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Friedrich Dönhoff

Seeluft

Ein Fall für
Sebastian Fink

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien

2013 im Diogenes Verlag

Umschlagfoto von Friedrich Dönhoff

Copyright © Friedrich Dönhoff

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24295 9 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60285 2

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

 

[5] Für Lavinia, Jacob und Celeste

 

[7] Es ist dunkel. Die Hand zittert. Der Daumen drückt auf den Knopf der Fernbedienung. Der Bildschirm leuchtet auf.

Ein Strand. In der Ferne zieht ein Containerschiff vorbei. Ein Junge mit Mütze schaut gegen die Sonne, lacht und haut mit einer roten Plastikschaufel auf die Sandburg. Das Bild wackelt. Eine Frauenstimme sagt: »Schau mal da!«

Der Junge dreht sich um. Ein weißes Kreuzfahrtschiff.

»Mit so einem fahren wir irgendwann einmal in die Karibik«, sagt die Stimme eines Mannes.

»Oder nach Schweden«, antwortet die Frau.

Der Junge versucht, die Schaufel in den Sand zu stecken, was ihm aber nicht gelingt.

[8] 1

Maik Keilenweger knallte die Mappe mit den Unterlagen auf den Schreibtisch. Er war müde, die Sitzungen schafften ihn. Seine Armbanduhr zeigte Viertel nach fünf, eigentlich hätte er sich einen Whisky genehmigen können. Doch Isabelle hasste es, wenn er bei ihr ankam und schon nach Alkohol roch. Er setzte sich in den alten Ledersessel und streckte die Beine aus.

Seine Gedanken gingen zurück zur Sitzung. Was hatte sie nun gebracht? Klar, die Zeiten waren nicht leicht, und die Konkurrenten standen auch nicht viel besser da. Aber für die Reederei Köhn galten eben andere Maßstäbe. Meere und Handelswege sollten vor ihr liegen, nicht andere Reedereien, die ihre Geschäfte besser verstanden. Das war der Maßstab des Seniors gewesen, und der galt noch immer, obwohl Keilenweger bereits vor Jahren die Leitung der Firma übernommen hatte. In der Sitzung hatte er genau das in aller Deutlichkeit gesagt, nachdem Alberto Cruz-Schneider versucht hatte, seine miesen Zahlen für den Bereich Südeuropa schönzureden. Da war Keilenweger der Kragen geplatzt, und er hatte ihn vor versammelter Mannschaft fertiggemacht.

Nein, Spaß gemacht hatte es ihm nicht. Keine dieser Sitzungen machte ihm noch Spaß. Wäre da nicht [9] Penelope gewesen, wäre er womöglich gar nicht mehr hingegangen.

Maik Keilenweger lehnte sich zurück, schloss die Augen und dachte an die Praktikantin. Er ließ sich ihren Namen auf der Zunge zergehen, und mit jeder Silbe stellte er sich vor, wie er sie entblätterte:

Pe – für die Bluse, so eng, als wäre sie aufgemalt.

Ne – für den Büstenhalter aus fast unsichtbarer Spitze.

Lo – für den Rock, der sich um ihren kleinen Arsch schmiegte.

Pe – für den Rest.

Er lockerte gerade seinen Krawattenknoten, als es klopfte.

»Die Personalakte«, sagte die Sekretärin laut flüsternd. »Ich hoffe, Herr Cruz-Schneider hat nichts bemerkt. Er hat so komisch geguckt.«

Typisch die alte Bischof, dachte Keilenweger, immer ängstlich, immer besorgt. »Haben Sie jemals erlebt, dass Cruz nicht komisch guckt?« Er öffnete die Akte, blätterte, nahm ein paar Seiten heraus und steckte sie in seine Ledertasche. Im Augenwinkel sah er, dass die Bischof vorsichtig mit einem Blatt Papier wedelte.

»Hier ist noch etwas«, sagte sie.

Er nahm das Blatt entgegen, und die Sekretärin sagte mit Entrüstung in der Stimme: »Diese Verbrecher wollten in ein Schlauchboot steigen. Man hat Farbe sichergestellt…«

»Schlauchboot? Farbe?« Keilenweger lachte. »Hören Sie auf!«

Das Papier war ein Fax, ein Flugblatt der [10] Umweltorganisation Ökopolis. Keilenweger überflog den Text und stöhnte. Die alte Leier: Schiffe verpesten die Umwelt mehr als Autos und Flugzeuge, bla, bla, bla. Umweltfreundlicherer Treibstoff sollte benutzt werden… danke, auf die Idee sind wir auch schon gekommen. Aber mit teurem Öl gehen die Reedereien pleite, Hunderttausende Arbeitsplätze lösen sich in der sauberen Luft auf. Und dann? – Keilenweger schaute hoch, und Frau Bischof zuckte die Schultern.

Genau so hatte er es den Freizeitaktivisten von Ökopolis gesagt, aber das wollten die natürlich nicht hören. »Umweltfuzzis«, schimpfte Keilenweger, knüllte das Papier zusammen und warf es in den Papierkorb. »Verwöhnt und beschränkt – alle miteinander. War sonst noch was?«

Nachdem die Sekretärin gegangen war, drehte er seinen Sessel um einhundertundachtzig Grad. Er liebte den Blick auf den Hamburger Hafen und die Elbe, die wie ein grandioses Modell vor ihm lagen. Nur gut, dass sie damals mit der Firma in den zwölften Stock des neugebauten Büroturms gezogen waren und nicht auf den Alten gehört hatten, der die neuen Räume lieber in einem der billigeren unteren Geschosse gesehen hätte.

Die neuen Hochhäuser waren erst vor wenigen Jahren zwischen Reeperbahn und Elbe hochgezogen worden und hatten den Stadtteil aufgewertet. Im Ausland und auch in Deutschland dachte man beim Stichwort St. Pauli noch immer in erster Linie an Bordelle und Amüsiermeile. Dabei hatte sich der Stadtteil stark verändert. Die Mieten stiegen seit Jahren kontinuierlich, [11] alteingesessene Bewohner, kleine Läden und Kneipen mussten St. Pauli verlassen. Die Zeiten änderten sich. Menschen kamen und gingen, Häuser wurden gebaut und wieder abgerissen, alles löste sich irgendwann auf, nur die Elbe floss immer weiter dahin. Maik Keilenweger schaute in die Ferne, in das Blau des beginnenden Abends, und plötzlich durchströmte ihn eine tiefe Melancholie. Er liebte sein Leben. Aber das würde er niemals laut sagen, schon um andere nicht zu provozieren.

