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Die Autoren:

 

Meike Schwermann, Krankenpflegeexamen, Fachexamen für Intensiv- und Anästhesiepflege, Studium der Sozialökonomie mit Abschluss Diplom-Sozialwirtin, Studium an der FH Münster, Fachbereich Pflege, mit Abschluss Diplom-Pflegewissenschaftlerin (FH). Derzeit arbeitet sie als Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Fachhochschule Münster im Fachbereich Pflege und Gesundheit, u. a. als kommissarische Studiengangsleitung für den B.Sc. Studiengang »Pflege Dual« und als Modulbeauftragte für die Praxisphase im Studiengang B.A. »Berufspädagogik im Gesundheitswesen« sowie als freiberufliche Referentin für Pflegeberufe und ist schwerpunktmäßig in den Bereichen Professionelles Pflegehandeln, Palliative Care sowie Schmerzmanagement in der Pflege tätig.

 

Markus Münch, Krankenpflegeexamen, Studium der Pflegepädagogik am Fachbereich Pflege der FH Münster mit Abschluss Diplom-Pflegewissenschaftler (FH). 2003–2005 Stipendiat der Bischöflichen Studienförderung des Cusanuswerks. Er arbeitet als Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Hochschule Osnabrück und ist dort im Studiengang »Pflege (dual) B.Sc.« am Institut für duale Studiengänge tätig.

Meike Schwermann
Markus Münch

Professionelles Schmerzassessment bei Menschen mit Demenz

Ein Leitfaden für die Pflegepraxis

2., überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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2., überarbeitete Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-022199-4

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-024028-5

epub:    ISBN 978-3-17-028650-4

mobi:    ISBN 978-3-17-028651-1

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Inhalt

 

 

 

  1. Einleitung
  2. 1 Schmerzerfassung: Basis des Schmerzmanagements im Alter
  3. 1.1 Grundlagen zum Schmerz
  4. 1.1.1 Definition des Schmerzes
  5. 1.1.2 Physiologie des Schmerzes
  6. 1.2 Schmerzen bei älteren, kognitiv eingeschränkten Menschen
  7. 1.2.1 Schmerzen und Alter
  8. 1.2.2 Schmerzen und Demenz
  9. 1.3 Grundlagen zur Schmerzerfassung
  10. 1.3.1 Schmerzersteinschätzung
  11. 1.3.2 Einschätzung der Schmerzintensität
  12. 1.3.3 Verlaufseinschätzung und Dokumentation
  13. 1.4 Schmerzerfassung bei älteren, kognitiv eingeschränkten Menschen
  14. 1.4.1 Kognitive Einschränkungen als Hindernis bei der Schmerzerfassung
  15. 1.4.2 Instrumente zur Fremdeinschätzung
  16. 2 Zentrale Aufgaben bei der Implementierung eines Schmerzassessments
  17. 2.1 Entwicklung eines systematischen Schmerzassessments
  18. 2.2 Einführung des systematischen Schmerzassessments
  19. 2.2.1 Schulung der Pflegekräfte für die Einführung des Schmerzassessments
  20. 2.2.2 Sensibilisierung der Pflegekräfte
  21. 2.2.3 Praktikabilität des Schmerzassessments
  22. 3 Entwicklung des systematischen Schmerzassessments
  23. 3.1 Schmerzersteinschätzungsbogen
  24. 3.1.1 Stammdaten
  25. 3.1.2 Selbsteinschätzung
  26. 3.1.3 Fremdeinschätzung durch die Bezugspflegekraft
  27. 3.1.4 Fremdeinschätzung durch die Bezugsperson
  28. 3.1.5 Hinweise zur Handhabung
  29. 3.2 Schmerzerfassung mit Unterstützung eines Verhaltensprotokolls
  30. 3.2.1 Auswahl des Erfassungsinstruments
  31. 3.2.2 Hinweise zur Handhabung
  32. 3.2.3 Verlaufsdokumentation
  33. 3.3 Prozessbeschreibung zum systematischen Schmerzassessment
  34. 4 Schulung der Pflegekräfte für die Einführung des Schmerzassessments
  35. 4.1 Rahmenbedingungen und Zeitplanung der Einführung
  36. 4.2 Planung und didaktische Begründung der Seminare
  37. 4.2.1 Erstes Seminar
  38. 4.2.2 Zweites Seminar
  39. 4.2.3 Drittes Seminar
  40. 4.3 Planung der Praxisphasen
  41. 4.3.1 Auswahl der Bewohner
  42. 4.3.2 Anwendung des Schmerzassessments
  43. 5 Sensibilisierung der Pflegekräfte
  44. 5.1 Definition und Operationalisierung des Begriffs »Sensibilisierung«
  45. 5.2 Methodik zur Bewertung der Sensibilisierung
  46. 5.2.1 Fremdeinschätzung
  47. 5.2.2 Selbsteinschätzung
  48. 5.3 Ergänzende Empfehlungen
  49. 6 Praktikabilität des Schmerzassessments
  50. 6.1 Definition und Operationalisierung des Begriffs »Praktikabilität«
  51. 6.2 Methodik zur Bewertung der Praktikabilität
  52. 6.2.1 Schmerzersteinschätzungsbogen
  53. 6.2.2 ECPA-Bogen
  54. 6.3 Ergänzende Empfehlungen
  55. 6.3.1 Adaption der Schmerzersteinschätzung
  56. 6.3.2 Modifizierung von Inhalt und Anwendung des ECPA-Bogens
  57. 7 Praxishilfen für die Implementierung des Schmerzassessments
  58. 7.1 Beispiel für einen Pflegestandard
  59. 7.2 Formulierungshilfen für die Pflegeplanung
  60. 7.2.1 Informationssammlung
  61. 7.2.2 Problembeschreibung
  62. 7.2.3 Pflegeziele
  63. 7.2.4 Planung und Durchführung der Pflegemaßnahmen
  64. 7.2.5 Evaluation
  65. Literatur
  66. Stichwortverzeichnis

