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4. Auflage 2022
 
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Redaktion: Caroline Kazianka
Umschlaggestaltung: Maria Wittek
Umschlagabbildung: © Rüdiger J. Vogel
Satz: Carsten Klein, München
E-Book: Daniel Förster, Belgern
 
ISBN Print 978-3-86882-586-2
ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-762-2
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86415-763-9
 
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Nichts ist leichter als Selbstbetrug,
denn was ein Mensch wahrhaben möchte,
hält er auch für wahr.

Demosthenes (384–322 v. Chr.),
athenischer Politiker und Redner

Inhalt

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10

Kapitel 1

Was war das? Was war das für ein Geräusch? Ich drücke meinen kleinen Mops-Welpen Lotte fest an mich und blicke aufgeschreckt zur Wohnzimmertür. Rumms! Sie fliegt jetzt mit Wucht auf, der gläserne Knauf donnert an die Wand und knallt zerbrochen auf den Boden. Und dann stehen sie vor mir, wildfremde Männer, sechs, sieben, acht, zu viele, um sie zu zählen. Auch eine blonde, junge Frau ist dabei. Sie ist blitzschnell bei mir, packt mich am Arm. Lotte jault auf. Sie hat Angst. Ich auch. Was ist los?

»Was wollen Sie von mir?«, stammle ich mit angstvoll aufgerissenen Augen. Porzellan klirrt. Ein Blumentopf zerbricht auf dem Boden und die Erde verteilt sich auf unserem weißen Fliesenboden. Einer der Männer reißt die Schlafzimmertür auf, ein anderer stürmt auf die Terrasse. Ist das ein Überfall? Wo ist Detlef? Warum muss er ausgerechnet jetzt beim Einkaufen sein. Ich habe so furchtbare Angst.

»Polizei, Kripo Böblingen«, ruft mir ein groß gewachsener Mann entgegen. Und die blonde Frau, die mich immer noch an beiden Armen festhält, zischt: »Frau Höhne? Sind Sie Frau Höhne?«

Ich nicke, stammle »Ja« und »Was wollen Sie von mir? Ich habe nichts verbrochen, mein Mann auch nicht. Er ist beim Einkaufen.«

Meine Hände zittern, ich habe Mühe, Lotte zu halten. Das verängstigte Tier schmiegt sich ganz eng an mich. »Ganz ruhig, meine arme Kleine!«, murmle ich und versuche, ihr beruhigend über das Fell zu streichen. Aber ich bin viel zu aufgeregt. Ich weiß überhaupt nicht, was los ist.

»Ihr Mann ist draußen im Flur. Wir haben ihn verhaftet«, erklärt mir die Frau, die mich jetzt endlich loslässt. Sie nennt mir auch ihren Namen und sagt, dass sie Kommissarin ist. Aber ich höre nicht wirklich hin.

Detlef ist verhaftet!

»Warum? Mein Mann macht nichts Verbotenes«, beteuere ich und versuche, einen klaren Gedanken zu fassen. Meine Stimme flattert. »Das ist alles ein Irrtum. Glauben Sie mir. Ich muss zu ihm. Jetzt gleich.«

Ich will aufstehen, aber die Polizistin drückt mich zurück.

»Frau Höhne, beruhigen Sie sich. Sie können jetzt nicht zu Ihrem Mann.«

Ihre Stimme klingt plötzlich ganz mild. Sie streichelt erst meine Hand, dann Lottes Kopf. Sie lächelt. »Ganz ruhig«, wiederholt sie, »bleiben Sie bitte ganz ruhig. Wir werden Ihnen gleich alles erklären! Ich hole Ihnen etwas zu trinken.«

Ganz ruhig? Wie soll das denn gehen? Ich höre, wie im Schlafzimmer die Schranktüren aufgerissen werden. Es knarren Schubladen. Kleidung fällt dumpf auf den Boden. In der Küche klappert jemand mit Geschirr, und mit einem Blick zur Seite sehe ich, dass im Badezimmer meine liebevoll gefalteten Handtücher auseinandergerissen werden. Unsere schöne Wohnung, unser herrliches Nest, es wird alles verwüstet. Innerhalb von Minuten sieht es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Ein Mann steht mit einer Kiste vor unserem Wohnzimmerschrank und stellt unsere Aktenordner hinein. Was will denn die Polizei mit unseren Unterlagen? Der Mann packt auch Detlefs Autopapiere dazu, sein Notizbuch. Aber das geht doch nicht!