Um 18.15 Uhr schritt er über den langen Flur Richtung Ausgang, vorbei an den gläsernen Zellen, in denen die Mitarbeiter sich plötzlich gerade hinsetzten und konzentriert auf die Bildschirme blickten. Gut so. Als er auf den Fahrstuhl wartete und gegen die silbernen Metalltüren starrte, dachte er darüber nach, warum ihn Alberto Cruz-Schneider so ankotzte. Waren es seine schneeweißen Zähne oder dieser dümmliche Stolz, mit dem er seine ausgefallenen Anzüge trug? Seine widerliche glatte Haut, die mit Gel angeklatschte Frisur, oder beides? Statt sich ständig um sein tolles Aussehen zu kümmern, sollte sich der Spanier lieber auf das konzentrieren, wofür er bezahlt wurde. Egal, die Sache würde sich eh bald erledigt haben.

Maik Keilenweger war eben in den Aufzug gestiegen, als plötzlich in der Bauchgegend die Nadeln wieder zustachen, zehnmal, hundertmal in der Sekunde. Er lehnte an die Wand, hielt sich den Bauch. Kalter Schweiß brach ihm aus, rann vom Nacken in den Kragen und den Rücken hinunter. Er krümmte sich. Als der [12] Aufzug unten angekommen war, hatte es wieder aufgehört, und der Schmerz im Bauch war nur noch wie das ferne Flackern eines abklingenden Gewitters wahrzunehmen. Alles wie beim letzten Mal. Keilenweger atmete tief ein und wieder aus. Er hasste Ärzte, aber in der kommenden Woche würde er wohl doch einen dieser Quacksalber aufsuchen müssen, auch auf die Gefahr hin, dass er sich anhören müsste, er wäre mit zweiundfünfzig ja auch nicht mehr der Jüngste.

Um 18.22 Uhr verließ er mit durchgedrücktem Rücken den Büroturm, in der Hand die Aktentasche, über dem Arm den Sommermantel. Einen Moment blieb er auf dem Vorplatz zwischen den Hochhäusern stehen, um in seinen Körper hineinzuhorchen. Aber da war nur Friede – und ein Gefühl der Dankbarkeit, das sich in ihm wie eine liebliche Droge ausbreitete. Er überlegte, ob er Isabelle nicht ein kleines Geschenk mitbringen sollte. Zum Beispiel ein paar leckere Schweinereien aus dem Feinkostgeschäft? Es wäre außerdem eine schöne Gelegenheit nachzusehen, welche von den süßen Miezen heute hinterm Tresen bediente.

Sechzehn Minuten später stand er mit einer prall gefüllten Tüte neben seinem Mercedes und zog einen Strafzettel hinter dem Scheibenwischer hervor. Um 18.57 Uhr parkte er bereits in der Großen Elbstraße, nicht weit vom Wasser entfernt. Auf der anderen Seite des Flusses wurde ein Frachter mit Containern beladen. Keilenweger kniff die Augen zusammen und erkannte eines der Schiffe der Reederei Köhn. Als er das Autofenster schließen wollte, vertat er sich im Knopf: Die [13] Scheibe ging nicht rauf, sondern runter. Kleine rosafarbene Blüten wehten herein und verteilten sich auf den dunkelblauen Ledersitzen. Vergnügt sammelte Keilenweger sie auf.

Dann ging er die schmale Gasse hinauf, begleitet von den Strahlen der tiefstehenden Sonne, die das jahrhundertalte Kopfsteinpflaster mit einem goldenen Schimmer überzog. Er ging mit leichtem Schritt darüber hinweg, nahm fast hüpfend die Stufen hinauf zur Carsten-Redder-Straße.

Als er um 19.05 Uhr in die Buttstraße einbog, erstarrte er. Was machte der denn da? Woher kannte er überhaupt Isabelles Adresse? Keilenweger wollte sich schnell hinter ein parkendes Auto ducken, aber zu spät, ihre Blicke hatten sich schon getroffen. Keilenweger tat, als würde er etwas vom Boden aufheben, und ging mit großen Schritten auf das Haus zu. Das hätte nicht passieren dürfen, dachte er, und er versuchte zu lächeln.

[14] 2

Um kurz vor sieben Uhr fuhr Sebastian in eine Parklücke vor dem Dammtorbahnhof, zog die Handbremse, stellte den Motor ab und sprang aus dem Auto. Er lief quer über den Radweg, kletterte über die halbhohe Absperrung, rannte in das Gebäude und schaute zur Anzeigentafel. Ankunft City Night Line 2168 aus München – Gleis drei. Der Zug hatte zwanzig Minuten Verspätung.

Plötzlich hatte er Zeit. Er ging durch die Halle und bestellte bei der Bäckereiverkäuferin eine heiße Schokolade to go. Die Frau sah ihn ungläubig an, und er wiederholte seinen Wunsch. Mit dem Pappbecher in der Hand schlenderte er in aller Ruhe zur Treppe, die zum Bahnsteig für die Fernzüge führte. Hier oben am Gleis war um die Zeit kein Mensch zu sehen. Erst vergangene Woche, total kurzfristig, hatte Wanda sich angekündigt. Sebastian konnte sich nicht erinnern, wann er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Und warum sie nach so vielen Jahren plötzlich nach Hamburg kam, um ihn zu treffen, wusste er auch nicht.

Er warf den Pappbecher in den Mülleimer, schob die Hände in die Hosentaschen und schaute nach oben. Auf den Querstreben unterhalb des gewölbten Dachs [15] hockten aufgeplusterte Tauben. Das Sonnenlicht fiel durch die riesigen Fenster und brachte den hellen Sandstein zum Leuchten. Der Dammtorbahnhof war der schönste Bahnhof von Hamburg. Vor hundert Jahren gab es hier sogar noch ein Extragleis für den Kaiser.

Die Zugbremsen kreischten, Sebastian trat einen Schritt zurück und ließ die Reisenden vorbei, die nacheinander aus den schmalen Türen stiegen. Viele waren es nicht, die meisten waren, wie immer, schon am Hauptbahnhof ausgestiegen. Er erkannte niemanden. Erst als der Bahnsteig schon fast leer war, sah er ganz am Ende eine zierliche Person, die sich über zwei Taschen bückte. Er ging ihr entgegen.

Sie trug einen Trenchcoat, darunter eine weiße Bluse mit offenem Kragen, eine dunkle Hose und Turnschuhe. Sebastian grinste: Es war dieselbe Marke, die er auch trug. Die Falten in Wandas braungebranntem Gesicht waren ihm früher nicht aufgefallen. Ihre blauen Augen musterten ihn. »Du bist groß geworden«, sagte sie.

