Cover

Cover

Impressum

Dieses Buch ist auch als Printausgabe erhältlich:

ISBN 978-3-407-85759-0

Die im Buch veröffentlichten Ratschläge wurden mit größter Sorgfalt und nach bestem Wissen von den Autoren erarbeitet und geprüft. Eine Garantie kann jedoch weder vom Verlag noch von den Verfassern übernommen werden. Die Haftung der Autoren bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- oder Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52 a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen.

www.beltz.de

© 2015 Verlagsgruppe Beltz, Werderstr. 10, 69469 Weinheim

Umschlaggestaltung: Büro Hamburg

Umschlagabbildung: © shutterstock/Sebastian Kaulitzki

E-Book

ISBN 978-3-407-22266-4

Inhalt

Vorwort
Einem Kind das Leben schenken

Teil 1
Die Reise des ungeborenen Kindes

Eins
Einladung zu einer Entdeckungsreise

Zwei
Aufbruch in eine unbekannte Welt

Drei
Die Lebenswelt des ungeborenen Kindes

Vier
Die Befruchtung

Fünf
Die ersten Entwicklungsschritte

Sechs
Die Entwicklung des Nervensystems

Sieben
Das Erwachen der Sinne

Acht
Lernen von Anfang an

Neun
Über sich hinauswachsen von Anfang an

Zehn
Verbunden sein und verbunden bleiben – von Anfang an

Teil 2
Die Reise der werdenden Eltern

Elf
Das Kind ins Leben begleiten

Zwölf
Zeit »guter Hoffnung« – Zeit großer Angst

Dreizehn
Vorgeburtliche Diagnostik als wirkmächtige Prägung

Vierzehn
In Kontakt mit meinem Kind

Fünfzehn
Wir sind ein Paar – wir werden Eltern

Sechzehn
Wir brauchen Unterstützung: Hilfen für Babys und ihre Eltern

Epilog
Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

Literatur

Zeit »guter Hoffnung« – Zeit großer Angst

Vorgeburtliche Diagnostik als wirkmächtige Prägung

Wir sind ein Paar – wir werden Eltern

Wir brauchen Unterstützung: Hilfen für Babys und ihre Eltern

Vitae der Autoren

Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht
des Lebens nach sich selber.

Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,

Und obwohl sie mit euch sind,
gehören sie euch doch nicht.

Ihr dürft ihnen eure Liebe geben,
aber nicht eure Gedanken,

Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.

Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben,
aber nicht ihren Seelen,

Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen,
das ihr nicht besuchen könnt,
nicht einmal in euren Träumen.

Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein,
aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.

Denn das Leben läuft nicht rückwärts,
noch verweilt es im Gestern.

Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder
als lebende Pfeile ausgeschickt werden.

Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit,

und Er spannt euch mit Seiner Macht,
damit seine Pfeile schnell und weit fliegen.

Lasst euren Bogen von der Hand des Schützen
auf Freude gerichtet sein;

Denn so wie Er den Pfeil liebt, der fliegt,
so liebt Er auch den Bogen, der fest ist.

Khalil Gibran, arabischer Dichter, 1883–1931

Vorwort

Einem Kind das Leben schenken

Es gibt Ereignisse, auf die wir vielleicht schon lange hingearbeitet haben und die uns ganz neue Möglichkeiten eröffnen. Der Schulabschluss kann so etwas sein, auch der Auszug aus dem Elternhaus oder der Beginn einer Partnerschaft, vielleicht auch ein attraktives Stellenangebot oder ein Lottogewinn. An das großartige, uns selbst bestärkende Gefühl, das mit dem Erreichen eines solchen lange ersehnten Zieles verbunden war, können wir uns dann meist auch sehr gut erinnern. Andererseits gibt es auch Lebensereignisse, die über uns hereinbrechen, uns aus der Bahn werfen und alles infrage stellen, was wir bisher erreicht haben. Der Verlust eines geliebten Menschen zum Beispiel, ein Unfall oder eine schwere Erkrankung. Das damit einhergehende Gefühl von eigener Ohnmacht und Hilflosigkeit kennen wir ebenfalls sehr gut. Beides, die Freude über das Erreichen eines bestimmten Zieles wie auch der durch das Unerreichbarwerden bestimmter Ziele ausgelöste Schmerz, sind deshalb so starke Gefühle, weil sie uns selbst betreffen, uns entweder kraftvoll und zuversichtlich oder aber schwach und hilflos machen.

Es gibt aber auch Lebensereignisse, die uns nicht einfach nur in dem bestärken, was wir in unserem Leben erwarten und erhoffen oder die unsere Hoffnungen und Erwartungen an das Leben untergraben. Das sind ganz besondere Ereignisse. Sie betreffen zwar auch unser eigenes Leben, reichen aber weit über die jeweiligen Ziele hinaus, die wir persönlich verfolgen.

Leider erleben wir solche Sternstunden allerdings nur sehr selten. Sie verbinden uns auf eine über unsere eigene Existenz hinausreichende Weise mit dem Fluss des Lebens, in den wir selbst eingebettet sind. Dann spüren wir, dass wir als Teil des Lebens in der Lage sind, neues Leben hervorzubringen. Dieses unbeschreibbare und wohl auch tiefste Gefühl, das wir als Menschen zu empfinden in der Lage sind, wird immer dann in uns wach, wenn uns bewusst wird, dass wir ein Kind erwarten. Dass wir diejenigen sind, die diesem Kind sein Leben schenken – und damit das Leben selbst an dieses Kind weitergeben.

