Cover
Titelei
© Dressler Verlag GmbH, Hamburg 2004
Alle Rechte vorbehalten
Cover von Sabine Wilharm
E-Book-Umsetzung: Reemers Publishing Services GmbH, Krefeld 2012
ISBN 978-3-86272-465-9
www.dresslerverlag.de

1. Kapitel

Als Joe Miller an diesem Nachmittag aus der Schule kam und in die Westbury Street einbog, heftete er seine Augen fest auf den Boden. So, als hoffte er eine Münze zu finden. Aber es lagen nie Münzen auf der Westbury Street. Jimmy Jordan aus seiner Klasse erzählte immer wieder die Geschichte von dem dick gefüllten Portemonnaie (bei jedem Mal lagen mehr Scheine darin), das er mitten auf der Chestnut Lane gefunden hatte. Aber die Chestnut Lane lag im vornehmen Teil von Middleburgh, wo die Reichen in weißen Villen wohnten. Hier in der Westbury Street mussten die Leute auf jeden Penny achten. Und Joe wäre wahrscheinlich sehr überrascht gewesen, wenn er wirklich einmal eine Münze gefunden hätte.

Aber Münzen waren auch nicht der Grund, warum er jeden Nachmittag gesenkten Kopfes nach Hause ging. Er wollte sein Haus nicht sehen, genauer: seine Wohnung, noch genauer: das Eckfenster im dritten Stock. Hinter dem stand seine Mutter. In der einen Hand die geblümte Rüschengardine hochhaltend, mit der anderen winkend. Es war dieses Winken, weswegen Joe nicht hinsehen mochte. Sie schwenkte den molligen Arm so heftig, als käme ihr Junge von einer mehrjährigen Weltreise zurück, als habe sie ihm nicht erst vor wenigen Stunden die Cornflakes mit Milch übergossen, einen Marmeladetoast geschmiert und ihren Sohn mit einem feuchten Kuss in die Schule verabschiedet.

Als Joe an die Haustür trat, ertönte schon der Summer. Umständlich putzte er sich die Schuhe auf der Matte ab, bevor er die Treppe hochging.

Im Treppenhaus roch es schon wieder nach dem Hammeleintopf von Mrs Walters aus dem zweiten Stock. Mrs Walters nahm immer sehr altes Hammelfleisch, das besonders lange kochen muss­te. Doch trotz des grässlichen Geruches beeilte Joe sich nicht. Er schlich die Treppe geradezu hinauf. Aber dann war er doch oben.

In der geöffneten Tür stand seine Mutter.

»Schnell, rein mit dir, dieser Gestank ist ja nicht auszuhalten!«, rief sie und nahm ihm die Schulmappe ab. Dann strich sie ihm über die Haare und hielt ihm ihre Wange hin.

Joe reckte sich ein wenig und berührte die sehr weiche Wange ganz kurz, so kurz es nur ging, mit den Lippen.

»Hast du mich nicht gesehen?«, fragte seine Mutter. »Ich hab dir zugewinkt.«

Joe brummelte etwas Unverständliches.

»Immer bist du so in Gedanken. Ärger in der Schule? Was hat Mrs Perry zu deinem Aufsatz gesagt? Wie war’s im Sport? Hoffentlich hat Mr Brown dich nicht wieder so hart rangenommen, ich habe ihm gesagt, dass du sehr empfindlich bist und auf keinen Fall …«

»Den Aufsatz haben wir noch nicht zurück. Ich muss mal, Ma«, unterbrach Joe ihren Redefluss und verschwand auf dem Klo. Er musste nicht, aber er hob trotzdem den rosa beplüschten Toilettendeckel und setzte sich hin. Vor der Toilette lag eine Umrandung aus dem gleichen rosa Plüsch und vor der Bade­wanne ein passender Vorleger in Form eines Herzens. Auch die Klorolle hatte ein rosa Häubchen. Die Handtücher waren weiß mit rosa Blümchen. Auf dem einen stand in Schnörkelbuchstaben der Name Audrey eingestickt, auf dem anderen Giovanni.