Er lachte. »Und du hast dich nicht verändert.«

Dann umarmten sie sich. Er nahm ihr eine Tasche ab, die kleinere wollte sie selber tragen. Als sie nebeneinander hergingen, dachte er, dass seine Großmutter kleiner und zierlicher war, als er sie in Erinnerung hatte. »Wie war die Fahrt?«, fragte er.

»Ich habe die halbe Nacht im leeren Speisewagen gesessen und hinausgeschaut.«

Er schob ihre Gepäckstücke in den kleinen Kofferraum zwischen seine Joggingschuhe und die Sporttasche. Als er die Klappe schloss, schepperte die Ablage.

[16] »Danke«, sagte Wanda, als sie im Auto saßen.

»Wofür?«

»Na, dass du mich abholst.«

»Ist doch selbstverständlich«, sagte er. Aber was war in seiner Familie schon selbstverständlich?

Sie fuhren Richtung Alster, und der Verkehr auf der Alsterglacis floss zäh. »Wie lange bleibst du?«, fragte er, blinkte und wechselte die Spur. »Besuchst du Mama und Papa?«

»Ich dachte, ich miete in den nächsten Tagen ein Auto und fahre mal rüber nach Lübeck.«

Er lauschte nach einem Unterton und schaute zu ihr hinüber, um ihr Gesicht zu sehen, aber da war nichts. »Du solltest dich anschnallen«, sagte er.

Wanda winkte ab: »Ich schnalle mich nie an.«

»Das sage ich nicht nur, weil ich Polizist bin.«

Umständlich zog Wanda am Gurt. Sie hatte ihn gerade eingesteckt, da kamen sie in einen Stau. Im Schritttempo fuhren sie über die Kennedybrücke, eine der beiden Brücken, die die Binnen- von der Außenalster trennte. Vor den prächtigen Häuserfassaden am Jungfernstieg schoss die Fontäne in die Höhe.

Das Hotel Selbach in Stadtteil Uhlenhorst war eine kleine Villa. Wanda hatte sich für das Haus entschieden, weil die Alster ganz in der Nähe war, und ihr Zimmer übers Internet gebucht. Sie verabredeten, dass Wanda sich kurz frischmachte und sie dann gemeinsam in einem der Cafés am Wasser frühstücken würden.

Der Rezeptionist, ein junger Typ mit streng gescheiteltem Haar, schaute auf seinen Bildschirm, bewegte [17] kaum merklich seinen Kopf, zog die Augenbrauen nach oben, dann die Mundwinkel nach unten. Dann stellte er fest, dass für Dr. Wanda Kellermann bedauerlicherweise keine Reservierung vorläge. Sie hätte die Internetbuchung bestätigen müssen. Er bot an, sich bei anderen Hotels nach einem freien Zimmer zu erkundigen, aber weil Messe sei, würde es nicht einfach werden.

Wanda drehte sich seufzend zu Sebastian um und sagte: »Das tut mir leid, dass ich jetzt so viele Umstände mache.«

In dem Moment vibrierte sein Handy in der Hosentasche. Er schaute auf das Display, entschuldigte sich und ging ein paar Schritte zum Fenster, wo er zwischen Klubsesseln und Grünpflanzen das Gespräch annahm.

»Ich hoffe, du hast gut geschlafen«, sagte Jens.

»Ich muss mich gerade um meine Großmutter kümmern. Was gibt’s?«

»Einen Toten.«

»Wo?«

»Buttstraße, beim Fischmarkt.«

Sebastian schaute zum Rezeptionisten rüber, der den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt hatte. Wanda lehnte an der Theke. Sie sah müde aus.

»Ich bin gleich da«, sagte Sebastian.

Er ging zurück zu seiner Großmutter und legte einen Arm um ihre Schulter. »Du wohnst heute bei mir«, sagte er. »Nimm ein Taxi und lass dir das Gepäck hochbringen. Hier«, er legte ihr seinen Wohnungsschlüssel auf die Theke, »ich melde mich, sobald ich kann.«

[18] 3

Es war Viertel vor acht, als Sebastian die Große Elbstraße in Altona erreichte. Die alte Fischauktionshalle ließ er links liegen und bog nach etwa zweihundert Metern rechts in eine kopfsteingepflasterte Gasse. Sebastian schaltete einen Gang herunter und steuerte den Wagen noch ein Stück bergauf, um eine kleine Kurve herum, bis er das weiß-rote Band sah, mit dem die Kollegen den Weg gesperrt hatten. Sebastian stieg aus. Die Morgensonne wärmte bereits. Irgendwo lärmten ein Betonmischer und andere Baumaschinen.

Die Buttstraße war eng und abschüssig. Auf ihrer rechten Seite parkte eine Reihe Autos unter Kirschbäumen, deren Kronen in voller Blüte standen. Die rosafarbenen Blüten wehten leise durch die graue Schlucht, tanzten über Autodächer und Kopfsteinpflaster und sammelten sich am Straßenrand im Rinnstein. Bei zwei der Autos standen Polizeibeamte, Notärzte, Männer vom Bestattungsinstitut und Gerichtsmediziner in weißen Overalls. Auch Jens war da, in seiner abgewetzten braunen Lederjacke. Sebastian grüßte knapp in die Runde.

Das Erste, was er von dem Toten sah, waren die Schuhspitzen, die zwischen den Autos hervorlugten. [19] Der gekrümmte Körper lag zur Hälfte unter einem großen Pick-up-Wagen, der rechte Arm unter einem Kleinwagen. Der Mantel war aus teurem Stoff, die Schuhsohlen aus Leder. Sebastian ging um das Fahrzeug herum und betrachtete die Leiche von der anderen Seite. Blut am Hinterkopf, Spritzer auf dem Bürgersteig bis zu einem Meter von dem Körper entfernt, von der Spurensicherung bereits markiert. An der rechten Hand ebenfalls Blut. Das Gesicht war kantig, die Lippen schmal. Das dichte dunkle Haar war von grauen Strähnen durchzogen.

Jens berichtete, dass ein Briefträger den Mann entdeckt und den Notarzt gerufen habe. Er reichte Sebastian den Personalausweis, den er dem Portemonnaie des Toten entnommen hatte. Auf dem Foto schaute der Mann mit hellen Augen in die Kamera, ein wacher Blick mit einem Funken Misstrauen. Der Name des Toten: Maik Keilenweger, geboren am vierten Dezember 1961, wohnhaft Am Felde, Bönningstedt, zwanzig Kilometer nördlich von Hamburg.

