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Sucht: Risiken – Formen – Interventionen

Interdisziplinäre Ansätze von der Prävention zur Therapie

 

Herausgegeben von

 

Oliver Bilke-Hentsch

Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank

Michael Klein

Diana Moesgen
Michael Klein

Neuroenhancement

Verlag W. Kohlhammer

Danke an Valentin Mayr.

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-026100-6

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-026101-3

epub:    ISBN 978-3-17-026102-0

mobi:    ISBN 978-3-17-026103-7

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Geleitwort der Reihenherausgeber

 

Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte im Suchtbereich sind beachtlich und erfreulich. Dies gilt für Prävention, Diagnostik und Therapie, aber auch für die Suchtforschung in den Bereichen Biologie, Medizin, Psychologie und den Sozialwissenschaften. Dabei wird vielfältig und interdisziplinär an den Themen der Abhängigkeit, des schädlichen Gebrauchs und der gesellschaftlichen, persönlichen und biologischen Risikofaktoren gearbeitet. In den unterschiedlichen Alters- und Entwicklungsphasen sowie in den unterschiedlichen familiären, beruflichen und sozialen Kontexten zeigen sich teils überlappende, teils sehr unterschiedliche Herausforderungen.

Um diesen vielen neuen Entwicklungen im Suchtbereich gerecht zu werden, wurde die Reihe »Sucht. Risiken – Formen – Interventionen« konzipiert. In jedem einzelnen Band wird von ausgewiesenen Expertinnen und Experten ein Schwerpunktthema bearbeitet.

Die Reihe gliedert sich konzeptionell in drei Hauptbereiche, sog. »tracks«:

Track 1:

Grundlagen und Interventionsansätze

Track 2:

Substanzabhängige Störungen und Verhaltenssüchte im Einzelnen

Track 3:

Gefährdete Personengruppen und Komorbiditäten

In jedem Band wird auf die interdisziplinären und praxisrelevanten Aspekte fokussiert, es werden aber auch die neuesten wissenschaftlichen Grundlagen des Themas umfassend und verständlich dargestellt. Die Leserinnen und Leser haben so die Möglichkeit, sich entweder Stück für Stück ihre »persönliche Suchtbibliothek« zusammenzustellen oder aber mit einzelnen Bänden Wissen und Können in einem bestimmten Bereich zu erweitern.

Unsere Reihe »Sucht« ist geeignet und besonders gedacht für Fachleute und Praktiker aus den unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Suchtberatung, der ambulanten und stationären Therapie, der Rehabilitation und nicht zuletzt der Prävention. Sie ist aber auch gleichermaßen geeignet für Studierende der Psychologie, der Pädagogik, der Medizin, der Pflege und anderer Fachbereiche, die sich intensiver mit Suchtgefährdeten und Suchtkranken beschäftigen wollen.

Die Herausgeber möchten mit diesem interdisziplinären Konzept der Sucht-Reihe einen Beitrag in der Aus- und Weiterbildung in diesem anspruchsvollen Feld leisten. Wir bedanken uns beim Verlag für die Umsetzung dieses innovativen Konzepts und bei allen Autoren für die sehr anspruchsvollen, aber dennoch gut lesbaren und praxisrelevanten Werke.

Der vorliegende Band der beiden Kölner Autoren Dr. Diana Moesgen und Professor Michael Klein fokussiert und vertieft den Themenbereich »Neuroenhancement«. Darunter werden die Beeinflussungen des Gehirns durch stimulierende und exzitatorische sowie stimmungsaufhellende Substanzen verstanden. Hierbei handelt es sich in der Regel entweder um verschreibungspflichtige Medikamente oder um illegale Substanzen. Im Zentrum des Bandes stehen Informationen und Einblicke in die Falldynamik und Präventions- und Interventionsbedarfe in Bezug auf Neuroenhancement. Dafür werden zunächst epidemiologische Daten aus Europa und Nordamerika berichtet. Zentral zum Verständnis des Konsums dieser Stoffe ist jedoch die Motivlage der Konsumierenden. Offene wie implizite Ziele und Funktionalitäten sind dabei von besonderer Bedeutung. Es geht dabei nicht nur um die Verbesserung der geistigen und kognitiven Fähigkeiten, sondern auch um die gesamte psychische Befindlichkeit einschließlich der emotionalen und affektiven Aspekte. Letztlich wird jedoch deutlich, dass – zumindest bis zum heutigen Tage – sich durch den Gebrauch von Neuroenhancement-Präparaten bei Gesunden keine nachhaltigen Verbesserungen der kognitiven Fähigkeiten nachweisen lassen. Die durch die Presse erweckten Hoffnungen auf ein funktionierendes »Gehirndoping« erscheinen hier also – auch vor dem Hintergrund der potenziellen Risiken – in einem differenzierteren Licht, wodurch sich das Verhältnis von Chancen und Risiken deutlich relativiert. Insofern sollte Neuroenhancement nicht vorschnell und unkritisch bejubelt werden. Neben den klaren Chancen der Neuroenhancement-Präparate für Kranke, etwa in den Bereichen Demenzen, Hyperaktivität und Depression, gilt es bei Gesunden, darüber hinaus die Risiken mit zu bedenken, die sich vor allem auf einen Konsum im Sinne von lifestyle self-designing beziehen. Der Verzicht auf Neuroenhancement mag dabei auch als ein wertebasiertes Verhalten begründbar und vertretbar sein.

