft
  71. 11.2 Funktionen ästhetisch-bildnerischer Prozesse im Rahmen inklusiver Ansätze
  72. 11.3 Beobachtung, Diagnose und Förderung des Individuums in der Gruppe
  73. 12 Kunstbegegnung in Museen und Ausstellungen
  74. 12.1 Formen der Kunstbegegnung in der Frühpädagogik
  75. 12.2 Bildungswirkungen durch Kunstbegegnung
  76. 12.3 Unterschied von Original und Reproduktion
  77. 12.4 Pädagogische Haltungen zum Umgang mit Kunst für Kinder
  78. 12.5 Museum als Raum
  79. 12.6 Bild-Präferenzen von Kindern und hierauf bezogene pädagogische Werkauswahl
  80. 12.7 Rezeption kombiniert mit bildnerischer Praxis
  81. 13 Sexualität in Kinderzeichnungen und sexuelle Gewalt an Kindern
  82. 13.1 Kindliche Sexualität
  83. 13.2 Differenz zwischen Geschlecht und Sexualität anhand von Kinderzeichnungen
  84. 13.3 Sexuelle Gewalt und Kinderzeichnung
  85. 14 »Kunst und bildnerische Gestaltung« in drei frühpädagogischen Konzepten
  86. 14.1 Konzepte zur »Befreiung der schöpferischen Natur des Kindes«
  87. 14.2 Montessori-Pädagogik
  88. 14.3 Waldorf-Pädagogik
  89. 14.4 Reggio-Pädagogik
  90. Literatur

1         Einführung

Zeichnen, Malen und plastisches Gestalten sowie Sammeln, Bauen, Kleben, Collagieren oder Konstruieren sind für nahezu alle Kinder sehr wichtige Tätigkeiten, mit denen sie Erfahrungen machen, die Welt erkunden und verstehen sowie lernen sich auszudrücken. Im vorliegenden Band der Reihe »Entwicklung und Bildung in der Frühen Kindheit« wird die große Bedeutung des Bildnerischen in der Frühpädagogik anhand zentraler Themenfelder systematisiert sowie multiperspektivisch begründet. Denn Wissen um schöpferisch-bildnerische Prozesse ist grundlegend für ein Verstehen der Kinder und ihrer Möglichkeiten sowie für die professionelle Planung frühpädagogischer Angebote im Bereich »Kunst und bildnerische Gestaltung«. Auf die Darstellung unterschiedlicher Modelle und Konzepte für die frühkindliche Bildung wird hierbei Wert gelegt. Das vorliegende Buch gibt somit einen Überblick und will gleichzeitig dazu anregen, sich vertiefter mit einzelnen Ansätzen zu beschäftigen.

Innerhalb der Kunstpädagogik finden sich die meisten und einflussreichsten Forschungstraditionen im Bereich der Untersuchung von Kinderzeichnungen. Seit über 120 Jahren steht diese bildnerische Ausdrucksform im Fokus. Am Zeichnen können deshalb exemplarisch die frühkindliche Wahrnehmung, das bildnerische Denken und die bildnerische Entwicklung analysiert werden. Daher beziehen sich viele der folgenden Kapitel auf die Kinderzeichnung. An der Zeichnung lassen sich zudem wichtige Kompetenzen und Fähigkeiten von Kindern beobachten, etwa das Erzählen und Argumentieren mit Bildern, die Illustration von gehörten oder selber ausgedachten Geschichten bis hin zu vorwissenschaftlichen Verfahren der zeichnerischen Dokumentation von Erkundungen durch die Kinder selbst. Heute, da medial vermittelte Bilder im Zusammenleben der Menschen allgegenwärtig sind, ist es sehr bedeutsam, dass auch in der Frühpädagogik Bildkompetenzen und visuelle Kompetenzen sowie deren Aufbau und Förderung thematisiert werden.

Bildnerisch-ästhetisches Denken und Handeln können zwar angeregt und quasi von außen beobachtet werden, aber letztlich ist das Kind darin autonom, ob und inwieweit es sich auf seine Umwelt sowie (kunst-)pädagogisch arrangierte Situationen einlässt. Trotz der Eigendynamik bildnerischer Prozesse gibt es verallgemeinerbare Wahrnehmungsdispositionen, Entwicklungsverläufe, ein Hintergrundwissen um Besonderheiten sowie kunstpädagogisch zu fördernde Handlungsweisen.

Im Anschluss an diese Einführung (Images Kap. 1) werden in Kapitel 2 zunächst wichtige Eingrenzungen und Begriffsklärungen vorgenommen, etwa zur Kunst, zu den Bezeichnungen »ästhetisch« und »bildnerisch« sowie zu deren Potenzialen für Erfahrungs- und Bildungsprozesse. Kapitel 3 stellt die bildnerische Entwicklung von Kindern exemplarisch anhand des Zeichnens vor, und zwar mittels einer Theorie der kognitiven Entwicklung. Daraufhin werden in Kapitel 4 fünf alternative Modelle der bildnerischen Entwicklung umrissen, komplettiert durch die Schilderung des plastischen Gestaltens sowie den Einsatz von Farbe. Weil das Zeichnen, wie oben erwähnt, der am intensivsten erforschte Bereich des bildnerischen Ausdrucks von Kindern ist, widmen sich Kapitel 5 und 6 psychologischen Untersuchungsverfahren und kunstpädagogisch geprägten Verfahren zur Analyse von Kinderzeichnungen.