»Hallo, was soll mein Mann denn getan haben?«, frage ich ihn leise. Er sieht kurz zu mir herüber.

»Sprechen Sie bitte mit meinem Chef. Ich darf Ihnen nichts sagen.«

»Warum glauben Sie mir denn nicht, dass alles ein Irrtum ist?«, frage ich weiter. »Wir sind doch keine Verbrecher!«

Jemand öffnet den Kühlschrank, danach die Waschmaschine. Durch einen Türspalt erkenne ich, dass sogar unsere Schmutzwäsche durchsucht wird.

Ich blicke auf die große silberne Uhr im Regal. Es ist Samstag, der 11. Dezember 2010, 11.30 Uhr. Bislang war es ein Samstag, wie viele andere auch. Um acht Uhr hat Detlef mich mit einem Kuss geweckt. Das macht er jeden Morgen. Oder besser gesagt: Wer zuerst wach wird, gibt dem anderen einen Guten-Morgen-Kuss, und heute hat mich eben Detlef wach geküsst. Dann hat er in der Küche die Kaffeemaschine angestellt und ist ins Bad gegangen. Später haben wir zusammen gefrühstückt, mit aufgebackenen Brötchen, frischem Orangensaft, leckerem Rührei. Im Hintergrund dudelte der SWR 4. Jürgen Drews hat seinen Superhit »Ein Bett im Kornfeld« gesungen und wir beide haben ausgelassen mitgeträllert. Wir mögen Schlager sehr und können viele Texte auswendig. Sie machen den Alltag so herrlich leicht.

Bei der letzten Tasse Kaffee habe ich den Einkaufszettel geschrieben. Detlef fährt immer Samstagfrüh zum Supermarkt. Er liebt es, Besorgungen zu machen. Im Gegensatz zu mir. Für mich ist Einkaufen eine lästige Pflicht. Ich hasse es, durch die vollen Geschäfte zu gehen. Ich weiß gar nicht, wann wir überhaupt mal zu zweit einkaufen gewesen sind. Detlef geht fast immer allein, und ich bin sehr froh, dass er mir das abnimmt.

»Bis gleich, Engelchen«, hat er mir noch zugerufen. ›Bis gleich‹ heißt bei meinem Mann, dass er zwei, drei Stunden unterwegs sein wird. Detlef nimmt sich gern Zeit beim Einkaufen. Oft trifft er unterwegs Bekannte und lässt sich auf einen ausgiebigen Plausch ein. Gern gönnt er sich auch zwischendurch einen Kaffee oder er bummelt noch durch die Kaufhäuser in der Innenstadt. Wenn er zurückkommt, hat er immer eine Überraschung für mich dabei: Blumen, Schokolade oder ein Parfüm. Detlef verwöhnt mich gern. Ich glaube, in den über 23 Jahren unserer Beziehung ist nicht ein Samstag vergangen, an dem er mich nicht beschenkt hat. Er ist ein wunderbar aufmerksamer Ehemann, der beste, den ich mir wünschen kann. Detlef ist liebevoll, zärtlich, einfühlsam. Er trägt mich sprichwörtlich auf Händen. Ich liebe ihn!

»Frau Höhne!«

Eine tiefe Männerstimme reißt mich aus meinen Gedanken.

Einer der Beamten hat sich den Hocker des Fernsehsessels herangezogen, sitzt mir jetzt gegenüber und hält mir seinen aufgeklappten Dienstausweis hin.

»Ich bin Kommissar Keller und ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.«

Ich nicke. Kommissar Keller ist circa Ende 50, klein, aber sehr durchtrainiert, er hat blonde Haare, einen Dreitagebart und sieht mich jetzt sehr freundlich an. Sein Lächeln tut mir gut. Ich spüre, dass ich etwas ruhiger werde.

»Wissen Sie, ob Ihr Mann eine Waffe besitzt?«

Ich sehe den Beamten ungläubig an.