Nun leben wir heute in einer Welt, in der für ein derartig tief gehendes Gefühl weder Raum noch Zeit vorhanden zu sein scheint. Die meisten Eltern entschließen sich oft erst dann, ein Kind zu bekommen, wenn es in ihre eigene Lebensplanung passt. Zuerst kommt die Karriere, dann das Kind, denken viele. Und wir verfügen ja inzwischen auch über die dafür erforderlichen Hilfsmittel, angefangen bei den entsprechenden Verhütungsmitteln bis zur Pille danach, notfalls lässt sich auch noch eine Abtreibung arrangieren. Nur wenige Frauen werden heute noch schwanger, weil es einfach so »passiert ist«. Die meisten haben eine sehr genaue Vorstellung davon, wann es passieren soll oder »darf«. Und falls es dann nicht klappt, sind die Ärzte in vielen Fällen auch in der Lage, entsprechende Verfahren einzusetzen, um den Kinderwunsch zu erfüllen.

Schwangerschaft und Geburt sind damit nicht mehr dem Zufall – oder wie man früher sagte, dem Schicksal – überlassen. Sie sind zu Lebensereignissen geworden, die sorgfältig geplant, auf die gezielt hingearbeitet werden kann.

Deshalb ist die Freude groß, wenn es dann auch so wie geplant »geklappt« hat, wenn das angestrebte Ziel – die erwünschte Schwangerschaft – erreicht ist. Gleichzeitig wächst damit aber auch die Sorge, dass nun – während der Schwangerschaft – irgendetwas nicht so gut »klappen« könnte.

Es ist daher verständlich, dass werdende Eltern gleichermaßen von dieser sie selbst bestärkenden Freude (unser Wunsch wird Wirklichkeit) wie auch von dem eigener Ohnmacht und Angst (hoffentlich geht alles gut) erfüllt – und zwischen beiden Gefühlen hin- und hergerissen – sind.

Vor wenigen Generationen hatte das, was heute bei uns der häufigste Fall ist, eine »Wunschschwangerschaft«, noch Seltenheitswert. Die Freude darüber, »in anderen Umständen zu sein«, hielt sich damals meist in Grenzen. Das dominierende Gefühl vor allem der werdenden Mutter war Angst – nicht nur vor möglichen Fehlbildungen, sondern vor den Gefahren der Geburt selbst. Dazu kam noch die Sorge, ob das Geld reicht, um das Kind »durchzubringen«. Aber selbst unter diesen schwierigen Bedingungen wird jede schwangere Frau tief in sich auch dieses andere Gefühl gespürt und dieses tiefe Glück darüber empfunden haben, einem Kind das Leben schenken zu können.

Heute wissen wir, dass eine werdende Mutter dieses wunderbare Gefühl umso stärker empfinden kann, je weniger es von ihren Ängsten und Sorgen überlagert wird. Und immer häufiger ist es heute auch den werdenden Vätern möglich, dieses menschlichste und tief reichendste aller Gefühle mit ihnen zu teilen. Dann spüren auch sie, dass es nichts Bedeutenderes im Leben gibt, als einem Kind das Leben zu schenken.

Meist ist es noch nicht das positive Ergebnis des Schwangerschaftstests, das dieses Gefühl auslöst, sondern der Augenblick, wenn das ungeborene Kind mit den ersten Bewegungen im Bauch auf sich aufmerksam macht. Dann spürt zuerst die werdende Mutter und – wenn sie seine Hand an die betreffende Stelle führt – auch der werdende Vater, dass ihr Kind ein eigenständiges lebendiges Wesen ist, mit eigenen Regungen. Sie erleben in diesem Augenblick erstmals, dass ihr Kind ein Subjekt ist, zu dem sie liebevoll »du« sagen können. Je intensiver werdende Eltern diesen Moment der ersten Begegnung mit ihrem Kind erleben können, desto tiefer wird dieses Empfinden dann auch in ihrem Gehirn verankert. Diese tiefe Erfahrung wird ihnen später helfen, ihr Kind immer wieder in seiner Einzigartigkeit zu erkennen und anzunehmen.

Das ist deshalb so wichtig, weil jedes Kind mit diesem Grundbedürfnis zur Welt kommt, von seinen Eltern so, wie es ist, als Person, also als Subjekt gesehen und angenommen zu werden. Es braucht dieses Gefühl genauso wie die Luft zum Atmen. Wenn ein Kind spürt, dass es von seinen Eltern als Objekt behandelt wird, geht es ihm nicht gut.

Und wenn es ihm nicht gut geht, kann es sich nicht so gut entwickeln. Es hat ein Problem und kann deshalb seiner Entdeckerfreude und Gestaltungslust nicht mehr »unbekümmert« nachgehen und die in ihm angelegten Potenziale entfalten.

Gerade in unserer heutigen Leistungsgesellschaft kann es sehr leicht geschehen, dass auch Eltern unter Druck geraten und ihre Kinder – aus Sorge um deren Zukunftschancen – zu Objekten ihrer Erwartungen, ihrer eigenen Ziele und Interessen und damit zu Objekten ihrer jeweiligen Erziehungs- und Bildungs- oder sonstigen Fördermaßnahmen machen. Es ist schwer für Eltern, sich diesem Druck zu entziehen. Helfen kann ihnen dabei aber die Erinnerung an dieses Gefühl, das damals in ihnen wach wurde, als sich ihr Kind mit seinen ersten eigenen Bewegungen und Regungen im Bauch der werdenden Mutter bemerkbar machte.

Später, nach der Geburt, können die Eltern dann in allen Äußerungen ihres Kindes spüren, wie sehr es sich darum bemüht, von ihnen gesehen, wahrgenommen und angenommen zu werden. Irgendwann gelingt dem Baby sein erstes Lächeln, und die Mutter lächelt zurück. So entsteht der erste Dialog zwischen den beiden. Das Baby merkt, dass ihm seine Mutter antwortet. Und wenn sie lächelt, lächelt es auch. Die beiden begegnen einander – als Subjekte.