Einleitung

 

 

 

arrow Anlass und Zielsetzung des Buchs arrow

Im Rahmen der von den Autoren konzipierten berufsqualifizierenden Weiterbildung »Palliative Geriatrie – Pflegerische Betreuung von Sterbenden in der Altenpflege«, die erstmalig 2003 am Erwin-Stauss-Institut angeboten wurde, stellte sich sehr deutlich die Problematik dar, dass Schmerzen bei demenziell erkrankten, kommunikationseingeschränkten Menschen in den Einrichtungen der Altenhilfe von den Pflegekräften ausschließlich subjektiv und sehr stark intuitiv geleitet wahrgenommen werden. Auch wurde von den Teilnehmern der Weiterbildung aus ihrer Erfahrung heraus bestätigt, dass diese Personengruppe eher Psychopharmaka als Analgetika erhält. Menschen mit Kommunikationsstörungen, insbesondere demenziell erkrankte Menschen, können nicht mehr auf ihre Schmerzen hinweisen, wodurch eine Schmerzerfassung im herkömmlichen Sinne nicht mehr möglich ist. Schmerzen werden bei dieser Personengruppe sehr oft nur ungenügend oder gar nicht erkannt und demzufolge auch nicht adäquat behandelt. Dies konnte in diversen Studienergebnissen nachgewiesen werden (DNQP 2005 und 2011).

In dem vorliegenden Buch wird ein von den Autoren konzipiertes »Schmerzassessment bei demenziell erkrankten, kommunikationseingeschränkten Menschen« vorgestellt, das im Zeitraum vom 1. April bis zum 31. Juli 2005 in einer von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft geförderten Diplomarbeit am Fachbereich Pflege der Fachhochschule Münster entwickelt und im Rahmen eines Projekts in einem Münsteraner Altenheim implementiert wurde. Die Ergebnisse dieses Projekts werden im Folgenden praxisnah vorgestellt, so dass dieses Wissen in den Arbeitsbereichen konkret umgesetzt werden kann. In der Überarbeitung des Buches sind aus diesem Grund die vorab vorgestellten theoretischen Grundlagen im Hinblick auf aktuelle Literatur ergänzt worden. Die Umsetzung des Projekts ist nicht relevant verändert worden.

