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Sucht: Risiken – Formen – Interventionen

Interdisziplinäre Ansätze von der Prävention zur Therapie

 

Herausgegeben von

 

Oliver Bilke-Hentsch

Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank

Michael Klein

Jörg Daumann
Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank

Amphetamine, Ecstasy und Designerdrogen

Verlag W. Kohlhammer

 

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-023359-1

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-028805-8

epub:    ISBN 978-3-17-028806-5

mobi:    ISBN 978-3-17-028807-2

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Geleitwort der Reihenherausgeber

 

Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte im Suchtbereich sind beachtlich und erfreulich. Dies gilt für Prävention, Diagnostik und Therapie, aber auch für die Suchtforschung in den Bereichen Biologie, Medizin, Psychologie und den Sozialwissenschaften. Dabei wird vielfältig und interdisziplinär an den Themen der Abhängigkeit, des schädlichen Gebrauchs und der gesellschaftlichen, persönlichen und biologischen Risikofaktoren gearbeitet. In den unterschiedlichen Alters- und Entwicklungsphasen sowie in den unterschiedlichen familiären, beruflichen und sozialen Kontexten zeigen sich teils überlappende, teils sehr unterschiedliche Herausforderungen.

Um diesen vielen neuen Entwicklungen im Suchtbereich gerecht zu werden, wurde die Reihe »Sucht: Risiken – Formen – Interventionen« konzipiert. In jedem einzelnen Band wird von ausgewiesenen Expertinnen und Experten ein Schwerpunktthema bearbeitet.

Die Reihe gliedert sich konzeptionell in drei Hauptbereiche, sog. »tracks«:

Track 1:

Grundlagen und Interventionsansätze

Track 2:

Substanzabhängige Störungen und Verhaltenssüchte im Einzelnen

Track 3:

Gefährdete Personengruppen und Komorbiditäten

In jedem Band wird auf die interdisziplinären und praxisrelevanten Aspekte fokussiert, es werden aber auch die neuesten wissenschaftlichen Grundlagen des Themas umfassend und verständlich dargestellt. Die Leserinnen und Leser haben so die Möglichkeit, sich entweder Stück für Stück ihre »persönliche Suchtbibliothek« zusammenzustellen oder aber mit einzelnen Bänden Wissen und Können in einem bestimmten Bereich zu erweitern.

Unsere Reihe »Sucht« ist geeignet und besonders gedacht für Fachleute und Praktiker aus den unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Suchtberatung, der ambulanten und stationären Therapie, der Rehabilitation und nicht zuletzt der Prävention. Sie ist aber auch gleichermaßen geeignet für Studierende der Psychologie, der Pädagogik, der Medizin, der Pflege und anderer Fachbereiche, die sich intensiver mit Suchtgefährdeten und Suchtkranken beschäftigen wollen.

Die Herausgeber möchten mit diesem interdisziplinären Konzept der Sucht-Reihe einen Beitrag in der Aus- und Weiterbildung in diesem anspruchsvollen Feld leisten. Wir bedanken uns beim Verlag für die Umsetzung dieses innovativen Konzepts und bei allen Autoren für die sehr anspruchsvollen, aber dennoch gut lesbaren und praxisrelevanten Werke.

Der erste Band unserer Reihe, verfasst von Jörg Daumann und Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank aus Köln, gehört zu Track 2 (Substanzabhängige Störungen und Verhaltenssüchte im Einzelnen). Er beschäftigt sich mit dem hochaktuellen Thema der Stimulanzien (Amphetamine, Ecstasy und neuere Designerdrogen), die in den letzten Jahren deutlich an Bedeutung gewonnen haben. Nicht nur in den jeweiligen Jugendkulturen finden diese illegalen Substanzen breite und oft unkritische Anwendung. Amphetamine, vor allem das Methamphetamin (crystal, meth), sind auch in der harten Drogenszene ein zunehmend ernstes Problem. Bei aller Vergleichbarkeit unterscheiden sich die verschiedenen Stimulanzien bedeutsam in Biologie, Wirkung und Gefährdungspotential. Es ist in Beratung und Therapie ebenso wie in der Prävention von Bedeutung, die Charakteristika der Stoffe und Konsummerkmale im Einzelnen zu kennen. Nur so können sinnvolle Präventionsansätze geplant und die Klientinnen und Klienten sachgerecht unterstützt werden.