Audrey hieß seine Mutter und Giovanni hieß er. Nicht dass Joe italienische Vorfahren gehabt hatte. Seine Mutter und sein Vater waren auf der Hochzeitsreise in Venedig gewesen, und leicht errötend pflegte Mrs Miller jedem zu erzählen, dass ihr neun Monate später geborener Sohn deshalb einen italienischen Vornamen bekommen habe. Wenn sie ihm wenigstens noch einen zweiten, normalen Namen gegeben hätten! Aber er hieß einfach nur Giovanni. Giovanni Miller. Glücklicherweise war aus dem Giovanni sehr schnell ein Joe geworden, und in der Schule bestand nur Mr Brown, sein Sportlehrer, darauf, ihn bei seinem richtigen Namen zu nennen. »Giovanni Miller, du hängst am Reck wie ein voll geschissener Sack«, pflegte er zu sagen.

Joe hasste Mr Brown und er war sicher, dass Mr Brown ihn ebenso wenig mochte. Heute hatte er ihn Liegestütze machen lassen, bis es Joe schwarz vor Augen wurde und er beinah ohnmächtig geworden wäre. Aber das würde er seiner Mutter nicht erzählen, auf keinen Fall. Als er einmal mit einem Blut­erguss am Arm nach Hause gekommen war von einem Schlag mit dem Baseballschläger, war seine Mutter sofort in die Schule gelaufen, um sich zu beschweren. Seither sagte Mr Brown bei jeder passenden Gelegenheit: »Ach, entschuldige bitte, Giovanni Miller, deine Mutter hat ja gesagt, man darf dich nicht so hart anpacken.«

Natürlich hatte er die Lacher auf seiner Seite. Allen voran Duncan Fletcher. »Passen Sie auf, dass unserem Zuckerpüppchen nichts passiert, Mr Brown, seine Ma würde das nicht überleben!«

Wenn Joe an Mr Brown und Duncan Fletcher dachte, wurde ihm ganz übel, dabei hatte er eben noch Hunger gehabt.

»Giovanni? Was machst du so lange? Die Schokolade wird kalt!«, rief seine Mutter von draußen.

Joe erhob sich, zog die Klospülung, an der eine rosa Troddel hing, und seufzte. Jetzt würde er seiner Mutter erzählen müssen, wie toll alles in der Schule war und wie wohl er sich dort fühlte. Schließlich konnte er nicht schon wieder die Schule wechseln. Auf seiner alten Schule hatten sie ihn so gehänselt und gepiesackt, dass er einfach nicht mehr hingegangen war. Morgens hatte er seine Schulmappe genommen und sich dann, bis es Zeit war zurückzukommen, in der Stadt herumgetrieben. Bei schönem Wetter auch im Park. Natürlich war es aufgeflogen, seine Mutter hatte geweint, und die Schulpsychologin hatte ein besorgtes Gesicht gemacht und gemeint, da könne nur noch ein Schulwechsel helfen. Aber es hatte nicht geholfen. Kaum dass Joe die neue Klasse betreten und die Blicke von dreißig neugierigen Gesichtern gespürt hatte, war ihm klar gewesen, dass es weitergehen würde mit den Hänseleien, dem Stuhlwegziehen, dem Zusammenkleben der Seiten im Heft. Joe hatte schon lange aufgegeben darüber nachzugrübeln, warum das so war. Warum er immer und überall zur Zielscheibe des Spottes wurde.

»Du musst auf die anderen zugehen«, hatte die Psychologin gesagt. »Sei offen, verschließe dich nicht.«

Sie hatte noch viel mehr gesagt, aber Joe hatte sie nur angeschaut und gewusst, dass auch sie ihm nicht helfen konnte. Sie war eine hübsche Frau mit einer lustigen Stupsnase, die bestimmt niemals erlebt hatte, dass sich selbst auf die harmloses­te Frage – Weiß jemand, wo mein Füller abgeblieben ist? – alle wie auf Kommando wegdrehten.

»Ich hab frische Muffins für dich gebacken«, sagte seine Mutter und goss heißen Kakao in einen übergroßen bunten Becher, auf dem Giovanni stand, mit Herzen auf den beiden Is. Den Namen hatte seine Mutter aufgemalt. Das war die Phase, in der sie sich mit Porzellanmalerei beschäftigt hatte. Ein paar der Teller und Schüsseln mit missglückten Vergissmeinnicht und verschmiertem Goldrand hatten überlebt, leider auch der Kakaobecher.