»Er war der Boss der Reederei Köhn«, sagte Jens. »Kennst du die?« Er reichte Sebastian eine Visitenkarte, die ein schlichtes Logo hatte, das Sebastian irgendwo schon einmal gesehen hatte. »Vierhundert Euro, zwei Hunderter, vier Fünfziger, sind im Portemonnaie und ein bisschen Kleingeld in den Hosentaschen. Außerdem trägt der Mann eine Uhr, ein sauteures Teil, wenn du mich fragst. Raubüberfall scheidet wohl aus.«

»Abwarten«, sagte Sebastian. Jens urteilte manchmal zu schnell, dabei war das Erste, das sie während ihrer [20] gemeinsamen Zeit in der Polizeischule gelernt hatten: Jederzeit für alle Möglichkeiten offen bleiben.

»Streber«, gab Jens zurück.

»Er ist auf jeden Fall schon mehrere Stunden tot«, sagte unvermittelt der Gerichtsmediziner, der sich zu ihnen gestellt hatte.

»Gehts vielleicht etwas präziser?«, fragte Jens.

Der Mann im weißen Overall wiegte bedächtig den Kopf: »So zwischen sechs und neun Stunden.«

»Also heute Nacht zwischen halb elf und halb zwei gestorben«, fasste Jens zusammen. »Erstaunlich, dass so lange niemand die Leiche entdeckt hat, oder?«

Sebastian schaute sich um. In diesem Abschnitt der Straße gab es nur zwei Wohnhäuser. Hinter der hohen Mauer mit den winzigen dunklen Fenstern befand sich wohl so etwas wie ein Institut. Wenn überhaupt, kamen hier am Abend vermutlich nur wenige Menschen entlang. Außerdem lag der Tote zwischen den Autos so versteckt, dass man ihn, vor allem in der Dunkelheit, kaum sehen konnte. Sebastian zählte in der Reihe zehn abgestellte Fahrzeuge und bat Jens, die Namen der Halter ausfindig zu machen und sie zu fragen, um welche Uhrzeit sie geparkt hatten und ob ihnen etwas aufgefallen sei. Vielleicht gehörte ja auch eines der Autos dem Toten.

»Ist der Mann schon vermisst gemeldet?«, fragte Sebastian.

Jens schüttelte den Kopf.

»Handy?«

»Seit gestern Nachmittag kein einziger Anruf.«

[21] Der Gerichtsmediziner räusperte sich und erklärte, dass die Wunde am Hinterkopf wohl von der Kante des Bordsteins stammte. Wahrscheinlich sei der Mann ausgerutscht und unglücklich gefallen.

»Wo genau, meinen Sie, ist er ausgerutscht?«, fragte Sebastian.

»Am Bordstein selbst.«

»Wäre er dann nicht auf dem Gehweg gelandet? Um zwischen den Wagen zu enden, hätte er seltsam herumtänzeln müssen. Außerdem liegt er mit den Füßen zur Straße. Da ist es doch wahrscheinlicher, dass er auf der Straße ausgerutscht ist – zum Beispiel auf den Kirschblüten – und hintenüber in die Parklücke gefallen ist.«

»Aber dann hätte er sich an den Autos abgestützt und wäre nicht so heftig aufgeschlagen«, wandte Jens ein.

Auch das war richtig.

»Was denkst du?«, fragte Sebastian.

»Hier oder dort ausgerutscht – erschrocken – Herzinfarkt – dann auf dem Bordstein aufgeschlagen«, meinte Jens und fuhr fort: »Schwerverletzt – noch bewegt – unter das Auto gerutscht – gestorben. Und niemand hat es bemerkt.«

»Also nur ein dummer Unfall?«, fragte Sebastian. Er betrachtete die Leiche noch einmal. Was machte der Typ so spät am Abend in dieser Gegend? War er vielleicht in einem der noblen Restaurants unten an der Elbe gewesen?

Sebastian ging die Buttstraße hinunter. Die Gehwegplatten waren aufgerauht, damit man nicht rutschte. Die Wohnhäuser an der Kreuzung waren aus rotem Klinker, [22] die Balkongeländer grün – Sozialbau der achtziger Jahre. Sebastian bog nach rechts in die De-Voß-Straße ein und folgte ihr ein paar Schritte, bis die Elbe in Sicht kam. Ein Frachtschiff, beladen mit Tausenden Containern, die wie bunte Bauklötze aussahen, bewegte sich in Zeitlupe vorbei. Sebastian betrachtete die Fassaden ringsum. Alte Gemäuer und moderne Bauten waren hier ineinander verschachtelt. Das Ganze strahlte Unruhe aus.

Er schloss die Augen. Warum war der Manager gerade in dieser Gegend gestorben? Warum war sein Leichnam über so viele Stunden von niemandem bemerkt worden? War er wirklich nicht entdeckt worden?

Als plötzlich der gellende Schrei einer Frau durch die Straßen schallte, zuckte Sebastian zusammen. Zuerst dachte er, der Schrei sei von links gekommen, wo die Baustelle lag, aber das war ein Echo. Der Schrei kam von drüben aus der Buttstraße. Sebastian sprintete zurück.

Mitten auf der Straße stand eine Frau von vielleicht Ende zwanzig in einem langen, schwarzweiß gemusterten Mantel. Sie starrte auf die Leiche. Ihre großen Locken waren feuerrot, die Gesichtsfarbe auffallend hell. Plötzlich ging sie in die Knie, als wollte sie beten.

Sebastian hockte sich zu ihr, legte vorsichtig seine Hände auf ihren Arm. Als sie wieder Luft holte, schüttelte er sie sanft, sie ächzte.

»Sie kennen den Mann?«, fragte Sebastian.

»Was ist passiert?«, stieß die Frau hervor.

»Das wissen wir noch nicht. Wohnen Sie hier in der Gegend?«

[23] Die Frau zeigte auf das Patrizierhaus schräg hinter ihr, das mit seinen stuckverzierten Fassaden wie ein großes Tortenstück aussah. Sebastian bedeutete dem Notarzt mitzukommen.

Mit großen Schritten ging die Frau vor, als würde eine unsichtbare Kraft sie von dem Unfallort wegdrängen. Sie öffnete eine schlichte Kassettentür, von der die Farbe unten an der Stelle absplitterte, wo sie täglich mit Hilfe von Schuhspitzen und Einkaufstüten aufgedrückt wurde. Die Frau eilte, ohne sich nur einmal umzudrehen, durch das Treppenhaus hinauf bis in die oberste Etage. Während sie die Wohnungstür aufschloss, las Sebastian den Namen »Seidel« auf dem Klingelschild.

