Titelseite

1. kapitel

Bruno hob den Sack hoch. Himmel, war der schwer! Aber zum Trainieren immer noch viel zu leicht.

Die Boxhandschuhe lagen einladend auf dem Rasen neben dem Weg, der von der Terrasse in den Garten führte. Brunos Vater hatte ihn vorige Woche mit Sand aufschütten lassen. Gleich würde Bruno die Handschuhe anziehen, aber erst musste dieser blöde Sack voll sein.

Mit einer Hand hielt Bruno den Sack auf, mit der anderen versuchte er eine Schaufel voll Sand hineinzubefördern. Das war alles andere als einfach. Gestern hatte es geregnet und der Sand war eigentlich viel zu nass. Mist, jetzt hatte er alles auf den Schuhen! Es gab so tolle Boxsäcke zu kaufen, gar nicht teuer. Aber Geld war ja nicht das Problem. Das Problem war seine Mutter. Immerhin hatte er die Boxhandschuhe, die sein Vater ihm zu Weihnachten geschenkt hatte, behalten dürfen.

»Nur zur Deko«, hatte Bruno gesagt. »An meiner Wand sehen die doch klasse aus.«

»Ich finde nicht, dass die sich da besonders gut machen«, hatte seine Mutter erwidert. Und Bruno musste ihr recht geben. Unter dem Poster, das Mozart als Kind in einem blauseidenen Anzug mit Rüschenhemd zeigte, machten sich die Boxhandschuhe alles andere als gut.

»Aber du benutzt sie doch nicht etwa?«, hatte seine Mutter noch ängstlich hinzugefügt und sein Vater hatte die Augen verdreht und gesagt: »Einen Boxsack hast du ja verboten, auf wen oder was sollte er also einschlagen?«

»Denk an seine Finger!«

Bruno dachte an seine Finger, die im Augenblick wie panierte Würstchen aussahen. Seine kostbaren Finger, denen ja nichts passieren durfte, weil es sonst vorbei war mit dem Klavierspiel, vorbei mit der Karriere als Pianist.

Endlich! Noch eine Schaufel und er konnte den Sack oben zubinden und an den dicken Ast der Eiche hängen.

»Bruno!«, hallte es durch den Garten.

Die Schaufel rutschte ab, eine Ladung nasser Sand landete in seinem Ärmel.

»Du musst zum Klavier! Beeil dich!«

Bruno schüttelte seinen Ärmel aus und sah auf die Uhr. Fünf nach vier. Er hatte überhaupt nicht ans Klavier gedacht. In letzter Zeit vergaß er es immer öfter. Dabei war dies ein eiserner Termin. Seit einem Jahr hatte er sich donnerstags um Viertel nach vier in der Leonorenstraße bei Frau Leberknecht einzufinden.

Schnell wischte er sich die Hände an der Hose ab. Und der Sack? Wo sollte er den verstecken? Er wuchtete ihn hinter die Buchsbaumhecke, da sah seine Mutter bestimmt nicht nach.

Bruno stürzte durch die offene Terrassentür ins Haus, griff die Noten, die auf dem Klavier lagen, und stopfte sie in seine Umhängetasche. Er hatte nur noch sieben Minuten. Wenn er sich sehr beeilte, konnte er es gerade noch schaffen. Frau Leberknecht hasste Unpünktlichkeit.

»Hast du saubere Hände?« Brunos Mutter streckte den Kopf aus der Küche.

»Na klar!«, log er. Zum Händewaschen war keine Zeit mehr.

Bruno warf sich die Tasche über die Schulter, sprang aufs Rad und sauste los. Zu spät fiel ihm ein, dass er seine Boxhandschuhe im Garten vergessen hatte, hoffentlich regnete es nicht. Er sah hoch zum Himmel und hätte beinahe einen alten Mann übersehen, der vor ihm über den Fahrradweg zu seinem Auto schlurfte.

»Kannst du nicht aufpassen, Bengel?«, schrie er Bruno hinterher.

»Passen Sie doch selber auf!«, rief Bruno. Er hatte schlechte Laune, sehr schlechte Laune.

Als er bei Frau Leberknecht klingelte, war es genau achtzehn Minuten nach vier. Er wischte sich noch einmal die Hände an der Hose ab. Oberflächlich betrachtet sahen sie sauber aus. Und Frau Leberknecht gab ihm sowieso nie die Hand. Nur seiner Mutter, wenn sie ihn zum Unterricht begleitete, was sie früher oft gemacht hatte, bis die Klavierlehrerin gemeint hatte, das würde Bruno nur beim Üben stören.

Frau Leberknecht öffnete, sagte: »Guten Tag, Bruno«, und ging ihm voraus in das Zimmer mit dem Flügel. Als Brunos Mutter ihn das erste Mal gesehen hatte, war sie vor Ehrfurcht fast erstarrt. Der Flügel war riesig und sein schwarz lackiertes Holz glänzte immer wie frisch poliert. Er schien Bruno zuzurufen: »Du bist nicht gut genug für mich, du wirst nie gut genug für mich sein!«

Bruno hatte Angst, vor nichts so sehr Angst wie vor diesem Ungetüm.

Frau Leberknecht klappte den Deckel auf. Bruno zog die Noten aus seiner Tasche und stellte sie auf die Ablage.

»Wir beginnen mit dem Chopin«, sagte Frau Leberknecht. »Mit dem hattest du letztes Mal einige Probleme, nicht wahr?«

Mit dem Chopin hatte er immer noch Probleme. Vier Vorzeichen und dann die Sprünge mit der linken Hand.

»Fang an.«

Die Finger der rechten Hand, die eigentlich geläufig über die Tasten hätten gleiten sollen, schienen sich zu verknoten, die linke Hand hing hilflos in der Luft. Vom tiefen As zum hohen C, wie sollte man das schaffen?