 

Oliver Bilke-Hentsch, Winterthur/Zürich

Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Köln

Michael Klein, Köln

Inhalt

  1. Geleitwort der Reihenherausgeber
  2. 1 Einleitung
  3. 2 Epidemiologie
  4. 2.1 Wie verbreitet sind Ecstasy, Speed und Crystal?
  5. 2.2 Wie verbreitet ist problematischer Konsum?
  6. 2.3 Welche neuen Stimulanzien gibt es?
  7. 3 Stoff- bzw. Verhaltensspezifika
  8. 3.1 Wichtige historische Eckdaten
  9. 3.1.1 Amphetamin und Methamphetamin
  10. 3.1.2 MDMA/Ecstasy
  11. 3.2 Chemische Struktur der synthetischen Drogen
  12. 3.3 Konsummuster
  13. 3.3.1 Amphetamin und Methamphetamin
  14. 3.3.2 MDMA/Ecstasy
  15. 3.3.3 Mephedron
  16. 3.3.4 Mischkonsum
  17. 4 Neurobiologie
  18. 4.1 Akutwirkungen
  19. 4.2 Schädigen Speed, Crystal und Ecstasy das Gehirn langfristig?
  20. 4.2.1 MDMA/Ecstasy
  21. 4.2.2 Amphetamin und Methamphetamin
  22. 4.3 Was bedeuten die möglichen Schäden am Serotonin- und Dopaminsystem für die Konsumenten?
  23. 4.4 Neurobiologie und Lernpsychologie der Suchtentwicklung
  24. 5 Substanzwirkungen
  25. 5.1 Akute und subakute Effekte
  26. 5.1.1 Amphetamin und Methamphetamin
  27. 5.1.2 MDMA/Ecstasy
  28. 5.1.3 Schwerwiegende akut-körperliche Komplikationen
  29. 5.2 Chronische Effekte
  30. 5.2.1 Psychische Auswirkungen
  31. 5.2.2 Auswirkungen auf kognitive Funktionen
  32. 5.2.3 Körperliche Auswirkungen
  33. 5.3 Amphetamine und Derivate als Medikamente
  34. 5.3.1 Stimulanzien
  35. 5.3.2 MDMA/Ecstasy
  36. 6 Psychosoziale Aspekte
  37. 6.1 MDMA/Ecstasy
  38. 6.2 Amphetamin und Methamphetamin
  39. 7 Ätiologie – ein integrativer, interdisziplinärer Ansatz
  40. 7.1 Welche Faktoren beeinflussen den ersten Konsum?
  41. 7.2 Wenn es nicht bei einem Mal bleibt
  42. 7.3 Wenn der Konsum zur psychischen Störung wird
  43. 8 Diagnostik
  44. 8.1 Diagnostisches Vorgehen
  45. 8.2 Schädlicher Gebrauch
  46. 8.3 Abhängigkeit
  47. 8.4 Intoxikation
  48. 8.5 Entzug
  49. 8.6 Substanzinduzierte Störungen
  50. 8.7 Komorbide substanzbezogene und andere psychische Störungen
  51. 8.8 Synopsis der toxikologischen Untersuchungen
  52. 9 Therapieplanung und Interventionen
  53. 9.1 Akutbehandlung
  54. 9.1.1 Behandlung von Intoxikationssyndromen
  55. 9.1.2 Entzugsbehandlung
  56. 9.2 Postakutbehandlung
  57. 9.2.1 Therapieprinzipien und Setting
  58. 9.2.2 Psychotherapie
  59. 9.2.3 Pharmakotherapie
  60. 9.2.4 Behandlung komorbider Störungen
  61. 9.2.5 Soziorehabilitative Ansätze
  62. 9.3 Prävention
  63. 10 Synopse und Ausblick
  64. 10.1 Was wissen wir? – Die wichtigsten Eckdaten
  65. 10.2 Was wissen wir (noch) nicht?
  66. Literatur
  67. Stichwortverzeichnis