arrow Entwicklung und Einführung eines systematischen Schmerzassessments arrow

Basierend auf einer Literaturrecherche im deutschsprachigen und angloamerikanischen Raum konnten Erkenntnisse zu allgemeinen Grundlagen des Themas Schmerz, zu Schmerzen bei älteren Menschen mit kognitiven Einschränkungen, zu den Grundsätzen der Schmerzeinschätzung im Allgemeinen sowie in Bezug auf die ausgewählte vulnerable Bewohnergruppe gewonnen werden. Aus der Auseinandersetzung mit der Literatur heraus entwickelten die Autoren die Aufgabenstellung der vorliegenden Arbeit. Dabei ging es um die Entwicklung und Einführung eines systematischen Schmerzassessments, die in Form von theoretischer und praktischer Schulung bei ausgewählten Mitarbeitern des Altenpflegeheims erfolgten, sowie um die Sensibilisierung der Pflegekräfte für die spezielle Thematik durch diese Schulung und die Anwendung des Schmerzassessments. Da im – zum Zeitpunkt des Projekts vorliegenden – Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege des DNQP von 2005 die Schmerzerfassung bei demenziell erkrankten, kommunikationseingeschränkten Menschen mit Schmerzen nur unzureichend Berücksichtigung fand, wurde zudem ein erster Pflegestandard sowie eine zugehörige Prozessbeschreibung entwickelt.

Das systematische Schmerzassessment bestand aus einem von den Autoren konzipierten Schmerzersteinschätzungsbogen, der neben Stammdaten vor allem eine Selbsteinschätzung durch die Bewohner sowie eine Fremdeinschätzung durch die Bezugspflegekraft und die Bezugsperson (z. B. Angehörige, Betreuer) erfasste, sowie der Schmerzerfassung mit Unterstützung eines Verhaltensprotokolls (ECPA-Bogen).

arrow Entwicklung eines Schulungskonzepts arrow

Da in der gesichteten Literatur kaum Informationen über Inhalte und Durchführung von Schulungen zu finden waren, welche die Pflegekräfte auf den Umgang mit Schmerzerfassungsinstrumenten für die angesprochene Zielgruppe vorbereiten, wurde hierzu ein eigenes Schulungskonzept entwickelt. Dies gliederte sich in einen theoretischen Teil mit einer 16 Stunden umfassenden Seminarreihe sowie in zwei Praxisphasen von jeweils vier Wochen. Innerhalb der Praxisphasen erprobten die Mitarbeiter die beiden oben erwähnten Schmerzerfassungsinstrumente in ihren Arbeitsbereichen und wurden dabei von den Projektleitern begleitet und unterstützt. Abschließend wurde die Umsetzung des Schmerzassessments gemeinsam mit den Mitarbeitern evaluiert. Dabei zeigten die Teilnehmer des Projekts eine hohe Motivation und ein großes Interesse an der thematischen Erarbeitung der Inhalte und bescheinigten den Autoren eine sehr gute Durchführung sowie ein positives Gruppenklima. Die Mitarbeit war durch ein großes Engagement geprägt, und in den Sicherungsphasen der Seminare zeigte sich deutlich, dass die Teilnehmer den Umgang mit den einzelnen Instrumenten verstanden hatten. Innerhalb der Praxisphasen erfüllten sie alle Anforderungen und bekundeten auch hier, dass die Arbeit mit dem Schmerzassessment hilfreich, interessant, nicht zu arbeitsaufwendig, neben der alltäglichen Arbeit gut zu bewältigen und sehr förderlich im Hinblick auf die Schmerzerfassung sowie das Schmerzmanagement bei der vulnerablen Bewohnergruppe sei.