»Welche Tonart haben wir hier?«, fragte Frau Leberknecht scheinbar unbeteiligt, dabei sah Bruno genau, wie es in ihr kochte. Sie nahm jeden Fehler, den man machte, persönlich. Und auch der Flügel gab ein unwilliges Knacken von sich, als Bruno das Pedal trat.

»F-moll«, flüsterte Bruno.

»Dann spiel das bitte auch«, sagte Frau Leberknecht.

Bruno begann zu schwitzen, seine Finger wurden feucht. Was war das? Wieso wurden die weißen Tasten plötzlich braun? Er brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass es sein eigener Schweiß war, vermischt mit dem Sand aus dem Boxsack. Hastig versuchte er den Dreck mit den Fingern von den Tasten zu wischen, was zu unschönen Dissonanzen führte.

»Geh dir bitte die Hände waschen«, sagte Frau Leberknecht, als sein Zeigefinger beim zweigestrichenen C abrutschte.    

Mit hochrotem Kopf stand Bruno auf, ging zur Tür und blieb unschlüssig stehen. Er wusste nicht, wo die Toilette war. Von Frau Leberknechts Wohnung kannte er nur diesen Raum und den Flur.

»Rechts neben dem Eingang«, hörte er noch.

Im Spiegel sah er sein gerötetes Gesicht. Ein kleines braunes Rinnsal floss von seiner Stirn an der Nase vorbei Richtung Mund. Er leckte es ab. Es schmeckte nach Salz und Sand.

»Guck mal, Sofa, was ich gebacken hab!« Niklas stapfte in Sofias Zimmer. Mit beiden Händen trug er einen halb eingestürzten Sandkuchen.

»Nicht!«, rief Sofia. Aber es war zu spät. Niklas ließ den Haufen auf ihren Schreibtisch fallen. Sie schaffte es gerade noch, den Laptop zuzuklappen, bevor sich ein Sandregen über ihn ergoss.

»Bist du irre?«, schrie sie.

Niklas sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. Seine Unterlippe begann zu zittern, seine Nasenflügel vibrierten und schon löste sich aus dem rechten Auge eine kugelrunde Träne. Sofia hatte dieses Schauspiel schon tausendmal gesehen und musste doch immer wieder über die Perfektion staunen, mit der der kleine Kerl es regelmäßig aufführte. Jetzt noch einmal tief Luft geholt, dann würde er sich umdrehen, aus dem Zimmer laufen und dann …

Sofia seufzte, als ihre Mutter kurze Zeit später vor ihr stand.

»Also wirklich, Sofia! Musst du Niklas immer so anbrüllen?«  

Sofia zeigte auf den Haufen auf ihrem Schreibtisch.

»Kein Problem, das bisschen Sand, das kann man doch wegfegen.«

»Weißt du, was passiert wäre, wenn der in meinem Computer gelandet wäre?« Sofia konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme immer schriller wurde. »Der wäre hin gewesen und dann hättest du mir einen neuen kaufen müssen!«

»Wäre vielleicht gar nicht schlecht, wenn die Kiste endlich kaputt wäre, dann würdest du vielleicht auch mal was anderes tun, als ständig davorzuhocken.«

»Ach ja? Was denn?«

»Dir die Haare kämmen zum Beispiel. Du siehst wieder aus! Wie ein Staubwedel.«

Sofias Mutter trug einen akkuraten Kurzhaarschnitt. Jedes Härchen lag genau da, wo es hingehörte.

»Außerdem könntest du zur Abwechslung mit deinem kleinen Bruder spielen, anstatt ihn ständig anzumeckern.«

»Dann soll er erst mal lernen, wie ich heiße.« Sofia drehte sich weg. Sie wollte nicht, dass ihre Mutter sah, wie ihr die Tränen kamen.

»Meine Güte, bist du empfindlich. Alle finden das niedlich, nur du machst jedes Mal einen Aufstand.«

Kopfschüttelnd ging die Mutter aus dem Zimmer und kam mit einem Handfeger zurück.

»Ich mach das schon«, sagte Sofia schnell. Niklas hatte den Sand genau auf den Mathetest gekippt, und ihre Mutter musste nicht gleich sehen, dass der alles andere als gut ausgefallen war. Sie würde ihn am besten von Georg unterschreiben lassen. Das durfte der zwar nicht, weil er nicht erziehungsberechtigt war, sondern nur der Mann ihrer Mutter, aber das wusste der Mathelehrer ja nicht.

Sofia öffnete das Fenster, um den Sand in den Hof zu kippen. Unten hockte Niklas quietschvergnügt in der Buddelkiste und füllte ein Sandförmchen nach dem anderen. Sie ließ den Sand genau auf seinen Kopf fallen und schloss schnell das Fenster, um sein Gebrüll nicht hören zu müssen.

Dann klappte sie den Laptop auf und pustete ein paar Sandkörner von den Tasten. Sie loggte sich bei Allfriends ein. Es funktionierte. Sie atmete auf. Da war sogar ein neuer Eintrag. Eine Leonie fragte, ob sie die Chiara wäre, mit der sie in die fünfte Klasse gegangen sei. Auf ihrem Bild könne sie das nicht erkennen.

Natürlich nicht, niemand konnte Sofia darauf erkennen. Sie hatte ihre langen Haare vors Gesicht gekämmt und sich dann mit dem Handy fotografiert. Und natürlich hieß sie auch nicht Chiara und war auch nie in die fünfte Klasse des Lilienthal-Gymnasiums gegangen. Aufs Lilienthal-Gymnasium gingen nur besonders gute Schüler. Sofia war keine gute Schülerin. Sie war auch nicht fünfzehn, sondern dreizehn. Aber jedes Mal, wenn sie sich im Chat als die hübsche, sportliche Chiara ausgab, deren Hobbys Tennis und Saxofonspielen waren, vergaß sie die echte Sofia. Dieses pummelige Mädchen mit den Pickeln auf der Stirn und den abgekauten Nägeln, das noch nie in seinem Leben einen Tennisschläger, geschweige denn ein Saxofon in der Hand gehalten hatte. Chiara hatte natürlich auch keine Geschwister, schon gar keinen Halbbruder mit blonden Locken und himmelblauen Augen, den alle Welt für ein Engelchen hielt. Allen voran ihre Mutter.

