Für Uwe Weitendorf

Schlechte Nachrichten

Nichts rührte sich im Tal der Drachen. Nebel trieb vom nahen Meer herbei und blieb zwischen den Bergen hängen. Vögel zwitscherten zaghaft in dem feuchten Dunst und die Sonne verbarg sich hinter den Wolken.

Da huschte eine Ratte die Hänge hinunter. Sie überschlug sich, kugelte über die vermoosten Felsen und rappelte sich wieder auf. »Hab ich’s nicht gesagt?«, schimpfte sie vor sich hin. »Hab ich’s ihnen nicht gesagt?«

Schnuppernd hob sie die spitze Nase, lauschte und lief auf eine Gruppe krumm gewachsener Tannen zu, die am Fuße des höchsten Berges standen.

»Vor dem Winter«, murmelte die Ratte. »Schon vor dem Winter hab ich es gerochen, aber nein, sie wollten es nicht glauben. Sie fühlen sich hier sicher. Sicher! Pah!«

Unter den Tannen war es dunkel, so dunkel, dass man den Spalt kaum sah, der in der Bergflanke klaffte. Wie ein Schlund schluckte er den Nebel.

»Sie wissen nichts«, schimpfte die Ratte. »Das ist das Problem. Sie wissen gar nichts von der Welt. Nichts, überhaupt nichts.«

Vorsichtig sah sie sich noch einmal um, dann verschwand sie in der Spalte. Eine große Höhle verbarg sich dahinter. Die Ratte huschte hinein, aber sie kam nicht weit. Jemand packte ihren Schwanz und hob sie in die Luft.

»Hallo, Ratte! Was machst du denn hier?«

Ratte schnappte nach den pelzigen Fingern, die sie festhielten, aber außer ein paar Koboldhaaren bekam sie nichts zu fassen. Wütend spuckte sie sie aus.

»Schwefelfell!«, fauchte sie. »Lass mich auf der Stelle los, du hohlköpfige Pilzfresserin! Ich habe keine Zeit für Koboldscherze.«

»Keine Zeit?« Schwefelfell setzte Ratte auf ihre Pfote. Sie war noch ein junges Koboldmädchen, klein wie ein Menschenkind, mit geflecktem Fell und hellen Katzenaugen. »Wieso, Ratte? Was hast du denn so Wichtiges vor? Brauchst du einen Drachen, der dich vor hungrigen Katzen beschützt?«

»Es geht nicht um Katzen!«, zischte Ratte wütend. Sie mochte Kobolde nicht. Aber alle Drachen liebten die Pelzgesichter. Sie lauschten ihren seltsamen kleinen Liedern, wenn sie nicht schlafen konnten. Und wenn sie traurig waren, konnte niemand sie besser trösten als so ein frecher, nichtsnutziger Kobold.

»Wenn du es wissen willst, ich habe schlechte Nachrichten, sehr schlechte«, näselte Ratte. »Aber die werde ich nur Lung erzählen, ganz bestimmt nicht dir.«

»Schlechte Nachrichten? Pfui, Schimmelpilz. Was denn für welche?« Schwefelfell kratzte sich den Bauch.

»Setz – mich – runter!«, knurrte Ratte.

»Na gut.« Schwefelfell seufzte und ließ Ratte auf den felsigen Boden hüpfen. »Aber er schläft noch.«

»Dann werde ich ihn wecken!«, fauchte Ratte und lief tiefer in die Höhle hinein, dorthin, wo ein blaues Feuer brannte und Dunkelheit und Nässe aus dem Bauch des Berges vertrieb. Hinter den Flammen schlief der Drache. Er hatte sich zusammengerollt. Den Kopf hatte er auf die Tatzen gelegt. Sein langer, gezackter Schwanz ringelte sich um das wärmende Feuer. Die Flammen ließen seine Schuppen leuchten und warfen seinen Schatten an die Höhlenwand. Ratte huschte auf den Drachen zu, kletterte auf seine Tatze und zupfte ihn am Ohr.

»Lung!«, rief sie. »Lung, wach auf. Sie kommen!«

Verschlafen hob der Drache den Kopf und öffnete die Augen.

»Ach, du bist es, Ratte!«, murmelte er. Seine Stimme war ein bisschen rau. »Ist die Sonne schon untergegangen?«

»Nein, aber du musst trotzdem aufstehen! Du musst die anderen wecken!« Ratte sprang von Lungs Pfote und lief unruhig vor ihm auf und ab. »Ich habe euch gewarnt. Aber ihr wolltet ja nicht hören.«

»Wovon redet sie?« Fragend sah der Drache zu Schwefelfell hinüber, die sich ans Feuer gesetzt hatte und an einer Wurzel knabberte.

»Keine Ahnung!«, schmatzte Schwefelfell. »Sie redet schon die ganze Zeit so wirres Zeug. Es passt eben nicht viel Verstand in so einen kleinen Kopf.«

»Ach ja?« Ratte schnappte empört nach Luft. »Das, das …«

»Hör nicht auf sie, Ratte!« Lung stand auf, reckte den langen Hals und schüttelte sich. »Sie hat schlechte Laune, weil ihr Fell feucht ist von dem Nebel.«

»Ach was!« Ratte warf Schwefelfell einen giftigen Blick zu. »Kobolde haben immer schlechte Laune. Seit Sonnenaufgang bin ich auf den Pfoten, um euch zu warnen. Und was ist der Dank?« Ihr graues Fell sträubte sich vor Ärger. »Ich muss mir ihre pelzigen Dummheiten anhören!«

»Wovor denn warnen?« Schwefelfell warf den abgeknabberten Rest ihrer Wurzel gegen die Höhlenwand. »Bleichstieliger Schüpperling! Wenn du nicht endlich aufhörst, es so spannend zu machen, bind ich dir einen Knoten in den Schwanz!«

»Schwefelfell!« Lung schlug ärgerlich mit der Tatze ins Feuer. Blaue Funken flogen dem Koboldmädchen auf den Pelz und erloschen dort wie winzige Sternschnuppen.

»Ja, ja, schon gut!«, brummte sie. »Aber diese Ratte kann einen wirklich verrückt machen mit ihrem ewigen Drumherumgerede.«

»Ach ja? Dann hör mir jetzt mal zu!« Die Ratte richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, stemmte die Pfoten in die Seiten und bleckte die Zähne.

»Diiieee Menschen kommen!«, fauchte sie so schrill, dass ihre Stimme in der Höhle widerhallte. »Die Menschen kommen! Weißt du, was das heißt, du blätterwühlender, pilzfressender, zottelköpfiger Kobold? Sie kommen hiiiierheeer!«

Totenstill war es plötzlich.

Schwefelfell und Lung saßen da wie erstarrt. Nur Ratte zitterte immer noch vor Wut. Ihre Schnurrbarthaare bebten und ihr Schwanz zuckte auf dem Höhlenboden hin und her.

Lung regte sich als Erster wieder.

»Die Menschen?«, fragte er, beugte den Hals und hielt Ratte seine Tatze hin. Mit beleidigter Miene trippelte sie hinauf. Lung hob sie vor seine Augen. »Du bist sicher?«, fragte er.

»Ganz sicher«, antwortete die Ratte.