Und je häufiger das Kind nun erlebt, dass es mit einer eigenen Regung in der Lage ist, eine Antwort in seinem Gegenüber auszulösen, desto glücklicher ist es. Es spürt, dass es etwas bewirken kann, dass es gesehen wird und dass ihm geantwortet wird. Genau dieses Gefühl ist der Treibstoff, mit dem sich jedes Kind als begeisterter Entdecker seiner eigenen Möglichkeiten – also seiner Potenziale – auf den Weg macht. Aber dieses wunderbare Gefühl verschwindet sofort und verwandelt sich in Verunsicherung oder gar Angst, sobald ein Kind erleben muss, dass es nicht mehr in dieser Weise gesehen wird, dass seine eigenen Regungen nicht mehr beantwortet werden. Und das ist eben immer dann der Fall, wenn es nicht mehr als Subjekt betrachtet, sondern als Objekt behandelt wird.

Die Zeit der Schwangerschaft ist deshalb so kostbar, weil sich den werdenden Eltern in dieser Phase das Geheimnis des Lebens offenbart. Sie erleben ihr Kind als ein eigenständiges lebendiges Wesen, das sich, wie alle Lebewesen, aus sich selbst heraus, also selbstorganisiert entwickelt. Alles geschieht von ganz allein, sie können und brauchen nichts weiter zu tun, als dafür zu sorgen, dass es ihrem ungeborenen Kind möglichst gut geht und dass es im Bauch der Mutter alles bekommt, was es braucht. Und auch das funktioniert normalerweise ganz von allein. Dafür sorgen der Körper und der Stoffwechsel der Schwangeren ebenfalls aus sich selbst heraus, selbstorganisiert. Und es geht noch einen Schritt weiter: Auch die Verbindung zwischen Mutter und Kind, Vater und Kind, Umgebung und Kind birgt das Potenzial in sich, sich selbstorganisiert zu entfalten. Alle Beteiligten haben im Prinzip die Kapazitäten in sich, sich emotional miteinander zu verbinden, einander zu fühlen und feinfühlig aufeinander zu reagieren. Und dann passiert Kontakt, ganz ungeplant, ganz überraschend.

In einer Zeit, in der wir Menschen so ziemlich alles, was uns wichtig erscheint und was wir zum Leben brauchen, nach unseren Vorstellungen herstellen und gestalten können, ist das für manche Eltern eine tief greifende und bisweilen auch nicht ganz leicht zu akzeptierende Erkenntnis. Sie widerspricht ja nicht nur ihren Alltagserfahrungen. Sie stellt oft sogar ihr eigenes Selbstverständnis infrage. Fast alles konnten sie bisher so machen, wie sie es für richtig hielten und wie es ihren Vorstellungen und Absichten entsprach. Und nun geschieht etwas, das sie als werdende Eltern weder gestalten noch steuern können und wovon sie zudem auch noch wissen, dass es ihr gesamtes weiteres Leben verändern wird. Sie sind dabei, einem Kind das Leben zu schenken, und werden dafür nun selbst mit einer neuen Erfahrung beschenkt: dass nicht alles »machbar« ist, dass sie ihr Kind nur dankbar erwarten und liebevoll annehmen können, um es auf seinem Weg ins Leben, so gut sie es vermögen, zu begleiten.

Je besser es den werdenden Eltern gelingt, sich für diese Erfahrung zu öffnen, sie zuzulassen und bewusst anzunehmen, desto leichter fällt es ihnen später, ihrem Kind auch nach der Geburt in dieser Weise zu begegnen. Allzu groß ist heutzutage die Versuchung, aus diesem kleinen Mädchen oder diesem kleinen Jungen etwas ganz Besonderes machen zu wollen. Wenn Eltern sich nicht bewusst dagegen wehren, geraten sie allzu leicht in Gefahr, ihr Kind zur Verfolgung ihrer eigenen Absichten und Ziele zu benutzen, es zum Objekt ihrer jeweiligen Erziehungs- und Fördermaßnahmen zu machen. Genau das erlebt ihr Kind später noch zur Genüge, wenn es in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen unterrichtet, bewertet, mit guten Zensuren belohnt oder mit schlechten bestraft wird. Es bleibt ihm nicht viel anderes übrig, als sich anzupassen und diese Rolle so gut wie möglich zu übernehmen. Oder indem es dagegen aufbegehrt, sich wehrt und Widerstand leistet, also auffällig wird.

Ersteres scheint vielen Mädchen leichter zu fallen, Letzteres eher den Jungen, aber beide verlieren dabei zwangsläufig genau das, was sie als kleine Entdecker und Gestalter antreibt: ihre intrinsische, aus ihnen selbst herauskommende Lust am eigenen Entdecken und ihre angeborene Freude am gemeinsamen Gestalten. Wie gut, wenn ein Kind dann wenigstens zu Hause, bei seinen Eltern, erlebt, dass es so sein darf und so angenommen wird, wie es ist. Dass es von ihnen ermutigt und inspiriert wird, sich selbst und seine Möglichkeiten zu entdecken, seine Talente und Begabungen zu entfalten.

Kein Kind kommt mit der Absicht auf die Welt, besser als alle anderen oder genauso wie alle anderen zu werden. Aber es gibt ein tiefes Bedürfnis, das jedes Kind schon bei seiner Geburt in sich trägt. Entstanden ist es ganz langsam und schrittweise während der neun Monate davor, und zwar aufgrund einer schon im Mutterleib von ihm gemachten Grunderfahrung. In engster Verbundenheit mit einem anderen Menschen hat es sich dort monatelang entwickelt, ist in dieser Verbundenheit gewachsen, täglich ein Stück über sich selbst hinausgewachsen und hat sich dabei schon eine ganze Menge eigener Kompetenzen und Fähigkeiten angeeignet. Und weil das bisher so war, bringt jedes Kind die daraus erwachsene Erwartungshaltung als Grundbedürfnis mit auf die Welt: Alles in ihm will, dass es fortan so weitergeht, dass es in dieser Verbundenheit weiterwachsen, sich weiterentwickeln, seine Potenziale entfalten kann. Und weil jedes Kind schon bei seiner Geburt einzigartig, also anders als alle anderen ist, würde es dann auch diese Einzigartigkeit immer weiter entfalten. Es würde nicht besser oder genauso werden, sondern einfach nur anders als all die anderen.