Ein leises Mauzen war zu hören.

»Komm her, Loulou, komm!« Die Katze ließ sich vor Sofia auf den Rücken fallen und ausgiebig kraulen. Loulou war die Einzige in der ganzen Familie, die nicht auf Niklas reinfiel. Sie hatte ihn sogar schon mal gebissen, als er sie am Schwanz unter dem Küchenschrank hervorziehen wollte.

»Wir sind schon zwei arme Schweine, was?«, sagte Sofia. Loulou miaute und es klang wie: »Da hast du recht!«

»Emily, hast du meinen Autoschlüssel gesehen?«

Emily guckte von ihrem Englischbuch auf. Sie hatte nur noch zehn Minuten für zwei Seiten Vokabeln. Das schaffte sie niemals.

»Ist er nicht im Kästchen?«, fragte sie.

»Nein, sonst würde ich doch nicht fragen!« Aufgelöst, den einen Arm schon im Mantel, fegte Emilys Mutter durch die Küche. Zog die Besteckschublade auf, riss eine Zeitung vom Tisch. »Ich hab ihn doch hierhergelegt, hier auf den Tisch!«

Emily klappte das Buch zu. »Warum legst du den Autoschlüssel auch jedes Mal woanders hin, Mama?«

»Weil … weil das Telefon geklingelt hat, als ich gestern reinkam und …«

Emily stand auf und ging zu dem kleinen Schränkchen im Flur, auf dem das Telefon stand. Da lag der Autoschlüssel, unter dem Telefonverzeichnis.

Triumphierend schwenkte sie ihn in der Hand. »Hier ist er doch, Mama.«

»Danke, Emmilein! Was würde ich nur ohne dich anfangen?«

Das fragte Emily sich auch. Jeden Tag. Dabei schien sie das Schlüsselproblem bereits gelöst zu haben. Sie hatte ihrer Mutter einen elektronischen Schlüsselanhänger geschenkt. Man brauchte nur zu pfeifen und dann meldete er sich mit einem »Piep, piep«. So stand es jedenfalls in der Beschreibung. Dummerweise konnte ihre Mutter aber nicht pfeifen, dafür piepste das Ding ununterbrochen. Einmal war es losgegangen, als ihre Mutter bei einem Vorstellungsgespräch war. Sie hatte hektisch in ihrer Handtasche herumgewühlt, den Schlüssel nicht gefunden und schließlich hatte sich der Inhalt der Tasche auf den Boden ergossen. Und alle konnten Porky sehen. Das Sorgenschwein, das Emily ihr in der ersten Klasse genäht hatte. Es hatte nur ein Ohr und sah auch sonst nicht sehr appetitlich aus. Natürlich hatte sie den Job nicht bekommen. Wer stellte auch schon eine Buchhalterin ein, die nicht mal Herr über ihre Handtasche war?

»Soll ich dich schnell mitnehmen? Es regnet.«

Emily überlegte kurz. Sie hatte keine große Lust, im Regen mit dem Rad zu fahren, außerdem konnte sie im Auto noch ein wenig lernen, andererseits wusste man bei ihrer Mutter nie, ob man auch da ankam, wo man hinwollte.

»Die Schule liegt auf dem Weg, ich muss in die Pestalozzistraße.«

»Das ist doch die entgegengesetzte Richtung, Mama«, sagte Emily. Aber nun hatte sie sowieso keine Wahl mehr.

»Du musst hinten einsteigen«, sagte ihre Mutter, als sie vor dem kleinen gelben Fiat standen, dessen Blech sommersprossengleich mit Roststellen gesprenkelt war. »Die Beifahrertür klemmt.«

Emily schob auf der Rückbank einen Karton mit altem Hausrat beiseite, den ihre Mutter längst zum Trödel hatte bringen wollen. »Die klemmt doch schon seit Monaten. Willst du das nicht mal reparieren lassen?«

Sie hatte es kaum gesagt, da hätte sie sich auch schon auf die Zunge beißen können. Aber ihre Mutter lachte und sagte: »Mach ich, wenn ich den Job heute bekomme. Diesmal hab ich ein richtig gutes Gefühl.«

Das hatte sie jedes Mal. Und nie klappte es. Mal war sie zu alt, mal störte es den Chef, dass sie alleinerziehende Mutter war und keine Überstunden machen wollte. Und einmal hatte sie von sich aus »Nein danke« gesagt, weil sie fand, dass die Dame, mit der sie in einem Büro hätte sitzen sollen, ein penetrantes Parfüm getragen habe. »Diesen Gestank ertrage ich keine zwei Minuten!«

»Ach du je!« Emilys Mutter klopfte auf die Benzinanzeige. »Entweder hakt die schon wieder oder wir bekommen gleich ein Problem.«

Sie bekamen ein Problem. Der Wagen blieb nämlich mitten auf der Kreuzung stehen. Emily sprang aus dem Auto und lief zur Bushaltestelle. Immerhin kam gerade ein Bus. Sie hatte Glück. Als er anfuhr, sah sie ihre Mutter auf der Kreuzung stehen und zwischen wild hupenden Autofahrern verzweifelt einen leeren Benzinkanister schwenken.

Auch diesen Job würde sie nicht bekommen.

2. kapitel

Während Emilys Mutter auf einer belebten Kreuzung in Berlin stand und verzweifelt versuchte, einen mitleidigen Autofahrer zu finden, der etwas Benzin für sie übrig hatte, betrat ein paar hundert Kilometer weiter nördlich ein Mann eine Fabrikhalle.