»Eine Waffe? Mein Mann? Wie kommen Sie denn darauf? Mein Mann hat keine Waffen. Wofür denn auch?«

Ich verstehe gar nicht, was die Frage soll, und habe jetzt genug Kraft, selbst Fragen zu stellen.

»Was werfen Sie ihm eigentlich vor? Und warum darf ich nicht zu ihm?«, will ich wissen.

»Wir verdächtigen Ihren Mann, zwei Morde und einen versuchten Mord begangen zu haben.«

Kommissar Keller spricht sehr klar, sehr deutlich und sieht mich ernst an. »Es geht nicht um Kleinigkeiten. Es geht um Mord!«

Bei dem Wort »Mord« dreht sich alles um mich. Es ist, als ob sich eine Hand um meinen Hals legt. Ich japse nach Luft. Mord? Mein Mann soll ein Mörder sein? Ein Doppelmörder? Das geht nicht.

»Sie irren sich«, antworte ich und höre selbst, dass meine Stimme ganz schrill klingt. »Mein Mann ist nur ein harmloser Frührentner, der bringt keine Leute um.«

Die letzten Wörter bekomme ich kaum mehr heraus. Tränen laufen mir über die Wangen. Mein Mann soll ein Mörder sein? Was passiert hier bloß mit uns?

Die sympathische Polizistin steht jetzt wieder neben mir und stellt mir ein Glas Wasser hin. Ich nippe daran. Mir ist so furchtbar übel. Der Kommissar legt mir die Hand auf die Schulter.

»Beruhigen Sie sich bitte etwas. Wir sprechen später weiter.«

Ich schließe die Augen. Wie soll ich das bloß durchstehen?

»Darf ich bitte auf die Toilette?«, frage ich. Die Beamtin nickt.

»Allein?«

Sie schüttelt den Kopf. Das auch noch. Es ist alles so demütigend.

Auf dem Weg ins Bad kann ich vom Flur aus die Eingangstür sehen. Sie steht zur Hälfte offen. Detlef sitzt auf dem Flur. Man hat für ihn einen unserer Küchenstühle neben den Eingang gestellt. Ich sehe nur sein linkes Bein. Er hält es ganz still. Mein armer Detlef. Er friert bestimmt. Es ist doch kalt im Gang. Es ist jetzt fast 14 Uhr. Sitzt er schon seit zwei Stunden dort?

Als ich mit der Beamtin aus dem Bad zurückkomme, blicke ich nicht noch einmal zur Tür. Ich kann es nicht ertragen, ihn dort so zu sehen.

»Darf ich mit meinem Mann sprechen?«, frage ich.

»Nein, das ist verboten. Ich bringe sie wieder ins Wohnzimmer. Sie müssen dort bleiben«, meint die Beamtin.

Ich sitze noch Stunden auf meinem Sofa, stumm, ratlos, verzweifelt. Ich weiß nicht, was ich denken soll. In meinem Kopf herrscht absolute Verwirrung. Was hat Detlef mit einem Mord zu tun? Und was will man überhaupt von mir?

Aber es wird sich alles aufklären, versuche ich, mich zu beruhigen. Alles wird gut.

Es ist kurz vor 17 Uhr an diesem kalten Dezember-Tag, als die Beamten voll bepackt mit zahllosen Kisten und Tüten wieder gehen. Unsere Wohnung sieht chaotisch aus. Überall herrscht Durcheinander. Alle Schränke sind aufgerissen und Schubladen durchwühlt. Im Schlafzimmer hat man die Matratzen aus dem Rahmen gehoben und die Bettwäsche von den Decken und unseren Kopfkissen gezerrt. In der Küche stehen aufgerissene Lebensmitteltüten auf den Ablagen und Berge von sauberem Geschirr in der Spüle. Im Bad sind sogar Tiegel und Tuben aufgedreht und kontrolliert worden. Es sieht aus wie nach einem Überfall. Wenn ich bloß wüsste, wonach sie eigentlich gesucht haben. Bei uns gibt es nichts Geheimnisvolles. Wir sind harmlose Leute, zwei Rentner, die ein unauffälliges Leben führen.