 

 

 

 

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Einleitung

 

 

Die Stimulanzien Amphetamin (speed) und Methamphetamin (meth, crystal meth), das chemisch eng verwandte MDMA (3,4-Methylendioxymethamphetamin, ecstasy) und einige MDMA-ähnliche Substanzen sind neben Kokain die bei weitem verbreitetsten illegalen Drogen nach Cannabis. In der englischsprachigen Literatur hat sich in den letzten Jahren der Begriff amphetamine-type stimulants (ATS) durchgesetzt, worunter alle oben genannten Substanzen subsumiert werden (Images Abb. 1).

Ungeachtet vieler Ähnlichkeiten, gibt es jedoch auch wichtige Unterschiede zwischen den klassischen Stimulanzien und der Ecstasy-Gruppe, sowohl hinsichtlich der neurobiologischen Wirkungen und des Rauscherlebnisses als auch hinsichtlich der Abhängigkeitsgefährdung und der Charakteristika von Konsumentengruppen.

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Abb. 1: Chemische Strukturformeln für amphetamine-type stimulants

Auch ist die Geschichte der zwei Substanzgruppen sehr verschieden. Da viele Konsumenten sowohl Amphetamine als auch Ecstasy einnehmen, verschwimmen häufig die Unterschiede in der Praxis. Für ein vertieftes Verständnis der Wirkungen, der Konsummotive und der Gefahren durch die ATS ist es jedoch unerlässlich, die zwei Substanzgruppen differenziert zu betrachten. Demnach werden die verschiedenen substanzspezifischen Aspekte in den folgenden Kapiteln getrennt für die Stimulanzien und für Ecstasy dargestellt.

Gewissermaßen charakteristisch für die ATS ist die Vielfalt der klinischen Bilder und typischen Konsumentenkulturen. Dies trifft vor allem für die Stimulanzien Amphetamin und Methamphetamin zu, die von ansonsten gut integrierten jungen Menschen im Rahmen eines kontrollierten Freizeitkonsums bei Partys und ähnlichen Events, aber auch in bestimmten beruflichen Kontexten zur Leistungssteigerung und schließlich auch in der harten Drogenszene von sozial desintegrierten, polyvalenten Drogenabhängigen in z. T. extrem hohen Dosen konsumiert werden. Die nun folgenden typischen Fallvignetten geben einen ersten Einblick in das Spektrum der Konstellationen und klinischen Bilder bei Konsumenten von ATS.

Fallvignette 1 Partykonsument

Der 23-jährige Herr A. hatte eine unauffällige Kindheit in geordneten Verhältnissen. Die Familienanamnese ist leer bezüglich psychischer Erkrankungen. Nach dem Fachabitur und dem Wehrdienst begann Herr A. eine kaufmännische Ausbildung. Aktuell befindet er sich im dritten Ausbildungsjahr. Die Ausbildung macht ihm weniger Spaß, als er gedacht hatte, er »zieht es durch«, weil er gerne einen Abschluss haben möchte, ist sich aber nicht sicher, was er danach machen möchte. Er lebt in einer Wohngemeinschaft mit noch einem Auszubildenden und einer Studentin und hat eine Freundin.

Herr A. mag elektronische Musik und Tanzen und er war bereits während der zwei letzten Schuljahre öfter in Clubs und Konzerten. Damals hatte er an den Wochenenden häufiger mit Freunden Cannabis geraucht, er hatte aber keine synthetischen Drogen genommen, da er »Respekt« davor hatte. Im ersten Ausbildungsjahr probierte er erstmalig im Club Ecstasy, und von da an nahm er es regelmäßig, zunächst ein bis zweimal im Monat, später an fast jedem Wochenende. Besonders am Anfang sei das »Glücksgefühl« und die »Euphorie« unter Ecstasy »überwältigend«, später sei die Wirkung nicht mehr ganz so stark gewesen, aber er habe auf jeden Fall die Musik und das Feiern mit den Pillen sehr genossen. Ab und zu habe er auch Speed probiert, das sei auch »gut« gewesen, aber »nicht so schön« wie MDMA.