 

Oliver Bilke-Hentsch, Winterthur/Zürich

Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Köln

Michael Klein, Köln

Inhalt

  1. Geleitwort der Reihenherausgeber
  2. 1 Einleitung
  3. 1.1 Definition
  4. 1.2 Substanzklassen
  5. 2 Fallvignetten
  6. 3 Epidemiologie
  7. 3.1 US-amerikanische und kanadische Studien
  8. 3.2 Europäische Studien
  9. 3.3 Studien aus Deutschland
  10. 3.4 Fazit zur Epidemiologie
  11. 4 Beschaffungswege
  12. 5 Motive für Neuroenhancement
  13. 5.1 Bedingungen im Arbeits- bzw. Studienkontext
  14. 5.2 Individuelle Bedingungen
  15. Soziodemographische Merkmale
  16. Persönlichkeits- und Temperamentsmerkmale
  17. Kognitive Faktoren
  18. Biographische Faktoren
  19. 5.3 Soziale Bedingungen
  20. 5.4 Gesellschaftliche Bedingungen
  21. 5.5 Fazit zur Motivlage
  22. 6 Konsequenzen des Neuroenhancement
  23. 6.1 Medizinische Konsequenzen
  24. Nebenwirkungen
  25. Abhängigkeitsentwicklung
  26. 6.2 Psychologische Konsequenzen
  27. 6.3 Soziale Konsequenzen
  28. 7 Argumente für Prävention
  29. 7.1 Fragwürdige Wirksamkeit
  30. Psychostimulanzien
  31. Antidepressiva
  32. Antidementiva
  33. Betablocker
  34. Schlussfolgerung
  35. 7.2 Rechtliche und ethische Aspekte
  36. 8 Alternativen zum Neuroenhancement
  37. 9 Zusammenfassung und Ausblick
  38. Forschung
  39. Prävention
  40. Literatur
  41. Weiterführende Informationen
  42. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  43. Webseiten
  44. Stichwortverzeichnis

 

 

 

 

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Einleitung

Der Versuch des Menschen, seine Bewusstseinszustände durch die Einnahme psychoaktiver Substanzen zu erweitern und natürliche Grenzen zu überwinden, zieht sich seit Anbeginn der Menschheit durch alle Kulturen und Epochen (Glaeske et al. 2011; Lieb 2010). Neu ist jedoch die Motivlage des Menschen, seine Leistungsfähigkeit oder sein Wohlbefinden durch Medikamente oder andere Stoffe zu optimieren. Ging es früher bei einer Substanzeinnahme eher um deren bewusstseinsverändernde Wirkung und Realitätsflucht, geht es heute verstärkt darum, sich mithilfe von Medikamenten und/oder Substanzen besser an reale oder subjektiv wahrgenommene Anforderungen der Gesellschaft anzupassen (Glaeske et al. 2011). Der neuen Form des Substanzkonsums ist in den letzten Jahren eine verstärkte mediale Aufmerksamkeit zuteil geworden (Partridge et al. 2011) und sie hat in Wissenschaft und Alltag verschiedene Bezeichnungen erhalten: Hirndoping, Cognitive Enhancement, Neuroenhancement o. a.