Lung senkte den Kopf. »Es musste so kommen«, sagte er leise. »Sie sind schon überall. Ich glaube, es werden immer mehr.«

Schwefelfell saß immer noch da wie betäubt. Plötzlich sprang sie auf und spuckte ins Feuer. »Unmöglich!«, rief sie. »Hier ist nichts, was sie mögen. Gar nichts!«

»Pah!« Die Ratte lehnte sich so weit hinunter, dass sie fast von Lungs Tatze kippte. »Rede nicht so einen Unsinn. Du warst doch selbst schon bei den Menschen. Es gibt nichts, was sie nicht mögen. Es gibt nichts, was sie nicht haben wollen. Hast du das schon vergessen?«

»Ja, ja, schon gut!«, brummte Schwefelfell. »Du hast Recht. Sie sind gierig. Sie wollen alles für sich.«

»Ja, das wollen sie!« Die Ratte nickte. »Und ich sage euch, sie kommen hierher.«

Das Drachenfeuer flackerte. Die Flammen sanken zusammen, bis die Dunkelheit sie fraß wie ein schwarzes Tier. Nur eins ließ Lungs Feuer so schnell verlöschen: Traurigkeit. Der Drache blies sacht auf den felsigen Boden und die Flammen flackerten wieder auf.

»Das sind wirklich schlimme Neuigkeiten, Ratte«, sagte Lung. Er ließ Ratte auf seine Schulter springen und ging langsam auf den Höhlenausgang zu. »Komm, Schwefelfell«, sagte er. »Wir müssen die anderen wecken.«

»Na, die werden sich freuen!«, knurrte Schwefelfell, strich sich das Fell glatt und folgte Lung hinaus in den Nebel.

Versammlung im Regen

Schieferbart war der älteste Drache im Tal. Er hatte mehr erlebt, als seine Erinnerung festhalten konnte. Seine Schuppen schimmerten schon lange nicht mehr, aber Feuer speien konnte er noch, und die Jüngeren fragten ihn um Rat, wenn sie nicht weiterwussten. Lung weckte Schieferbart, als alle anderen Drachen sich schon vor seiner Höhle drängten. Die Sonne war untergegangen. Die Nacht hing schwarz und sternenlos über dem Tal und es regnete immer noch.

Missmutig sah der alte Drache zum Himmel, als er aus seiner Höhle trat. Seine Knochen schmerzten von der Feuchtigkeit und die Kälte machte seine Gelenke steif. Die anderen Drachen wichen respektvoll vor ihm zurück. Schieferbart sah sich um. Keiner fehlte, aber Schwefelfell war der einzige Kobold, der da war.

Mit schweren Schritten und schleifendem Schwanz ging der alte Drache durch das feuchte Gras auf einen Felsen zu, der wie der moosbewachsene Kopf eines Riesen im Tal aufragte. Schnaufend stieg er hinauf und sah sich um. Wie erschrockene Kinder blickten die anderen Drachen zu ihm hoch. Einige waren noch sehr jung und kannten nur dieses Tal, andere waren mit ihm von weit, weit her gekommen und erinnerten sich daran, dass die Welt nicht immer den Menschen gehört hatte. Sie alle rochen das Unglück und sie hofften, dass er es verscheuchen würde. Aber er war alt und müde.

»Komm herauf, Ratte«, sagte er mit heiserer Stimme. »Erzähl, was du gesehen und gehört hast.«

Flink sprang die Ratte den Felsen hinauf, kletterte Schieferbarts Schwanz hoch und hockte sich auf seinen Rücken. Es war so still unter dem dunklen Himmel, dass nur das Rauschen des Regens zu hören war und das Rascheln der jagenden Füchse in der Nacht.

Ratte räusperte sich. »Die Menschen kommen!«, rief sie. »Sie haben ihre Maschinen geweckt, sie gefüttert und auf den Weg gebracht. Nur zwei Tage von hier fressen sie sich schon durch die Berge. Die Feen werden sie noch eine Weile aufhalten, aber irgendwann sind sie hier, denn ihr Ziel ist euer Tal.«

Die Drachen stöhnten auf, hoben die Köpfe und drängten sich noch dichter um den Felsen, auf dem Schieferbart stand.

Lung hielt sich etwas abseits. Schwefelfell hockte auf seinem Rücken und knabberte an einem getrockneten Pilz herum. »Na, na, Ratte«, murmelte sie. »Hätte man das nicht etwas netter sagen können?«

»Was heißt das?«, rief einer der Drachen. »Was wollen sie hier? Sie haben doch alles, da, wo sie sind?«

»Sie haben nie alles, was sie wollen«, antwortete die Ratte.

»Wir verstecken uns, bis sie wieder weg sind!«, rief ein anderer Drache. »So wie wir es immer gemacht haben, wenn sich einer von ihnen hierher verirrt hat. Sie sind doch so blind, sie sehen nur, was sie sehen wollen. Sie werden uns wieder für Felsen halten oder für abgestorbene Bäume.«

Aber die Ratte schüttelte den Kopf.

»Schon lange warne ich euch!«, rief sie mit schriller Stimme. »Hundertmal habe ich euch gesagt, dass die Menschen Pläne schmieden. Aber Große hören nicht auf Kleine, nicht wahr?« Ärgerlich sah sie sich um. »Ihr versteckt euch vor den Menschen, aber euch interessiert nicht, was sie treiben. Meine Sippe ist nicht so dumm. Wir gehen in ihre Häuser. Wir belauschen sie. Und deshalb wissen wir, was sie mit eurem Tal vorhaben.« Ratte räusperte sich und strich über ihren grauen Schnurrbart.

»Jetzt macht sie es wieder spannend«, flüsterte Schwefelfell Lung ins Ohr, aber der Drache beachtete sie nicht.

»Was haben sie vor?«, fragte Schieferbart müde. »Sag schon, Ratte.«

Die Ratte zwirbelte nervös an einem Barthaar. Es machte wirklich keinen Spaß, schlechte Nachrichten zu überbringen. »Sie – werden euer Tal fluten«, antwortete sie zögernd. »Hier wird bald nichts als Wasser sein. Eure Höhlen werden überschwemmt und von den hohen Bäumen da«, sie zeigte mit der Pfote in die Dunkelheit, »werden nicht einmal mehr die Spitzen aus dem Wasser ragen.«

Sprachlos starrten die Drachen sie an.

»Das ist unmöglich!«, stieß schließlich einer hervor. »Niemand kann das. Nicht einmal wir, obwohl wir größer und stärker sind als sie.«

»Unmöglich?« Die Ratte lachte spöttisch. »Größer, stärker? Ihr versteht gar nichts. Sag du es ihnen, Schwefelfell. Sag ihnen, wie die Menschen sind. Vielleicht glauben sie dir ja.« Beleidigt rümpfte sie die spitze Nase.

Die Drachen wandten sich zu Lung und Schwefelfell um.