Nachfolgend werden Bezüge zwischen der Schöpferkraft von Kindern im Überschneidungsbereich zur Kunst (Images Kap. 7) sowie zur Kreativität und Kreativitätsforschung (Images Kap. 8) behandelt. Die anschließenden Kapitel beleuchten knapp die Bedeutung und den Umgang mit Kinderzeichnungen sowie bildnerischen Prozessen und Produkten von Kindern zunächst anhand der Bildungspläne aus einigen Bundesländern (Images Kap. 9), bevor in Kapitel 10 Fragen der Transkulturalität im Hinblick auf die Kinderzeichnung erörtert werden. Aspekte der Heterogenität, Inklusion sowie Kompensation durch ästhetisch-bildnerische Prozesse komplettieren die Erörterungen zur in der Kindertageseinrichtung (KiTa) gelebten Vielfalt (Images Kap. 11).

In Kapitel 12 stehen die Kunstbegegnung und kulturelle Teilhabe durch Kinder etwa in Museen, Ausstellungen, aber auch in der KiTa selbst im Mittelpunkt. Die Bedürfnisse und Ausdruckspotenziale von Kindern im Bildnerischen werden in Kapitel 13 am Thema der Sexualität exemplarisch fokussiert; hieran zeigt sich, dass die Kinderzeichnung sowie der Bereich des Bildnerischen stets auch mit der Gesellschaft und den Themen der Erwachsenen verbunden sind. Das Malen und Zeichnen ist kein Refugium einer »heilen Kinderwelt«. Den Abschluss bildet Kapitel 14 mit den gegenwärtig einflussreichsten frühpädagogischen Konzepten der Montessori-, Waldorf- und Reggio-Pädagogik und deren Gehalte im Hinblick auf das Bildnerische und Künstlerische.

Das Buch verfügt über ein umfangreiches Verweissystem, welches es erleichtert, nach den ersten drei Kapiteln das weitere Lesen von den eigenen Interessen leiten zu lassen.

In der Kinderzeichnungsforschung werden Altersangaben so geschrieben, dass die Jahresangabe von der Monatsangabe durch ein Semikolon getrennt wird, nicht durch ein Komma, um Verwechslungen mit einer am Dezimalsystem orientierten Schreibweise zu vermeiden (vgl. vor allem die Abbildungsunterschriften). Zugleich ist mit Altersangaben im Rahmen der kindlichen Entwicklung immer vorsichtig umzugehen, denn trotz modellhaft vorgestellter Entwicklungsfolgen wäre es irreführend und daher womöglich falsch, hiervon eindeutige Altersnormen abzuleiten, in welchem Alter welches Entwicklungsmerkmal oder gar welche Kompetenz auftreten »muss«. Der Blick auf Kinder ist somit nicht primär von Altersnormen geprägt, ohne die man freilich in der Beurteilung von Entwicklungs- und Bildungsprozessen nicht auskommen kann, sondern stärker am Kind als Individuum orientiert.

Eine Beschränkung auf die individualisierende Perspektive des Einzelfalles käme aber einer folgenreichen Beeinträchtigung gleich. In Forschungen zu typischen Phänomenen werden kollektive Gruppierungen zusammengefasst, sodass verallgemeinerbare Erkenntnisse konzipiert werden können. Anders aber ist das Wissen über die verschiedenen Gruppierungen von Kindern mit bestimmten kulturellen Erfahrungen, Gendererfahrungen oder mit Körpererfahrungen nicht erreichbar und kommunizierbar. (Prengel, 2014, S. 27)

Für ein professionelles pädagogisches Handeln kommt es darauf an, das verallgemeinerbare Wissen zu typischen kindlichen Lebenslagen und die kollektive Kategorienbildung mit einem Verstehen zu kombinieren, das sich auf den Einzelfall bezieht (ebd.). Insbesondere gelingt dies über die Professionelle Responsivität, die Interaktionskompetenz des Fachpersonals (Gutknecht, 2012).

Somit will das vorliegende Buch dazu anregen, in Forschung und Praxis jeweils situativ spezifisch passende Möglichkeiten der Kategorienbildung auszuwählen und die sich hieraus ergebenden Erkenntnis- und Handlungsperspektiven zu ergreifen. Ein solches Vorgehen begründet aus diesem Blickwinkel nochmals die Bedeutung der Kenntnis unterschiedlicher Konzepte und Ansätze der pädagogischen Fachkräfte in KiTas.

2         Eingrenzung und Begriffsklärungen

2.1        Zusammentreffen von Bewegung und Material

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen an einem sonnigen Strand im warmen Sand. Wenn Sie kurz die Augen schließen, glauben Sie vielleicht die Wärme der Sonne auf Ihrer Haut zu empfinden oder das Rauschen der Wellen zu hören. Außerdem riechen Sie eventuell die Meeresluft und spüren den leicht kühlenden Wind auf Ihrer Haut. Sie nehmen die Umgebung auf diese Weise mit Ihren Sinnen vielfältig wahr.

Unwillkürlich fassen Sie nun mit einer Hand oder beiden Händen in den Sand und Sie fühlen ihn zwischen Ihren Fingern. Ihre Fingerkuppen gleiten über den Sand, tauchen leicht hinein und hinterlassen dabei Vertiefungen und Spuren. Sie betrachten diese durch die Bewegung intuitiv und spontan entstandenen Spuren im Sand und gehen daraufhin bewusster vor, indem Sie beispielsweise Linien, Kreise, Zickzack oder ein Rechteck mit dem Zeigefinger in den Sand ziehen. Der Kreis mit zufälligen Vertiefungen mag in Ihnen die Erinnerung an ein Gesicht wecken, Sie setzen deshalb zwei Punkte und eine Linie hinein. Sie beobachten die Entstehung Ihrer eigenen Sandzeichnung und kommen durch die Fingerbewegung und deren Spuren im Sand zu Assoziationen und Ideen, welche Ihr weiteres zeichnerisches Tun anregen.