Es war ein Dachausbau mit niedrigen Decken, aber einem großen Raum mit Wohnzimmer und offener Küche. Auf der Theke stand ein Frühstücksgedeck für eine Person: ein schneeweißer Teller, ordentlich beigelegtes silbernes Besteck, ein Becher mit der Aufschrift »Luna«, zwei Gläser Marmelade, ein Stück Butter auf einem kleinen Teller, Salz- und Pfefferstreuer. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums befanden sich ein graues Sofa, zwei schwarze Sessel und ein länglicher gläserner Beistelltisch, auf dem eine große Muschel inmitten kleinerer Muscheln lag.

Die Frau fiel in einen der Sessel, Sebastian setzte sich an den Rand des Sofas und fragte mit ruhiger Stimme: »Sind Sie Frau Seidel?«

Sie nickte langsam: »Isabelle Seidel.«

»Darf ich fragen, woher Sie Herrn Keilenweger kannten?«

[24] Ihr Blick wanderte über den Dielenboden hin und her. Ihr langer weißer Zeigefinger wickelte sich in eine ihrer roten Locken, und für einen Moment musste Sebastian an die rot-weiß gestreiften Hütchen im Straßenverkehr denken.

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«, fragte Sebastian.

»Gestern Abend.«

»Hier?«

Die Frau weinte. Sie nickte und versuchte, etwas zu sagen, aber den Worten kamen Schluchzer zuvor.

»Wann hat Herr Keilenweger die Wohnung verlassen?«

Frau Seidel versuchte sich zu konzentrieren. »Ungefähr um halb zwölf«, sagte sie.

Neben einem Setzkasten hing eine afrikanische Maske aus tiefbraunem Holz, die auf der weißen Wand schön zur Geltung kam. Sebastian fiel auf, dass die Wohnung frisch renoviert war. Er bat den Notarzt, noch eine Weile bei Frau Seidel zu bleiben, und verabschiedete sich.

[25] 4

Sebastian wickelte das Papier um die restliche Schokolade und verstaute die Tafel in der untersten Schublade seines Schreibtisches. Drei Monate hatte er sich vorgenommen, drei Wochen durchgehalten. Jetzt versuchte er, den Schokoladenkonsum wenigstens auf einen Riegel pro Tag zu beschränken. Sebastian schob die Büroklammern in den kleinen Behälter, legte Notizbuch und Stift bereit und hörte Jens und Pia draußen auf dem Gang lachen. Kurz darauf klopfte es, und die Kollegen traten ein.

»Alles okay bei euch?«, fragte Sebastian und warf einen Hefter mit losen Blättern auf den Stapel rechts hinten.

Pia setzte sich auf den einzigen freien Stuhl. Jens lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und blätterte in seinem Block.

»Schieß los«, bat Sebastian.

Jens fasste zusammen: Maik Keilenweger, 52, war verheiratet, wohnhaft in Bönningstedt. Ehefrau Constanze, 49, nicht berufstätig. Zwei erwachsene Kinder: Tochter Gesa, 30, arbeitete als Goldschmiedin in Hamburg-Eppendorf, wo sie auch lebte. Sohn Henning, 29, Zahnarzt in einer Gemeinschaftspraxis in Poppenbüttel, [26] wohnte in Kauersort, einem Nachbarort von Bönningstedt. Die Reederei Köhn war ein mittelständisches Unternehmen mit Sitz in St. Pauli, im Astra-Turm, alteingesessen, guter Ruf. Dann schlug Jens seinen Block zu und schaute seine Kollegen erwartungsvoll an.

Sebastian erzählte von dem Besuch bei Frau Seidel.

»Also war sie Maik Keilenwegers Geliebte«, stellte Jens fest.

Pias Blick durch die Nickelbrille war nicht zu deuten. »Er ist von niemandem als vermisst gemeldet worden«, sagte sie. »Auch nicht von seiner Ehefrau.«

»Vielleicht denkt sie, er sei auf Geschäftsreise«, warf Jens ein.

Sebastian bat ihn, mit den Kollegen Sörensen und Janssen und wenn nötig mit zwei weiteren Beamten zur Buttstraße zurückzufahren und eine Nachbarschaftsbefragung durchzuführen. Dann nahm er seine Jacke vom Haken. Eine der schwersten Aufgaben stand nun an, eine Aufgabe, die Sebastian hasste und für die er Pias Unterstützung brauchte: Er musste die Ehefrau über den Tod ihres Mannes informieren. Wieder würde er zusehen müssen, wie eine Welt zusammenbrach. Ein Kommissar sollte sich da gefühlsmäßig heraushalten, aber das war Theorie. In der Praxis nahmen solche Szenen Polizisten mehr mit, als sie zugeben mochten.

Zu zweit stiegen sie in den Fahrstuhl. Sebastian beruhigte es, Pia dabeizuhaben. Seit er den ersten Fall als Hauptkommissar übernommen hatte, gehörte sie zu seinem Team. Mit ihrer Nickelbrille, dem Pulli und dem sportlichen Gang strahlte sie etwas Kumpelhaftes aus. [27] Wenn sie lächelte, was leider selten geschah, sah man, wie attraktiv sie eigentlich war. Ob sie in einer festen Beziehung lebte oder nicht, hatten Jens und Sebastian noch nicht herausgefunden, und von sich aus gab sie nur sehr selten etwas aus ihrem Privatleben preis.

Sie fuhren auf die A7 Richtung Norden, erreichten die Abfahrt Schnelsen schon nach wenigen Minuten und fuhren auf einer Landstraße weiter.

»Geht’s dir gut?«, fragte Pia unvermittelt.

Sebastian schaute erstaunt zu ihr hinüber. Er konnte sich nicht erinnern, dass Pia ihn jemals so direkt nach seinem Befinden gefragt hätte.

»Ganz okay«, antwortete er und überlegte schnell, ob er von Wandas Besuch erzählen sollte. »Meine Großmutter…«, begann er, sprach aber aus irgendeinem Grund nicht weiter.

»Deine Großmutter?«, wiederholte Pia.

»Sie kam heute früh aus Basel.«

»Aha«, sagte Pia.

»Es gab kein Hotelzimmer mehr, und jetzt wohnt sie erst einmal bei mir.«

Pia schaute ihn von der Seite an, zuckte einmal die Schultern. »Ist doch nett.«

»Ja, vielleicht.«

Pia guckte aus dem Fenster. »Ich müsste meine Oma mal wieder anrufen. Vielleicht mache ich das heute Abend.«

[28] 5

Umgeben von dichtem Grün lag das Grundstück außerhalb des Ortes. Licht fiel durch die Bäume und warf gesprenkelte Schatten auf den weißen Kiesboden. Eine kleine steinerne Treppe führte hinauf zur Eingangstür des hundert Jahre alten renovierten Gutshauses. Die Tür war aus hellblau gestrichenem Holz. An der Wand daneben befand sich ein gusseiserner Klingelknopf. Sebastian drückte.