Der Grad der Sensibilisierung der geschulten Pflegekräfte wurde anhand einer Selbsteinschätzung der Teilnehmer zum individuellen Lernzuwachs sowie eines auf den Pflegeprozess bezogenen Kategoriensystems erhoben, welches das Dokumentationsverhalten sowie Pflegevisitengespräche dahingehend untersuchte, inwieweit die rationalen bzw. reflektierten Elemente gegenüber den intuitiven bzw. unreflektierten Darstellungen zur Thematik zunehmen. Bei einer Analyse der Bewohnerdokumentation und der Auswertung der Pflegevisite ermittelten die Autoren jedoch starke Defizite in der systematischen, zielgerichteten und damit rationalen bzw. reflektierten Beschreibung des durchgeführten professionellen Schmerzassessments im Rahmen des Pflegeprozesses. Das bedeutet, dass die Verwendung des Schmerzassessments von den Mitarbeitern zwar als praktikabel bewertet und die Instrumente auch eingesetzt wurden, eine tatsächliche Umsetzung in die Pflegeplanung und Dokumentation aber mehr Zeit benötigt, als in den drei Monaten der Projektlaufzeit zur Verfügung stand. Die Problematik mit der Dokumentation ist aus Autorensicht nicht nur auf das Schmerzassessment zu beziehen, sondern zeigt sich auch bei anderen Themen des Pflegeprozesses. Dass die Anwendung des Schmerzassessments für demenziell erkrankte, kommunikationseingeschränkte Menschen im Kontext dieses Altenpflegeheims praktikabel ist, wurde als erwiesen angesehen. In der Evaluation bescheinigte die Leitungsebene des am Projekt beteiligten Altenpflegeheims den Autoren eine strukturierte, mitarbeiterorientierte, zuverlässige, unkomplizierte und terminoptimierte Durchführung des Projekts, in dessen Folge bereits eine Weiterführung der Implementierung dieses Schmerzassessments für alle Mitarbeiter in Form eines Folgeprojekts durchgeführt wurde. Die Autoren hoffen, dass sich mit Hilfe dieses Leitfadens viele Interessierte finden werden, die ein Schmerzassessment für demenziell erkrankte, kommunikationseingeschränkte Menschen in ihren Einrichtungen umsetzen werden.

arrow Grundlage zur Einführung eines Schmerzmanagements arrow

Die Erkenntnisse aus der intensiven Literaturstudie, alle entwickelten Instrumente sowie der Aufbau der Schulungsreihe werden in diesem Buch detailliert vorgestellt.

Der von den Autoren entwickelte Pflegestandard für das Schmerzassessment bei demenziell erkrankten, kommunikationseingeschränkten Menschen mit Schmerzen sowie die anschließende Prozessbeschreibung, die sich auf das Einleiten eines pflegerischen Schmerzmanagements bei der vulnerablen Bewohnergruppe bezieht, verdeutlichen den professionellen Ansatz des entwickelten Schmerzassessments.

Die Erkenntnisse aus dem Projekt bilden eine zukunftsweisende und repräsentative Grundlage zur Einführung eines Schmerzmanagements in den Institutionen der Altenhilfe. Es erscheint den Autoren erstrebenswert, dass diese Art des Schmerzassessments und die Erfahrungen aus dem Projekt möglichst vielen zugute kommen. Sie würden sich freuen, wenn der Leitfaden einen elementaren Anstoß im Hinblick auf ein professionelles Schmerzassessment für demenziell erkrankte, kommunikationseingeschränkte Menschen in der Altenpflege gibt, so dass in Kooperation mit den Ärzten diese Personengruppe in Zukunft eine Steigerung der Lebensqualität durch die Linderung ihrer Schmerzen erfährt.

Alle Namen von Patienten/Bewohnern sind von den Autoren frei erfunden.

1         Schmerzerfassung: Basis des Schmerzmanagements im Alter

 