Eilig schritt er an meterhohen Regalen vorbei, die mit Pappkartons vollgestopft waren. Vor jedem Karton stand ein Muster der Objekte, die darin enthalten waren: Puppen, Stofftiere, Baukräne, Feuerwehrautos.

Spielzeug also. Aber kein gewöhnliches Spielzeug. Die Spielsachen aus Wohlfarths Spielwarenfabrik waren technische Meisterwerke. Da gab es Puppen, die nicht nur sprechen, sondern auch weinen konnten und dabei echte Tränen vergossen. Hunde, die sich zum Gekraultwerden auf den Rücken warfen und richtige kleine Haufen machten, geruchlose natürlich, und Flugzeuge, die nicht nur fliegen konnten, sondern auch genau an dem Ort landeten, den man vorher programmiert hatte.

Walther Wohlfarth, der Begründer der Wohlfarth’schen Spielzeugwerke, hatte es mit seinen weinenden Puppen und lebensechten Hunden und Katzen zu einem Vermögen gebracht, aber dann war der Absatz rapide gesunken, denn die Kunden kauften lieber Spielzeug aus Fernost, das mindestens ebenso viel konnte und auch fast genauso aussah, dafür aber nur die Hälfte kostete.

Und Walther Wohlfarth persönlich war es auch, der da jetzt an den unverkäuflichen Resten seines einst blühenden Unternehmens vorbeihastete und keinen Blick für all die Bellos, Wuschels, Tinas und Ginas hatte, die ihm aus leblosen Glasaugen hinterherglotzten.

»Kruschke!«, schrie er. »Kruschke, wo stecken Sie schon wieder?«

»Hier, Chef!«, ertönte es dumpf hinter einem Regal. »Komme schon.«

Ein kleiner dicker Mann mit Halbglatze tauchte auf. Er sah ziemlich mitgenommen aus. Ein Hosenträger hing herab, das Hemd war schief geknöpft. Schweiß perlte von seiner Stirn. Sein linkes Auge zuckte, sein rechtes sah starr geradeaus. Er war beileibe kein schöner Mann.

»Sie ist mir entwischt, Chef«, stieß er jetzt hervor. »Prototyp 3131. Einfach abgehauen.«

»Kruschke!«, donnerte Wohlfahrth. »Sie sind ein Idiot!«

Kruschke zuckte zusammen. »Jawohl, Chef.«

Aber Kruschke war alles andere als ein Idiot. Das komplizierte technische Innenleben all der Spielsachen um ihn herum war ganz allein sein Werk. Keiner hätte in diesem rotgesichtigen kleinen Mann, der zudem noch grauenvoll schielte, einen der bedeutendsten Erfinder Deutschlands vermutet. Aber das war er. Ihm war es zu verdanken, dass Puppe Amanda, der Sensationserfolg auf der Nürnberger Spielwarenmesse von 1993, nach dem Trinken ihres Fläschchens richtig aufstoßen konnte. Verkauft hatte sich Amanda dann allerdings nicht so gut, da die anfänglich niedlichen Bäuerchen sich innerhalb kurzer Zeit in laute Rülpser verwandelten, die die kleinen Puppenmuttis eher abstoßend fanden.

»Sie sind ein Idiot, Kruschke«, wiederholte Wohlfarth. »Ich hatte Ihnen doch gesagt, Sie sollen sie umprogrammieren. Wie konnte das passieren?«

»Gerade als ich den Dauerschlafmodus einstellen wollte, hat sie sich davongemacht.« Kruschke wagte ein Lächeln, als er nicht wenig stolz hinzufügte. »Sie ist ziemlich schlau.«

»Schlau, von wegen!«, zischte Wohlfarth. »Sie haben sie vermurkst. Schaffen Sie sie her und dann ab mit ihr in den Elektroschrott.«

»Ich soll sie … umbringen?«, stammelte Kruschke.

»Wir brauchen Prototyp 3131 nicht mehr. Wir haken sie ab unter Fehlkonstruktion. Finden Sie sie, und zwar sofort!«  

»Jawohl, Chef. Bin schon weg, Chef!« Kruschke lief los, stellte fest, dass er sich in der Richtung geirrt hat, kehrte um und rannte, so schnell er es mit seinen kurzen Beinen vermochte, aus der Halle.

»Wenn ich den Kerl nicht dringend bräuchte, würde ich ihn am liebsten auf den Mond schießen«, murmelte Wohlfarth und zupft sich einen Fussel vom Ärmel, bevor auch er die Fabrikhalle verließ.

Kruschke stand auf einer Düne. Der Wind wirbelte die wenigen Haare durcheinander, die ihm noch verblieben waren.

»Sarah!«, rief er. »Sarah!«

Wenn sie nicht weiter als hundert Meter von ihm entfernt war, müsste sie ihn hören und auch auf ihn reagieren. Das hatte er so programmiert. Sarah war ein schöner Name, so hatte das Mädchen geheißen, das die ersten Jahre in der Grundschule vor ihm gesessen hatte. Dicke kastanienbraune Haare hatte es gehabt. Immer hatte er diese Haare anschauen müssen. Wenn die Sonne durch das Klassenfenster schien, hatten sie rotgolden geschimmert. Für seine Sarah hatte er versucht, Haare in der gleichen Farbe zu finden. Wohlfarth hatte zwar gemeint, ein Prototyp bräuchte kein Haar, das sei unnötige Geldverschwendung, aber Kruschke hatte darauf bestanden. »Nur so können wir sehen, ob sie auch überzeugend wirkt. Haare können sehr entscheidend sein.«

Bei den Nachfolgemodellen hatte Wohlfarth sich dann aber für blondes Haar entschieden. »Blond wirkt einfach sympathischer, vertrauenerweckender. Das haben wissenschaftliche Studien erwiesen.«

Wohlfarth hatte recht. Er hatte immer recht. Schließlich war er der Chef. Fragte sich nur, wie lange noch.