Herr A. vertrug den Konsum zunächst gut, blieb bei einer bis zwei Pillen pro Konsumabend, hatte keinen »Kater« am nächsten Tag und kam in der Woche mit seiner Ausbildung gut zurecht. Nach etwa zwei Jahren bemerkte er aber im Alltag erste Probleme mit der Konzentration und der Merkfähigkeit, er fühlte sich auch häufiger erschöpft und lustlos und es fiel ihm schwerer, die Ausbildung »durchzuhalten«. Schließlich ging es ihm nach einem »üblichen Samstagabend« mit zwei Pillen Ecstasy und Alkohol am Sonntag schlecht, er fühlte sich angespannt und besorgt, ohne dass er hätte sagen können, warum. Im Laufe der darauffolgenden Tage verschlechterte sich sein Befinden, er konnte sich bei der Arbeit überhaupt nicht konzentrieren, konnte nachts nicht schlafen, wurde immer unruhiger und deprimierter. Schließlich ging er zum Hausarzt, der ihn krankschrieb und zu einem Psychiater überwies.

Unter der Verdachtsdiagnose einer Erstmanifestation einer depressiven Störung wurde Herr A. mit zwei verschiedenen Antidepressiva behandelt, allerdings ohne Erfolg. Nach zwei Monaten wurde er stationär in einer psychiatrischen Klinik aufgenommen. Der Verlauf war protrahiert, Herr A. wurde sogar streckenweise suizidal, so dass er kurzfristig auf eine geschützte Station verlegt werden musste. Schließlich zeichnete sich nach weiteren medikamentösen Umstellungen und begleitender psychotherapeutischer Behandlung eine langsame, aber stetige Besserung ab und zuletzt die Vollremission der depressiven Symptomatik.

Herrn A. wurde seitens der Klinik erläutert, dass die depressive Episode wahrscheinlich mit dem Ecstasy-Konsum zusammenhing. Er kann sich das vorstellen und hat sich fest entschlossen, keine chemischen Drogen mehr einzunehmen. Es fällt ihm aber schwer, »ohne« feiern zu gehen, zumal »Jeder um mich herum drauf ist«, und irgendwie macht es nicht mehr so viel Spaß wie früher. Er muss sich umorientieren und sein Leben in gewisser Hinsicht »neu ordnen«, er ist aber sehr froh, dass es ihm wieder besser geht und möchte unbedingt auch die Ausbildung fertig machen.

Fallvignette 2 Amphetamin-Konsum zur Leistungssteigerung

Der 37-jährige Herr K. wird von seiner Partnerin in die Aufnahme eines Krankenhauses gebracht. Er schildert aufgeregt, dass in der letzten Zeit merkwürdige Dinge in seiner Wohnung passieren würden. So habe er mehrfach gehört, wie sein Nachbar laut über ihn geredet habe. Er sei sicher, dass sein Nachbar ihn über sein Telefon abhöre, daher habe er am Vortag die Telefonleitung im Treppenhaus durchtrennt.

Die Partnerin berichtet, dass Herr K. in den letzten zwei Jahren in seinem Beruf als selbstständiger Eventmanager zunehmend unter Druck stehe. Um sein oft extremes Arbeitspensum zu bewältigen, habe er seit einem Jahr angefangen, Speed zu nehmen. Er habe aus der Zeit seiner Ausbildung Leute gekannt, die ihm die Droge besorgen konnten. Zunächst habe er unregelmäßig bei starkem Arbeitsaufkommen konsumiert, habe damit die Arbeit geschafft und sei gut zurechtgekommen. In den letzten zwei bis drei Monaten sei jedoch die Arbeitssituation extrem gewesen, er habe fast täglich Speed genommen, habe nicht mehr richtig schlafen können und sei zunehmend erschöpft und gereizt gewesen. In den letzten drei Tagen habe er sich merkwürdig verhalten. Er habe einen verlässlichen Freund verdächtigt, dass er ihn betrügen wollte. Außerdem sei er mit einem Nachbarn wegen einer Nichtigkeit in einen heftigen Streit geraten und sei sehr erregt dabei gewesen. Am Vormittag des Aufnahmetages habe er ihr gesagt, dass er nun wisse, dass der Nachbar ihn abhören würde.