Das vorliegende Buch zielt darauf ab, einen umfassenden Überblick zum relativ neuen Phänomen dieser Art des Substanzkonsums, zum Neuroenhancement, zu bieten. In allen Kapiteln soll es um eine realistische Darstellung und um eine kritische Reflexion des in den Medien publikumswirksam abgebildeten Neuroenhancement gehen. Hierzu wird zunächst der Versuch gewagt, eine differenzierte Definition von Neuroenhancement zu erarbeiten. Im Folgenden werden die verschiedenen Substanzklassen, die für die Zwecke des Neuroenhancement eingesetzt werden können, erläutert. Zur besseren Veranschaulichung des Phänomens werden im Anschluss drei Fallvignetten von Personen, die Neuroenhancement betreiben, vorgestellt. Alle drei Fallbeispiele weisen in Hinblick auf ihre Konsummuster und -entwicklungen sowohl Parallelen als auch Unterschiede auf. Im Anschluss werden frühe und aktuelle Forschungsstudien mit Prävalenzen zu Neuroenhancement umfassend und unter Berücksichtigung von Alters- und Geschlechtsunterschieden präsentiert. Dabei werden sowohl internationale und nationale Zahlen berücksichtigt als auch Untersuchungsergebnisse zu Konsumfrequenzen und Beschaffungswegen. Da empirische Daten zur Identifikation von Motiven und Ursachen von Neuroenhancement kaum vorliegen, wurde im vorliegenden Buch ein umfassendes Kapitel zu möglichen Erklärungsansätzen erstellt, welches sowohl bisherige Ergebnisse konkret zu Neuroenhancement integriert als auch theoretische Modelle zur Ätiologie von Substanzkonsum bzw. -missbrauch allgemein. Das anschließende Kapitel handelt von den Konsequenzen auf medizinischer, sozialer und psychologischer Ebene, die Neuroenhancement auf ein Individuum haben kann. Darauf aufbauend wird sich auf verschiedenen Ebenen der Frage gewidmet, wieso einem Neuroenhancement-Verhalten präventiv begegnet werden sollte. Diskutiert werden in diesem Zusammenhang die grundsätzlich fragwürdige Wirksamkeit von Neuroenhancement-Präparaten bei der Anwendung von gesunden Personen sowie rechtliche und ethische Aspekte. Zuletzt werden alternative Verhaltensstrategien zum Neuroenhancement aufgezeigt. Das Buch schließt mit einem Ausblick für bevorstehende Forschungsaktivitäten und Möglichkeiten für künftige Präventionsvorhaben.

1.1        Definition

Lieb (2010) hat sich in seinem Werk mit der Frage einer angemessenen Definition des neuen Phänomens des Substanzkonsums zur Optimierung der eigenen Möglichkeiten intensiv auseinander gesetzt und empfiehlt, dass die genannten Begriffe Hirndoping, Cognitive Enhancement und Neuroenhancement trennscharf voneinander abgegrenzt werden. Cognitive Enhancement bezeichnet für ihn die Verbesserung kognitiver Leistungen durch Neurotechnologien, was z. B. auch tiefe Hirnstimulation, transkranielle Magnetstimulation, genetische Manipulationen, Gehirnchips oder -implantate zur Verbesserung der Hirnfunktionen beinhaltet. Der Begriff des Neuroenhancement sei für ihn noch weiter gefasst als Cognitive Enhancement, denn er beziehe sich auf die Gesamtheit aller Nervenzellen bzw. die Gesamtheit des Nervensystems und umfasse somit nicht nur Maßnahmen zur Optimierung kognitiver Leistungen, sondern auch alle anderen Funktionen des Gehirns wie Motorik oder Sensorik. Die in den Medien beschriebene Einnahme von Substanzen zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit sei am besten als »Hirndoping« zu beschreiben, welches Lieb (2010, S. 25) wie folgt definiert:

»Unter Hirndoping versteht man den Versuch gesunder Menschen, die Leistungsfähigkeit des Gehirns durch die Einnahme von verschreibungspflichtigen Medikamenten zu verbessern. Dabei ist die Einnahme nicht medizinisch indiziert, die Substanzen wurden nicht ärztlich verordnet und der Konsum erfolgt nicht aus Genussgründen. Als Hirndoping bezeichnet man daher auch nicht den Konsum von Koffein oder pflanzlichen Produkten wie Extrakten des Baumes Ginkgo biloba, die auch zur geistigen Leistungssteigerung eingenommen werden, aber frei verkäuflich sind.«

Grundsätzlich erscheint diese Definition weitreichend und in vielerlei Hinsicht hilfreich zur Beschreibung des neuen Phänomens der Substanzeinnahme. Jedoch sollten vor dem Hintergrund der in jüngster Zeit erschienenen Forschung einige Verbesserungen bzw. Ausweitungen dieser Definition vorgenommen werden.

1.    Der Begriff des Hirndoping erscheint zu umgangssprachlich und wird vor allem in wissenschaftlichen Artikeln so nicht verwendet, auch wenn es sich um diese Form des Konsums handelt. Vielmehr scheint sich immer mehr der Begriff des »pharmakologischen Neuroenhancement« durchzusetzen.