Wenn Joe sich vorstellte, einer aus der Klasse würde ihn jetzt sehen, wie er aus diesem albernen Becher viel zu süße und viel zu heiße Schokolade trank, während ihm seine Mutter ein Muffin hinhielt, als wäre er ein Schoßhündchen, das gefüttert werden wollte!

»Es sind Rosinen drin und Schokostückchen«, sagte seine Mutter stolz. »Das Essen in der Schule war bestimmt schlecht, nicht wahr?«

Das Essen war nicht nur schlecht, es war ungenießbar gewesen und auch nicht dadurch besser geworden, dass Duncan Fletcher im Vorbeigehen reingespuckt hatte.

»Friss nicht so viel, Fettsack«, hatte er gesagt.

»Giovanni! Ich hab gefragt, wie das Essen in der Schule war! Träumst du schon wieder?«

»Es war okay. Blumenkohl gab es, mit Hackbraten.«

»Ich bezweifle ja sehr, dass die gutes Fleisch genommen haben«, sagte Mrs Miller. »Heute Abend mache ich uns was Schönes. Ich hab da ein neues Rezept, Hühnerkroketten mit Erbspüree. Wie wäre das?«

Joe nickte nur. Er hätte seiner Mutter gern gesagt, dass er gar nicht so viel essen wollte. Nicht, weil er sich zu dick fand. Zu dick fanden ihn eigentlich immer nur die anderen. Essen interessierte ihn nicht. Und schon gar nicht die Zubereitung von Essen.

Aber das hätte seine Mutter nicht verstanden. Wenn sie nicht mit einem ihrer ständig wechselnden Hobbys – das ging vom Teppichknüpfen über Trockenblumengestecke bis hin zu kleinen Tieren, die sie aus Perlen auffädelte – beschäftigt war, studierte sie Kochbücher oder Zeitschriften, in denen es außer Rezepten nichts zu lesen gab.

Mrs Miller war keine gute Köchin, sie war eigentlich in nichts besonders gut, aber Joe würde ihr das niemals sagen, genauso wenig wie er sie darum bitten würde, nicht länger am Fenster zu stehen und auf ihn zu warten.

Seit dem Tod seines Vaters vor sechs Jahren war Mrs Miller unglücklich. Wenn man sie so Tag für Tag in der kleinen Wohnung herumwirbeln und lachen sah, mochte man es kaum glauben. Joe allein wusste, wie unglücklich seine Mutter war, und er hatte sich geschworen, dass er nichts tun wollte, was ihr Unglück noch vergrößerte.

»Was für ein Glück! Nein, was für ein Glück aber auch!«, zwitscherte Tante Prudence. »Ich hätte ja nie für möglich gehalten, dass …« Tante Prudence errötete und hob die Teetasse an die Lippen, wobei sie den kleinen Finger abspreizte. Normalerweise hätte Miranda jetzt ihrer Mutter einen vielsagenden Blick zugeworfen und leise in sich hineingekichert. Es war wirklich zu komisch, Tante Prudence beim Teetrinken zuzusehen. Zuerst lehnte sie mit gespielter Entrüstung die Sahne ab – »In meinem Alter muss man auf die Linie achten« –, um dann mit der Zuckerzange sorgfältig einen Zuckerwürfel nach dem anderen auszuwählen und in ihre Tasse gleiten zu lassen, bis zu vier Stück. Danach rührte sie lange und bedächtig um, wobei sie ununterbrochen redete. Wenn sie den Tee schließlich trank, hatte er sich längst in eine kalte, klebrige Brühe verwandelt.

Doch heute fand Miranda das Gebaren ihrer Tante überhaupt nicht lustig und das, worüber diese so ins Jubeln geriet, erst recht nicht.

»Ich meine, in deinem Alter …«, fuhr Tante Prudence fort und tupfte sich mit der Serviette die Lippen ab.

»Na, weißt du, so alt bin ich mit 38 ja nun auch nicht«, unterbrach Mirandas Mutter lachend.

»Natürlich nicht, ich meine ja nur vielleicht ein wenig zu alt, um  …« Tante Prudence senkte die Stimme, »… um ein Baby zu bekommen.«

Miranda biss in ein Käsesandwich.