Herr K. wirkt während des Berichtes seiner Partnerin unruhig, er geht z. T. auf und ab im Raum, unterbricht sie und ergänzt aus seiner Sicht wichtige Details. Im Gedankengang ist er beschleunigt. Es imponieren Beziehungs- und Beeinträchtigungsideen bezogen auf den Nachbarn sowie akustische Halluzinationen. Affektiv wirkt Herr K. aufgewühlt und rasch wechselnd zwischen unsicher-ängstlichem und gereiztem Affekt. Er ist hin- und hergerissen zwischen dem Gefühl, dass etwas mit ihm selbst nicht stimmen könnte, und den paranoiden Gedanken.

Auf Befragen berichtet Herr K., dass er früher nie psychisch oder ernsthaft körperlich krank gewesen sei. Er habe auch nie »Probleme« mit Alkohol oder Drogen gehabt. Er räumt etwas unwillig ein, dass es lediglich zwei »kurze Phasen« in der Vergangenheit gegeben habe, in denen er Stimulanzien konsumiert habe.

Herr K. lässt sich überzeugen, sich freiwillig unter dem Verdacht einer drogeninduzierten Psychose in der Psychiatrischen Klinik aufnehmen zu lassen. Unter Abstinenz und einer vorübergehenden Medikation mit Benzodiazepinen sowie einem niedrig dosierten Antipsychotikum kommt es zum raschen Rückgang und innerhalb von zwei Wochen zu einer Vollremission der psychotischen Symptomatik. Herr K. kann im Nachhinein die psychotischen Phänomene als solche erkennen und ist fest entschlossen, den Drogenkonsum einzustellen.

Während der stationären Behandlung berichtet Herr K. ausführlicher über die früheren »Phasen« des Amphetamin-Konsums. Die erste Phase sei während der Ausbildung gewesen, die für ihn sehr anstrengend war. Er habe den »Stoff« über Bekannte bekommen und vor allem in den Lern- und Prüfungsphasen konsumiert, um damit länger wach zu bleiben und konzentrierter lernen zu können. Die zweite Konsumphase sei zu Beginn seiner Selbstständigkeit vor sechs Jahren gewesen und habe einige Monate angedauert. Auch damals sei die Leistungssteigerung das Motiv für den Konsum gewesen. Sowohl in der Ausbildung als auch zu Beginn seiner Selbstständigkeit habe er den Konsum »unter Kontrolle« gehabt und er habe ohne Probleme wieder aufhören können. Das sei dieses Mal anders gewesen.

Fallvignette 3 Polytoxikomanie mit Amphetaminen und Heroin

Der 25-jährige Herr W. wird in der Substitutionsambulanz einer Suchtfachklinik mit den Diagnosen Opiat-, Stimulanzien- und Benzodiazepinabhängigkeit behandelt.

Aus der Biografie ist bekannt, dass Herr W. in einer ländlichen Gegend in Nordrhein-Westfalen aufwuchs. Beide Eltern waren bei seiner Geburt sehr jung und trennten sich früh. Herr W. wuchs zunächst bei den Großeltern in einfachen, aber geordneten Verhältnissen auf. Während der Grund- und Hauptschulzeit musste er mehrfach zwischen Großeltern, Mutter und Vater umziehen und es kam mehrfach zu Schulwechseln. Er habe sich als Kind überwiegend unsicher und als Außenseiter gefühlt. Er habe Schwierigkeiten gehabt, Anschluss unter den Mitschülern zu finden, er sei auch wiederholt von anderen Jungen verprügelt und ausgelacht worden. Schließlich habe er sich mit etwa 13 Jahren einer Clique von gleich alten und älteren Jugendlichen mit dissozialen Tendenzen (Schulschwänzen, Alkohol-, Zigaretten- und Cannabiskonsum, kleine Diebstähle) angeschlossen. In dieser Clique habe er sich erstmalig sicherer und »dazugehörig« gefühlt.