Kruschke lief die Düne hinunter zum Strand. »Sarah!«, rief er wieder. Aber der Strand war leer. Möwen krächzten. Es roch nach faulem Tang und Meer. Es gab nicht so viele Möglichkeiten, sich hier auf der Insel zu verstecken. Er musste sie finden, bevor ihre Akkus leer waren. Er musste ihr erklären, was er mit ihr vorhatte. Er wusste, sie würde es verstehen. Sie würde verstehen, dass sie zu Großem bestimmt war, dazu, die perfekteste Frau der Welt zu werden. Schön und klug war sie jetzt schon, aber etwas ganz Entscheidendes fehlte ihr. Und er, Kruschke, konnte ihr genau das geben. Keiner sonst, nur er!

Wo steckte sie nur?

Aus den Dünen trat eine Frau. Ihr langes braunes Haar flatterte im Wind. Obwohl es an diesem Aprilmorgen empfindlich kühl war, trug sie nur ein dünnes Sommerkleid. Schnell schritt sie über den Sand zum Ufer. Immer weiter, bis die Gischt ihre nackten Füße umspülte. Sie hob die Arme, als wollte sie den Horizont umarmen.

Kruschke machte schon den Mund auf, um ihren Namen zu rufen, schwieg dann aber. Womöglich erschreckte er sie und sie flüchtete wieder. Er konnte ihr nicht länger hinterherlaufen. Er war ja jetzt schon völlig außer Puste.

Schwerfällig stapfte er durch den tiefen Sand zu ihr hin.

»Sarah«, sagte er leise. »Sarah, bleib stehen. Nicht ins Wasser gehen, hörst du?«

Sarah drehte sich zu ihm um. »Wasser ist eine chemische Verbindung aus den Elementen Wasserstoff und Sauerstoff. Wasser kann man trinken, in Wasser kann man baden«, sagte sie lächelnd.

»Du hast recht«, sagte Kruschke. »Aber in diesem Wasser kannst du nicht baden, Sarah.«

»Badengehen macht Spaß«, sagte Sarah und ging weiter.

Eine Stunde später klopfte es an Wohlfarths Bürotür. Es befand sich auf einer Galerie in der ehemaligen Fertigungshalle, und durch ein großes Glasfenster konnte man hinunter auf die Fließbänder blicken, an denen vor vielen Jahren einmal die Arbeiterinnen gestanden und Puppen frisiert und eingekleidet hatten, bevor sie dann in bunte Kartons verpackt worden waren. Auf einem der Bänder lag noch ein rosa Strampelanzug, eine der letzten Babypuppen musste nackt ausgeliefert worden sein. Aber wen kümmerte das noch. Wohlfarth jedenfalls nicht. Er saß vor einem Computer und starrte auf den Bildschirm.

Es klopfte noch einmal.

»Kommen Sie schon rein, Kruschke.«

Vorsichtig öffnete Kruschke die Tür und schob sich durch den Spalt. »Entschuldigung, Chef … aber …«, stotterte er.

»Sagen Sie nicht, sie ist Ihnen entwischt!« Wohlfarths Gesicht verfärbte sich.

»Doch, leider. Ich hatte sie schon fast gehabt, aber dann hat sie sich ins Meer gestürzt. Sie hat gesagt, sie will baden, und dann lag sie auch schon im Wasser. Ich konnte schließlich nicht hinterher, Chef.«

Wohlfarth sah den kleinen dicken Mann abschätzig an. »Natürlich nicht. Können Sie überhaupt schwimmen?«

Kruschke schüttelte den Kopf.

»Ist Prototyp 3131 denn salzwassertauglich?«

»Nein, ihr Körper verträgt nur Süßwasser nicht über 38 und nicht unter 19 Grad.«

Wohlfarth tippte etwas in seinen Computer ein. »Die Nordsee hat zurzeit gerade mal 15 Grad. Was glauben Sie, wie lange hält sie durch?«

Kruschke schluckte. »Keinen Tag, befürchte ich.«

»Gut, dann können wir nur hoffen, dass sie nicht eines Tages hier angetrieben wird.«

»Warum?«, fragte Kruschke verwirrt.

»Weil niemand auf der Insel von ihrer Existenz erfahren darf, darum!« Wohlfarth erhob sich. »Und nun machen Sie sich gefälligst an die Arbeit, aber ich warne Sie: noch so ein Fehler und …«

»Keine Sorge, Chef, das wird nicht wieder passieren«, sagte Kruschke schnell. »In Zukunft wird alles laufen wie am Schnürchen.«

»Das will ich Ihnen auch geraten haben. Vergessen Sie nie, was auf dem Spiel steht!«

3. kapitel

Als Bruno an diesem Mittag aus der Schule kam, erwartete ihn eine Überraschung.

»Ich muss mit dir reden«, sagte seine Mutter, noch bevor er Zeit gehabt hatte, sich die Jacke auszuziehen. »Ich habe vorhin mit Frau Leberknecht gesprochen.«

»Ja?«, fragte Bruno ängstlich. Hatte sie sich etwa beschwert, weil er die Tasten ihres kostbaren Flügels eingesaut hatte?

»Ich habe ihr gekündigt.«

Bruno musste sich setzen. »Toll – ich meine … warum?«

»Weil ich glaube, dass sie nicht gut genug für dich ist. Sie sieht einfach nicht, was für ein großes Talent sie vor sich hat.«    

Bruno seufzte. Hatte er einen kurzen Moment lang geglaubt, seine Mutter hätte endlich eingesehen, dass aus ihm nie ein großer Pianist werden würde, so war diese Hoffnung wieder dahin. Es würde nur einen neuen Lehrer oder eine neue Lehrerin geben. Wie so oft in den letzten Jahren. Dass die Leberknecht sich überhaupt so lange gehalten hatte, grenzte an ein Wunder.