»Ratte hat Recht«, sagte das Koboldmädchen. »Ihr habt keine Ahnung.« Sie spuckte auf die Erde und zupfte an einem Stück Moos, das zwischen ihren Zähnen klemmte. »Die Menschen laufen nicht mehr in Rüstungen herum wie damals, als sie euch gejagt haben, aber gefährlich sind sie immer noch. Sie sind das Gefährlichste, was es gibt auf der Welt.«

»Ach was!«, rief ein großer, dicker Drache. Verächtlich drehte er Schwefelfell den Rücken zu. »Lasst die Zweibeiner ruhig kommen. Ratten und Kobolde müssen sich vielleicht vor ihnen fürchten, aber wir sind Drachen. Was können sie uns schon anhaben?«

»Was sie euch anhaben können?« Schwefelfell warf ihren angeknabberten Pilz weg und richtete sich auf. Jetzt war sie ärgerlich und mit verärgerten Kobolden ist nicht zu spaßen. »Du bist noch nie aus diesem Tal herausgekommen, du Hohlkopf!«, rief sie. »Du denkst bestimmt, Menschen schlafen auf Blättern, so wie du. Du denkst, sie können nicht mehr ausrichten als eine Fliege, weil sie kaum länger leben. Du denkst, sie haben nichts im Kopf als Fressen und Schlafen. Aber so sind sie nicht. O nein!« Schwefelfell schnappte nach Luft. »Die Dinger, die manchmal über den Himmel ziehen und die du Dummkopf Lärmvögel nennst, sind Flugmaschinen, die die Menschen gebaut haben. Sie können miteinander reden, obwohl sie nicht einmal im selben Land sind. Sie können Bilder machen, die sich bewegen und sprechen, Gefäße aus Eis formen, das nie schmilzt, ihre Häuser nachts zum Leuchten bringen, als hätten sie die Sonne eingefangen, sie, sie«, Schwefelfell schüttelte den Kopf, »sie können wunderbare Dinge tun – und abscheuliche. Wenn sie dieses Tal unter Wasser setzen wollen, dann werden sie es tun. Ihr müsst fort, ob es euch passt oder nicht.«

Die Drachen starrten sie an. Auch der, der sich vorhin noch umgedreht hatte. Einige blickten hinauf zu den Bergen, als erwarteten sie, dass im nächsten Moment die Maschinen über die schwarzen Gipfel kröchen.

»Verflixt!«, murmelte Schwefelfell. »Jetzt hat der Kerl mich so wütend gemacht, dass ich diesen köstlichen Pilz weggeworfen habe. War ein Schwarzschuppiger Ritterling. So was Schmackhaftes findet man selten.« Ärgerlich kletterte sie von Lungs Rücken und suchte im nassen Gras herum.

»Ihr habt es gehört!«, sagte Schieferbart. »Wir müssen fort.«

Zögernd, mit Gliedern, die schwer waren vor Angst, wandten die Drachen sich ihm wieder zu.

»Für einige von euch«, fuhr der alte Drache fort, »ist es das erste Mal, aber viele von uns sind schon oft vor den Menschen geflohen. Diesmal wird es allerdings besonders schwer werden, einen Ort zu finden, der ihnen nicht schon gehört.« Er wiegte traurig den Kopf. »Es werden mehr, scheint mir. Mit jedem Mond.«

»Ja, sie sind überall«, sagte der, der eben noch über Schwefelfells Worte gespottet hatte. »Nur wenn ich über das Meer fliege, sehe ich ihre Lichter nicht in der Tiefe.«

»Dann müssen wir endlich versuchen mit ihnen zu leben!«, rief ein anderer.

Aber Schieferbart schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Man kann nicht mit den Menschen leben.«

»Oh, das kann man schon.« Die Ratte strich sich über das regennasse Fell. »Hunde und Katzen tun es, Mäuse, Vögel, selbst wir Ratten. Aber ihr«, sie ließ ihren Blick über die Drachen wandern, »ihr seid zu groß, zu klug, zu …«, sie zuckte die Achseln, »… zu anders! Ihr würdet ihnen Angst machen. Und was den Menschen Angst macht, das …«

»Das …«, sagte der alte Drache mit müder Stimme, »zerstören sie. Sie haben uns schon einmal fast ausgerottet, vor vielen, vielen hundert Jahren.« Er hob den schweren Kopf und blickte die jüngeren an, einen nach dem anderen. »Ich hatte gehofft, dass sie uns wenigstens dieses Tal überlassen. Das war töricht.«

»Aber wo sollen wir denn dann hin?«, rief einer der Drachen verzweifelt. »Das hier ist unser Zuhause.«

Schieferbart antwortete nicht. Er blickte hinauf zum Nachthimmel, an dem die Sterne sich immer noch hinter den Wolken verbargen, und seufzte. Dann sagte er mit rauer Stimme: »Kehrt zurück zum Saum des Himmels. Das Davonlaufen muss ein Ende haben. Ich bin zu alt. Ich werde mich in meiner Höhle verkriechen, aber ihr Jüngeren könnt es schaffen.«

Erstaunt sahen die Jungen ihn an. Die anderen aber hoben die Köpfe und blickten sehnsüchtig nach Osten.

»Der Saum des Himmels«, Schieferbart schloss die Augen. »Seine Berge sind so hoch, dass sie den Himmel berühren. Höhlen aus Mondstein verbergen sich in ihren Hängen und das Tal in ihrem Schoß ist bedeckt von blauen Blumen. Als ihr Kinder wart, haben wir euch Geschichten erzählt über diesen Ort. Vielleicht habt ihr sie für Märchen gehalten, aber einige von uns haben ihn wirklich gesehen.« Er öffnete die Augen wieder. »Ich wurde dort geboren, vor so langer Zeit, dass Ewigkeiten zwischen mir und der Erinnerung daran liegen. Ich war jünger als die meisten von euch, als ich fortflog, weil mich der weite Himmel lockte. Ich flog nach Westen, immer weiter. Nie wieder konnte ich seitdem wagen im Sonnenlicht zu fliegen. Verstecken musste ich mich vor Menschen, die mich für einen Vogel des Teufels hielten. Ich habe versucht zurückzukehren, aber ich habe den Weg nie wieder gefunden.« Der alte Drache blickte die jüngeren an. »Sucht den Saum des Himmels! Kehrt zurück zwischen seine schützenden Gipfel, vielleicht müsst ihr dann nie wieder vor den Menschen fliehen. Noch sind sie nicht hier«, er wies mit dem Kopf auf die dunklen Bergkuppen ringsum, »aber sie werden kommen. Ich spüre es schon lange. Fliegt! Fliegt fort! Bald.«

Wieder wurde es ganz still. Fein wie Staub fiel der Regen vom Himmel.

Schwefelfell zog fröstelnd den Kopf zwischen die Schultern. »Na, danke sehr«, flüsterte sie Lung zu. »Der Saum des Himmels, ts. Das hört sich viel zu schön an, um wahr zu sein. Der Alte wird geträumt haben, nichts weiter.«

Lung sagte gar nichts, nachdenklich blickte er zu Schieferbart hoch. Dann machte er plötzlich einen Schritt nach vorn.

»He!«, zischte Schwefelfell erschrocken. »Was hast du vor? Mach keine Dummheiten.«

Aber Lung beachtete sie nicht. »Du hast Recht, Schieferbart!«, sagte er. »Ich bin es sowieso leid, mich zu verstecken und nur über diesem Tal zu kreisen.« Er drehte sich zu den anderen um. »Lasst uns den Saum des Himmels suchen. Lasst uns noch heute aufbrechen. Der Mond nimmt zu. Es gibt keine bessere Nacht für uns.«

Die anderen wichen vor ihm zurück, als wäre er verrückt geworden. Schieferbart aber lächelte, zum ersten Mal in dieser Nacht.

»Du bist noch ziemlich jung«, stellte er fest.

»Ich bin alt genug«, antwortete Lung und hob den Kopf noch etwas höher. Er war nicht viel kleiner als der alte Drache. Nur seine Hörner waren kürzer und seine Schuppen glänzten im Mondlicht.

»Halt, halt, Moment mal!« Hastig kletterte Schwefelfell an Lungs Hals empor. »Was ist das für ein Blödsinn? Du bist vielleicht zehnmal über diese Hügel hinausgeflogen. Du, du«, sie breitete die Arme aus und zeigte auf die Berge ringsum. »Du hast keine Ahnung, was dahinter kommt. Da kannst du doch nicht einfach losfliegen, quer durch die Menschenwelt, um einen Ort zu suchen, den es vielleicht gar nicht gibt!«

»Sei still, Schwefelfell«, sagte Lung ärgerlich.