Es folgte ab dem 14. Lebensjahr eine Drogenkarriere mit zunächst Konsum von Zigaretten und Cannabis. Bereits mit 16 Jahren fing er an, zusätzlich regelmäßig Amphetamine zu »ziehen«. Er habe sich darunter besonders sicher und stark, »unbesiegbar« gefühlt. Parallel zu der »Drogenkarriere« kam es zum regelmäßigen Schulschwänzen und späteren Schulabbruch sowie zu einer kleinkriminellen Laufbahn mit Diebstählen und Dealen. Mit 18 Jahren brach Herr W. den Kontakt zur Familie ab und zog zu Freunden aus dem Drogenmilieu. Dort kam es schnell zu einer Eskalation des Amphetamin-Konsums. Etwa ab dem Alter von 19 Jahren fing Herr W. an, zusätzlich Heroin zu rauchen. Es folgten die von Herrn W. als »schlimmste Zeit meines Lebens« beschriebenen drei bis vier Jahre mit abwechselndem, täglichen Konsum von Heroin und Methamphetamin, der phasenweise auch intravenös erfolgte. Hinzu kamen Benzodiazepine aus dem Schwarzmarkt in z. T. sehr hohen Dosen, Alkohol und Cannabis. Herr W. schilderte, dass er in der damaligen Zeit sich nur unter Amphetaminen »wach« und »da« gefühlt habe; andererseits habe er die »Downer« gebraucht um »runterzukommen« und die Anspannung zu bekämpfen. Am Ende habe er fast nur konsumiert, um unangenehme Empfindungen und Entzugssymptome abzumildern; er habe kaum noch Freude am Leben gehabt, habe sich »fast nur« gequält gefühlt. Gelebt hatte Herr W. in dieser Zeit von Sozialleistungen und Beschaffungskriminalität, zweimal kam es zu Strafverfahren.

Der Drogentod eines Freundes aus der Jugendzeit war entscheidend dafür, dass Herr W. sich entschloss, »einen Strich zu ziehen« und Hilfe zu suchen. Es folgten ein stationärer Entzug von Amphetaminen und Benzodiazepinen und die Substitution mit Methadon. Seit etwa zwei Jahren ist Herr W. in Behandlung der Substitutionsambulanz. In dieser Zeit kam es einmal zu einem stärkeren Rückfall mit Amphetaminen und Heroin über zwei Monate mit darauffolgender erneuter stationärer Entzugsbehandlung. Darüber hinaus kommt es immer wieder zum Amphetamin-Konsum. Insgesamt fällt Herrn W. die Abstinenz von den Amphetaminen schwerer als von Heroin.

Herr W. lebt zurzeit alleine, eine Partnerbeziehung hat er nicht, seine Kontakte stammen zum Teil noch aus dem früheren Drogenmilieu. In den Einzelgesprächen und den Therapiegruppen wirkt Herr W. häufig angespannt und besorgt, es fallen Unsicherheit und Minderwertigkeitsgefühle auf (»Wer will schon was mit mir zu tun haben?«), aber auch eine starke Empfindlichkeit gegenüber Zurückweisung und (vermeintlicher) Kritik. Herr W. sehnt sich deutlich nach Akzeptanz und Zuneigung. Er möchte wieder Kontakt zu seiner Familie, vor allem zu den Großeltern aufnehmen, hat aber Angst vor Ablehnung. Er bemüht sich phasenweise um Jobs, hat aber bislang keine längere Anstellung durchgehalten. Er lebt überwiegend von Sozialleistungen.

Die drei Fallvignetten machen deutlich, wie verschieden die Konsumenten von ATS sein können und welche Spannbreite an Komplikationen neben einer Abhängigkeitsentwicklung möglich ist. Daraus wird ersichtlich, dass es unterschiedlicher Ansätze und Hilfsangebote bedarf, um die verschiedenen Konsumentengruppen zu erreichen und ihnen zu helfen.