Aber unsere gegenwärtige, so perfekt durchorganisierte und verplante Welt könnte nicht so bleiben, wie wir sie uns geschaffen haben, wenn jedes Kind tatsächlich die Gelegenheit bekäme und dazu ermutigt würde, sich zu einer solch einzigartigen Persönlichkeit zu entwickeln. Denn in dieser von uns geschaffenen Welt brauchen wir Kinder, aus denen Erwachsene werden, die – so wie alle anderen – möglichst gut funktionieren, die in Universitäten und Unternehmen später fortführen, was wir dort aufgebaut haben, die unsere Renten sichern und selbst wieder genügend Kinder bekommen.

Aber wir wissen auch, dass sich die Welt ständig verändert und es eine Illusion ist, zu glauben, alles könne auch in Zukunft so weitergehen wie bisher. Woher sollten die entscheidenden Impulse für den notwendigen Wandel kommen? Wer könnte immer wieder infrage stellen, was wir geschaffen haben und was wir im Leben für wichtig und bedeutsam erachten? Wie langweilig und wie wenig zukunftsfähig wäre unsere Welt, wenn es nicht immer wieder Kinder gäbe, die sich nicht so entwickeln, wie wir es von ihnen erwarten, die nicht einfach dem Weg weiter folgen, den wir für sie geebnet haben, die stattdessen lieber nach neuen, eigenen Wegen suchen und uns zeigen, dass es auch anders geht? Sind sie es nicht, die uns helfen, unsere Welt immer wieder umzugestalten?

Es stimmt, dass unsere gegenwärtige Welt wie ein Kartenhaus zusammenfallen würde, wenn es nicht mehr genügend Kinder gäbe, die unsere Errungenschaften später als Erwachsene zu bewahren und zu stabilisieren bereit und befähigt sind. Diese Erkenntnis beginnt sich jetzt angesichts der sinkenden Geburtenraten in vielen Ländern der westlichen Welt auszubreiten, und es werden alle möglichen Programme entwickelt und Maßnahmen auf den Weg gebracht, um die Geburtenzahlen in diesen Ländern wieder anzuheben und die heranwachsenden Kinder in den Erziehungs- und Bildungseinrichtungen so gut wie möglich für all das zu qualifizieren, was von ihnen später im Beruf erwartet wird. Aber Kinder kommen nicht auf die Welt, weil sie gebraucht werden. Und sie eignen sich ihr Wissen und ihr Können auch nicht deshalb an, um später die jeweiligen Rollen möglichst gut auszufüllen, die wir für sie vorgesehen haben, für die sie gebraucht werden. Kinder sind keine Objekte.

Wenn eine Schwangere, vielleicht sogar zusammen mit ihrem Partner, sagt: »Wir erwarten ein Kind«, so bringen sie damit genau dieses Gefühl zum Ausdruck. In ihrem tiefsten Inneren wissen sie, dass ihr Kind weder von ihnen »gemacht« noch nach ihren Vorstellungen geformt wird, dass es sich nur selbst entwickeln und entfalten kann. Als werdende Eltern können sie sich nur darum bemühen, es so zu begleiten, dass es ihm an nichts mangelt, was es für diesen Selbstentfaltungsprozess braucht. Am leichtesten wird ihnen das gelingen, wenn sie es als Geschenk erleben und ihm sein Leben zum Geschenk machen. Damit das möglichst vielen Eltern möglich wird und sie es auch bewusst so erleben können, haben wir dieses Buch geschrieben.

Teil I des Buches richtet sich auf die abenteuerliche Reise des ungeborenen Kindes. Eine Reise im Bauch der Mutter und eingebettet in ein Geflecht von menschlichen Beziehungen. Im Teil II des Buches steht die Reise der Eltern des ungeborenen Kindes im Mittelpunkt, die dabei allerlei Herausforderungen zu bestehen haben, um schließlich als Eltern geboren zu werden.

Wir laden Sie ein, mit uns auf diese Reise zu gehen.

Gerald Hüther, Ingeborg Weser

im Mai 2015

Teil 1

Die Reise des ungeborenen Kindes

Eins

Einladung zu einer Entdeckungsreise

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Hermann Hesse, Lebensstufen

An den Zauber der frühen Kindheit kann sich mancher noch erinnern. Das Wunder der Geburt erlebt jeder Erwachsene noch einmal, der dabei sein darf, wenn ein Kind zur Welt kommt. Aber alles, was davor geschieht, scheint völlig vor uns verborgen. Keiner kann sich an diese Phase seines Lebens direkt erinnern, und niemand kann zuschauen, wie sich die befruchtete Eizelle zu einem geburtsreifen Kind entwickelt. Es bleibt ein Mysterium, warum jedes Kind mit ganz eigenen Fähigkeiten, Begabungen und Möglichkeiten zur Welt kommt. Wir ahnen, dass Kinder bereits vor der Geburt individuelle Erfahrungen machen und ihre eigene Persönlichkeit ausbilden, dass die Gebärmutter auch das erste Zuhause für die Seele ist. Aber wir wissen nicht, wie das genau geschieht. Das ist das Geheimnis der ersten neun Monate.

In diesem Buch wollen wir versuchen, dieses Geheimnis ein wenig zu lüften. Aber keine Angst, es wird dabei nicht entzaubert. Im Gegenteil. Wir wollen zeigen, dass das Geheimnisvolle der ersten neun Monate im Leben eines Menschen seinen Zauber nicht verliert, wenn man es zu verstehen beginnt. Wer begreift, was für einen komplizierten Weg ein Kind bereits hinter sich hat, wenn es auf die Welt kommt, für den wird das Geheimnis der Schwangerschaft nur noch bewundernswerter und kostbarer.