»Nein, das bin ich nicht!«, fauchte das Koboldmädchen. »Guck dir die andern an. Sehen die aus, als ob sie losfliegen wollen? Nein. Also, vergiss das Ganze. Wenn die Menschen wirklich kommen, dann finde ich schon eine schöne neue Höhle für uns!«

»Hör auf sie!«, sagte einer der anderen Drachen und trat auf Lung zu. »Den Saum des Himmels gibt es nur in Schieferbarts Träumen. Die Welt gehört den Menschen. Wenn wir uns verstecken, lassen sie uns in Ruhe. Und kommen sie wirklich hierher, dann müssen wir sie eben verjagen.«

Da lachte die Ratte. Schrill und laut. »Hast du schon mal versucht das Meer zu verjagen?«, rief sie.

Aber der Drache antwortete ihr nicht. »Kommt!«, sagte er zu den anderen. Dann drehte er sich um und ging durch den strömenden Regen zu seiner Höhle zurück. Einer nach dem anderen folgte ihm. Bis nur noch Lung und der alte Drache übrig waren. Schieferbart stieg steifbeinig von dem Felsen herunter und blickte Lung an. »Ich kann verstehen, dass sie den Saum des Himmels nur für einen Traum halten«, sagte er. »An manchen Tagen geht es mir selbst schon so.«

Lung schüttelte den Kopf. »Ich werde ihn finden«, sagte er und sah sich um. »Selbst wenn Ratte nicht recht hat und die Menschen bleiben, wo sie sind – es muss einen Ort geben, an dem wir uns nicht verstecken müssen. Und wenn ich ihn gefunden habe, komme ich zurück, um euch zu holen. Ich fliege noch heute Nacht.«

Der alte Drache nickte. »Komm in meine Höhle, bevor du aufbrichst«, sagte er. »Ich werde dir alles erzählen, was ich noch weiß. Auch wenn das nicht viel ist. Aber jetzt muss ich aus dem Regen heraus, sonst kann ich diese alten Knochen morgen überhaupt nicht mehr bewegen.«

Mühsam stapfte er zurück zu seiner Höhle. Lung blieb mit Schwefelfell und Ratte allein zurück. Das Koboldmädchen hockte auf seinem Rücken und machte ein grimmiges Gesicht. »Dummkopf!«, schimpfte sie leise. »Muss den Helden spielen, etwas suchen, was es gar nicht gibt. Ts.«

»Was murmelst du denn da?«, fragte Lung und drehte sich zu ihr um.

Da platzte Schwefelfell der Kragen. »Und wer soll dich wecken, wenn die Sonne untergeht?«, rief sie. »Wer soll dich vor den Menschen beschützen, in den Schlaf singen und hinter den Ohren kraulen?«

»Ja, wer bloß?«, fragte Ratte schnippisch. Sie saß immer noch auf dem Felsen, auf dem der alte Drache gestanden hatte.

»Na, ich natürlich!«, raunzte Schwefelfell sie an. »Bleibt mir ja gar nichts anderes übrig, zum Keulenfüßigen Trichterling noch mal!«

»Aber nein!« Lung drehte sich so heftig um, dass Schwefelfell fast von seinem regennassen Rücken rutschte. »Du kannst nicht mit.«

»Ach, und wieso nicht?« Schwefelfell verschränkte beleidigt die Arme.

»Weil es gefährlich ist.«

»Ist mir doch egal.«

»Aber du hasst das Fliegen. Dir wird schlecht davon!«

»Ich werd mich dran gewöhnen.«

»Du wirst Heimweh bekommen!«

»Wonach? Meinst du, ich warte hier, bis mich die Fische beißen? Nein, ich komme mit.«

Lung seufzte. »Gut«, murmelte er. »Du kommst mit. Aber beklage dich nicht irgendwann, dass ich dich mitgenommen habe.«

»Das macht sie bestimmt«, sagte Ratte. Sie kicherte und sprang von dem Felsen ins feuchte Gras. »Kobolde sind nur glücklich, wenn sie etwas zu meckern haben. Aber jetzt lasst uns zu dem alten Drachen gehen. Wenn du noch heute Nacht aufbrechen willst, bleibt dir nicht mehr viel Zeit. Bestimmt nicht genug, um dich mit dieser holzköpfigen Pilzfresserin zu Ende zu streiten.«

Ratschläge und Warnungen

Schieferbart lag im Eingang seiner Höhle und lauschte dem Regen, als sie kamen. »Du hast es dir nicht anders überlegt?«, fragte er, als Lung sich neben ihm auf den felsigen Boden legte.

Der junge Drache schüttelte den Kopf. »Aber ich werde nicht allein fliegen. Schwefelfell kommt mit.«

»Sieh an.« Der alte Drache sah Schwefelfell an. »Gut. Sie kann dir nützlich sein. Sie kennt die Menschen, sie hat einen scharfen Verstand und ihre Art ist misstrauischer als unsere. Auf dieser Reise kann dir das nicht schaden. Nur ihr großer Appetit könnte ein Problem werden, aber an ein bisschen Hunger wird sie sich schon gewöhnen.«

Schwefelfell betrachtete beunruhigt ihren Bauch.

»Hört zu«, begann Schieferbart wieder, »ich erinnere mich nicht an viel. Die Bilder geraten mir immer häufiger durcheinander, aber so viel weiß ich: Ihr müsst zum höchsten Gebirge der Welt fliegen. Weit im Osten liegt es. Dort sucht den Saum des Himmels. Sucht eine Kette schneebedeckter Gipfel, die wie ein Reif aus Stein ein Tal umschließen. Die blauen Blumen dort …«, Schieferbart schloss die Augen, »ihr Duft hängt nachts so schwer in der kalten Luft, man kann ihn schmecken.« Er seufzte. »Ach. Meine Erinnerungen sind blass und wie in Nebel gehüllt. Aber es ist ein wunderbarer Ort.« Der Kopf sank ihm auf die Tatzen, er schloss die Augen und sein Atem ging schwerer. »Da war noch etwas«, murmelte er. »Das Auge des Mondes. Ich kann mich nicht erinnern.«

»Das Auge des Mondes?« Schwefelfell beugte sich über ihn. »Was soll das sein?«

Aber Schieferbart schüttelte nur schläfrig den Kopf. »Ich erinnere mich nicht«, schnaufte er. »Hütet euch«, seine Stimme wurde so leise, dass sie kaum noch zu verstehen war, »hütet euch vor dem Goldenen.« Dann drang ein Schnarchen aus seinem Maul.

Lung richtete sich nachdenklich auf.

»Was meinte er damit?«, fragte Schwefelfell beunruhigt. »Komm, wir wecken ihn noch mal.«

Aber Lung schüttelte den Kopf. »Lass ihn schlafen. Ich glaube, er kann uns nicht mehr sagen, als wir gehört haben.«

Leise verließen sie die Höhle. Als Lung zum Himmel hochsah, war dort zum ersten Mal in dieser Nacht der Mond zu sehen.

»Na, bitte«, sagte Schwefelfell und hielt die Pfote hoch. »Wenigstens regnet es nicht mehr.« Plötzlich schlug sie sich vor die Stirn. »Bovist und Erdblättriger Schüppling!« Hastig ließ sie sich von Lungs Rücken gleiten. »Ich muss mir ja noch Proviant zusammenpacken. Wer weiß, in was für trost- und pilzlosen Gegenden wir landen. Bin gleich zurück. Aber«, drohend schwenkte sie einen pelzigen Finger vor Lungs Schnauze, »wehe, du kommst auf die Idee allein loszufliegen.«

Dann verschwand sie in der Dunkelheit.