Es rauschte in den Bäumen. Von irgendwoher war der Ruf eines Pfaus zu hören. Sebastian und Pia wechselten einen Blick. Dann klingelte Sebastian noch einmal. Die Tür blieb verschlossen.

Sie gingen über den Kies, schauten in eines der Fenster: An einer Garderobe hingen ein paar Mäntel und Jacken, ein Spiegel war zu sehen, Als sie um die Ecke des Hauses bogen, blieben sie beide gleichzeitig stehen. An der Seitenwand prangten mehrere frische Farbkleckse, ganz offensichtlich von Farbbeuteln. Sie mussten von einigen Metern Entfernung mit Kraft geworfen worden sein. Wie ein Kunstwerk wirkten die leuchtenden Farben auf den verwitterten Steinen.

Sebastian schaute noch auf die Hauswand, als er einen surrenden Ton vernahm. Er drehte sich um, aber es war [29] nur noch das Rauschen der Eichen zu hören. Kurz darauf war es jedoch wieder da: ein gleichmäßiges Surren, und dazu etwas, das wie ein angestrengtes Stöhnen klang.

»Hallo!«, rief Sebastian.

Sie gingen weiter. An der Ecke zur Vorderseite des Gebäudes öffnete sich der Blick auf einen großen Rasen, der auf der linken Seite von einer langen Rosenhecke eingegrenzt war. Weiter hinten, auf der rechten Seite, war ein Schwimmbad. Auf der großzügigen Veranda strampelte auf einem Trimm-dich-Rad eine Frau mit blondem Pferdeschwanz, dazu trug sie ein Stirnband und eine leuchtend gelbe Gymnastikhose. Um ihren Hals lag ein Handtuch, an ihrem Unterarm war ein Pulsmesser befestigt. Als sie Sebastian bemerkte, drosselte sie die Geschwindigkeit und zog zwei Stöpsel aus den Ohren.

»Sind Sie Frau Keilenweger?«, fragte Sebastian und dachte dabei, dass sie eigentlich etwas zu jung dafür aussah.

»Bin ich. Und wer sind Sie?«

»Sebastian Fink, Kripo Hamburg. Meine Kollegin Pia Schell.«

Die Frau rollte die Augen. »Schon wieder die Nachbarn? Au Mann, die nerven! Halt, bevor Sie anfangen, will ich mich schnell umziehen.« Ohne die Antwort abzuwarten, stieg sie vom Rad, eilte mit kleinen, schnellen Schritten über die Veranda und verschwand im Haus.

Wenn Constanze Keilenweger sich wohler fühlte, war es für das bevorstehende Gespräch nur von Vorteil, [30] dachte Sebastian. Aber die Verzögerung trieb seine Nervosität weiter in die Höhe.

»Nachbarn?«, murmelte Pia.

»Keine Ahnung, was sie meint«, gab Sebastian zurück.

Im obersten Stockwerk ging ein Fenster auf, und Frau Keilenwegers Gesicht erschien. »Sie können gerne reinkommen«, rief sie, »da ist auch Kaffee, wenn Sie mögen.«

Die letzten unbeschwerten Minuten, dachte Sebastian. Er hätte es dieser Frau gerne erspart.

Pia und er traten durch die Verandatür in einen größeren Salon. Über dem Geruch von abgestandenem Zigarettenrauch lag eine süßliche Note. In einer Vase in der Ecke stand ein Strauß langstieliger Rosen. Rhythmische Musik pulsierte leise durch den Raum. Es war Clubmusik aus einem der nördlichen Länder, Norwegen oder Schweden, Sebastian hatte sie erst neulich im Lagerhaus gehört.

Auf dem Kaminsims standen eingerahmte Fotos. Sebastian und Pia gingen näher heran. Maik und Constanze Keilenweger und zwei Kinder, vermutlich Gesa und Henning, die in unterschiedlichen Altersstufen zu sehen waren. Sebastian bemerkte, dass sie chronologisch aufgestellt waren, er aber rückwärts schaute: Von Aufnahme zu Aufnahme wurden die beiden Kinder kleiner, die Eltern verjüngten sich. Auf einem der Bilder erkannte Sebastian den Salon, in dem Pia und er standen. Das Foto zeigte die Familie auf einem roten Sofa mit goldenen Punkten. Die Eltern saßen in der [31] Mitte, die Kinder rechts und links auf den Lehnen. Sebastian drehte sich um: Da stand das Möbelstück. Die Familie hingegen existierte nicht mehr. Jedenfalls nicht in der Konstellation, die die Bilder dokumentierten.

Sebastian schaute nach oben, als könnte er durch die Decke hindurchsehen. Wo blieb die Frau?

Zwei Minuten später erschien Constanze Keilenweger barfuß und nahezu lautlos im Wohnzimmer. Ihre engen, knöchellangen Jeans und das malvenfarbene Top betonten ihre trainierte Figur. »Ich kann Ihnen doch nicht in meinem Sportoutfit gegenübersitzen«, sagte sie fröhlich.

Sie war eine attraktive Frau mit einem feingeschnittenen Gesicht, großen Augen und einem breiten Lächeln. Mit einer Geste bat sie die Gäste, Platz zu nehmen. Sie zündete sich eine Zigarette an und ließ sich gegenüber in einen Sessel fallen.

Pia und Sebastian setzten sich nebeneinander auf das gepunktete Sofa.

»Was hat die Nachbarn denn diesmal gestört?«, fragte Frau Keilenweger.

»Wir haben eine traurige Nachricht«, sagte Sebastian.

Constanze Keilenweger blies irritiert den Rauch aus. »Ist was mit Henning?« Jetzt sprang ihr Blick alarmiert von Pia zu Sebastian und wieder zurück. »Gesa?«

»Es tut mir sehr leid, Ihnen das sagen zu müssen. Es geht um Ihren Mann. Er ist tot.«

Constanze Keilenweger schaute Pia an, als könnte [32] die fremde Frau auf ihrem Sofa die Information korrigieren.

»Er ist gestern in der Buttstraße, in der Nähe vom Fischmarkt, gestorben. Die genaue Ursache ist nicht bekannt und wird noch ermittelt.«

Frau Keilenweger legte die Zigarette in einen flachen Aschenbecher. Sie drückte die Hände an ihre Wangen, als wollte sie ihre Wangenknochen hochschieben. »Um Gottes willen«, flüsterte sie.