1.1        Grundlagen zum Schmerz

1.1.1      Definition des Schmerzes

arrow Individualität des Schmerzerlebens arrow

Der Schmerz als ein sehr individuelles Erleben eines jeden Menschen wird von einer führenden Pflegeexpertin wie folgt umschrieben: »Schmerz ist das, was der Betroffene über die Schmerzen mitteilt, sie [die Schmerzen] sind vorhanden, wenn der Betroffene mit Schmerzen sagt, dass er Schmerzen hat« (dt. Übersetzung nach McCaffery, Pasero 1999, S. 17). Die Bedeutung dieser Perspektive wird durch die Schmerzdefinition der IASP (International Association for the Study of Pain) nochmals hervorgehoben, die besagt, dass Schmerz ein »… unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis ist, das mit aktuellen oder potenziellen Gewebeschädigungen verknüpft ist oder mit Begriffen solcher Schädigungen beschrieben wird« (dt. Übersetzung nach Merskey, Bogduk 1994, S. 210). In der Kurzfassung der Ethik-Charta der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes e. V. – heute Deutsche Schmerzgesellschaft e. V. – wird verdeutlicht, dass Schmerz nicht nur als Symptom auf die Erregung schmerzvermittelnder Strukturen verweist. Er wird in der Charta als ein Phänomen dargestellt, das physiologische Dimensionen und eine Bewusstseins- und Gefühlskomponente hat, die die Intensität und Art des Schmerzerlebens und des Schmerzverhaltens bestimmen. Ergänzend wird die individuelle Schmerztoleranz dargestellt, die von kommunikativen Gewohnheiten sowie historischen und psychosozialen Aspekten beeinflusst wird. Werden allein die verschiedenen Adjektive wie stechend, beißend, ziehend etc. zur Beschreibung der Qualität des Schmerzes betrachtet, wird deutlich, wie zentral die Individualität des Schmerzerlebens ist (DGSS 2007, S. 3).

1.1.1.1    Akuter und chronischer (persistierender) Schmerz

arrow Alter: »persistierende« statt »chronische« Schmerzen arrow

Eine wesentliche Unterscheidung, insbesondere im Hinblick auf eine Schmerztherapie, ist diejenige zwischen akuten und chronischen Schmerzen. Der akute Schmerz hat im Hinblick auf plötzliche Gewebsschäden und Traumata eine entscheidende Warnfunktion (DNQP 2011, S. 58). Er dauert nur wenige Stunden bis Tage, ist durch eine örtlich begrenzte, oft periphere Schädigung gut lokalisierbar und bessert sich nach kurzer Zeit. Der akute Schmerz wird daher als positiver oder auch sinnvoller Schmerz beschrieben und als existentielle Erfahrung wahrgenommen (Müller-Mundt 2005 zit. nach DNQP 2011, S. 58), während der chronische Schmerz eine negative Bedeutung hat und als sinnlos bezeichnet wird. Der chronische Schmerz dauert Monate bis Jahre und ist diffus, also schlecht lokalisierbar. Im Verlauf kommt es zu einer Vergrößerung der Schmerzregion bis hin zum Ganzkörperschmerz. Da er durch zentrale und psychische Störungen bedingt ist, wird dem chronischen Schmerz eine eher schlechte Prognose gestellt. Der Schmerz hat sich als Schmerzkrankheit manifestiert und seine Therapie ist sehr schwierig. Chronifizierung von Schmerzen bzw. Schmerzchronifizierung wird in der Fachliteratur nochmals gesondert betrachtet und als Loslösung des Symptoms Schmerz von seiner ursprünglichen Ursache beschrieben. Im aktuellen Expertenstandard des Deutschen Netzwerks für Qualitätsentwicklung (DNQP, 2014) steht das Schmerzmanagement in der Pflege bei chronischen Schmerzen im Fokus. Hier wird verdeutlicht, dass eine Chronifizierung des Schmerzerlebens sich fließend entwickelt. »Die Chronifizierung von Schmerzen wird nicht mehr nur als ein zu einem exakten Zeitpunkt eintretender Zustand diskutiert, sondern der Übergang wird mehr und mehr fließend und am individuellen Schmerz- und Krankheitserleben ausgerichtet erkannt« (DNQP 2014, S. 22).

Das zentrale Nervensystem hat ein so genanntes Schmerzgedächtnis entwickelt. Durch lang andauernde, starke Schmerzen wird das Nervensystem für Schmerzreize derart sensibilisiert, dass schon durch kleinste Reize bereits Schmerzen ausgelöst werden. Es kommt zu Beeinträchtigungen im Sozialleben, zu Begleitsymptomen wie z. B. Kopfschmerzen und Gastritis sowie zu psychischen Reaktionen wie Depression, Hilflosigkeit und Angstzuständen.