»Du weißt nicht gerade viel über das Ziel deiner Suche, Lung!«, näselte die Ratte besorgt. »Du bist nicht geübt darin, deinen Weg nach den Sternen zu finden, und Schwefelfell ist meistens so sehr mit Pilzen beschäftigt, dass sie Süden mit Norden und den Mond mit dem Abendstern verwechselt. Nein.« Ratte strich sich über den Bart und blickte den Drachen an. »Glaub mir, ihr braucht Hilfe. Ich habe einen Vetter, der Landkarten zeichnet, ganz besondere Landkarten. Vielleicht weiß er nicht, wo der Saum des Himmels ist, aber bestimmt kann er dir sagen, wo du das höchste Gebirge der Welt findest. Flieg zu ihm. Es ist zwar nicht ganz ungefährlich, ihn zu besuchen, denn …«, Ratte runzelte die Stirn, »er wohnt in einer großen Stadt. Aber ich glaube, du solltest es riskieren. Wenn du dich bald auf den Weg machst, kannst du in zwei Nächten dort sein.«

»Stadt?« Schwefelfell tauchte wie ein Geist aus dem Nebel auf.

»O verdammt, musst du mich zu Tode erschrecken?«, rief Ratte. »Ja, in einer Menschenstadt wohnt mein Vetter. Wenn ihr das Meer hinter euch gelassen habt und immer landeinwärts nach Osten fliegt, könnt ihr sie nicht verfehlen. Sie ist riesengroß, hundertmal größer als dieses Tal, voller Brücken und Türme. Mein Vetter lebt dort in einem alten Speicher am Fluss.«

»Sieht er so aus wie du?«, fragte Schwefelfell und stopfte sich ein paar Blätter in den Mund. Auf ihrem Rücken trug sie einen prall gefüllten Rucksack, ein Beutestück von einem Ausflug in die Menschenwelt. »Klar, ihr Ratten seht ja alle gleich aus, grau, grau, grau.«

»Eine sehr praktische Farbe!«, fauchte Ratte. »Im Gegensatz zu deinen albernen Flecken. Aber mein Vetter ist weiß, schneeweiß. Er bedauert das sehr.«

»Hört auf euch zu streiten«, sagte Lung und sah zum Himmel hinauf. Der Mond stand schon sehr hoch. Wenn er noch in dieser Nacht aufbrechen wollte, wurde es Zeit. »Steig auf, Schwefelfell«, sagte er. »Oder sollen wir Ratte mitnehmen, damit du jemanden zum Streiten hast?«

»Nein danke!« Ratte trippelte erschrocken ein paar Schritte zurück. »Kein Bedarf. Mir reicht es, wenn ich die Welt aus Geschichten kenne. Das ist wesentlich ungefährlicher.«

»Ich streite sowieso nie«, brummte Schwefelfell mit vollem Mund und kletterte auf den Drachenrücken. »Diese Spitznasen sind eben sehr empfindlich.«

Lung breitete die Flügel aus. Schwefelfell hielt sich schnell an einer seiner großen Rückenzacken fest.

»Pass auf dich auf, Ratte«, sagte der Drache, beugte den Hals und stupste das kleine Tier zärtlich mit der Schnauze an. »Vor wilden Katzen kann ich dich jetzt eine ganze Weile nicht beschützen.« Dann machte er einen Schritt zurück, stieß sich von der feuchten Erde ab und erhob sich mit kräftigen Flügelschlägen in die Luft.

»O nein!«, stöhnte Schwefelfell und klammerte sich so fest, dass ihre pelzigen Finger schmerzten.

Immer höher stieg Lung in den dunklen Himmel. Kalt pfiff der Wind dem Koboldmädchen um die spitzen Ohren.

»Ich werde mich doch nie daran gewöhnen«, murmelte sie. »Außer mir wachsen irgendwann Federn.« Vorsichtig lugte sie in die Tiefe. »Nicht einer«, murmelte sie. »Nicht einer steckt zum Abschied auch nur den Hals aus der Höhle. Wahrscheinlich kommen sie erst wieder raus, wenn ihnen das Wasser bis ans Kinn steht. He, Lung!«, rief sie dem Drachen zu. »Da vorn hinter den Hügeln kenne ich ein nettes Plätzchen. Wollen wir nicht doch besser hier bleiben?«

Aber Lung antwortete nicht.

Und die schwarzen Hügel schoben sich zwischen ihn und das Tal, in dem er geboren worden war.

Die große Stadt und der kleine Mensch

»Schleimfüßiger Spitzschirmling!«, raunte Schwefelfell. »Wenn wir nicht bald etwas finden, fangen sie uns und stecken uns in den Zoo.«

»Zoo? Was ist das?«, fragte Lung und hob die Schnauze aus dem Wasser. Vor einer Stunde war er in der großen Stadt gelandet, in der dunkelsten Ecke, die sie finden konnten, weitab von den Straßen, die sogar jetzt bei Nacht voll Lärm und Licht waren. Seitdem schwamm er von einem schmutzigen Kanal in den nächsten, auf der Suche nach einem Versteck für den Tag. Aber sosehr Schwefelfell auch ihre Katzenaugen anstrengte und ihre feine Nase in den Wind hielt, sie fanden einfach nichts, was groß genug für einen Drachen war und nicht nach Menschen roch. Alles roch hier nach ihnen, selbst das Wasser und der Müll, der in der dunklen Brühe trieb.

»Du weißt nicht, was ein Zoo ist? Erklär ich dir später!«, brummte Schwefelfell. Allerdings, wenn ich’s mir genau überlege, stopfen sie uns wohl eher aus. Verflixt, ich werde Stunden brauchen, um dieses Dreckwasser von deinen Schuppen zu waschen.«

Wie eine silbrige Schlange schwamm Lung durch den schmutzigen Kanal, unter Brücken hindurch und an grauen Häusermauern vorbei. Immer wieder blickte Schwefelfell beunruhigt zum Himmel, aber noch ließ die verräterische Sonne sich nicht sehen.

»Da!«, zischte das Koboldmädchen plötzlich und zeigte auf ein hohes Gebäude, gegen dessen fensterlose Backsteinmauern das Kanalwasser schwappte. »Siehst du die Luke? Wenn du dich dünn machst, passt du vielleicht durch. Schwimm rüber, das will ich beschnuppern.«

Vorsichtig ließ der Drache sich auf die Mauer zutreiben. Nur knapp über dem Wasserspiegel klaffte eine große Ladeluke. Die Holztür, die sie mal verschlossen hatte, hing verrottet in den Angeln. Mit einem Satz sprang Schwefelfell von Lungs Rücken, klammerte sich an die schartige Mauer und steckte schnuppernd den Kopf durch die Öffnung.

»Scheint in Ordnung zu sein«, flüsterte sie. »Da ist seit Jahren kein Mensch drin gewesen. Nichts als Mäusedreck und Spinnen. Komm.«

Wie der Blitz verschwand sie in der Dunkelheit. Lung stemmte sich aus dem Wasser, schüttelte sich und zwängte seinen schuppigen Leib durch die Luke. Neugierig sah er sich in dem Menschenhaus um. Er war noch nie in einem Gebäude gewesen. Es gefiel ihm nicht. Vor den feuchten Mauern stapelten sich große Holzkisten und verrottete Pappkartons. Schwefelfell beschnupperte alles interessiert, aber sie roch nichts Fressbares.

Müde ließ Lung sich vor der Luke auf den Boden sinken und sah hinaus. Er war zum ersten Mal so lange geflogen. Seine Flügel schmerzten und die Stadt war voll von beunruhigenden Geräuschen und Gerüchen. Der Drache seufzte.