»Was sagt denn Miranda dazu?«

Das war auch typisch für Tante Prudence, nie sprach sie Miranda direkt an, so als ob Miranda eine fremde Sprache sprä­che, die nur ihre Mutter verstand.

»Für Miranda ist es natürlich nicht leicht, mit zehn Jahren noch ein Geschwisterchen zu bekommen.«

»Mit elf!«, sagte Miranda kauend.

»Mit elf«, wiederholte ihre Mutter. »Wenn wir Glück haben, kommt das Baby genau am 27. September, an Mirandas Geburtstag, zur Welt.«

»Nein, wie entzückend!«, trillerte Tante Prudence.

Miranda fand das überhaupt nicht entzückend. Wer würde an ihren Geburtstag denken, wenn Mama im Krankenhaus lag und gerade ein Baby bekam?

»Noch ein Schlückchen Tee, Tante Prudence?«

»Danke, meine Liebe, ich habe noch. Und Mr McKenzie in der Bank? Du hast es ihm hoffentlich noch nicht gesagt?«

»Das musste ich wohl.« Mirandas Mutter strich sich über den Bauch. »War ja nicht mehr zu übersehen. Er ist natürlich entsetzt. Nächste Woche soll ich nach hinten in die Kreditabteilung. Anscheinend meint er meinen Anblick den Kunden nicht mehr zumuten zu können.«

»Mr McKenzie ist ein Idiot«, sagte Miranda.

Ihre Mutter warf ihr einen warnenden Blick zu.

»Stimmt doch«, brummte Miranda.

Mrs Foster arbeitete in einer großen Bank am Trafalgar Square, und jedes Mal, wenn Miranda ihre Mutter dort besuchte, warf ihr Mr McKenzie, der Bankdirektor, argwöhnische Blicke zu, als befürchte er, Miranda könne einen Penny finden und ihn einfach in die Hosentasche stecken. Kinder in seiner Bank, in der alle nur mit gedämpfter Stimme sprachen wie in einer Kirche, schätzte er überhaupt nicht.

»Früher war es nicht üblich, dass schwangere Frauen sich in der Öffentlichkeit zeigten, heute sieht man sie splitterfasernackt auf den Titelbildern der Zeitungen«, sagte Tante Prudence jetzt mit unverhohlener Missbilligung.

»Tante Prudence! Wir leben nicht mehr unter Queen Victoria und ich habe auch nicht die Absicht, meinen Bauch unbekleidet spazieren zu führen, aber schließlich ist eine Schwangerschaft keine ansteckende Krankheit, mit der man sich verstecken muss.«

Miranda fiel etwas ein. »In deinen Badeanzug passt du jedenfalls nicht mehr.«

»Wo wollt ihr denn in den Ferien hin?«, fragte Tante Prudence prompt und ließ noch ein Stück Zucker in ihre Teetasse plumpsen.

»Zum Campen nach Wales, wie jedes Jahr.«

»Zelten? In deinem Zustand? Ich habe mein Leben lang nicht gezeltet, keine zehn Pferde würden mich dazu bringen, ohne ein festes Dach über dem Kopf …«

Miranda sah aus dem Fenster hinaus auf die feucht glänzende Straße. Es regnete schon wieder. Kaum vorzustellen, dass in vier Wochen die Sommerferien beginnen sollten, und noch weniger vorstellbar, dass im September ein Baby da sein würde.

Miranda kannte Babys nur aus der Windelreklame im Werbefernsehen, die jüngeren Geschwister ihrer Freundinnen waren längst im Kindergarten oder in der Schule. Aber schließlich wusste jeder, dass Babys furchtbar anstrengend waren. Ständig mussten sie gebadet, gefüttert oder gewickelt werden, und zwischendurch brüllten sie, dass einem die Ohren abfielen.

Dabei hatte Miranda sich immer Geschwister gewünscht. Am liebsten eine Schwester, mit der man am Abend vor dem Einschlafen noch Geheimnisse austauschen konnte. Mit der hätte sie auch gern ihr Zimmer geteilt. Aber doch nicht mit einem Baby!