Erst ganz allmählich wachsen das gesellschaftliche und wissenschaftliche Interesse daran, wie die vorgeburtliche Entwicklung wirklich vonstattengeht und welche Bedeutung sie für das weitere Leben des Kindes hat. Glücklicherweise wird unser Wissen darüber immer komplexer, ein Ende ist aber noch lange nicht in Sicht. Neue Erkenntnisse machen jedoch deutlich, dass ein ungeborenes Kind eben kein Zellhaufen ist, der – ganz gleich, wie es der Schwangeren geht und wie mit ihr umgegangen wird – von genetischen Programmen gesteuert automatisch zu einem geburtsreifen Kind heranwächst. Nach allem, was wir heute wissen, und im Gegensatz zu dem, was manche Menschen glauben, wird ein Embryo eben nicht wie ein Auto oder ein anderes technisches Gerät nach einem bestimmten Bauplan »zusammengebaut«. Das ungeborene Kind ist ein lebendiges Wesen, dessen Entwicklung nur dadurch möglich ist, dass es mit seiner mütterlichen Umgebung in ständiger Kommunikation steht. Von Beginn an findet eine komplexe Interaktion statt. Von Anfang an braucht der Mensch »Beziehung«.

Für die vorgeburtliche Entwicklung ist dieses Wissen noch relativ neu. Wie wichtig die Mutter-Kind-Beziehung in der Säuglingszeit ist, wissen wir inzwischen recht genau – wenn auch noch nicht allzu lange. Noch vor wenigen Jahrzehnten wurden neugeborene Babys ohne Narkose operiert, weil man glaubte, ihr Schmerzempfinden sei noch nicht entwickelt. Neugeborene wurden nach der Geburt von ihren Müttern getrennt, damit sich die Mütter in Ruhe erholen konnten. Dabei ging man davon aus, dass die Neugeborenen noch kein psychisches Leid empfänden. Erst neue wissenschaftliche Erkenntnisse konnten diesem Spuk ein Ende bereiten. Ein Beispiel hierfür sind die an Rhesusäffchen gewonnenen Erkenntnisse über die Bedeutung des Körperkontaktes zwischen Mutter und Kind. In diesen recht grausam anmutenden Versuchen wurden mutterlosen Rhesusäffchen zwei künstliche Ersatzmütter zur Auswahl angeboten. Die eine bestand aus einem Drahtgeflecht, das die groben Umrisse eines mütterlichen Körpers nachbildete und in dem eine Nahrung spendende künstliche Milchquelle untergebracht war. Die andere Attrappe war ähnlich aufgebaut, hatte jedoch keine Milchquelle, dafür aber einen kuscheligen fellartigen Überzug. Es galt herauszufinden, welche der »Ersatzmütter« für die Kleinen wichtiger war. Entgegen allen damals herrschenden Erwartungen war das nicht die Ersatzmutter mit der Futterquelle. Vielmehr klammerten sich die Jungen stundenlang an die Ersatzmutter mit Fell. Erst als der Hunger zu groß wurde, huschten sie schnell zur »Drahtmutter« hinüber, saugten hastig an der künstlichen Zitze, um sich dann so schnell wie möglich wieder an die »Fellmutter« anzuklammern. Das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit durch die künstliche »Fellmutter« war den Affenbabys offensichtlich wichtiger als die Futterquelle. Für die kleinen Affen – und wohl auch für menschliche Babys – ist die Qualität der emotionalen Beziehung wichtiger als die pure Versorgung. Ähnliche Untersuchungen wurden auch an Hunden durchgeführt. Einer dieser Versuche bestand darin, Welpen selbstständig nach Nestwärme suchen zu lassen. Dazu wurden sie, nachdem die Mutter vorübergehend ferngehalten wurde, um eine Kupferwärmflasche gelegt, die die Körpertemperatur der Hündin ausstrahlte. Die in diesem Alter noch blinden und tauben Welpen versuchten nun, ihre unangenehme Lage zu verbessern. Keiner der Welpen zeigte trotz Kontakt mit der Wärmflasche ein Bestreben, Nähe zu dieser Wärmequelle zu halten. Vielmehr suchten die Welpen weiter, bis der größte Teil untereinander Körperkontakt fand. Abseits der angebotenen Wärmflasche versuchten die Welpen also, einander zu wärmen. Damit war deutlich geworden, dass man für Nestwärme mehr braucht als nur eine physikalische Wärmequelle.

Solchen und noch vielen anderen neuen Erkenntnissen verdanken wir die inzwischen wachsende und um sich greifende Einsicht, dass neugeborene Kinder, genau wie alle Hundewelpen oder Affenbabys, vor allem eines brauchen, um sich gesund entwickeln und die in ihnen angelegten Fähigkeiten optimal entfalten zu können: Geborgenheit und Sicherheit und eine einfühlsame, zugewandte Fürsorge von Müttern und Vätern oder anderen Pflegepersonen, die bereit sind, sie mit Sensibilität und Liebe zu erkunden und ihre Bedürfnisse auf angemessene Art zu beantworten. Inzwischen haben Säuglingsforscher, Kinderpsychologen, Hirnforscher und Entwicklungsbiologen noch viele andere neue Entdeckungen gemacht, die belegen, wie sehr Kinder auf ihre Eltern angewiesen sind.

Wir wissen heute, dass unsere Kinder mit einem noch sehr unfertigen Gehirn zur Welt kommen. Die endgültigen Verschaltungen zwischen den Fortsätzen der Nervenzellen werden erst später durch die von jedem Kind in seiner jeweiligen Lebenswelt selbst gesammelten Erfahrungen in einer bestimmten, nutzungsabhängigen Weise herausgeformt und stabilisiert. Die von seinen Eltern gestalteten Entwicklungsbedingungen und die in der jeweiligen Herkunftsfamilie herrschenden Rahmenbedingungen haben also einen ganz entscheidenden Einfluss darauf, wie sich das Gehirn eines Kindes entwickelt.