»Was ist?« Schwefelfell setzte sich zwischen seine Tatzen. »Na, wer hat jetzt Heimweh?« Sie öffnete ihren Rucksack, holte eine Hand voll Pilze heraus und hielt sie ihm unter die Nase. »Hier, riech mal. Das vertreibt den Gestank von da draußen aus deiner Nase. Unserer Freundin Ratte hätte er bestimmt gefallen. Aber wir machen, dass wir hier schnell wieder wegkommen.« Tröstend streichelte sie Lung die schmutzigen Schuppen. »Schlaf jetzt. Ich leg mich auch ein bisschen aufs Ohr und dann geh ich los und suche Rattes Vetter.«

Lung nickte. Die Augen fielen ihm zu. Er hörte, wie Schwefelfell leise vor sich hin sang, und es war fast so, als wäre er wieder in seiner Höhle. Seine müden Glieder entspannten sich. Der Schlaf griff mit weichen Fingern nach ihm – da sprang Schwefelfell plötzlich auf.

»Da ist was!«, zischte sie.

Lung hob den Kopf und sah sich um. »Wo?«, fragte er.

»Hinter den Kisten!«, raunte Schwefelfell. »Du bleibst hier.« Sie schlich auf einen Stapel Kisten zu, der sich bis zur Decke türmte. Lung spitzte die Ohren. Jetzt hörte er es auch: ein Rascheln, das Scharren von Füßen. Der Drache richtete sich auf.

»Komm raus!«, rief Schwefelfell. »Was immer du bist, komm raus.«

Einen Augenblick war es still. Ganz still. Bis auf die Geräusche der großen Stadt, die von draußen hereinschwappten.

»Komm raus!«, fauchte Schwefelfell noch einmal. »Oder soll ich dich holen?«

Wieder raschelte es. Dann kroch ein Menschenjunge zwischen den Kisten hervor. Erschrocken wich Schwefelfell zurück. Als der Junge aufstand, war er ein ganzes Stück größer als sie. Ungläubig starrte er das Koboldmädchen an. Dann sah er den Drachen.

Lungs Schuppen schimmerten trotz des Kanalwassers immer noch wie Silber und in dem engen Raum schien er riesengroß. Staunend, mit gebeugtem Hals blickte er auf den Jungen herab.

Noch nie hatte Lung einen Menschen aus der Nähe gesehen. Er hatte sich Menschen anders vorgestellt nach dem, was Ratte und Schwefelfell ihm erzählt hatten – ganz anders.

»Er riecht kein bisschen nach Mensch!«, knurrte Schwefelfell. Sie hatte sich von ihrem Schreck erholt. Feindselig musterte sie den Jungen, allerdings aus sicherer Entfernung. »Nach Mäusen stinkt er«, sagte sie. »Deshalb hab ich ihn nicht gerochen. Jawohl.«

Der Junge beachtete sie nicht. Er hob die pelzlose Hand und zeigte auf Lung. »Das ist ein Drache!«, flüsterte er. »Ein echter Drache.«

Zögernd lächelte er Lung an.

Der Drache streckte ihm vorsichtig den langen Hals entgegen. Er schnupperte. Schwefelfell hatte Recht. Der Junge roch nach Mäusedreck, aber da war noch etwas anderes. Ein fremder Geruch, der auch draußen in der Luft hing – Menschengeruch.

»Natürlich ist er ein Drache«, sagte Schwefelfell ärgerlich. »Und was bist du?«

Überrascht drehte der Junge sich zu ihr um. »Oh, Mann«, stieß er hervor. »Du siehst auch nicht schlecht aus. Bist du ein Außerirdischer?«

Schwefelfell strich sich stolz über das seidige Fell. »Ich bin ein Kobold. Siehst du das nicht?«

»Ein was?«

»Ein Kobold!«, wiederholte Schwefelfell ungeduldig. »Das ist typisch. Ihr Menschen wisst vielleicht gerade noch, was eine Katze ist, aber dann ist auch schon Schluss.«

»Du siehst aus wie ein Rieseneichhörnchen«, sagte der Junge und grinste.

»Sehr lustig!«, fauchte Schwefelfell. »Was machst du überhaupt hier? So ein halbes Menschlein wie du läuft doch normalerweise nicht allein herum.«

Das Grinsen verschwand aus dem Gesicht des Jungen, als hätte Schwefelfell es weggewischt. »So was wie du läuft hier normalerweise auch nicht rum«, sagte er. »Und wenn du es genau wissen willst, ich wohne hier.«

»Hier?« Schwefelfell sah sich spöttisch um.

»Ja, hier.« Feindselig guckte der Junge sie an. »Jedenfalls im Moment. Aber wenn ihr wollt«, er sah den Drachen an. »Wenn ihr wollt, könnt ihr erst mal bleiben.«

»Danke«, sagte Lung. »Das ist sehr freundlich von dir. Wie heißt du?«

Der Junge strich sich verlegen das Haar aus der Stirn. »Ich heiße Ben. Und ihr?«

»Das da«, der Drache stupste Schwefelfell die Schnauze in den Bauch, »ist Schwefelfell. Und ich heiße Lung.«

»Lung. Das ist ein schöner Name.« Ben streckte die Hand aus und streichelte den Hals des Drachen. So behutsam, als fürchte er, Lung würde bei der ersten Berührung verschwinden.

Schwefelfell warf dem Jungen einen misstrauischen Blick zu. Sie lief zur Luke und guckte hinaus. »Zeit, diese Ratte zu suchen«, sagte sie. »Kannst du Menschlein mir sagen, wo die Hafenspeicher stehen?«

Ben nickte. »Keine zehn Minuten zu Fuß von hier. Aber wie willst du da hinkommen, ohne dass sie dich ausstopfen und ins Museum stellen?«

»Das lass mal meine Sorge sein«, knurrte Schwefelfell.

Lung steckte besorgt seinen Kopf zwischen die beiden. »Du meinst, es ist gefährlich für sie?«, fragte er den Jungen.

Ben nickte. »Klar, so, wie sie aussieht, kommt sie keine zehn Meter weit. Jede Wette. Die erste Oma, die sie sieht, ruft die Polizei.«

»Die Polizei?«, fragte Lung verdutzt. »Was ist denn das für ein Wesen?«

»Ich weiß, was die Polizei ist«, brummte Schwefelfell. »Aber ich muss zu diesen Speichern. Basta.« Sie setzte sich auf den Hintern und wollte gerade ins schmutzige Kanalwasser rutschen, als Ben sie am Arm festhielt.

»Ich bring dich hin«, sagte er. »Wir ziehen dir Sachen von mir an, dann schmuggele ich dich schon irgendwie durch. Ich bin schon lange hier und kenn alle Schleichwege.«

»Das würdest du tun?«, fragte Lung. »Wie sollen wir dir dafür danken?«

Ben wurde rot. »Ach, keine Ursache. Wirklich nicht«, murmelte er.

Schwefelfell sah wenig begeistert aus. »Menschensachen anziehn«, knurrte sie. »Pfui, Kahler Krempling, da werd ich wochenlang nach Mensch stinken.«

Aber sie zog sie an.