»Es tut mir sehr leid«, sagte Sebastian noch einmal.

Die Frau wandte den Blick ab und schaute ins Nichts. Dann nahm sie die Zigarette wieder in die Hand. Ihr Blick wanderte ziellos durch den Raum und blieb schließlich an einer blauen Thermoskanne hängen, die auf einem Seitentisch stand. »Wollten Sie keinen Kaffee?«

»Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen?«, fragte Sebastian.

Sie stand auf, fasste sich an die Stirn. »Ich kann es nicht glauben… Gestern Morgen muss das gewesen sein, als er zur Arbeit fuhr.«

»Wollte er am Abend nicht nach Hause kommen?«

»Eigentlich schon. Aber das weiß man bei ihm nie so genau…«

Sebastian überlegte, ob er die Frage wirklich stellen sollte. Doch es schien ihm wichtig: »Sagt Ihnen der Name Seidel etwas?«

Frau Keilenweger blies den Rauch mit Kraft aus. »Warum wollen Sie das wissen? Hat sie etwas damit zu tun?«

[33] »Das wissen wir noch nicht. Was können Sie uns über Frau Seidel sagen? Es tut mir leid, das fragen zu müssen.«

»Oh, mein Gott!« Constanze Keilenweger stand auf, ging hin und her, bückte sich und hob Rosenblätter vom Boden auf.

»Sie kennen Frau Seidel?«

Constanze Keilenweger zerdrückte die Rosenblätter in ihrer Faust und sah Sebastian an. »Ich möchte erst wissen, was die Frau damit zu tun hat, bevor ich etwas sage.«

»Wir ermitteln routinemäßig«, erklärte Pia, »Sie können alles sagen.«

Constanze Keilenweger setzte sich wieder. Sie legte die zerknüllten Rosenblätter in den Aschenbecher, zog ein letztes Mal an der Kippe und drückte sie neben dem zartrosa Häufchen aus. »Sie war die Geliebte meines Mannes«, sagte sie nüchtern, bevor sie stammelte: »Henning und Gesa. Ich muss…«

»Können wir Ihnen irgendwie helfen?«, fragte Sebastian.

»Danke. Nein, ich muss sie selbst informieren. Ich muss… Um Gottes willen.«

»Sie können uns jederzeit anrufen«, sagte Sebastian. Er legte eine Karte auf den Tisch. »Und bitte eines noch: Weil Sie Ihre Nachbarn erwähnt haben – gab es Probleme?«

»Bitte? Ach so. Ich weiß nicht… irgendeine Sekte. Die behaupten, wir wären zu laut. Immer ist irgendetwas. Neulich haben sie unser Haus mit Farbbeuteln beschmissen.«

[34] »Haben Sie es gesehen?«

»Was?«

»Wie die Nachbarn die Farbbeutel geschmissen haben.«

»Nein… Das haben die in der Nacht gemacht. Können nur die gewesen sein. Ich finde, es sieht sogar gut aus.«

Als sie wegfuhren, sah Sebastian im Rückspiegel Constanze Keilenweger. Die Frau, die seit wenigen Stunden Witwe war, stand barfuß auf der Steintreppe und sah aus wie ein zurückgelassenes Kind.

[35] 6

Sebastian setzte Pia vor dem Präsidium ab und lud Jens im fliegenden Wechsel auf. Der Kollege erzählte, dass die Nachbarschaftsbefragung in der Buttstraße und den angrenzenden Straßen von vier Beamten durchgeführt wurde. Noch gab es keine besonderen Ergebnisse. Gegen fünfzehn Uhr würde der Kollege Sörensen ins Präsidium kommen und Bericht erstatten. Sebastian schaute auf die Uhr. Bis dahin waren es noch etwas über zwei Stunden.

Das Ziel, auf das er jetzt zusteuerte, war wieder eines von der Sorte, die bei Kommissaren nicht sonderlich beliebt war: Haus Nord 81, das Institut für Rechtsmedizin im Universitätsklinikum Eppendorf.

In dem kühlen Raum, in den Sebastian und Jens eintraten, hing der süß-säuerliche Geruch unzähliger Leiber, die im Laufe vieler Jahre obduziert und aufgeschnitten worden waren, ein Geruch, den die Natur nicht verwehen konnte, weil es hier keine Natur gab, nur Kacheln und Sezierbesteck. Auf einer chromglänzenden Bahre, dem Abräumwagen einer Mensa ähnlich, lag die Leiche von Maik Keilenweger.

Der hagere Professor Szepeck begrüßte Sebastian und Jens mit einem kurzen Nicken und wandte sich dann [36] gleich der Leiche zu. »Wie die Kollegen schon vermutet haben, ist Herr Keilenweger nach hinten gefallen und mit dem Hinterkopf auf der Bordsteinkante aufgeschlagen. Er hat sich ein Schädel-Hirn-Trauma zugezogen und ist innerhalb weniger Minuten an einer Hirnblutung gestorben.«

»Konnte er sich nach der Verletzung noch bewegen?«, fragte Sebastian.

»Ist nicht auszuschließen.«

»Also könnte er dabei unter das parkende Auto gerutscht sein?«

Der Professor nickte. Sebastian ging um die Leiche herum. Auf ihrer rechten Seite waren an Arm und Hüfte Blutergüsse zu erkennen. »Sind die frisch?«

Der Professor nickte noch einmal. »Ich glaube, dass der Mann zuvor von einem Auto angefahren worden ist.«

»Wie bitte?«, entfuhr es Jens.

»Interessant«, sagte Sebastian. »Wie stellen Sie sich den Ablauf dann vor?«

»Herr Keilenweger befand sich gerade auf der Höhe der Lücke zwischen den beiden parkenden Wagen. Das fahrende Auto hat ihn dort erwischt und in die Lücke hineingehauen. Dabei ist er rücklings gefallen und mit dem Kopf auf die Kante des Bürgersteigs aufgestoßen.«

Das klang irgendwie eigenartig. Sebastian sagte: »Wenn der Mann mit Wucht angefahren worden wäre, wäre er an den Ecken der parkenden Autos abgeprallt und zur Seite auf die Straße gefallen und nicht in der schmalen Lücke zwischen den Autos gelandet, oder?«

[37] Die anderen schauten ihn an.

»Das bedeutet, dass das Auto langsam gefahren sein muss, nur so kann das Opfer in die schmale Lücke hineingedrückt worden sein.«

Die anderen nickten fast synchron.