Neues Wissen und neue Erkenntnisse, die etwas enthüllen, was bisher verborgen war und bestenfalls (von manchen Menschen) erahnt wurde, können Eltern helfen, ihre Kinder besser zu verstehen, ihre Bedürfnisse besser zu erkennen und Verantwortung für die Gestaltung ihrer Lebenswelt zu übernehmen. Sie verderben also weder die Freude noch nehmen sie den Zauber oder die Ehrfurcht vor dem, was jedes Kind ist: ein einzigartiges Geschenk und ein Wunder, das wir ein Stück weit auf seinem Weg ins Leben begleiten dürfen. Geahnt haben das Menschen, vor allem Eltern, schon immer. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass fast alle Eltern – und manchmal auch die Hebammen und Geburtshelfer, meist auch die Großeltern – vor Rührung weinen, wenn ein Kind zur Welt gekommen ist. Auch dieses Phänomen haben die Hirnforscher inzwischen untersucht: Wir weinen immer dann, wenn die emotionalen Zentren in unserem Gehirn erschüttert werden. Das kann z. B. passieren, wenn wir etwas verlieren, was uns bisher geholfen hat, so zu werden und so zu sein, wie wir sind. Dann fließen die Tränen aus Trauer. Eine Erschütterung der emotionalen Zentren wird aber auch immer dann ausgelöst, wenn wir spüren, dass etwas passiert, was uns über uns selbst hinauswachsen lässt. Wenn wir ahnen, dass wir zu etwas Verbindung bekommen, was größer und mehr ist als das, was wir derzeit sind. Dann wird der gleiche Mechanismus im Hirn in Gang gesetzt, aber die Tränen fließen jetzt aus Rührung, Dankbarkeit und Freude. Das Wissen darüber, wie die Tränen zustande kommen, ändert nichts an dem Gefühl, dass die Geburt eines Kindes etwas Wunderbares ist. Aber man kann neues Wissen auch nutzen, um das, was bisher rätselhaft und geheimnisvoll war, zu verstehen. Immer dann, wenn es uns gelingt, etwas mehr über einen anderen zu erfahren und ihn besser als bisher zu begreifen, entsteht ein auf diesen anderen Menschen gerichtetes Gefühl – Mitgefühl. Es gelingt uns dann besser, uns in den anderen hineinzuversetzen, dessen Art, zu sein, auch seine Probleme und Schwierigkeiten nachzuempfinden. Erst so wird es uns möglich, zu erkennen, wie wir ihm auf seinem Weg helfen können, was er braucht, um seinen Weg zu finden. Erst dann sind wir wirklich in der Lage, das aus dem Weg zu räumen oder zu vermeiden, was ihn in Gefahr bringen könnte. Das gilt für unseren Umgang mit Kindern, das gilt aber auch für unseren Zugang zu Schwangerschaft und Geburt. Wenn es tatsächlich so ist, dass wir Eltern sind »von Anfang an«, dann ist es notwendig, mehr über diese frühe Entwicklungsphase zu erfahren. Denn nur so kann es gelingen, uns in die verborgene Welt des ungeborenen Kindes einzufühlen und die Herausforderungen der Elternschaft zu meistern.

Eltern zu sein ist heutzutage nicht gerade einfach. Die Welt, in der wir leben und in die unsere Kinder hineingeboren werden, verändert sich inzwischen in einem atemberaubenden Tempo. Nie zuvor hatten, zumindest bei uns, so viele Kinder so viele Möglichkeiten wie heute, ihre Neigungen und Begabungen zu entfalten, sich so viel Wissen und so viele unterschiedliche Fähigkeiten und Fertigkeiten anzueignen. Aber unsere und damit auch ihre Welt ist nicht nur vielfältiger und bunter, sie ist auch unruhiger und unsicherer geworden. Mit all dem, was ihre Eltern und Großeltern noch wissen und können und was ihnen noch geholfen hat, sich im Leben zurechtzufinden, können die in die heutige Welt hineinwachsenden Kinder immer weniger anfangen. Immer schneller wandeln sich von Generation zu Generation die Vorstellungen von dem, worauf es im Leben ankommt. Das gilt nicht nur für die Gestaltung des eigenen Lebensweges, sondern auch für die Versuche von Eltern, ihre Kinder auf diesem Weg ins Leben zu begleiten und ihnen dabei all das mitzugeben, was sie dafür später einmal brauchen. Je stärker aber das Ziel dieser Reise, auf der Eltern ihre Kinder begleiten, im Nebel einer ungewissen Zukunft verschwimmt, desto größer wird die Gefahr, dass sich zunächst die Eltern und dann auch ihre Kinder dabei verirren und einander verlieren. Manche Eltern versuchen deshalb – wie schon ihre Eltern und deren Eltern – den immer wieder aufsteigenden Nebel wegzublasen und damit das Ziel der Reise wieder deutlich sichtbar zu machen. Andere hoffen, ihre Kinder durch das Aufstellen von auch bei dichtem Nebel noch weithin sichtbaren Wegweisern auf den rechten Weg zu lotsen. Aber es gibt auch immer mehr Eltern, die das wahre Geheimnis einer gelingenden Erziehung entdecken, vielleicht auch nur wiederentdecken: Sie versuchen nicht, ihre Kinder auf einen bestimmten, von ihnen vorgezeichneten Weg zu schicken, sondern sie bemühen sich darum, ihnen dabei behilflich zu sein, diesen Weg selbst zu finden. Und sie sind bereit, sich selbst und ihre vorgefassten Ideen infrage zu stellen. Wenn sich Eltern und Erziehende gefühlsmäßig auf die Welt der Kinder einlassen – ganz gleich, ob es sich um das ungeborene Kind im Mutterleib, um Kleinkinder oder Jugendliche handelt –, dann wird nicht nur der Werdegang der Kinder optimal gefördert. Auch die Eltern lassen sich dann auf einen emotionalen Entwicklungsprozess ein, der ihr Leben bereichert.