»Wir haben einige Dinge sichergestellt, die wir mitnehmen werden. Hier ist alles aufgelistet. Würden Sie das bitte unterschreiben?«, fordert Kommissar Keller mich auf.

Er legt mir einige eng beschriebene Blätter hin. Diverse Ordner, Kleidungsstücke und Schuhe sind darauf aufgezählt, aber auch Detlefs Schmuck, Fotos, sein PC und – Pistolen.

»Wo haben Sie denn Pistolen gefunden?«, frage ich ungläubig nach.

»Es lagen sechs Pistolen im Kofferraum seines Wagens. Dazu reichlich Munition und zwölf Handys.«

Peng! Diese Antwort ist wie ein Faustschlag. Ich bin davon richtig benommen und sage nichts mehr. Ich wüsste auch nicht, was. Ich kann nicht mehr reagieren.

»Haben Sie Familienangehörige, die wir verständigen können?«, fragt mich die blonde Beamtin und gibt mir gleich die Erklärung für ihre Frage. »Wir müssen die Wohnung nämlich für eine Nacht versiegeln. Sie können nicht hierbleiben.«

Ich schreibe ihr die Nummer meiner Freundin Sabine auf. Sie wohnt nur ein paar Straßen weiter und wird bestimmt schnell kommen. Sabine ist Friseurin, eine bildhübsche schlanke Frau mit einem schwarzen Pagenkopf. Ich kenne sie seit mehr als 20 Jahren. Früher war ich mal ihre Kundin, aber im Laufe der Jahre ist eine Freundschaft entstanden. Sie ist zuverlässig, loyal und wird sich ganz bestimmt um mich kümmern.

Mein Sohn Holger ist bei einem Seminar im Ausland. Und meine Tochter Christine kann meine kleine Enkelin Lia nicht allein lassen. Ich werde ihnen später alles erzählen. Jetzt nicht. Ich kann nicht sprechen. Ich fühle mich wie tot, leer, ausgelaugt. Ohne jede Kraft.

»Wo ist eigentlich Detlef?«, frage ich.

»Den nehmen wir mit ins Präsidium.«

Oh Gott, es ist alles nur furchtbar.

Keine halbe Stunde später steht Sabine vor mir. Ein Beamter ist noch geblieben und lässt sie keine Sekunde aus den Augen. Offenbar sind wir alle verdächtig.

»Detlef ist verhaftet? Aber Renate, was ist denn bloß los?«, fragt sie und sieht sich irritiert in der völlig verwüsteten Wohnung um.

Ich weine jetzt schon wieder und kann kaum sprechen.

»Du schläfst heute bei mir. Das ist jetzt alles ein bisschen viel«, sagt sie und zieht mich vom Sofa hoch. »Komm, lass uns gehen!«

Sabine hilft mir, ein bisschen Kleidung und Kosmetik für mich zusammenzupacken, dazu einen Napf und Futter für Lotte. Bei ihr eingehakt schlurfe ich schließlich mit dem Hund auf dem Arm aus dem Haus. Ich bin ein Wrack. Gerade habe ich einen Sturzflug aus der Sonne erlebt. Jetzt liege ich nach einem knallharten Aufprall auf dem Boden und fühle mich, als ob ich in 1000 Teile zersprungen wäre. Es gibt mich nicht mehr.

Der Abend, die Nacht. Ich nehme nichts mehr wirklich wahr. Geräusche, Sabines Wortfetzen, ich höre alles wie durch einen dicken Wattebausch. Meine Seele ist taub. Ich fühle mich innerlich leer, dumpf, ich spüre nichts mehr. Weder mich noch das Leben um mich herum.

Schon am frühen Abend liege ich im Bett. Sabine hat es mir überlassen und schläft auf der Couch. Es ist dunkel im Schlafzimmer. Ein Wecker tickt laut. Tick, tack, tick, tack. In meinem Kopf tanzen die verrücktesten Bilder. Detlef lacht. Er nippt an einem Glas Wein. Wir kichern. Wo bin ich? Tick, tack, tick, tack. Detlef hält jetzt eine Pistole in der Hand, mit der er auf mich zielt. Ach Quatsch, er hält in jeder Hand eine und ein Gewehr baumelt an seiner Schulter. Die Bilder drehen sich. Immer schneller. Tick, tack, tick, tack. Detlef lacht. Dann weint er plötzlich. Kurz darauf ist er ganz still. Pistolenschüsse knallen. Ein Reh bricht tot zusammen. Was soll denn das jetzt? Detlef jagt doch gar nicht. Er liebt Tiere. Was ist nur mit meinem Kopf los?