 

 

 

 

2

Epidemiologie

 

 

Verbreitung, Umfang und Ausmaß des Konsums und der damit einhergehenden Konsequenzen von Amphetaminen sowie anderer psychoaktiver Substanzen sind Gegenstand weltweiter epidemiologischer Forschung. Auch in der Bundesrepublik Deutschland werden seit einigen Jahrzehnten regelmäßig große repräsentative Befragungen zum Drogenkonsum und seinen Folgen durchgeführt. Daten für die erwachsene Bevölkerung liefert der 1980 erstmals erhobene »Epidemiologische Suchtsurvey« (ESA), der durch das Bundesgesundheitsministerium unterstützt wird. Die untersuchten Stichproben des ESA bildeten zunächst Bundesbürger im Alter von 12 bis 24 Jahren, seit 1995 dann Erwachsene von 18 bis 59 Jahren und seit 2006 Erwachsene von 18 bis 64 Jahren (Kraus et al. 2013a). Die zweite wesentliche bundesdeutsche Datenquelle ist die Drogenaffinitätsstudie (DAS) der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die den Substanzkonsum bei 12- bis 25-jährigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen untersucht. Beide epidemiologischen Studien werden alle drei bis vier Jahre durchgeführt und folgen einem Querschnittdesign. Die aktuellsten Daten stammen aus dem Jahr 2012.

Definition

Das Ausmaß des Konsums wird klassischerweise durch die Prävalenz angegeben, also die Häufigkeit des mindestens einmaligen Konsums zu einem bestimmten Zeitpunkt oder innerhalb eines Zeitraums. Während die Lebenszeitprävalenz, also der mindestens einmalige Konsum einer Droge während der gesamten Lebensspanne, einen Indikator für den »Probierkonsum« darstellt, gibt die 12-Monats-Prävalenz Auskunft über den sporadischen Konsum. Eine Einschätzung des regelmäßigen Konsums wird mit Hilfe der 30-Tage-Prävalenz operationalisiert. Um Aussagen zum gegenwärtigen Konsum zu treffen, gilt die 12-Monats-Prävalenz als die valideste.

2.1        Wie verbreitet sind Ecstasy, Speed und Crystal?

Epidemiologische Studien und Berichte der Kriminalämter zeigen, dass Amphetaminderivate nach Cannabis und Kokain zu den am häufigsten konsumierten Drogen in Deutschland und anderen Industriestaaten im europäischen und außereuropäischen Ausland zählen. Rund 3% der bundesdeutschen erwachsenen Bevölkerung haben Erfahrungen mit Amphetaminen und/oder Ecstasy (Images Abb. 2, zum Vergleich: 30,2% der Bundesbürger sind aktuell Raucher, 26,4% sind Ex-Raucher).

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Abb. 2: Nach Geschlecht und Altersklassen gestaffelte Lebenszeitprävalenz des Konsums von Amphetaminen und Ecstasy bei erwachsenen Bundesbürgern im Jahr 2012 (n = 9084; ESA 2012; Pabst et al. 2013)

Hochgerechnet beläuft sich die Zahl der erwachsenen Bundesbürger, die mindestens einmal in Ihrem Leben ein Amphetaminderivat zu sich genommen, auf 1,5 Millionen. Männer konsumieren Amphetaminderivate rund zwei bis dreimal häufiger als Frauen. Während das durchschnittliche Einstiegsalter für den Gebrauch von Amphetaminderivaten bei rund 18 Jahren liegt, weisen Erwachsene im Alter von 25 bis 39 Jahren mit 5–7% die meiste Konsumerfahrung auf. Bezüglich dieses »Probierkonsums« weisen Amphetamine und Ecstasy noch etwa die gleiche Häufigkeit auf.