Inzwischen wissen wir sehr viel über Schulkinder, über Kindergartenkinder, über Kleinkinder und über Säuglinge. All diese Erkenntnisse lassen sich in vier Sätzen zusammenfassen:

  1. Kinder sind zu jedem Zeitpunkt ihrer Entwicklung weitaus kompetenter, als wir bisher angenommen haben.

  2. Um sich optimal entwickeln zu können, brauchen sie die Erfahrung, willkommen zu sein und in den Eltern bzw. Pflegepersonen sichere Bindungspartner zu finden, die ihre Bedürfnisse in angemessener Weise beantworten.

  3. Sie suchen sich ihren Weg und erschließen sich die Welt aus eigenem Antrieb; und wir können ihnen dabei Mut machen, ihnen mögliche Wege zeigen und sie unterstützen, wenn sie allein (noch) nicht weiterkommen und sich zurechtfinden.

  4. Jeder Schritt auf dieser Entdeckungsreise wird durch all das bestimmt, was die Kinder im Verlauf ihres bisherigen Lebens bereits entdeckt und in ihrem Gehirn verankert haben.

Wirklich neu ist das, wovon dieses Buch handelt: All das gilt nicht erst nach, sondern ebenso bereits vor der Geburt. Das ganze Leben ist eine Entdeckungsreise. Vieles, was die Forscher in den letzten Jahren herausgefunden haben, spricht dafür, dass wir den spannendsten und aufregendsten Teil dieser Reise bereits hinter uns haben, wenn wir auf die Welt kommen.

Zwei

Aufbruch in eine unbekannte Welt

Wenn wir zu verstehen versuchen, was vor der Geburt im Mutterleib geschieht, so geht es uns dabei nicht viel anders als unseren Kindern, wenn sie sich durch Versuch und Irrtum in eine ihnen unbekannte Welt vortasten. Auch sie können dabei nur ganz allmählich, Schritt für Schritt, begreifen, was in dieser Welt geschieht und wie sie tatsächlich beschaffen ist. Dabei sammeln sie ihre ersten Erfahrungen, gewinnen immer neue Erkenntnisse. Und mit jeder neuen Erkenntnis beginnt das Bild, das sie sich von der Welt machen, in die sie hineinwachsen, ein wenig größer und umfassender zu werden. Die Welt, in die ein ungeborenes Kind hineinwächst, kennen wir nur bruchstückhaft. So können auch wir nur vermuten, wie es kommt, dass ein Kind in dieser intrauterinen Welt entsteht, und wie diese Welt beschaffen ist. Wir können versuchen, mithilfe von Messgeräten immer tiefer in diese Welt einzudringen und so immer besser sichtbar oder zumindest nachvollziehbar zu machen, was sich dort abspielt. Es gab aber Zeiten, in denen diese Möglichkeiten wissenschaftlichen Messens und Untersuchens noch nicht zur Verfügung standen. Und es gab zu allen Zeiten Menschen, die nicht davon überzeugt waren, dass all dieses vordringende Zerlegen überhaupt ein geeigneter Weg ist, um zu verstehen, was in den neun Monaten vor der Geburt eines Menschen wirklich passiert. Auch diese beiden Haltungen findet man bereits bei den Kindern. Vor allem kleine Jungen neigen dazu, alles, was sie interessiert, auseinanderzubauen und in seine Einzelteile zu zerlegen, um herauszufinden, wie es funktioniert. Im Gegensatz dazu kommen kleine Mädchen nur selten auf die Idee, ihrer geliebten Puppe den Bauch aufzuschlitzen, um zu untersuchen, wo die Stimme eigentlich herkommt. Die einen versuchen also, das Geheimnisvolle zu erklären, die anderen wollen es verstehen. Beide machen andere Erfahrungen und sammeln dabei unterschiedliches Wissen. Beides ist sinnvoll, und erst beides zusammen ermöglicht es uns, die Welt in ihrer Komplexität und Vielfalt zu verstehen. Das gilt auch für unsere Kenntnisse über Schwangerschaft und Geburt. Einerseits verfügen wir über die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen. Andererseits gibt es aber auch uralte tradierte Mythen und Rituale, die diese Lebensphase in allen Gesellschaften beschreiben. Und schließlich existiert noch all das intuitive Wissen, das Mütter und Väter, Hebammen und Geburtshelfer über die Welt des ungeborenen Kindes gesammelt haben.

Vom Anfang des Lebens geht von jeher eine besondere Faszination aus, denn Schwangerschaft und Geburt sind Erfahrungen, die alle Menschen teilen. Obwohl wir uns nicht bewusst an vorgeburtliche Erlebnisse erinnern können, scheinen sie dennoch tief in unseren Körpern und Seelen verwurzelt zu sein. Bei den Naturvölkern kommt dies in vielen überlieferten Mythen und Ritualen zum Ausdruck. Im Kongo haben schwangere Frauen z. B. die Gewohnheit, ihrem Kind im Bauch immer wieder dasselbe Lied vorzusingen. Nach der Geburt erinnert es sich daran. Die vertrauten Töne beruhigen es und geben ihm Sicherheit. In Thailand geht man davon aus, dass das ungeborene Kind alles miterlebt, was in der Mutter vor sich geht. Deshalb sorgt man dafür, dass die Mutter während der Schwangerschaft vor allem positive Erfahrungen macht. Bei den Quiché in Guatemala wird im siebten Monat eine Zeremonie begangen, bei der die Mutter ihrem Kind im Bauch mit lauter Stimme erzählt, wie die Wälder, Berge und Flüsse, also die Landschaft und die Umgebung, aussehen, in die es bald hineingeboren wird. Es wird auf diese Weise willkommen geheißen und auf sein zukünftiges Leben vorbereitet.