Die Wahnvorstellungen quälen mich noch die ganze Nacht. Sobald ich die Augen schließe, wirbeln schlimme Bilder durcheinander. Ich kann sie nicht abstellen. Nach einer gefühlten Ewigkeit wird es draußen endlich hell. Ich fühle mich so unbeschreiblich schwach. Wie soll ich das alles nur überleben?

»Magst du einen Kaffee?«

Sabine sitzt an meinem Bett und nimmt meine Hand.

Ich schüttle den Kopf. Ich mag keinen Kaffee. Ich mag gar nichts. Ich habe keinen Hunger und keinen Durst. Es gibt mich nicht mehr. Ich bin leicht und schwerelos, wie weggeweht vom Sturm der Ereignisse.

»Ich will nach Hause«, bitte ich Sabine.

»Kannst du auch«, antwortet sie, »die Polizei hat soeben angerufen. Die Wohnung ist wieder freigegeben.«

Es ist Sonntag und Sabine bringt mich zurück. Ich will allein sein.

Mein Schlafzimmer gleicht einem Schlachtfeld. Sabine hat zwar die ganze Kleidung wieder notdürftig in die Schränke einsortiert und gemeinsam haben wir auch die Matratzen zurück in die Bettrahmen gewuchtet. Aber überall liegen noch Gegenstände herum, herausgerissene Papiere und umgestoßene Dekoartikel, meine zertretene Brille. Im Flur, in der Küche, im Bad, überall herrscht Unordnung und im Wohnzimmer stapeln sich noch aufgeklappte und durchsuchte Ordner auf dem Teppich. Aber es ist mir egal. Ich fasse nichts mehr an.

»Brauchst du noch etwas?«, will Sabine wissen. »Ich weiß sowieso nicht, ob ich dich hier einfach allein lassen kann.«

Sabine macht sich wirklich Sorgen. Ob ich Angst habe und nicht doch lieber wieder mit zu ihr kommen möchte, will sie wissen. Aber ich beruhige sie.

»Es geht schon. Ich möchte nur schlafen«, murmle ich und habe lediglich einen Wunsch: in meinem Bett zu liegen und Ruhe zu finden, und das ganz schnell.

Wie ein kleines Kind kuschle ich mich auf Detlefs Bettseite und umschlinge sein weiches Kissen. Ich habe bewusst die gebrauchte Wäsche wieder aufgezogen. Sie riecht noch nach seinem Rasierwasser und ich schmiege mich mit meinem Gesicht tief hinein und schnuppere wohlig daran.

Mein Leben liegt derzeit in Trümmern. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis Detlefs Unschuld erwiesen ist. Es können Wochen, vielleicht sogar Monate vergehen. Was ist, wenn sie ihn so lange im Gefängnis behalten? Er kann das doch gar nicht durchstehen. Detlef ist sehr sensibel. Wer weiß, wie es ihm dann geht, wenn diese Höllenzeit hinter ihm liegt. Vielleicht wird er ein gebrochener alter Mann sein. Warum spielt uns das Schicksal bloß so übel mit? Was haben wir getan, dass wir so etwas erleben müssen? Mein Detlef, wo schläfst du jetzt wohl? Von weit weg höre ich die Wohnungstür ins Schloss fallen. Sabine ist gegangen. Ich bin allein. Draußen ist es noch hell, der Tag mag einfach nicht vergehen. Aber was ist, wenn er vorbei ist? Dann wartet erneut eine nicht enden wollende Nacht auf mich, und auf den neuen Tag wird eine weitere Nacht folgen, die ebenfalls nicht vorübergehen will. Und jede Nacht wird ohne Detlef sein.