Bei Betrachtung der 12-Monats-Prävalenz fällt die Konsumhäufigkeit auf knapp unter 1% (Images Abb. 3, zum Vergleich: Cannabis = 4,5%). Amphetaminen wird zunehmend der Vorrang vor Ecstasy gegeben (Verhältnis ca. 2:1) und der Anteil an Männern gegenüber Frauen steigt im Vergleich zur Lebenszeitprävalenz deutlich an (Verhältnis ca. 6:1). Der Hauptkonsum wird getragen von jungen Männern im

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Abb. 3: Nach Geschlecht und Altersklassen gestaffelte 12-Monats-Prävalenz des Konsums von Amphetaminen und Ecstasy bei erwachsenen Bundesbürgern im Jahr 2012 (n = 9084; ESA 2012; Pabst et al. 2013)

Alter zwischen 18 und 29 Jahren mit einer Prävalenz von etwa 2%. Dabei konsumiert der überwiegende Anteil der Befragten maximal fünfmal im Jahr.

Interessanterweise verstärkt sich der Unterschied zwischen den Geschlechtern mit häufigerem Konsum, gemessen an der 30-Tage-Prävalenz. Aktuellen regelmäßigen Konsum von Amphetaminen weisen nur noch sehr wenige Frauen auf (0,1%), bei Ecstasy ist dieser offenbar gänzlich verschwunden (Images Abb. 4). Weiterhin bilden junge erwachsene Männer bis 29 Jahre die Gruppe mit dem höchsten Konsum (ca. 1,2% für Amphetamine und ca. 0,6% für Ecstasy).

Die Verbreitung des Konsums bei Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren ist in etwa halb so hoch wie in der erwachsenen Gesamtbevölkerung. Die von der aktuellen DAS angeführten 12-Monats-Prävalenzen belaufen sich auf 0,4% für Amphetamin und 0,2% für Ecstasy. Die geringere Prävalenz im Jugendalter verwundert nicht weiter, da das durchschnittliche Einstiegsalter für beide

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Abb. 4: Nach Geschlecht und Altersklassen gestaffelte 30-Tage-Prävalenz des Konsums von Amphetaminen und Ecstasy bei erwachsenen Bundesbürgern im Jahr 2012 (n = 9084; ESA 2012; Pabst et al. 2013)

Substanzklassen bei etwa 18,5 Jahren liegt, der Gebrauch also im Schnitt rund zwei Jahre später als beispielsweise bei Cannabis einsetzt.

Betrachtet man die Entwicklung des Substanzgebrauchs während der letzten zwei Dekaden, wird deutlich, dass der Konsum von Amphetaminen bis 2003 stetig angestiegen ist und seitdem auf einem Niveau von etwa 1,5% (12-Monats-Prävalenz) stabil ist (Images Abb. 5). Im gleichen Zeitraum ging der Anteil der Tabakraucher, um nochmal zuvor skizzierte Vergleichsprävalenzen anzuführen, stetig zurück. Während 1980 beispielsweise in der Altersgruppe von 18 bis 24 Jahren noch 60,5% der Männer und 54,2% der Frauen rauchten, hat sich die Zahl bis zum Jahr 2012 halbiert. Zurück zu den Amphetamin-Konsumenten: Seit einigen Jahren gewinnt in dieser Gruppe der Konsum von Methamphetamin an Bedeutung. Gesicherte repräsentative Daten, die dies belegen, sind zum jetzigen Zeitpunkt nicht verfügbar, da die bisherigen Surveys Methamphetamin nicht gesondert ausweisen. Gesicherte Daten zur Konsumprävalenz liegen lediglich für Frankfurt vor, wo auf Basis des Monitoringsystems Drogentrends (MoSyD) seit 2007 zwischen beiden Subtypen differenziert und die 12-Monats-Prävalenz des Methamphetamin-Konsums konstant mit 1% angegeben wird. Andererseits weisen anekdotische Berichte und die eindrückliche Präsenz dieses Themas in den Medien auf einen Konsumtrend hin. Insbesondere in Sachsen hat die Anzahl Methamphetamin-assoziierter Behandlungsfälle seit 2009 stetig zugenommen. Dies gilt insbesondere für das Grenzgebiet zu Tschechien, einem Zentrum der Methamphetamin-Produktion (Kraus et al. 2013a).