2.    Die Definition von Lieb (2010) berücksichtigt nur eine Substanzeinnahme zur Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit. Neuere Studien und Artikel integrieren jedoch auch den Aspekt der Verbesserung des psychischen Wohlbefindens, der ebenfalls mit pharmakologischen Hilfsmitteln erreicht werden kann.

3.    Lieb (2010) liegt richtig in der Annahme, dass verschreibungsfreie Präparate wie Koffein, Ginseng oder Johanniskraut nicht als Hirndoping bezeichnet werden können. Zwar dient deren Konsum im Grunde auch der Leistungssteigerung, aber es handelt sich um legale, weit verbreitete und frei verkäufliche Genussmittel. Dennoch ist die Eingrenzung auf ausschließlich verschreibungspflichtige Medikamente möglicherweise zu eng gefasst. Einige Personen konsumieren auch illegale Stimulanzien wie Kokain oder Amphetamine ganz gezielt zur Steigerung der beruflichen oder akademischen Leistung und nicht nur aus hedonistischen Gründen in der Freizeit.

Somit ergäbe sich in Anlehnung an Liebs Definition (2010) und unter Berücksichtigung der oben genannten Aspekte eine überarbeitete Definition:

Definition

Pharmakologisches Neuroenhancement (im Folgenden: NE) bezeichnet den Versuch gesunder Menschen, die Leistungsfähigkeit des Gehirns und/oder ihr psychisches Wohlbefinden durch die Einnahme von verschreibungspflichtigen Medikamenten oder illegalen Stimulanzien zu verbessern. Dabei ist die Einnahme nicht medizinisch indiziert, die Substanzen wurden nicht ärztlich verordnet und der Konsum erfolgt nicht aus Genussgründen. Der Konsum von legalen und frei verkäuflichen Präparaten ist nicht als NE zu verstehen.

An dieser Definition des NE sollen sich die folgenden Ausführungen zum Thema orientieren. Besteht man jedoch z. B. auf eine weitere Unterteilung nach Substanzart oder möchte frei verkäufliche Apotheken- und Drogerieprodukte nicht vernachlässigen, bieten z. B. Wolff und Brand (2013) eine praktikable Differenzierung. Ihnen zufolge ist NE in drei Gruppen zu unterteilen: 1. »Lifestyle Drug NE« (Konsum frei erhältlicher Substanzen, z. B. Koffeinpräparate), 2. »Prescription Drug NE« (Konsum verschreibungspflichtiger Medikamente, z. B. Methylphenidat) und 3. »Illicit Substance NE« (Konsum illegaler Stimulanzien, z. B. Kokain). Eine derartige Subgruppenbildung schließt jedoch unsere Definition nicht aus, sondern bietet lediglich eine feinere Untergliederung.

Wenn man über NE spricht, muss stets bedacht werden, dass eine Abgrenzung zwischen »medizinisch indiziert« und »nicht indiziert« nicht immer trennscharf verläuft (Schermer et al. 2009). Es ist nirgends definiert, wann eine Person »zu gesund« bzw. »nicht krank genug« ist, um verschreibungspflichtige Medikamente einzunehmen (Lieb 2010). Beispielsweise kann eine Person Antidepressiva von einem Verwandten erhalten und einnehmen, weil sie sich derzeit in einer belastenden Lebenssituation (z. B. im Falle von starker Trauer) befindet, auch wenn keine ärztliche Diagnose in Form einer Depression vorliegt; entweder, weil es sich noch um eine »normale« Trauerreaktion handelt, oder es sich zwar schon um eine pathologische Form der Trauer handelt, die Person aber (noch) nicht zum Arzt1 gegangen ist. Ein weiteres Beispiel wäre ein nicht diagnostizierter Fall mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), wobei der Betroffene auf Anraten eines Freundes versucht, mit einer ADHS-Medikation seine Unkonzentriertheit in Seminaren an der Hochschule zu bekämpfen. Diese Beispiele sollen aufzeigen, dass es nicht immer eindeutig ist, ob es sich bei einer Substanzeinnahme zur Verbesserung der aktuellen Befindlichkeit um ein »reines« NE im definitorischen Sinne handelt oder eher um eine Form von Selbstmedikation bei bestehenden, aber (noch) nicht diagnostizierten Erkrankungen.