Seine Mutter ging auf und ab. Selbst ihrem Rücken war die Entrüstung anzusehen.

»Als ich sie gefragt habe, ob sie dich bei dem Klavierwettbewerb im Juni angemeldet hat, hat sie doch glatt gemeint, du seist nicht gut genug und es wäre für dich sicher nicht schön, unter den Letzten zu landen.«

Bruno seufzte noch einmal, lauter.

Seine Mutter strich ihm übers Haar. »Nicht traurig sein, Schatz. Diese Frau hat einfach keine Ahnung. Ich fand sie ja gleich unsympathisch, aber sie war mir empfohlen worden.«

Bruno musste daran denken, wie begeistert seine Mutter am Anfang von Frau Leberknecht gewesen war. »Das ist die Richtige für dich«, hatte sie gesagt. »Nicht so eine Lusche wie dieser Herr Karl mit seinem schlaffen Händedruck. Die wird dich zur Konzertreife bringen, da bin ich sicher!«

Auch Herrn Karl hatte sie anfangs in den höchsten Tönen gepriesen, um ihn dann dafür verantwortlich zu machen, dass Bruno immer noch nicht spielte wie Klang Klang, der berühmte chinesische Pianist, den seine Mutter so verehrte und von dem sie ihm zum Geburtstag ein Autogramm mit persönlicher Widmung geschenkt hatte. Er hatte Freude geheuchelt, dabei wäre ihm ein Autogramm von Muhammed Ali hundertmal lieber gewesen.

Die Mutter stellte Bruno einen Teller hin. »Es tut mir leid, ich bin heute nicht zum Kochen gekommen.« Sie öffnete den Kühlschrank und holte Käse und Wurst heraus. »Hab den ganzen Vormittag nur rumtelefoniert.«

Sie legte Bruno eine Scheibe Brot auf den Teller und strahlte ihn an. »Aber jetzt hab ich ihn. Den besten! Professor Griebel. Es war wirklich schwierig, weil er eigentlich überhaupt keine Termine frei hat, aber nachdem ich ihm erzählt habe, dass Klavierspielen deine große Leidenschaft ist, dass du es kaum erwarten kannst, endlich auf einer großen Bühne dein Können –«

»Mama!«, versuchte Bruno sie zu unterbrechen.

»Ist natürlich viel teurer als die Leberknecht, aber das ist es mir wert, das muss es mir wert sein, wenn ich damit deine Zukunft –«

»Mama!«, sagte Bruno noch einmal lauter. »Ich kann überhaupt nicht Klavier spielen!« Er schob den Teller weg, der Appetit war ihm vergangen. »Erinnerst du dich noch an das erste Vorspiel bei Frau Leberknecht? An das Mädchen, das vor mir dran war?«

»Die kleine Chinesin?«

»Sie kommt aus Korea. Wie die gespielt hat! Und dabei war sie erst sieben. Die ist begabt. Das hat Frau Leberknecht auch gesagt.«

Seine Mutter machte eine abfällige Handbewegung. »Mein Gott, diese Asiaten. Die erziehen ihre Kinder zu reinsten Automaten. Bestimmt übt die sechs Stunden am Tag.«

»Dein Klang Klang ist doch auch Asiate«, warf Bruno ein.

»Der ist ein Jahrhundertgenie, das ist ganz etwas anderes. Aber bei diesem Mädchen fehlte doch die Seele, Bruno. Auf die Seele kommt es an. Du warst einfach zu nervös an dem Tag und das Publikum nicht gewöhnt, deshalb hast du dich verspielt.«

»Ich verspiele mich doch auch zu Hause, wo kein Publikum ist. Ich bin einfach zu blöd dazu!«

Brunos Mutter nahm seine Hände und küsste sie. Eine Träne fiel auf seinen Handrücken. »Sag das nicht. Ich weiß, dass das nicht stimmt. Ich muss es wissen, ich bin schließlich deine Mutter!«

Ich hab echt die schrecklichste Mutter der Welt, tippte Sofia in den Computer. Sie chattete gerade mit einem Jungen, der sich Dragonmonster nannte. Sein Foto zeigte einen blassen Knaben mit hochgegeltem Haar, der sich bemühte, besonders finster und bedrohlich auszusehen. Angeblich war er sechzehn. Dieser Milchbubi war höchstens vierzehn, das sah Sofia sofort. Aber sie war so wütend auf ihre Mutter, dass sie sich auch bei einer Schaufensterpuppe ausgeheult hätte. Und den schrecklichsten Bruder, der außerdem noch nicht mal mein richtiger Bruder ist. Er sammelt tote Tiere und hat auch sonst ein Rad ab. Vor lauter Ärger vergaß sie sogar, dass sie in ihrem Profil angegeben hatte, Einzelkind zu sein. Sie kratzte sich an der Stirn. Mist, da wuchs schon wieder ein Pickel. Und mein Stiefvater ist sowieso das Aller– Sofia brach ab. »Das Allerletzte« hatte sie schreiben wollen, aber das war unfair. Georg war eigentlich ganz nett. Er gab sich wenigstens Mühe, nahm Niklas nicht andauernd in Schutz. Aber wahrscheinlich tat er das auch nur, weil er die ständigen Streitereien satthatte.    

Sofia löschte die letzten Worte und schrieb: Und mein Stiefvater checkt rein gar nichts.

Was macht der Alte denn?, schrieb Dragonmonster zurück.

Der ist Vertreter, antwortete Sofia.

Igitt, so’n Typ, der einem irgendwas an der Haustür andreht? Is ja abartig.

Du sagst es.