»Ihr braucht dann natürlich auch eine größere Wohnung«, sagte Tante Prudence in Mirandas Gedanken hinein.

»Um Himmels willen!«, rief Mrs Foster. »Wir sind froh, dass wir diese hier gefunden haben, für London ein absoluter Glücksfall.«

»Nun, als Glücksfall würde ich diese Gegend hier nun nicht gerade bezeichnen«, erwiderte Tante Prudence und machte ein spitzes Mündchen. »Auf der Treppe kam mir ein Mann mit Turban entgegen, er hatte wirklich eine sehr, sehr dunkle Hautfarbe.«

»Das ist Mr Banerjeesh«, sagte Miranda. »Er wohnt über uns. Mit seiner Tochter Sita gehe ich zusammen zur Schule.«

Tante Prudence sagte nichts, aber man sah ihr an, dass sie dies nicht akzeptieren, geschweige denn gutheißen konnte.

Tante Prudence war eigentlich Mirandas Urgroßtante, die Schwester ihrer Urgroßmutter. Sie war 87 Jahre alt, überaus rüs­tig, und als Admiralswitwe konnte sie sich ein teures Seniorenheim im vornehmen Stadtteil Mayfair leisten. Ihr Appartement dort war um einiges geräumiger als die gesamte Wohnung der Fosters.

»Noch ein Gurkensandwich, Tante Prudence?«, fragte Mirandas Mutter.

»Lieber nicht, Gurken so spät am Tage bekommen mir nicht, du schneidest sie immer so dick auf, meine Liebe.«

Miranda mochte Gurkensandwiches auch nicht, aber jetzt nahm sie sich eins und biss hinein. »Ich finde sie prima!«, sagte sie, wobei ein Stück Gurke aus ihrem Mund und direkt in Tante Prudences Teetasse flog. Mrs Foster und Miranda wechselten einen schnellen Blick.

»Nun, da kommen jedenfalls schwere Zeiten auf euch zu«, sagte Tante Prudence gerade und verstand überhaupt nicht, warum diese Bemerkung bei Miranda und ihrer Mutter einen Lachanfall auslöste.

Als Cymbeline den Salon betrat, hörte sie aus dem angrenzenden Arbeitszimmer Bellen und laute Stimmen.

Ihre Eltern hatten Streit, wie so oft in letzter Zeit.

»Es ist ja geradezu lachhaft, wie du dich benimmst!«

»Das sagst ausgerechnet du?«

»Ginger! Aus! Kannst du nicht den Hund rausbringen, der dreht ja gleich durch.«

»Komm zu Frauchen, Ginger, komm her. Ja, mein Süßer, so ist es gut. Er spürt eben auch, dass es zwischen uns nicht stimmt, und leidet darunter.«

»Wir sollten uns vor dem Hund nicht streiten.«

»Wer fängt denn immer an, etwa ich?«

Cymbeline verließ ihren Platz an der halb geöffneten Tür. Komisch, sie machen sich mehr Gedanken über die Gefühle ihres Hundes als über die ihrer Tochter, dachte sie.

Dann zuckte sie mit den Achseln. So waren ihre Eltern eben, Cymbeline machte sich schon lange keine Illusionen mehr über sie.

Auf dem Kaminsims aus italienischem Marmor standen zwei silbergerahmte Fotos.

Eines zeigte Cymbelines Eltern, Mr und Mrs Harding, wie sie sich gemeinsam zu einem Labrador herunterbeugten und ihn streichelten.

Das andere zeigte Cymbeline als Baby auf einem Teppich liegend. Ein bemerkenswert hässliches Baby auf einem bemerkenswert schönen Teppich.

»Cymbeline, Darling!« Mrs Harding rauschte in den Salon. »Magst du ein wenig mit Ginger rausgehen? Es regnet gerade mal nicht.«

Cymbeline sah ihre Mutter an. Sie war immer wieder erstaunt darüber, wie schön sie war. Selbst jetzt, wo man ihrem Gesicht den kaum verhohlenen Ärger noch anmerkte. Cymbeline hatte nichts von ihrer Mutter, weder deren dichtes schwarzes Haar noch die blauen Augen und schon gar nicht die wie edles Porzellan schimmernde Haut. Cymbelines Haar war eine Mischung aus Braun und Rot und die Augenfarbe wechselte je nach Stimmung zwischen Grau und Grün. Außerdem hatte Cymbeline Sommersprossen, aber nicht etwa einzelne lustige Pünktchen auf der Nase, sondern unregelmäßig geformte Flecken, die ihr ganzes Gesicht, Schultern und Arme bedeckten.