Diese Bräuche helfen der Mutter, dem Vater und der Gemeinschaft, in der sie leben, eine Beziehung zu dem ungeborenen Kind aufzunehmen. Sie machen deutlich, dass die Zeit vor der Geburt eine Lebensphase ist, in der das sich entwickelnde Kind besonders verletzlich ist und besonderen Schutz braucht. In vielen ursprünglichen Gesellschaften wird das ungeborene Kind auch mit mystischen und religiösen Vorstellungen in Verbindung gebracht. Auf Java gilt es als Mystiker, der in seiner Höhle meditiert und sich dort seelisch auf die Welt vorbereitet. Bei anderen Naturvölkern wird das ungeborene Kind als Wesen zwischen »Himmel und Erde« angesehen: eng verwoben mit der Welt der Götter und Ahnen und besonders in den ersten Lebenswochen gefährdet, wieder in die mystische Welt zurückgerufen zu werden.

Vorstellungen über Schwangerschaft und Geburt sind Vorstellungen über Sein oder Nichtsein. Das ist kein Wunder. Kinder zu haben ist nicht nur für Menschen aus Naturvölkern eine existenzielle Notwendigkeit. Ohne Kinder kann keine Gemeinschaft überleben. Die Geburt ist außerdem eine potenziell lebensgefährliche Angelegenheit. Leben und Tod sind dabei untrennbar miteinander verbunden. Dies spiegelt sich auch in kulturellen Überlieferungen wider. Viele göttliche Mutterfiguren, wie z. B. die keltische Göttin Morrigan, herrschen über das Leben, aber auch über den Tod. Sie haben gleichzeitig Leben spendende, aber auch Leben vernichtende Qualitäten. Ein weitverbreitetes Motiv in Mythen und Märchen ist die Geschichte des Helden, der von einem Tier oder einem Fabelwesen verschlungen wird und in dessen Bauch gefangen ist. Durch todesmutige Taten kann der Held sich schließlich aus dieser Lage wieder befreien. Auch Schreckensbilder der »Hölle« werden mit dem Leben im Mutterleib assoziiert und sind scheinbar Teil unseres kulturellen Erbes. Auf der anderen Seite werden diesem vorgeburtlichen Lebensraum aber auch »himmlische« Qualitäten zugeschrieben: Es ist ein paradiesischer Ort der Rundumversorgung, nach dem sich jeder Mensch zurücksehnt; ein heiliger Ort sogar, in dem, wegen der Nähe zum Göttlichen, höchstes Glück und Ergriffenheit herrschen. In den bronzezeitlichen ägäischen Kulturen ist vielfach belegt, dass die Toten in fötaler Stellung hockend beigesetzt wurden: Der Verstorbene hat seinen Lebenszyklus durchlaufen und macht sich sozusagen bereit für seine Wiedergeburt.

Leben und Tod gehören zusammen. Schwangerschaft und Geburt erinnern uns daran. Die Verbindung von Leben und Tod macht ihre Faszination aus und lässt uns gleichzeitig erschaudern. Sie erinnern uns daran, dass wir das Geheimnis des Lebens nie ganz lüften können, dass wir es nie ganz unter Kontrolle bekommen werden. Unsere Vorfahren versuchten, ihre Gefühle angesichts dieser existenziellen Erfahrungen mithilfe von Mythen und Ritualen in den Griff zu bekommen. Auf den ersten Blick scheint dies für uns aufgeklärte Menschen ein fragwürdiger Zugang zu sein. Dennoch sind wir den Gefühlen und Ängsten unserer Vorfahren wahrscheinlich näher, als uns lieb ist. Auch wir brauchen Mittel und Wege, um uns angesichts der existenziellen Bedeutung von Schwangerschaft, Geburt und Tod emotional sicher zu fühlen. Vielleicht suchen wir diese Sicherheit deshalb in unseren »modernen Mythen«; in der Machbarkeit des Glücks und der Kontrollierbarkeit des Lebens und der Gesundheit durch wissenschaftlich-technischen Fortschritt.

Wie die vielen Mythen und Rituale in den verschiedenen Kulturen entstanden sind, weiß heute niemand mehr. Wem wir aber unser heutiges Wissen über die vorgeburtliche Entwicklung und über die während der Schwangerschaft ablaufenden physiologischen Prozesse, angefangen bei der Befruchtung bis hin zur Geburt, verdanken, ist – wenn auch bisweilen nicht namentlich, so doch zumindest von der Geschlechtszugehörigkeit – zweifelsfrei belegt: Es waren (und sind noch heute überwiegend) Männer. Als sie die ersten Mikroskope entwickelt hatten und damit auch das sichtbar machen konnten, was ihren Anteil an der Befruchtung ausmachte, nannten sie die in ihrem Ejakulat herumschwimmenden Samenfäden »Spermatozoen«, was aus dem Griechischen übersetzt »Samentierchen« heißt. Im Kopfteil dieser kaulquappenartigen Gebilde glaubten sie damals einen zwar noch sehr winzigen, aber doch schon vollständig ausgebildeten, zusammengekauerten Menschen zu erkennen. Als sie herausgefunden hatten, dass bei der Befruchtung eine solche männliche Samenzelle mit einer Eizelle der Frau verschmilzt, schien die Aufgabe dieser Eizelle ebenfalls klar. Sie – und nachfolgend die Plazenta – lieferte die Nährstoffe, die gebraucht wurden, damit der im Spermakopf komplett vorgebildete Miniaturmensch zu einem richtigen Kind und später zu einem richtigen Menschen – möglichst einem Mann – heranreifen konnte.