»Wenn er aber langsam gefahren ist, muss doch der Fahrer den Aufprall bemerkt haben, nicht wahr? Dann stellt sich die Frage: Warum hat er nicht angehalten und den Notarzt oder die Polizei gerufen?«

»Typischer Fall von Fahrerflucht«, meinte Jens.

»Aber vielleicht ist noch etwas anderes passiert«, sagte Sebastian.

»Und das wäre?«

Sebastian hatte den Gedanken noch gar nicht entwickelt, es war nur ein Impuls gewesen. »Es ist doch so«, begann er noch mal von neuem, »wenn der Fahrer langsam gefahren ist, wofür auch die Enge und Kürze der Buttstraße sprechen, dann müsste er den Fußgänger eigentlich gesehen haben.«

»Das stimmt«, sagte Jens.

»Er sieht ihn«, sagte Sebastian, »und dann fährt er ihn an. Warum?«

Über die Leiche hinweg tauschten die Männer Blicke.

»Vielleicht meldet sich der Fahrer noch«, sagte Jens.

Sebastian glaubte nicht an diese Möglichkeit. Er hatte eher das Gefühl, dass sich hinter diesen Fakten eine größere, kompliziertere Geschichte verbarg.

»Ist die Todeszeit inzwischen klar?«, fragte er.

»Zwischen 23 Uhr und Mitternacht«, antwortete Professor Szepeck.

[38] Die Information passte zur Aussage von Frau Seidel, wonach Maik Keilenweger um 23.30 Uhr ihre Wohnung verlassen hatte. Der Mann hatte also den Abend bei seiner Geliebten verbracht und war kurz nach Verlassen des Hauses angefahren worden. Hatte der Mann einfach nur Pech gehabt?

Sebastian atmete einmal durch. Ihm wurde es unwohl. In der Gerichtsmedizin hielt er es nie lange aus.

Kurz darauf verließen Jens und er das Gebäude. Zwei Kinder spielten am Straßenrand, auf dem Dach eines parkenden Autos hüpfte eine Amsel, noch unentschieden, in welche Richtung sie fliegen sollte. Sebastian hielt sein Gesicht mit geschlossenen Augen in die Sonne, deren Wärme sich anfühlte wie warme Flüssigkeit.

»Ich habe Hunger«, sagte Jens. Er wusste, dass nicht weit eine Imbissbude war. Sie holten sich jeder einen Döner und setzten sich damit in die Sonne.

»Nach einer Leichenbeschauung ist das doch herrlich!«, sagte Jens. Aus dem Fladenbrot quollen Fleisch, Salat und eine rötliche Soße. Sebastian verging der Appetit.

»Über tausend Obduktionen müssen die im Jahr machen«, sagte Jens. »Das muss man sich mal vorstellen: tausend Körper…«

»Themawechsel!«, forderte Sebastian.

Jens hörte auf zu kauen und schaute ihn von der Seite an. »Marianne und Michael hören auf«, sagte er dann.

»Bitte?«

»Das Traumpaar der Volksmusik. Seit der Steinzeit regelmäßig im Fernsehen. Das ist Allgemeinbildung, ob [39] man Fan ist oder nicht.« Jens betrachtete seinen Döner. Bevor er wieder hineinbiss, sagte er kopfschüttelnd: »Erst stirbt Maria Hellwig, und nun hören Marianne und Michael auch noch auf.«

»Das hast du schon gesagt.«

»Man kann es nicht oft genug bedauern.«

[40] 7

Sebastian ging auf die Tür am Ende des langen Gangs zu. Im Vorbeigehen sah er im Augenwinkel in der Kaffeeküche zwei Mitarbeiter, die lachten. Vor ihm kam ein Mann aus einem Büro und verschwand gleich wieder in einem anderen Raum, nachdem er Sebastian einen kurzen Blick zugeworfen hatte. Hatte er hämisch gegrinst, weil er wusste, was Sebastian erwartete, wenn er die Tür am Ende des Gangs erreicht hatte? Natürlich war es nur Einbildung. Genau wie der Unterton in der Stimme von Frau Börnemann aus der Verkehrsabteilung, als sie ihn hastig grüßte, bevor sie im Treppenhaus verschwand. Niemand ging gerne durch die Tür, vor der Sebastian nun angekommen war.

Er klopfte und horchte. Die Antwort kam immer relativ leise.

Er vernahm das kurze »Ja«, das klang, als hätte ein kleiner Hund gebellt. Als er in das spartanisch eingerichtete Büro trat, saß die Leiterin der Mordkommission Eva Weiß in einem dunklen Kostüm an dem gläsernen Schreibtisch. Ihr puppenhaftes Gesicht zeigte keinerlei Regung. Jens hatte kürzlich die Ansicht vertreten, die knapp über sechzig Jahre alte Chefin würde sich neuerdings Botox spritzen lassen, deshalb wirkte ihre Miene [41] so starr. Aber Sebastian meinte, dass die Frau schon immer so ausgesehen habe. Das entsprach ihrem Charakter, dazu brauchte es kein Nervengift.

»Setzen Sie sich«, sagte Eva Weiß mit klarer, entschiedener Stimme. Sie lehnte sich ein wenig nach vorn, stellte ihre Ellbogen auf den Tisch, ganz nah an die Tasse, in der heißes Wasser dampfte, und sagte: »Herr Fink, es handelt sich um einen Unfall, nicht wahr?«

Okay, dachte Sebastian, die Frau war also zu diesem Schluss gekommen und befürchtete, dass er es anders sah. »Das ist noch nicht sicher«, antwortete er.

»Hatte der Mann Alkohol im Blut?«

»Nein.« Sebastians Ansicht nach war das eines von mehreren Argumenten, die gegen einen Unfall sprachen.

»Was wissen wir über das Auto, das ihn angefahren hat?«

Das zu beantworten war nicht leicht. Sebastian gab die Informationen weiter, die er eben im Besprechungsraum bekommen hatte. Der Kollege Sörensen, der die Nachbarschaftsbefragung durchgeführt hatte, war auf hilfsbereite Nachbarn getroffen, die allesamt nichts gesehen oder gehört hatten. Nur eine Frau, die gegen 23.30 Uhr mit ihrem Dackel auf dem Bürgersteig der De-Voß-Straße spazieren gegangen war, hatte ein Auto gesehen, das aus der Buttstraße kam: einen mittelgroßen Wagen, dunkle Farbe. Die Zeugin hielt es für möglich, dass hinter dem Fahrer auf dem Rücksitz eine zweite Person gesessen hatte. Ob Mann oder Frau, konnte sie nicht sagen. Die Uhrzeit deckte sich jedenfalls mit der Angabe von Isabelle Seidel.

[42]