Auch das stimmte so nicht. Georg war zwar Vertreter, aber keiner, der von Tür zu Tür latschte. Er arbeitete für eine pharmazeutische Firma, die Mittel gegen Verstopfung und Haarausfall herstellte, und musste Ärzten die neuesten Medikamente vorführen. Er war ständig unterwegs. Sofia hatte nie verstanden, warum man für die Präsentation eines Abführmittels auf die Malediven fliegen musste oder nach Paris. Aber ab und zu brachte er ihr sogar was richtig Schönes mit. Sie hatte schon eine ganze Sammlung mit T-Shirts von allen Orten der Welt. Das aus Stockholm mit den vielen bunten Elchen drauf mochte sie am liebsten.

Hey, bist du noch da?, schrieb Dragonmonster.

»Sofia! Kommst du? Das Essen ist fertig«, rief ihre Mutter von draußen.

»Was gibt’s denn?«, rief Sofia zurück.

»Fischstäbchen mit Reis und Salat!«

Sofia steckte sich den Finger in den Hals. »Kotz, würg«, sagte sie. Aber sie sagte es leise.

Muss jetzt irgendwelchen Fraß in mich reinstopfen, bis später, tippte sie.

Ich mail dir was, das dich interessieren könnte, kam es zurück. Was Witziges.

Sofia schüttelte den Kopf und machte den Computer aus. Die Witze von Dragonmonster kannte sie bereits. Dabei handelte es sich immer um irgendwelche Fragebögen, wo man testen konnte, ob man ein grüner Alien war oder kugelschreibersüchtig oder überhaupt verrückt. Manchmal waren diese Tests ja ganz spaßig, meistens aber nur blöd.

Sie ging in die Küche und setzte sich an den Tisch. Die ganze Wohnung stank schon wieder nach gebratenem Fisch. Wenn es nach Niklas gegangen wäre, würden sie sich von nichts anderem ernähren. Hätte er nicht eine Vorliebe für Pommes oder Pizza haben können?

Angewidert schob Sofia ihre Fischstäbchen an den Tellerrand und schrie auf.

»Was ist denn jetzt schon wieder?«, sagte ihre Mutter ungehalten.

»Das war Niklas!«, kreischte Sofia und zeigte auf eine dicke, halb zerdrückte Fliege, die unter einem der Fischstäbchen gelegen hatte. »Schon wieder! Denk an die tote Maus, die in meinem Bett lag!«

Die Mutter nahm den Teller und versenkte den Inhalt im Müll. »Dummes Zeug, die Fliege war sicher im Salat. Und die Maus hat Loulou dir ins Bett gelegt.«

»Und ich durfte sie noch nicht mal behalten«, sagte Niklas.

Die Mutter stellte Sofia einen neuen Teller hin. »Hör endlich auf, immer Niklas für alles verantwortlich zu machen.«

Der nickte bestätigend: »Ich hab gar nichts gemacht.«

»Aber das weiß ich doch, Engelchen. Noch ein paar Fischstäbchen? Die hier sind besonders knusprig.«

Niklas hatte bereits einen Berg Fischstäbchen auf seinen Teller gehäuft und kaute mit offenem Mund.

»Mach den Mund zu, das sieht total unappetitlich aus«, sagte Sofia und nahm sich einen Löffel Reis und zwei Salatblätter.

»Du siehst noch viel unappetitlicher aus«, sagte Niklas und grinste frech.

»Hast du das gehört, Mama!«, rief Sofia. »Hast du gehört, was er gesagt hat?«

Ihre Mutter strich Niklas über den Kopf. »Weißt du denn, was unappetitlich heißt, Nickilein?«

»Das heißt, dass man keinen Hunger hat«, sagte Niklas und sah seine Mutter treuherzig an. »Und Sofa hat keinen Hunger, stimmt’s?«

»Da hast du’s«, sagte die Mutter. »Er weiß gar nicht, was damit gemeint ist.«

Sofia war davon überzeugt, dass Niklas das sehr wohl wusste. Er war grässlich, aber schlau. Und so, wie er sie jetzt mit schief gelegtem Kopf ansah und dabei Fischbrei aus seinem Mund fallen ließ, wusste sie, dass sie recht hatte.

Emily schaute auf die Uhr. Wo blieb ihre Mutter bloß? Sie wollte nur kurz Milch und Butter kaufen. Dafür brauchte man doch keine Stunde. Aber vielleicht hatte sie sich irgendwo untergestellt. Es goss in Strömen und sie hatte wie immer keinen Schirm dabei. Und wenn ihr nun was passiert war?

Als das Telefon klingelte, zuckte Emily zusammen, und atmete erleichtert auf, als sie auf dem Display »Papa« las.

»Hallo, meine Maus, wie geht’s dir?«, fragte ihr Vater.

»Gut«, sagte Emily und versuchte möglichst fröhlich zu klingen. »In Mathe hab ich eine Zwei geschrieben!«

»Du machst Witze! Wirklich?«

»Die zweitbeste Arbeit sogar.«

»War doch gut, dass wir geübt haben.«

»Und wie! Nächste Woche schreibe ich Englisch. Wir können am Wochenende dann ja lernen.«

»Schade, wir wollten eigentlich dieses Wochenende eine Radtour machen, ich hatte gehofft, du kommst mit.«

Wir wollten eine Radtour machen! Schon bei dem wir wurde Emily übel. Das fehlte noch, dass sie mit ihrem Vater und seiner Freundin auf dem Rad durch die Gegend fuhr. Das würde ja aussehen, als seien sie eine Familie.

»Ich hab wirklich keine Zeit«, sagte sie schnell. »Bio schreiben wir nämlich auch noch.«

»Schaffst du das denn allein?«

»Kein Problem, Mama ist ja auch noch da.«

»Wie geht’s ihr denn?«, fragte ihr Vater. Das tat er jedes Mal und jedes Mal log Emily.

»Gut, prima.« Und ehe er fragen konnte, ob sie denn jetzt endlich Arbeit gefunden hätte, fügte Emily hinzu: »Es klingelt gerade. Bestimmt hat sie ihren Schlüssel vergessen.«

»Das ist doch wieder typisch«, sagte ihr Vater und lachte.  