Bei dieser beschriebenen Situation handelt es sich um eine ursprüngliche Zeichenerfahrung. Ob jung oder alt – so oder so ähnlich mag es jedem Menschen ergehen bzw. zu allen Zeiten ergangen sein. Zugleich gibt es jedoch sehr große Unterschiede, wie Kinder, Jugendliche und Erwachsene eine solche Situation wahrnehmen. Diese Unterschiede sind vor allem durch die Vorerfahrungen und Fähigkeiten der jeweiligen Person geprägt, diese hängen u. a. vom Alter oder auch von kulturellen Einflüssen ab, in denen ein Mensch aufwächst. Es wäre ein Trugschluss zu glauben, dass die eigene Wahrnehmung der eines anderen Menschen oder gar eines Kindes entspricht. Freilich gibt es Ähnlichkeiten, doch vor allem Unterschiede! Denn tatsächlich kann niemand die Welt mit den Augen eines anderen Menschen sehen.

Davon, wie Kinder solche oder ähnliche Situationen wahrnehmen, hierauf reagieren und dann agieren, handeln die meisten Kapitel dieses Buches. Wissenschaftlich formuliert liegt – wie am Beispiel beschrieben – der Beginn der menschlichen Frühformen des Zeichnens und bildnerischen Gestaltens im Aufeinandertreffen einer Bewegungsdynamik mit einer Oberfläche, die diese Dynamik festhält (Lippe, 1987, S. 223; Widlöcher, 1984, S. 30). Es ist ein menschlicher »Urtrieb«, »sich nicht nur in Worten auszudrücken, sondern auch in Bildern, in sichtbaren und bleibenden Spuren des inneren Erlebens« (Seitz, 2009, S. 14). Im Folgenden werden wichtige Fachbegriffe, Kategorien und Prozesse hierzu eingegrenzt. Die zentralen Fachausdrücke zur frühkindlichen Entwicklung und Förderung bildnerischer Praxis werden erläutert.

2.2        Mit den Sinnen wahrnehmen und empfinden: »ästhetisch« erleben

Wenn wir im Alltag etwas »ästhetisch« nennen, so ist hiermit häufig »schön«, »stilvoll«, »formvollendet« oder »ansprechend« gemeint. Doch das Verständnis von »ästhetisch« im Bereich von Erziehung und Bildung entspricht nicht diesem Wortgebrauch, sondern orientiert sich am griechischen Ursprung: »sinnlich«, »durch die Sinne erfahren« (Seel, 2007, S. 11ff.). Kindliche Zugänge zur Welt sind besonders stark »ästhetisch« geprägt. Zunächst wird hierunter also der Zugang über die Sinne verstanden, beispielsweise ausgedrückt mit dem Motto »Lernen mit allen Sinnen« (Staudte, 1984). Aber »mit allen Sinnen« oder »sinnlich« bedeutet nicht das Gleiche wie »ästhetisch«, obwohl die Sinne in der Ästhetik die zentrale Rolle spielen. »Ästhetisch« im hier genutzten Verständnis enthält stets eine Differenzierung in zwei Bereiche:

  Zum einen sind ihre sinnlichen Anteile durch die Wahrnehmung »nach außen«, auf die Welt gerichtet. Hier werden Sinnesqualitäten wie Farben, Töne oder Gerüche erfasst. Wahrnehmung zielt somit auf (objektivierende) Feststellungen.

  Zum anderen sind sinnliche Anteile »nach innen« gerichtet, auf die Empfindung während der Zuwendung zur Welt. Hier spielen etwa Gefühle sowie Lust oder Unlust eine wichtige Rolle. Empfindung zielt zudem auf Subjektivität und individuelle Bewertung (Welsch, 1993, S. 26).

Spricht man beispielsweise von »ästhetischer Erziehung« oder »ästhetischer Gestaltung«, dann meint dies nicht »schön« und auch nicht nur »sinnlich«, sondern immer spielen beide Aspekte ineinander. Der Doppelcharakter von »ästhetisch« ist entscheidend: Die gegenstandsbezogene Wahrnehmung wird erst durch die subjektive Empfindung »ästhetisch«, so wie die nach innen gerichtete Empfindung erst durch die nach außen gerichtete Wahrnehmung gespeist wird. Objektivierende Wahrnehmung und subjektive Empfindung ergänzen sich zu einer Form des Zugangs zur Welt, wie er für bildnerische Gestaltung und Kunst charakteristisch ist. Im Zuge dieses Wechselspiels von Innen und Außen ergibt sich Betroffenheit und Nähe, man gewinnt aber auch Distanz, kann nachdenken und abwägen (Mollenhauer, 1996, S. 253ff.; Stenger, 2002, S. 111).

Ästhetische Zugangsweisen zur Welt muss man kleinen Kindern nicht erst vermitteln, sie setzen diese von sich aus alltäglich und mit Begeisterung ein. Doch gerade wegen ihrer großen Bedeutung müssen ästhetische Zugangsweisen, ästhetische Erfahrungs- und Lernprozesse im Rahmen der (Früh-)Pädagogik gefördert werden, sonst wird ihnen im Laufe der ersten Lebensjahre und darüber hinaus zu wenig Beachtung geschenkt.