»Jede Nacht ohne dich ist eine verlorene Nacht«, haucht mir Detlef ins Ohr und schiebt mir mit seinem Zeigefinger eine Locke aus der Stirn. Seine leuchtend blauen Augen strahlen mich liebevoll an. Ich spüre seine Lippen auf meinen Augenlidern und sein warmer Atem streichelt meine Haut. Mit beiden Händen umgreife ich jetzt sein Gesicht und sehe ihn an, ganz lange, ganz innig. Dann küssen wir uns, wild und leidenschaftlich. Er ist der Mann meiner Träume.

Es ist Oktober 1987 und wir erleben unsere erste gemeinsame Nacht.

Sechs Wochen vorher habe ich Detlef im »Cortijo« kennengelernt, einem spanischen Flamenco-Lokal in der Stuttgarter Innenstadt. Eigentlich zu einem denkbar ungünstigen Augenblick, denn ich bin dort mit einem anderen Mann verabredet: mit Frank, einer lockeren Anzeigenbekanntschaft. Doch der kommt nicht. Zum Glück bin ich nicht allein da, sondern mit meiner Mitarbeiterin Inga. Nach einer Stunde Warten ist mir klar, dass er mich versetzt hat. Enttäuscht und verärgert möchte ich mir an der Bar etwas Leckeres zu trinken bestellen und remple beim Aufstehen aus Versehen einen Gast am Nachbartisch an.

Als ich mich entschuldige, strahlen mich zwei herrlich blaue Augen an, begleitet von dem charmantesten Lächeln, das ich jemals gesehen habe.

»Von einer so schönen Frau wie Ihnen lasse ich mich jederzeit gern anrempeln«, flirtet mich der Gast vom Nebentisch offen an. Zuwendung, die ich aufsauge wie ein Schwamm. Obwohl ich etwas irritiert bin, denn der gut aussehende Mann ist nicht allein da, sondern in Begleitung einer etwa gleichaltrigen Frau. Eine Kollegin? Es sieht nicht so aus. Die beiden wirken sehr vertraut.

»Nehmen Sie einen Rioja, der ist sehr gut hier«, sucht mein charmanter Flirtpartner weiter das Gespräch und geht mit keinem Wort auf diese Frau ein. »Ich heiße übrigens Detlef«, und während er sich so locker vorstellt, taxiert er mich offen und krönt seine freche Anmache mit der Frage nach meiner Telefonnummer.

Ich bin baff! Ratlos sehe ich seine Begleitung an. Doch die scheint sich gar nicht daran zu stören, sondern lächelt mir zwischen zwei Bissen von ihrer Tortilla española ganz entspannt zu. Vielleicht ist es doch seine Kollegin oder seine Schwester. Oder eine Nachbarin.

Und während ich noch darüber nachdenke, wie ich diese ungewöhnliche Situation zu einem guten Ende bringe, schiebt ihm meine Mitarbeiterin einen Bierdeckel mit meiner darauf gekritzelten Telefonnummer zu. Warum das denn jetzt? Ich sehe sie grimmig an. »Macht doch nichts«, flüstert Inga. »Er lenkt dich wenigstens von deinem heutigen Rendezvous-Flop ab. Geh doch einfach mal mit ihm aus. Dann kommst du auf andere Gedanken und schneller über die Enttäuschung hinweg.«

Inga reagiert immer so unkompliziert. Für mein Geschäft ist sie deshalb ein echter Gewinn. Sie findet für jedes Problem stets eine schnelle Lösung und eigentlich hat sie ja Recht. Warum soll ich nicht auf sie hören und mich mit diesem sympathischen Mann treffen? Denn Detlef gefällt mir. Er ist groß, bestimmt 1,85 Meter, schlank, braun gebrannt. Seine hellblonden Haare sind kurz geschnitten, die Haut sehr gepflegt. Er hat wunderbar weiße Zähne, und wenn er lächelt, bilden sich zwei süße Grübchen. Aber das Aufregendste an ihm ist dieser Blick aus seinen blauen Augen. Ich freue mich auf ihn!

Detlef ruft mich schon am nächsten Tag an und vier Tage später treffen wir uns zum Abendessen dort, wo alles begann, im »Cortijo«.