Emily legte den Hörer auf. Ihre Eltern hatten sich vor zwei Jahren getrennt. Emily hatte nie gefragt, warum. Sie wusste es auch so. Ihr Vater hatte sich in eine Frau verliebt, die so ganz anders war als ihre Mutter. Eine Frau, der nicht zwei Minuten vor Abflug einfiel, dass sie den Ausweis zu Hause gelassen hatte oder dass das Bügeleisen noch an war. Einmal hatte ihre Mutter es geschafft, beim Fensterputzen so unglücklich zu stürzen, dass sie sich nicht nur das Bein brach, sondern obendrein noch den Putzeimer auf den Briefträger fallen ließ, der daraufhin ins Krankenhaus musste.

»Sei doch froh«, hatte Emilys Freundin Charlotte gesagt. »Mit deiner Mutter ist es nie langweilig. Meiner passieren nie so verrückte Sachen.«

Das Telefon klingelte schon wieder. Eine Handynummer, die Emily nicht kannte. »Hallo?«, sagte sie vorsichtig.

»Emmilein!«, ertönte aufgeregt die Stimme ihrer Mutter. »Liegt mein Portemonnaie auf dem Schränkchen in der Diele?«

»Nein, Mama, da liegt nichts.«

»Oh Gott, dann ist es mir doch gestohlen worden, was mach ich bloß?«

»Wo bist du denn?« Emily hörte Stimmen im Hintergrund. Ärgerliche Stimmen, wie ihr schien.

»Na hier, im Supermarkt. An der Kasse hab ich gemerkt, dass mein Portemonnaie weg ist. Und das Handy hab ich auch nicht dabeigehabt und –«

»Dann lässt du die Sachen eben da«, sagte Emily.

»Geht nicht, ich –«

Die Stimme ihrer Mutter brach ab, dafür schrie ihr jetzt ein Mann ins Ohr: »Ihre Mutter hat einen Apfel gegessen und nicht bezahlt. Das ist Diebstahl! Kommen Sie sofort her und bringen Sie Geld mit, auch fürs Telefonieren. Sonst hol ich die Polizei!«

Emily legte auf und stürzte in ihr Zimmer. In ihrer Spardose mussten noch vierzig Euro sein. Es waren nur zwanzig. Bestimmt hatte sich ihre Mutter wieder Geld geborgt und vergessen, es zurückzutun.

Sie riss die Jacke von der Garderobe und griff nach dem Schirm. Der Supermarkt war auf der anderen Seite der großen Kreuzung. Emily machte sich nicht die Mühe, den Schirm aufzuspannen, sondern rannte über die Straße.

Im Supermarkt bot sich ihr ein vertrautes Bild: ihre Mutter inmitten einer aufgeregten Menschenmenge.

»Nun lassen Sie doch endlich die arme Frau gehen!«, rief ein Mann mit Pferdeschwanz gerade. »Sie können sie doch nicht wegen einem Apfel festhalten. Das ist ja lächerlich.«

»Das ist Diebstahl«, sagte ein anderer Mann in einem weißen Kittel. Wahrscheinlich der Filialleiter.

»Wenn schon, dann Mundraub«, mischte sich eine junge Frau ein und eine alte Dame schwenkte einen Fünfeuroschein. »Ich hab doch gesagt, dass ich den Apfel bezahle.«

Als Emilys Mutter ihre Tochter sah, strahlte sie: »Da ist sie ja, da ist ja mein rettender Engel.«

»Wurde ja auch Zeit«, knurrte der Mann im Kittel.

»Was kostet der Apfel denn?«, fragte Emily.

»Weiß ich doch nicht. Sie hat ihn ja aufgegessen.«

Emilys Mutter zog sich ein Klebeetikett vom Ärmel. »Ich hab ihn vorher natürlich ausgewogen. Ich wollte den Apfel ja nicht stehlen.«

»Normalerweise zahlt man erst und isst dann«, sagte der Filialleiter.

»Ich hatte gerade Appetit drauf«, erwiderte Emilys Mutter achselzuckend.

»Na, dann ist doch alles in Ordnung, nicht wahr?«, sagte die junge Frau, nahm ihre Einkaufstasche und verließ den Laden.

»Der Apfel kostet 63 Cent, zusammen mit den restlichen Einkäufen macht das genau 19,97 Euro«, sagte der Filialleiter. »Und das Handygespräch –«

»Jetzt reicht’s aber!«, rief der Mann mit dem Pferdeschwanz. »Sie haben hier doch unter Garantie eine Flatrate und wollen sich auf Kosten dieser armen Frau bereichern!«

»Das beweisen sie mir erst mal!«, schrie der Filialleiter. Emily legte schnell den Zwanzigeuroschein auf das Transportband, nahm die Tüte mit den Einkäufen und zog ihre Mutter aus dem Laden. Die schüttelte sich vor Lachen. »Hast du das Gesicht von dem Kerl gesehen?«

»Und was ist jetzt mit deinem Portemonnaie?«, fragte Emily und spannte den Schirm auf.

Das Gesicht ihrer Mutter verfinsterte sich. »Ich weiß genau, dass ich es eingesteckt hatte, hier in meine Manteltasche. Das muss mir jemand rausgenommen haben.«

Sie griff in beide Manteltaschen. »Weg!«

»Vielleicht in der Innentasche?«

Ihre Mutter griff sich an die Brust. »Da tu ich es doch nie –«, begann sie und stockte. »Das kann doch nicht wahr sein!« Sie zog das Portemonnaie heraus. »Das verstehe ich nicht, wie kommt das denn dahin?«

Emily verdrehte nur die Augen und nahm ihre Mutter am Arm. »Sei froh, dass es wieder da ist, Mama. Aber ich glaube, da können wir so schnell nicht wieder einkaufen gehen.«