2.3        Unsere Sinne

Für ein Verständnis von »ästhetisch« sind – wie oben erläutert (Images Kap. 2.2) – die Sinne ausschlaggebend. Informationen, die wir mit unseren Sinnesorganen unwillkürlich und ständig, bewusst und unbewusst aufnehmen, werden über das Nervensystem weitergeleitet und verarbeitet; diese Vorgänge fasst der Neuropädiater Henning Rosenkötter unter dem Begriff »Wahrnehmung« zusammen (2012, S. 81f.). Auf diese Weise gewinnen wir Erkenntnisse, die zu Handlungen führen können, aber auch zu Einstellungsänderungen oder Emotionen, welche im Gedächtnis gespeichert werden.

Traditionell werden die bereits in der griechischen Antike vom Philosophen Aristoteles (384–322 v. Chr.) beschriebenen fünf Sinne unterschieden:

  Sehen, die visuelle Wahrnehmung mit den Augen,

  Hören, die auditive Wahrnehmung mit den Ohren,

  Riechen, die olfaktorische Wahrnehmung mit der Nase,

  Schmecken, die gustatorische Wahrnehmung mit der Zunge,

  Tasten bzw. Fühlen, die taktile Wahrnehmung mit der Haut, auch Haptik genannt (Images Abb. 2.1).

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Abb. 2.1: Beim Schmieren hinterlässt der einjährige Darius Spuren mit den Fingern im Brei vor sich. Hierbei ist das Kind mit vielen Sinnen aktiv.

Laut Neurologie und aktueller Physiologie gibt es aufgrund medizinischer, physikalischer und biochemischer Erkenntnisse noch folgende weitere Sinne:

  Temperatursinn, Thermorezeption (Rezeptoren in der Haut),

  Schmerzempfindung, Nozizeption (biopsychosoziales Schmerzkonzept),

  vestibulärer Sinn, Gleichgewichtssinn (Gleichgewichtsorgan im Innenohr und Kleinhirn; auch in Beziehung mit den Augen, den anderen Sinnen sowie den Reflexen),

  taktil-kinästhetische Wahrnehmung bzw. Körperempfindung (oder Tiefensensibilität), Propriozeption (oder Propriorezeption), auch Bewegungssinn genannt (Kükelhaus, 1979, S. 50ff.; Rosenkötter, 2012). (Images Abb. 2.2)

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Abb. 2.2: Kinder balancieren sehr gerne. Insbesondere der Gleichgewichtssinn wird hierbei trainiert.

2.4        Rezeption, Produktion und Reflexion

Wer mit seinen Sinnen der Welt zugewandt ist und hierbei wahrnimmt und empfindet, seine Wahrnehmungen und Empfindungen in Bezug zueinander setzt und über diese nachdenkt, verhält sich »ästhetisch« (Images Kap. 2.2). Dies ist einerseits in Form der »Rezeption« – der Aufnahme von Sinneseindrücken – möglich, also beispielsweise im Anschauen von Bildern oder beim Betasten einer Oberfläche. Der zweite wichtige Bereich ist neben der Rezeption die Produktion – auch »Praxis« oder »Gestaltung« genannt. Hier wird etwas aktiv geformt, erstellt, gebildet oder geschaffen.

Beiden Bereichen widmet sich die frühe ästhetische Bildung; wobei sich Rezeption und Produktion besonders bei Kindern stets gegenseitig durchdringen und anregen. Dies lässt sich am Beispiel des Spuren-Hinterlassens im Sand (Images Kap. 2.1) verdeutlichen: Durch das Berühren des Sandes – die Rezeption – verändert sich zugleich dessen Oberfläche; das Befühlen führt unmittelbar zur zunächst unwillkürlichen Änderung, dann gezielteren Gestaltung. Sowohl in der Rezeption als auch in der Produktion spielt das Denken, die »Reflexion«, eine entscheidende Rolle, etwa das Nachdenken über die eigene Wahrnehmung, die hierdurch ausgelösten Assoziationen und die darauf folgenden Bewegungen und Gestaltungsschritte.

Bildnerisches Rezipieren, Handeln bzw. Produzieren und Reflektieren von Kindern ist nicht durch Erwachsene oder pädagogische Fachkräfte vorab planbar. Solche Wahrnehmungs-, Handlungs- und Denkformen können zwar von außen angeregt werden, aber letztlich ist das Kind weitgehend autonom und »kompetent« (Gutknecht, 2012, S. 17) darin, ob, inwieweit und wie es sich auf die Angebote in einer pädagogisch arrangierten Situation einlässt, was es sich wie aneignet (Borke & Keller, 2014, S. 62ff.; Hauser, 2013, S. 12ff.; Hofmann, 2013, S. 120, 2015) und welche ästhetischen Prozesse es ausführt. Doch trotz der Individualität und Eigendynamik aller ästhetischen Prozesse gibt es verallgemeinerbare bildnerisch-ästhetische Entwicklungsverläufe und -merkmale (Images Kap. 3). Bei der Vorbereitung von Anregungen und Aufgaben durch die pädagogische Fachkraft in der KiTa und darüber hinaus für die kunstpädagogische Diagnose und Förderung sind diese grundlegend zu beachten (Images Kap. 5, 6 u. 11.3).