»Kauf dir unterwegs ein Eis oder etwas anderes«, sagte Mrs Harding und nahm eine Fünfpfundnote aus einem antiken Holzkästchen.

»Etwas anderes«, sagte Cymbeline und legte Ginger, der ihr freudig die Hand leckte, die Leine an.

»Aber nicht schon wieder ein Buch, Darling, du wirst noch ein Stubenhocker wie dein Vater.« Mrs Harding lachte, als habe sie einen Scherz gemacht.

»Wer bekommt eigentlich Ginger, wenn ihr euch trennt?«, fragte Cymbeline.

»Aber wer spricht denn davon, dass wir uns trennen, Darling?« Mrs Harding riss ihre himmelblauen Augen auf. »Was fällt dir bloß ein? Warren! Komm mal her, bitte!«

In der Tür zu seinem Arbeitszimmer erschien jetzt Professor Harding. Sein fuchsrotes Haar stand wie immer in alle Himmelsrichtungen. Beim Arbeiten pflegte er es stets zu zerwühlen. Er sah Cymbeline verwirrt an, als fiele ihm gerade erst ein, dass er ja noch eine Tochter hatte.

»Unser Darling hat Kummer«, flötete Mrs Harding. »Sie denkt, dass wir uns trennen. Sag du ihr, dass das Unsinn ist. Mir glaubt sie ja doch nicht.« Wieder lachte sie.

»Kein Wunder«, sagte Professor Harding leise. Laut sagte er: »Natürlich trennen wir uns nicht, es ist nur … äh … nicht ganz klar, was wir in den Ferien machen, ich meine, ich …«

Mrs Harding unterbrach ihn: »Dein Vater meint, dass er zu viel zu tun hat, um mit uns in Urlaub zu fahren, du weißt ja, sein Buch …«

Mr Harding war Professor für englische Literatur am St. Paul’s College in North Wainbridge, und wenn er nicht gerade unterrichtete, schrieb er an einem Buch über ein als verschollen geltendes Stück von Shakespeare. Er schrieb schon sehr lange daran, und auch Cymbeline verstand nicht, wie man über etwas schreiben konnte, das kein Mensch je gesehen hatte.

»Wer wollte denn dieses Jahr allein wegfahren?«, rief Professor Harding aufgebracht. »Das warst doch du?«

»Jawohl, weil ich endlich mal was anderes erleben möchte, als ständig nur Bibliotheken und Museen zu besichtigen!«

»Ein wenig Bildung täte dir ganz gut, dann würdest du John Barbour nicht länger für den Erfinder einer überteuerten Jacke halten«, zischte Mr Harding.

»Aber John Barbour hat doch die Jacke erfunden«, warf Cymbeline ein.

Ihr Vater erhob die Stimme: »Der John Barbour, an den ihr denken solltet, war der Schöpfer des ersten volkssprachlichen schottischen Epos, das 1377 die Kämpfe um die Unabhängigkeit von England in flammenden Worten …«

Mrs Harding unterbrach ihn mit einer abfälligen Handbewegung. »Spar dir diese Vorträge für deine Studenten, aber pass auf, dass sie dabei nicht einschlafen.«

»Im College weiß man meine Fähigkeiten sehr wohl zu schätzen«, erwiderte Professor Harding gekränkt.

»Kein Wunder, an dieser Klitsche unterrichten eh nur die, die woanders nicht unterkommen«, setzte Mrs Harding noch eins drauf. »Wenn du deine Zeit nicht für ein Buch verplempern würdest, das eh keiner lesen wird, könntest du längst am Queen’s College in Oxford unterrichten und ich müsste nicht in diesem Kuhkaff versauern! Ich werde in diesem Urlaub jedenfalls nicht wieder mit dir in staubigen Antiquariaten he­rumwühlen.«

»Wenn du stumpfsinnig wie eine Ölsardine am Strand liegen und braten willst, bitte schön«, sagte Mr Harding kalt. »Aber ohne mich!«

Cymbeline ging mit Ginger zur Tür. Dafür, dass mein Pa Literaturprofessor ist, drückt er sich reichlich merkwürdig aus, dachte Cymbeline. Ölsardinen liegen nicht am Strand, sondern in Büchsen, und stumpfsinnig sind sie schon gar nicht, sondern einfach nur tot.