Im Zusammenhang mit dem Alter wird statt von chronischen von persistierenden Schmerzen gesprochen, da der chronische Schmerz gerade von älteren Menschen häufig mit negativen Assoziationen und Stereotypen verbunden wird: psychiatrische Probleme, erfolglose Therapie, »Sich-krank-Stellen« und Medikamentenmissbrauch. Die alternative Bezeichnung persistierender Schmerz soll eine positivere Einstellung unterstützen und den betroffenen Personen vermitteln, dass auch diese Schmerzen effektiv behandelbar sind.

1.1.1.2    Schmerzformen und -arten

arrow Nozizeptorschmerzen und neuropathische Schmerzen arrow

Die Unterteilung von Schmerzformen bzw. Schmerzarten erfolgt nach sehr verschiedenen Kriterien. Eine verbindliche Einteilung ist bisher nicht vorhanden, was das Verständnis des komplexen Themas Schmerz erschwert. Im Hinblick auf den persistierenden Schmerz ist daher zunächst eine weitere Unterteilung nützlich, und zwar nach Nozizeptorschmerzen und neuropathischen Schmerzen. Während der neuropathische Schmerz auf einer Schädigung des Schmerzreizleitungssystems (nozizeptives System) beruht, sind die peripheren und zentralen neuronalen Strukturen bei den Nozizeptorschmerzen noch intakt und werden chronisch erregt. In Tabelle 1 werden die häufig unterschiedenen Schmerzformen und -arten den beiden genannten Hauptkategorien zugeordnet und jeweils verständliche Beispiele gegeben. An der im Folgenden beschriebenen Physiologie der Nozizeptorschmerzen wird deutlich, warum Schmerzen so gut am Verhalten der Menschen beobachtbar sind.

NozizeptorschmerzenNeuropathische SchmerzenSchmerzform/-artBeispieleSchmerzform/-artBeispiele

Tab. 1: Einteilung persistierender Schmerzen (Quelle: Baron, Jänig 2001, S. 66)

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1.1.2      Physiologie des Schmerzes

1.1.2.1    Nozizeptorschmerzen

arrow Prozess der Nozizeption arrow

Nozizeptoren (Schmerzrezeptoren) sind vor allem in der Haut (90%), aber auch in anderen Geweben vorhanden und werden durch gewebeschädigende Reize erregt. Die Nozizeption, also der hinter den Schmerzen liegende Prozess, beginnt mit einer Reizung der Schmerzrezeptoren und untergliedert sich wie folgt:

•  Schmerzentstehung: Durch einen mechanischen (Druck, Zug), chemischen (Gifte) oder thermischen (Hitze, Kälte) Reiz kommt es zur Freisetzung von Transmittersubstanzen und Ionen, welche die Schmerzrezeptoren erregen. Der Reiz kann dabei von außen, z. B. durch Verbrennungen (exogener Reiz), oder von innen, z. B. durch einen Tumor (endogener Reiz), erfolgen. Gleichzeitig werden Kinine und Prostaglandine gebildet, welche die Empfindlichkeit auf exogene und endogene Reize steuern – beispielhaft sei hier eine leichte Berührung genannt, die bei einem Sonnenbrand bereits weh tut.

•  Schmerzleitung: Über bestimmte Nervenfasern des ersten Neurons wird der Schmerzreiz bis zum Hinterhorn des Rückenmarks weitergeleitet. Über die A-Delta-Fasern erfolgt eine schnelle Weiterleitung. Der Schmerz wird als hell und stechend beschrieben und ist gut lokalisierbar. Als so genannter Sofortschmerz dient er vor allem zur Auslösung von Schutzreflexen. C-Fasern leiten nur langsam. Der Schmerz ist schwer lokalisierbar und wird als dumpf und brennend empfunden. Im Hinterhorn des Rückenmarks erfolgt die Umschaltung des Schmerzreizes auf das zweite Neuron, welches wiederum eine Weiterleitung zu übergeordneten Verarbeitungszentren im Gehirn leistet. Dieser gesamte Vorgang erklärt gleichzeitig die Funktion der Afferenz, der Zuleitung bzw. Zuführung der Schmerzreize, und somit die Bezeichnung afferente Nervenfasern.