Diese drei, hier zur Klärung getrennten Bereiche – Rezeption, Produktion und Reflexion – greifen in kunstpädagogischen Settings fast immer ineinander, auch in den Angeboten bildnerisch-ästhetischer Elementar- bzw. Frühpädagogik.

2.5        Kulturelle Teilhabe und Bildkompetenz

Ein weiteres Kerngebiet bildnerisch-ästhetischer (Images Kap. 2.6) pädagogischer Angebote besteht darin, kulturelle Teilhabe zu ermöglichen. Bilder in Bilderbüchern, aber auch Kunstwerke sowie kulturelle Artefakte der Vergangenheit und Gegenwart im Allgemeinen sind häufig Bezugspunkte für Anregungen im Bereich der Rezeption, d. h. etwa der gemeinsamen Bildbetrachtung. Es geht darum, mit angemessenen (Bild-)Impulsen aus verschiedenen Kulturen und der Kunst, Kindern (neue) Wahrnehmungsweisen zu ermöglichen sowie Parallelen und Differenzen zur eigenen alltäglichen Umwelt erfahrbar zu machen (Peez, 2012, S. 110ff.). Hieraus entwickelt sich vor allem ab der Grundschulzeit die Kompetenz, mit Bildern im weitesten Sinne angemessen – u. a. argumentierend, vergleichend, entschlüsselnd und biografisch bewusst – umgehen zu können (Aufenanger & Neuß, 1999; Bering, Hölscher, Niehoff & Pauls, 2013; Niehoff & Wenrich, 2007). Die Grundlagen hierfür werden in der frühen Kindheit gelegt (Braune, 2013) (Images Kap. 12).

2.6        Bildnerische Gestaltung im »Konzert der Künste«

Im Bereich »Kunst und Bildnerische Gestaltung« geht es nicht nur um das Sehen, den visuellen Sinn (Images Kap. 2.3), obwohl dieser eine wichtige Stellung einnimmt. Aber gerade im Hinblick auf dreidimensionale Gestaltungen, Skulpturen oder auch Installationen und Performances (prozessorientierte künstlerische Aufführungen und Aktionen, bei denen u. a. der Körper als »Material« eingesetzt wird, z. B. »Flashmob«) braucht man mehr oder weniger intensiv alle oben (Images Kap. 2.3) genannten Sinne. Zudem gilt: Eine Bildungseinrichtung, die der Inklusion verpflichtet ist (Images Kap. 11), wird selbstverständlich auch Kindern mit hochgradigen Sehbehinderungen gerecht. Wenn wir bei unserem Eingangsbeispiel bleiben (Images Kap. 2.1), dann benötigen wir die Wahrnehmung über die Haut, die Haptik, um in den Sand zu zeichnen. Auch der Temperatursinn mag eine Rolle spielen: Ist der Sand trocken und heiß oder ist er kühl und feucht? Wir können eine Handvoll Sand in beide Hände nehmen und hieraus mit feuchtem Sand beispielsweise eine Kugel formen. Wir können den feuchten Sand mit unserem olfaktorischen Sinn riechen. Kleine Kinder nutzen bekanntermaßen möglichst viele Sinne, um Materialien zu erkunden, sie stecken sich beispielsweise Sand in den Mund, um diesen zu schmecken, mit der Zunge zu ertasten oder zwischen den Zähnen knirschen zu lassen. Auch die Körperempfindungen der Propriozeption, des kinästhetischen Bewegungssinns, spielen bei den beschriebenen Tätigkeiten im Sand eine bedeutende Rolle: Der Oberkörper muss aufrecht gehalten werden, die Schultern, Oberarme, Unterarme, Hände und Finger müssen miteinander koordiniert werden (Images Abb. 2.3).

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Abb. 2.3: Das Sudeln eines Dreijährigen im Matsch als unmittelbar ästhetische Materialerkundung ist Grundlage für wichtige bildnerische Gestaltungserfahrungen.

Das Entscheidende bei »Bildnerischer Gestaltung und Kunst« ist das Element des »Bildnerischen«. »Bildnerisch« verweist darauf, dass etwas mit Material gestaltet bzw. »gebildet« wird, das vornehmlich mit dem Sehsinn erfasst werden kann, etwa ein Bild, z. B. ein Foto oder eine Zeichnung, aber auch bei einem dreidimensionalen Werk spricht man beispielsweise von einem »Standbild«. Ferner ist die Malerei dem »Bildnerischen« zuzurechnen. Es entsteht ein sichtbares und »fassbares« Produkt.

»Kunst« ganz allgemein beinhaltet bisweilen auch Musik, Theater oder Dichtung. Spezifisch zu unterscheiden ist »Kunst« deshalb besser nach ihren Gestaltungsdisziplinen, weshalb es sinnvoller ist, nicht allgemein von »Kunst« zu sprechen, sondern von »darstellender Kunst«, womit das Theater gemeint ist, oder »bildender Kunst«, was u. a. Zeichnung, Malerei und Skulptur beinhaltet. »Tonkunst« meint Musik, »Dichtkunst« die Poesie – die Gestaltung mit Worten.