1.2        Substanzklassen

In Anlehnung an unsere Definition werden im Folgenden die wichtigsten Substanzklassen beschrieben, die für NE verwendet werden können. Zu den charakteristischen NE-Präparaten (NEP) gehören in erster Linie verschreibungspflichtige Psychostimulanzien wie z. B. Methylphenidat (MPH) oder Dextro-(D-)amphetamine (D-AMPH). Beide Wirkstoffgruppen werden für die Behandlung von hyperkinetischen Störungen bei Kindern und Erwachsenen (z. B. ADHS) eingesetzt. D-AMPH wurden diesbezüglich erst vor wenigen Jahren in Deutschland zugelassen. Ein weiteres stimulierendes Mittel ist Modafinil, das z. B. gegen Narkolepsie verabreicht wird. Neben den genannten Psychoanaleptika sind des Weiteren Antidepressiva (wegen der belegten guten Verträglichkeit v. a. Präparate der modernen Generation wie z. B. selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer/SSRI) und Antidementiva (v. a. Acetylcholinesterase-Inhibitoren und Memantin) zu berücksichtigen. Beispiele für illegal gehandelte Stimulanzien, die zur Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit und des psychischen Wohlbefindens verwendet bzw. missbraucht werden, sind z. B. Kokain und Amphetamine (AMPH) wie Speed, aber auch Medikamente, die in Deutschland nicht zugelassen und nur im Ausland erhältlich sind (z. B. Amphetaminsalze wie Adderall®). Ebenfalls berücksichtigt werden Betablocker, die die Verfestigung von Erinnerungen an emotional belastende Ereignisse reduzieren und somit dem psychischen Wohlbefinden dienen können.

Nicht als NEP bezeichnet werden der hier verwendeten Definition zufolge legale und frei verfügbare Phytopharmaka und Nahrungszusätze wie Ginkgo biloba, Ginseng, Johanniskraut, Guarana, Taurin, Koffein sowie Vitaminpräparate und Mineralstoffe. Ebenfalls nicht berücksichtigt werden Substanzen, bei denen man zunächst davon ausgehen könnte, sie seien als NEP geeignet, z. B. MDMA (Ecstasy), MDA und MDE, die als illegale Partydrogen die Wachheit und Stimmung positiv beeinflussen können. Allerdings gehört eine zum Teil erhebliche Euphorisierung zum Wirkspektrum dieser Substanzen, die für NE-Zwecke zu stark oder sogar kontraproduktiv wirken könnte. In der Forschungslandschaft zu NE wurde bisher auch der Einsatz von Beruhigungsmitteln aus der Gruppe der Benzodiazepine sowie von Alkohol oder Cannabis-Produkten kaum diskutiert. Diese Substanzen können durch ihre anxiolytische bzw. teilweise auch stimmungsaufhellende Wirkung das psychische Wohlbefinden erhöhen. Eine Betrachtung wert wäre auch der Einsatz von chemischen Hypnotika (z. B. frei verkäufliche Präparate wie Diphenhydramin oder die modernen »Z-Drugs« (z. B. Zolpidem) als verschreibungspflichtige Mittel), die Menschen einnehmen, um am Folgetag ausgeschlafen und leistungsbereit zu sein. Allerdings sind alle diese Präparate aufgrund ihres Wirkspektrums keinesfalls geeignet für eine direkte Optimierung der kognitiven Leistungsfähigkeit oder des psychischen Wohlbefindens. Bei einer liberalen Auslegung kann ein solches Einnahmeverhalten als indirekte Form des NE betrachtet werden (Maier et al. 2013). Sedierende Nachwirkungen der Substanzen sind darüber hinaus für die eigentlichen Ziele des NE als gegenteilig zu bezeichnen. Somit sind beruhigende bzw. entspannende Substanzen oder Schlafmittel nicht zu der Gruppe der NEP zu zählen.

Tabelle 1 gibt einen beispielhaften Überblick der Wirkstoffgruppen, die typischerweise als NEP verwendet bzw. missbraucht werden.

Wirkstoffgruppe Therapeutischer Einsatzbereich Handelsname(n) (Beispiele)Erhoffte Wirkung bei missbräuchlicher Anwendung Psychopharmaka Psychoanaleptika

Tab. 1: Beispielhafte Übersicht über NE-Wirkstoffgruppen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Darstellung in Anlehnung an Glaeske et al. 2011, mit Informationen aus DAK 2009; Förstl 2009; Jones et al. 2007; Lieb 2010; Rote Liste® 2013.

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1     Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch das generische Maskulinum verwendet. Es schließt – soweit nicht anders vermerkt – sowohl Frauen als auch Männer ein. Alle Leserinnen werden um Verständnis gebeten.

 

 

 

 

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Fallvignetten

Im Folgenden werden drei Fallbeispiele benannt, die mögliche Konsummuster und -motive abbilden. Einzelne Personenangaben wurden aus ethischen und datenschutzrechtlichen Gründen verändert.