Cymbeline öffnete das Gartentor, über dem sich ein Bogen aus weißen Heckenrosen spannte. Rechts und links war es von Buchsbäumen flankiert, die der Gärtner kegelförmig gestutzt hatte.

Mrs Harding war sehr stolz auf ihren Garten. Jedes Jahr gewann sie beim Blumenzüchterwettbewerb Preise für ihre Rosen. Sie liebte es, mit einer fleckigen grünen Schürze und in viel zu großen Gummistiefeln durch den Garten zu stapfen und die schönsten Rosen für die Vase im Salon zu schneiden.

Cymbeline fand diese Verkleidung absolut lächerlich, denn die eigentliche Gartenarbeit erledigte Mr Witherspoon.

Außer dem Gärtner gab es noch Rani, das indische Hausmädchen, das aufräumte und putzte und immer dann kochte, wenn keine Gäste da waren, die Mrs Harding mit ihren Kochkünsten beeindrucken wollte.

Natürlich konnte sich Mr Harding mit seinem nicht sehr üppigen Gehalt als Collegeprofessor einen derart aufwändigen Lebensstil nicht leisten. Das Geld hierfür stammte von Mrs Harding, die von ihrem Vater eine florierende Fabrik für Toilettenpapier geerbt hatte. Das wusste außer Mr Harding und Cymbeline jedoch niemand. Geld mit Klopapier zu verdienen, hielt Mrs Harding für etwas anrüchig (im Gegensatz zu der Beschäftigung mit duftenden Rosen).

Gern hätte sie mehr Zeit in ihrem Garten verbracht, so sagte sie jedenfalls, aber leider ließen ihre vielen Aufgaben das nicht zu. Mrs Harding war nämlich Mitglied in mehreren Wohlfahrtskomitees. Das bedeutete, dass sie sich mit anderen Professorengattinnen zum Tee oder Lunch traf und man gemeinsam überlegte, für welchen guten Zweck man Geld sammeln konnte. Für den Blumenschmuck des jährlichen College-Abschlussballes oder doch eher für einen Weihnachtsbaum in der Obdachlosenunterkunft? Das waren keine leichten Entscheidungen, und man musste sich dafür oft zum Tee oder Lunch treffen.

Meistens entschieden sich die Damen für den Blumenschmuck. Womöglich hätte ein Weihnachtsbaum den armen Obdachlosen nur Schmerz bereitet, ihnen den Verlust ihres Zuhauses nur allzu bewusst gemacht.

Ab und zu schrieb Mrs Harding auch Artikel für ein Hochglanzmagazin, in dem vorbildlich gestaltete Gärten und Häuser abgebildet wurden, deren Besitzer entweder lässig am Kamin lehnten oder mit grüner Schürze und in Gummistiefeln ihre Rosen beschnitten.

Wenn sie mit der Aufzählung all ihrer verantwortungsvollen Tätigkeiten fertig war, vergaß Mrs Harding nie, mit einem kleinen Augenzwinkern hinzuzufügen: »Und dann hab ich ja auch noch Cymbeline, um die ich mich kümmern muss.«

Um Cymbeline musste sich niemand kümmern, das tat sie schon selbst.

Vor allem kümmerte sie sich um ihren Geist. Cymbeline las alles, was ihr unter die Finger kam. Sie wusste genauso gut über die Jupitermonde Bescheid wie über die Erbfolge bei Fruchtfliegen oder die Punischen Kriege, dabei war sie gerade erst neun.

Als sie jetzt mit Ginger durch den Park ging und in der Ferne die mächtigen grauen Türme des St. Paul’s College auftauchten, da dachte sie: Bald bin ich dort und dann kann mir alles egal sein.

Aber wie sie die langen Jahre bis dahin überstehen sollte, das wusste sie nicht.