2.7        Kinderbilder im Papierkorb

Aus dem bisher Dargestellten geht somit die Bezeichnung der »bildnerisch-ästhetischen Praxis« für das, was Kinder in diesem Bereich gestalten, hervor. Das bildnerische Tun, die Praxis, das Herstellen und »Produzieren« von Werken mit bildnerischen Materialien ist Kern des Bereichs »Kunst und Bildnerische Gestaltung«. Wissenschaftlich besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Bezeichnung »Kunst« den Aktivitäten der Profis, also den Künstlerinnen und Künstlern vorbehalten bleibt (Kirchner, 2008; Peez, 2012; Richter, 1997; Schuster, 2010; Seidel, 2007). Die Bezeichnung »bildnerisch-ästhetische Praxis« benennt das, was Kinder im Spiel mit Materialien durch Schmieren, Malen, Modellieren, Zeichnen, Bauen, Drucken, Sammeln, Fotografieren oder Filmen meist mit dem Ergebnis bildnerischer Produkte, die man betrachten kann, erstellen. Ein »Kunst«-Anspruch wird nicht erhoben oder erwartet.

Kinder sind keine »Künstler«, sie können deshalb keine »Kunstwerke« schaffen – selbst wenn deren bildnerische Werke manchmal so aussehen wie Kunst von Erwachsenen. Warum dies so ist, wird in Kapitel 7 begründet. Dies gilt auch dann, wenn diese Bezeichnung wohlwollend wertschätzend gemeint ist. Als »Kunst« oder »Kinderkunst« wird dies aber weder von der Gesellschaft so angesehen oder gehandhabt noch von ihnen selber oder von pädagogischen Fachkräften in KiTas. Das Allermeiste, was Kinder auf diese Weise herstellen, landet im Papierkorb oder Müll (Deutsch, 2012, S. 48f.). Alltagssprachlich freilich geschieht diese Vermischung und Verwechslung. Aber in einem wissenschaftlichen und professionellen Kontext sollte man bei einer so grundlegenden Begrifflichkeit nicht alltagssprachlich formulieren. Passendere Begriffe statt »künstlerisch« sollten deshalb sein: »bildnerisch« oder »gestalterisch«.

Zudem ist das Zeichnen oder Malen von Kindern kein Ausnahmeverhalten, wie dies für die Kunst beansprucht wird, sondern Kinder zeichnen oder malen ganz selbstverständlich und mitgängig im Alltag, ohne einen Kunstanspruch zu erheben.

Wie vom Malpädagogen Arno Stern mit großer Überzeugung vertreten und in Kapitel 4.3 erläutert, kann die Benennung und häufige Gleichsetzung von Kinderbildern mit »Kunst« sogar als ein großes Problem oder gar als pädagogisches Fehlverhalten betrachtet werden, da dies die Entwicklung des freien Ausdrucks der Kinder hemmen kann.

2.8        Malen, Zeichnen, Basteln, plastisches Gestalten

Im Alltag, auch in der KiTa, hört man häufig »malen«, wenn eigentlich »zeichnen« gemeint ist, zum Beispiel in der Aussage über ein mit Filzstift erstelltes Bild: »Das hast du schön gemalt!« Auch wenn Kinder oder die meisten Erwachsenen bzw. Laien die beiden Verben »malen« und »zeichnen« synonym benutzen, sollte pädagogischen Fachkräften der Unterschied bewusst sein: Mit Stiften zeichnet man. Mit feuchten, flüssigen oder zähflüssigen Farben malt man (Images Abb. 2.4).

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Abb. 2.4: Im Alter von 3;2 Jahren malt Sara mit einem breiten Pinsel u. a. große und kleine kreisrunde Formen auf ihr Blatt. Außerdem tupft sie mit dem Pinsel das Farbmaterial stellenweise auf. Am Ende des Malvorgangs greift sie mit ihren Fingern in die Farbtöpfe und hinterlässt gestische Bewegungsspuren.

Üblicherweise benutzt man einen Pinsel für das Verteilen von Mal- bzw. Farbmaterial. Ein weiteres Unterscheidungskriterium ist, dass die Zeichnung meistens an die (Kontur-)Linie gebunden ist, die Malerei nicht. Verdeutlichen wir uns dies folgendermaßen: Zeichnen ist eigentlich eine Art Zeichen-Setzen, denn in der visuell wahrnehmbaren Realität haben die Dinge nie eine dunkle (Kontur-)Linie, wie etwa in der Comic-Zeichnung, um die Figur vom Hintergrund abzugrenzen.

Mischtechniken wie »Basteln«, »Konstruieren und Bauen« (Kirchner, 2008, S. 11ff.) und das Erstellen von »Collagen« (bei Collagen werden die einzelnen Elemente mit Klebstoff zusammengehalten; franz.: coller – kleben) oder »Montagen« oder »Materialmixbildern« (Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, 2010, S. 124) gelten als Sammelbegriffe dafür, wenn mit unterschiedlichen Materialien etwas Zweidimensionales oder meist Dreidimensionales erstellt wird – oft durch das Zusammenfügen mehrerer Komponenten oder Werkstoffe. Viele, wenn nicht gar alle Sinne werden beim Basteln angesprochen. Für Kinder ist dies nicht zuletzt deshalb ästhetisch anregend (Images Kap. 2.2), weil sie gerne mit unterschiedlichen Materialien erkundend gestalten. Bei der Art des »freien Bastelns« (Claude Lévi-Strauss: Bricolage nach Schäfer, 1990) als »offener Gestaltungsprozess« (Winderlich, 2010, S. 74), das nicht nach fest vorgegebenen Anleitungen quasi »im Gleichschritt« erfolgt, lässt sich das Kind experimentierend insbesondere durch die »Sprache des Materials« anregen; Offenheit wird gefördert. Bei der bildnerisch-ästhetischen Produktion mit unterschiedlichsten Materialien werden diese Werkstoffe verändert oder neu kombiniert (Images Kap. 11.2.1 u. 11.3).