•  Schmerzwahrnehmung: Gelangt der Schmerzreiz über das Rückenmark zum Thalamus und weiter in verschiedene Hirnregionen, wird der Schmerz dem Menschen erst bewusst. Dieser Vorgang ist bislang nur unzureichend erklärt. Sicher ist jedoch, dass die an dieser Phase beteiligten Hirnregionen die Bewertung des Schmerzes hinsichtlich verschiedener Komponenten beeinflussen bzw. regulieren und unter anderem für entsprechende Reaktionen in Form von Emotionen und schmerzbezogenem Verhalten zuständig sind (arrow Kap. 1.1.2.3).

•  Schmerzhemmung: Dieser meist als Modulation bezeichnete Vorgang erfolgt über vom Gehirn aus absteigende (deszendierende) Nervenbahnen. Die Hemmprozesse sind von entscheidender Bedeutung, da sie den Schmerz kontrollieren und das ständig weitere Einfluten von Schmerzreizen bremsen oder gar stoppen. Im Wesentlichen erfolgt die deszendierende Hemmung über Transmitter (Noradrenalin und Serotonin), die den Einstrom weiterer Schmerzreize im Rückenmark drosseln. Darüber hinaus spielen die Endorphine (endogene bzw. körpereigene Morphine) eine sehr wichtige Rolle. Sie hemmen die Umschaltung der Schmerzreize von den A-Delta- und C-Fasern auf das zweite Neuron im Rückenmarkhinterhorn. Nicht zuletzt wird die Hemmung von psychischen Faktoren beeinflusst. Im Rahmen der Gate-Control-Theorie wird das Rückenmark als Tor (Gate) verstanden, das Schmerzreize durchlässt oder auch nicht. Schließen und Öffnen des Tores hängen von physiologischen, kognitiven und emotionalen Vorgängen ab, was z. B. die Bedeutung der Ablenkung als nichtmedikamentöse Schmerztherapie erklärt.

1.1.2.2    Neuropathische Schmerzen

arrow Schädigung des Nozizeptorensystems arrow

Hier liegt eine Schädigung des Nozizeptorensystems vor, die folgende Auswirkungen hat: Eine Nervenkompression oder Nervenverletzung führt zu einer anatomischen und funktionellen Störung der Hemmsysteme. Infolgedessen nehmen schmerzverstärkende Vorgänge zu, was sich mitunter in spontanen bzw. anfallsartigen, einschießenden Schmerzen äußert. Auch die Empfindlichkeit gegenüber kleinsten Reizen nimmt zu, was zu inadäquaten Reaktionen auf die jeweiligen Reize führen kann. Einen Sonderfall bilden die Deafferenzierungsschmerzen, die auf einer partiellen oder kompletten Durchtrennung der afferenten Bahnen beruhen, etwa bei großen Traumata oder Amputationen. Hier bilden sich Neurome an den Nervenenden, die sehr empfindlich auf Berührung, Wärme und Wetterveränderungen reagieren und z. B. zu den typischen Phantom- oder Stumpfschmerzen führen. Neuropathische Schmerzen gelten als sehr komplex und nur schwer durch gängige Analgetika (Schmerzmittel) therapierbar.

1.1.2.3    Individuelles Schmerzerleben

arrow Drei Komponenten des Schmerzerlebens arrow

Im pflegeberuflichen Alltag kommt den transkulturellen Aspekten des Schmerzerlebens eine große Bedeutung bei. Eine differenzierte Betrachtung des Schmerzerlebens in den verschiedenen Kulturen bzw. bei unterschiedlichem Migrationshintergrund von Altenheimbewohnern würde jedoch in diesem Zusammenhang zu weit führen. Doch die Berücksichtigung des individuellen Schmerzverständnisses sowie das »Ernstnehmen« der Schmerzäußerungen durch die Pflegekräfte sind zwingend notwendig, um Fehleinschätzungen aufgrund der eigenen kulturellen Prägung zu vermeiden. Wesentlich sind daher die unterschiedlichen Komponenten des Schmerzerlebens, die auch als Verarbeitungsinstanzen im Rahmen der Schmerzwahrnehmung verstanden werden und das individuelle Schmerzerleben beeinflussen. Sie schlüsseln den ersten Teil der Schmerzdefinition der IASP auf (arrow Kap. 1.1.1) und werden wie folgt unterteilt (nach Melzack, Casey 1968, in Treede 2001, S. 39):