Die Schiffsratte

»Welcher Speicher ist es?«, fragte Ben. »Wenn du die Nummer nicht weißt, können wir lange suchen.«

Sie standen auf einer schmalen Brücke. Zu beiden Seiten des Kanals reihte sich ein Speicher an den anderen, seltsame, schmale Gebäude aus rotem Stein, mit hohen Fenstern und spitzen Giebeln. Der Hafen der großen Stadt war nicht weit. Ein kalter Wind wehte von dort herüber und riss Schwefelfell fast die Kapuze von den spitzen Ohren. Viele Menschen drängten sich an ihnen vorbei, aber keiner stutzte beim Anblick der kleinen Gestalt, die sich neben Ben an das Brückengeländer klammerte. Die zu langen Ärmel von Bens Sweatshirt verbargen Schwefelfells Pfoten. Die zweimal aufgekrempelten Jeans verhüllten ihre Beine und ihr Katzengesicht verschwand im Schatten der Kapuze.

»Ratte hat gesagt, es ist der letzte Speicher vor dem Fluss«, raunte sie. »Ihr Vetter wohnt im Keller.«

»Ratte? Keine echte Ratte, oder?« Ben guckte Schwefelfell zweifelnd an.

»Natürlich ist sie echt. Was denkst du denn? Steh nicht da und glotz dumm. Das kannst du zwar sehr gut, aber wir haben Wichtigeres zu tun.« Ungeduldig zerrte sie Ben hinter sich her. Hinter der Brücke lag eine schmale Uferstraße. Während sie den Bürgersteig entlanghasteten, sah Schwefelfell sich immer wieder unruhig um. Der Lärm der Autos und Maschinen schmerzte in ihren Ohren. In kleinen Städten war sie schon gewesen, hatte Obst aus den Gärten gestohlen, in den Kellern herumgeschnüffelt und die Hunde geärgert. Aber hier gab es keine Gärten, keine Büsche, hinter denen man sich schnell zusammenkauern konnte. Hier war alles aus Stein.

Schwefelfell war sehr erleichtert, als Ben sie in einen schmalen Gang zog, der zwischen den zwei letzten Speichern zum Kanal zurückführte. Mehrere Türen gab es in den roten Mauern. Zwei waren verschlossen, aber als Ben gegen die dritte stieß, öffnete sie sich mit leisem Quietschen.

Sie huschten hindurch. Ein unbeleuchtetes Treppenhaus lag vor ihnen. Nur durch ein schmales, staubiges Fenster fiel etwas Tageslicht herein. Eine Treppe führte nach oben, eine nach unten.

Ben warf einen misstrauischen Blick die dunklen Stufen hinunter. »Na, Ratten gibt’s da auf jeden Fall«, flüsterte er. »Fragt sich nur, ob die richtige dabei ist. Woran erkennen wir sie? Hat sie ’n Schlips um oder so was?«

Aber Schwefelfell antwortete ihm nicht. Sie streifte die Kapuze ab und sprang die Stufen hinunter. Ben folgte ihr. Am Fuß der Treppe war es so dunkel, dass Ben seine Taschenlampe aus der Jacke zog. Ein hohes Kellergewölbe lag vor ihnen – und wieder jede Menge Türen.

»Ts!« Schwefelfell musterte die Taschenlampe und schüttelte verächtlich den Kopf. »Ihr Menschen braucht wohl für alles eure Maschinchen, was? Sogar zum Gucken.«

»Das ist keine Maschine.« Ben ließ den Strahl der Taschenlampe über die Türen wandern. »Wonach suchen wir eigentlich? Nach einem Mauseloch?«

»Blödsinn.« Schwefelfell spitzte die Ohren und schnupperte. So ging sie langsam von Tür zu Tür. »Hier ist es.« Sie blieb vor einer braunen Tür stehen, die nur angelehnt war. Schwefelfell stieß sie gerade so weit auf, dass sie hindurchschlüpfen konnte. Ben folgte ihr.

»Du meine Güte!«, murmelte er.

Der hohe, fensterlose Raum, in den sie traten, war bis zur Decke voll gestopft mit Gerümpel. Zwischen Regalen voll zugestaubter Aktenordner standen Stapel alter Stühle, aufeinander getürmte Tische, Schränke ohne Türen, Gebirge aus Zettelkästen und leeren Schubladen.

Schwefelfell hob schnüffelnd die Nase und huschte dann zielstrebig davon. Ben stieß sich in dem Dunkel die Schienbeine blau, als er ihr folgte. Schon bald wusste er nicht mehr, wo die Tür war, durch die sie hereingekommen waren. Je weiter sie vordrangen, desto abenteuerlicher wurde das Durcheinander. Plötzlich versperrten ein paar Regale den Weg.

»Tja, das war’s wohl«, sagte Ben und ließ den Strahl seiner Taschenlampe umherwandern. Aber Schwefelfell duckte sich, kroch zwischen zwei Regalbrettern hindurch – und war verschwunden.

»He, warte!« Ben schob den Kopf durch das Loch, durch das sie sich gezwängt hatte.

Er guckte in ein kleines Arbeitszimmer. Klein wie das einer Ratte. Es war kaum einen Meter entfernt unter einem Stuhl. Der Schreibtisch war ein Buch, das auf zwei Ölsardinendosen lag. Als Stuhl diente ein umgedrehter Kaffeebecher. Die Karteikästen, die voll gestopft mit kleinen Zetteln überall herumstanden, waren leere Streichholzschachteln. Und beleuchtet wurde alles von einer ganz normalen Schreibtischlampe, die wie ein Scheinwerfer auf dem Boden neben dem Stuhl stand. Nur der Benutzer des Ganzen war nirgends zu entdecken.

»Du bleibst erst mal da«, zischte Schwefelfell Ben zu. »Ich glaube kaum, dass Rattes Vetter begeistert sein wird, einen Menschen hier zu sehen.«

»Ach was!« Ben kroch durch das Loch und richtete sich auf. »Wenn sie bei deinem Anblick keinen Schreck bekommt, dann bei meinem auch nicht. Außerdem wohnt sie doch in einem Menschenhaus. Da werd ich kaum der Erste sein, den sie zu Gesicht bekommt.«

»Er«, zischte Schwefelfell. »Es ist ein Er. Merk dir das.«

Suchend sah sie sich um. Außer dem kleinen Arbeitsplatz unter dem Stuhl gab es auch noch einen Menschenschreibtisch, einen Schrank mit riesigen Schubladen und einen gewaltigen alten Globus, der etwas schief in seinem Ständer hing.

»Hallo?«, rief Schwefelfell. »Ist da jemand? Verflixt, wie hieß der Kerl denn noch mal? Giselbert, nee, Gamsbart, nein, Gilbert Grauschwanz oder so ähnlich?«

Über dem Schreibtisch raschelte es. Ben und Schwefelfell guckten hoch und entdeckten eine dicke weiße Ratte, die von einem staubigen Lampenschirm auf sie hinuntersah.

»Was wollt ihr?«, fragte sie mit schriller Stimme.

»Deine Kusine schickt mich, Gilbert«, sagte Schwefelfell.

»Welche?«, fragte die weiße Ratte misstrauisch. »Ich habe Hunderte von Kusinen.«

»Welche?« Schwefelfell kratzte sich den Kopf. »Ja, also wir nennen sie eigentlich immer nur Ratte, aber – Moment, ja, jetzt fällt es mir ein. Sie heißt Rosa. Genau!«

»Du kommst von Rosa?« Gilbert Grauschwanz ließ eine winzige Strickleiter von der Lampe fallen und kletterte hastig daran herab. Mit einem Plumps landete er auf dem großen Schreibtisch. »Das ist natürlich etwas anderes.« Er strich sich über den Bart, der wie sein Fell weiß wie Schnee war. »Was kann ich für euch tun?«

»Ich suche einen Ort«, antwortete Schwefelfell. »Nein, eigentlich ist es ein Gebirge.«

»Ah!« Die weiße Ratte nickte zufrieden. »Da bist du bei mir an genau der richtigen Stelle. Ich kenne alle Gebirge auf diesem Planeten, große, kleine, mittlere. Ich weiß alles über sie. Meine Informanten kommen schließlich aus der ganzen Welt.«

»Deine Informanten?«, fragte Ben.