»Plastisches Gestalten« oder »plastisches Formen« meint das Herstellen dreidimensionaler, räumlicher Objekte (Images Kap. 4.6), durchaus auch mit weitgehend einem Material, wie etwa Ton, feuchtem Sand, Knete, (Salz-)Teig oder Pappmaschee.

2.9        Bildnerisch-ästhetische Erfahrungsprozesse

Prozesse der ästhetischen Aufmerksamkeit, dies wurde bisher deutlich, beruhen auf sinnlichen Zuwendungen zur Welt. Sie geschehen auch ganz ohne pädagogische Einflussnahme. Idealtypisch lassen sie sich in drei Phasen gliedern, in denen Wahrnehmung und Empfindung, wie oben dargestellt (Images Kap. 2.4), ineinandergreifen sowie rudimentär (spätestens ab dem Alter von vier Jahren bewusster) von der Reflexion begleitet sind, dem Nachdenken über sich selbst und sein Tun in der konkreten Situation (Arhipov, 2012; Hauser, 2013; Schäfer, 2010).

Ästhetische Erfahrungen werden im Alltag »in Ereignissen und Szenen« (Dewey, 1934/1980, S. 11) gemacht, die beispielsweise »das aufmerksame Auge und Ohr des Menschen auf sich lenken, sein Interesse wecken und, während er schaut und hört, sein Gefallen hervorrufen« (ebd.), so der US-amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey in seinem Buch »Art as Experience«. Die Begriffe »Interesse«, »Aufmerksamkeit« und »Gefallen« signalisieren, dass es hier um eine subjektiv bedeutsame Intensität sowie eine Differenz zum bisher Erlebten geht (Mattenklott & Rora, 2004) (Images Kap. 2.2).

2.9.1      Wahrnehmen

Alles beginnt mit der Aufmerksamkeit für bestimmte Situationen oder Bilder im Rahmen eines unmittelbaren und intensiven sinnlichen Wahrnehmens und Erlebens. Diese Aufmerksamkeit, die mit Neugierde, Versunkensein, Genuss oder gar emotionaler Ergriffenheit einhergehen kann, wird über die Sinne geweckt, bisweilen visuell, taktil oder leiblich (Images Kap. 2.12.3). Staunen kann die Folge sein. Oft geschieht dies überraschend, weil man plötzlich auf scheinbar Bekanntes und Gewohntes im Alltag ästhetisch neu aufmerksam wird, wie etwa in der oben beschriebenen Situation des Spuren-Hinterlassens mit den Fingern im Sand (Images Kap. 2.1). Kennzeichnend für »ästhetisch« ist dies – wie ebenfalls oben erläutert (Images Kap. 2.2) – immer mit dem durchaus lustvollen Erleben von Subjektivität und Individualität verbunden (Dewey, 1934/1980; Kükelhaus & zur Lippe, 1984; Peez, 2012, S. 24ff.) (Images Abb. 2.5).

Viele Autorinnen und Autoren sind der Auffassung, dass die Begegnung mit Bildern und besonders mit Kunst eine intensive ästhetische Aufmerksamkeit auslösen kann. Denn Kunst ist u. a. quasi dafür gemacht, solche ästhetischen Erfahrungen im Rezipienten zu bewirken. Oft werden durch Kunst die Phantasie, Assoziationen und neue »innere Bilder« angeregt (Images Kap. 8 u. 10–12).

Für den Bereich der Frühpädagogik ist wichtig, dass immer wieder auch sehr unterschiedliche Anlässe geboten werden, um die ästhetische Wahrnehmung von Kindern über deren Sinneskanäle anzuregen, um deren Neugierde zu wecken. Alltäglich ergreifen Kinder nahezu jede Gelegenheit hierfür; laufen sie beispiels-

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Abb. 2.5: Mit sechs Monaten liegt Hauke auf dem Rücken und hebt seine Arme. Minutenlang trainiert er konzentriert die Bewegung und Koordination seiner Hände und Finger mit dem visuellen Sinn. (Foto: Daniela Colic-Bender)

weise an einem Tunnel vorbei, dann rufen sie hinein um »das Hören zu hören« (Kükelhaus, 1979, S. 51). Auf eine Schaukel setzen sie sich mit Begeisterung, um kinästhetische Erfahrungen zu machen (ebd., S. 53). Zwar muss diese Wahrnehmung im Erfahrungshorizont des Kindes anschlussfähig sein, zugleich muss sie aber auch die Potenziale enthalten, mit etwas zunächst Fremdem zu überraschen (Images Kap. 12), also über den bekannten Horizont hinauszuweisen. Aufgabe der pädagogisch Tätigen ist es, Wahrnehmungssituationen zu arrangieren und anregende Impulse zu geben. Zugleich ist ein Wissen um die Entwicklung des Kindes (Images Kap. 3 u. 4) Voraussetzung für die Gestaltung von Impulsen, Anregungen oder Aufgaben.

Ferner sollte der zeitliche Rahmen vorhanden sein, damit eine ästhetische Wahrnehmung ausgekostet werden kann, wie etwa in einer Art Versunkensein, in der man – wie es heißt – »sich selbst« oder »Raum und Zeit vergisst«. Hierbei kann eine bestimmte Art der Konzentration entstehen, die von der Reformpädagogin Maria Montessori »Polarisation der Aufmerksamkeit« (Montessori, 1984, S. 185) genannt wurde (Images Kap. 14.2), die in der Psychologie mit dem Begriff des »Flow« bezeichnet wird und die als Voraussetzung für Kreativität gilt (Csikszentmihalyi, 1997) (Images Kap. 8).

2.9.2      Handeln

Auf den Eindruck folgt der Ausdruck: Eindrücke des wahrnehmenden Interesses oder des Staunens führen insbesondere bei Kindern unwillkürlich zu dem Bedürfnis, sich hierzu ausdrücken zu wollen, damit ein ästhetischer Eindruck – im wörtlichen Sinne – »festgehalten« werden kann. Ästhetische Wahrnehmung führt über die innere Verarbeitung des Erlebten zu ästhetischem Handeln, in unserem Falle zu bildnerisch-produktiven Prozessen, häufig auch »Produktion« oder »Praxis« genannt (Images Kap. 2.4), weil hierbei ein Werk hergestellt wird. Dieses kann einerseits sehr vergänglich sein, wie etwa eine Spur im Sand, es kann aber auch dauerhaft sein, wie eine Kinderzeichnung aus der KiTa, die eingerahmt über viele Jahre erhalten bleibt und betrachtet wird.

Frühpädagogik fördert Ausdruck, indem unterschiedliche bildnerische Materialien zur Verfügung stehen. Im ästhetischen Handeln spielt die Subjektivität eine zentrale Rolle, weshalb nicht für jedes Kind einer KiTa-Gruppe das gleiche Material im selben Moment »passt«. Ein reichhaltiges Materialangebot in Schubladen oder Regalen, einem werkstattorientierten Setting ähnlich (Herold-Künne & Watzlawek, 2013; Jordan & Rettkowski-Felten, 2011, S. 210ff.; Knauf, 2004a; Krieg, 2002; Lutter, 2013; Stenger, 2002, 2013; Winderlich, 2010) (Images Kap. 11.2.1 u. 14.4), ist deshalb für jede KiTa notwendig, gerade weil solches oft zu Hause nicht geboten wird. Im Gegensatz zur recht freien Werkstattarbeit, der das Kind einzeln nachgehen kann (Peez, 2012, S. 146ff.), geschieht die Gestaltung in ausgesprochenen Projekten immer in Gruppen und ist didaktisch in Phasen gegliedert: Zielsetzung, Planung, Ausführung, Beurteilung und Folgen (ebd., S. 148ff.). Eine solche Struktur mag insbesondere den Kindern helfen, die es weniger gewohnt sind, alltäglich weitgehend autonome Entscheidungen zu treffen (Images Kap. 10.4).

Ein weiteres wichtiges Merkmal des bildnerisch-ästhetischen Handelns und damit des entstandenen Werks liegt darin, dass es als Kommunikationsmedium dienen kann: Das Kind teilt durch das bildnerisch-ästhetische Produkt etwas über seine Sicht der Welt mit. Daraufhin sollte man mit dem Kind über sein Bild sprechen; aber auch über die ästhetische Aufmerksamkeit, die ursprünglich der Auslöser für die Gestaltung war (Images Kap. 4.3). Alternativ oder zusätzlich lassen sich weiterführende Impulse geben: andere Bilder, Bücher oder Materialien.

2.9.3      Denken

Durch einen solchen Dialog mit dem Kind zu seinem Werk entsteht eine gewisse Distanz zum Tun: Das Kind hat hierdurch die Chance, sein Bild mit Abstand zu betrachten, wodurch ihm bestimmte Aspekte auffallen können, die vorher durch die Nähe im Schaffensprozess nicht bewusst wurden. Doch geht es keinesfalls darum, die Bilder oder Werke der Kinder zu deuten. Vielmehr sollte im Kind das selbstständige Nachdenken über die eigene Wahrnehmung und den Prozess der ästhetischen Praxis angeregt werden (Images Kap. 12). Der Pädagoge und Kindheitsforscher Gerd E. Schäfer versteht den gesamten Prozess der Verarbeitung, u. a. mit seinen leiblichen und kognitiven Anteilen, als »Denken« und nutzt hierfür die Bezeichnung »ästhetisches Denken« (Schäfer, 2005, S. 117). Er stellt fest: »Es ist ein sehr weiter Begriff von Denken. Da sich dieses Denken im Verlauf der Entwicklung verändert, geht es also nicht um das Denken, sondern den Wandel des kindlichen Denkens« (Schäfer, 2010, S. 80). Anders gesagt: Gemeint ist ein »Denken in Situationen, in denen gehandelt wird« (ebd.). Eine weitere Möglichkeit, reflexive Distanz zum eigenen Werk zu erreichen bietet sich dadurch, dieses in Beziehung zu setzen mit anderen bildnerisch-ästhetischen Produkten von Kindern aus der KiTa oder auch aus Kultur und Kunst. Hier geht es nicht um Vergleiche im engeren Sinne, sondern um beziehungsreiche Anregungen. Ähnlichkeiten und Unterschiede werden hierdurch bewusst. Alternativen und mögliche Varianten werden vorstellbar, Flexibilität entsteht.

Durch Bewusstwerdung und Kommunikation wird letztlich die Kompetenz der ästhetischen Urteilsbildung gestärkt, die Fähigkeit, intensiver über zunächst spontan gefällte ästhetische Urteile nachdenken zu können. Die Kinder äußern sich dann nicht nur, ob ihnen etwas gefällt oder nicht (»Das ist cool!«), sondern auch – freilich altersgemäß –, warum (»Das ist cool, weil …!«). Dies bietet die Chance, sein eigenes Leben in kulturellen und ästhetischen Anteilen später bewusster gestalten zu können.

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