»Hm! Schiffsratten, Möwen und alles, was sonst noch viel rumkommt. Außerdem habe ich eine weit verzweigte Verwandtschaft.« Grauschwanz lief zu einem großen schwarzen Kasten, der auf dem Schreibtisch stand, stemmte den Deckel hoch und drückte auf einen Knopf an der Seite.

»Das ist ein echter Computer!«, sagte Ben erstaunt.

»Natürlich«, Grauschwanz tippte auf ein paar Tasten und betrachtete stirnrunzelnd den Bildschirm. »Tragbar, alles dran. Ich habe ihn besorgen lassen, um Ordnung in meine Unterlagen zu bekommen. Aber«, er seufzte und tippte noch einmal auf den Tasten herum. »Das Ding macht mir ständig Ärger. So, um welches Gebirge geht es?«

»Tja, also«, Schwefelfell kratzte sich den Bauch. Ihr Fell juckte scheußlich unter den Menschensachen. »Es soll das höchste sein. Das höchste Gebirge der Welt. Irgendwo mittendrin soll eine Bergkette liegen, der Saum des Himmels. Hast du davon schon mal gehört?«

»Ah, darum geht’s. Der Saum des Himmels, so, so.« Grauschwanz sah das Koboldmädchen neugierig an. »Das Tal über den Wolken, Heimat der Drachen. Nicht einfach.« Er drehte sich um und hämmerte emsig auf der Tastatur herum. »Also, eigentlich gibt es diesen Ort gar nicht«, sagte er. »Aber man hört so einiges. Wieso interessiert ihr euch dafür? Ein Koboldmädchen und ein Menschenjunge! Man erzählt sich, dass selbst die Drachen längst vergessen hätten, wo der Saum des Himmels liegt.«

Ben machte den Mund auf, aber Schwefelfell ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Der Mensch hat nichts damit zu tun«, sagte sie. »Ich bin mit einem Drachen unterwegs, um den Saum des Himmels zu finden.«

»Ein Drache?« Erstaunt sah Gilbert Grauschwanz Schwefelfell an. »Wo hast du den denn versteckt?«

»In einer alten Fabrik«, sagte Ben, bevor Schwefelfell den Mund aufbekam. »Nicht weit von hier. Da ist er in Sicherheit. Kein Mensch hat sich seit Jahren dort sehen lassen.«

»Aha!« Gilbert nickte. Nachdenklich wiegte er den weißen Kopf.

»Was ist denn nun?«, fragte Schwefelfell ungeduldig. »Weißt du, wo der Saum des Himmels ist? Kannst du uns sagen, wie wir einigermaßen sicher dorthin kommen?«

»Langsam, langsam«, antwortete die Ratte und zwirbelte sich den Bart. »Wo der Saum des Himmels ist, weiß niemand. Über den gibt es nur ein paar vage Gerüchte, nicht mehr. Aber das höchste Gebirge der Welt ist ohne Zweifel der Himalaja. Allerdings – für einen Drachen eine sichere Reiseroute dorthin zu finden, das ist wirklich eine schwierige Aufgabe. Drachen«, er kicherte, »Drachen sind nicht gerade unauffällig, wenn ihr versteht, was ich meine. Und ihre Hörner und Krallen sind sehr begehrt. Ganz abgesehen davon, dass ein Mensch, der einen Drachen erlegt, wochenlang im Fernsehen auftreten könnte. Ich gebe zu, es würde mich selber reizen, mir deinen Freund einmal anzusehen, aber …«, er schüttelte den Kopf und wandte sich wieder seinem Computer zu, »… ich gehe nie weiter als bis zum Hafen. Ist mir viel zu riskant bei all den Katzen, die herumlaufen. Und was es da sonst noch alles gibt«, er verdrehte die Augen, »man glaubt es ja nicht: Hunde, trampelnde Menschenfüße, Rattengift! Nein, danke.«

»Aber ich dachte, du warst schon überall auf der Welt?«, fragte Schwefelfell erstaunt. »Rosa hat erzählt, du bist eine Schiffsratte.«

Verlegen zupfte Gilbert sich den Schnurrbart. »Bin ich, ja, ja. Habe das Handwerk bei meinem Großvater gelernt. Aber schon beim Ablegen von so einem Kahn werde ich seekrank. Bei meiner ersten Fahrt bin ich noch im Hafen von Bord gesprungen. Ich bin zurück ans Ufer geschwommen und habe nie wieder eine von diesen schwankenden Sardinendosen betreten. So!« Er beugte sich so weit vor, dass seine spitze Schnauze gegen den Bildschirm stieß. »Was haben wir denn da? Der Himalaja. Die Heimat des Schnees, wie er auch genannt wird. Das Dach der Welt, ja. Da habt ihr eine weite Reise vor euch, Freunde. Folgt mir.« An einem Bindfaden, der vom Schreibtisch quer durch den Raum gespannt war, hangelte Gilbert Grauschwanz sich zu dem großen Globus hinüber. Er hockte sich oben auf den schweren Holzständer und gab der Erdkugel einen Schubs mit den Hinterpfoten. Quietschend drehte sie sich ein Stück, bis Gilbert sie mit dem Fuß anhielt.

»So«, murmelte er. »Wo haben wir es denn?«

Ben und Schwefelfell guckten ihn neugierig an.

»Seht ihr das weiße Fähnchen da?«, fragte die weiße Ratte. »Etwa dort befinden wir uns im Moment, der Himalaja aber …«, Gilbert hangelte sich über den Ständer und tippte auf die andere Seite der Erdkugel, »… der Himalaja befindet sich hier. Der Saum des Himmels soll, so heißt es jedenfalls in den alten Geschichten, irgendwo in seinem westlichen Teil liegen. Leider ist, wie ich euch schon sagte, niemandem Genaueres bekannt und das Gebiet, von dem wir sprechen, ist unvorstellbar groß und äußerst unzugänglich. Nachts wird es dort bitterkalt und tags«, er grinste Schwefelfell an, »tags wirst du in deinem Fell wahrscheinlich ziemlich ins Schwitzen kommen.«

»Verdammt weit weg«, murmelte Ben.

»O ja, in der Tat!« Grauschwanz beugte sich vor und zeichnete eine unsichtbare Linie auf den Globus. »So etwa, schätze ich, sollte eure Reise verlaufen: erst ein gutes Stück nach Süden, dann nach Osten.« Er kratzte sich hinter dem Ohr. »Ja. Doch, ja. Ich glaube, diese südliche Route ist die beste. Da oben im Norden führen die Menschen wieder mal Krieg. Außerdem habe ich ein paar sehr unangenehme Geschichten über einen Riesen gehört.« Gilbert lehnte sich so dicht über den Globus, dass er sich die Nase stieß. »Dort, seht ihr? Im Tienschan-Gebirge soll er sein Unwesen treiben. Nein, nein, wirklich«, Grauschwanz schüttelte den Kopf. »Ihr nehmt besser die Südroute. Da wird euch die Sonne zwar manchmal den Pelz versengen, aber dafür regnet es wahrscheinlich zu dieser Zeit kaum und Regen«, er kicherte, »Regen schlägt ja, wie ich gehört habe, Drachen aufs Gemüt, nicht wahr?«

»Meistens«, antwortete Schwefelfell. »Aber da, wo wir herkommen, muss man sich an ihn gewöhnen.«