Millie in Istanbul

Oh-Krakelei

Millie ist schon sehr vernünftig. Sie geht in die dritte Klasse und weiß sich deshalb zu benehmen.

Ihre kleine Schwester Trudel weiß das noch nicht. Sie kann auch noch nichts. Außer Figuren aus der Sesamstraße anmalen, zum Beispiel Samson in Braun und Grobi in Blau. Papa hat einen Berg Malvorlagen aus dem Computer für Trudel ausdrucken lassen.

Was sonst noch?

Sie kann nerven! Und singen. Oft kommt beides zusammen. Immer dann, wenn Millie sich breitschlagen lässt und ihrer kleinen Schwester abends aus dem Liederbuch vorsingen oder vorlesen will.

Vorlesen?

Ja! Millie kennt doch nicht alle Lieder.

Sie kennt nicht Alle, die mit uns auf Kaperfahrt fahren und auch nicht Was müssen das für Bäume sein. Das liest sie also vor und Trudelchen brüllt »Kannst du nicht!« und blättert schon die Seite um.

Millies Lieblingslied ist Auf der Mauer, auf der Lauer und die kleine Schwester liebt das Rosinenkuchen-Lied mit Safran macht den Kuchen gehl. Und Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad. Diese Lieder kann Millie natürlich auswendig. Beim Oma-Lied wartet Trudel stets darauf, dass Millie am Schluss Wau-wau vergisst. Das macht Millie aber extra. Meine Oma ist ’ne ganz famose Frau. Pause! Und Trudelchen brüllt schon los: »Wau-wau!«

Weil Millie abends vor dem Schlafengehen mit der kleinen Schwester singt oder ihr vorliest, liegt auf ihrem Nachttisch Das freche Liederbuch.

Trudel nennt es Singbuch. Sie erkennt Singbücher sofort an den Noten. Auch in Geschäften, in denen Bücher verkauft werden. Sie stürzt sich auf die Ecke mit den Liederbüchern.

»Singbuch, Singbuch!«, ruft sie, als hätte sie wer weiß was für eine Entdeckung gemacht. Eine Buchhändlerin hat mal gemeint, Trudel könne schon Noten lesen.

Na, so klug ist Trudel nicht!

Mama hat neuerdings ein schmales Büchlein neben ihrem Bett liegen. Kein Singbuch! Mama liest aber auch immer, bevor sie einschläft. Das schmale Büchlein hat drei Titel:

Byzanz.

Konstantinopel.

Istanbul.

Wieso denn das?

»Och«, sagt Mama. Sie ist heute Abend in Eile und etwas nervös. Papa hat ihr nämlich einen neuen Computer eingerichtet. Damit sie sich nicht mit ihm um einen einzigen kloppen muss.

Nein, die Eltern kloppen sich ja gar nicht. Aber manchmal sitzt der eine vor der Kiste … das ist vielleicht Papa … und der andere will auch … das ist dann Mama. Und sie muss heute noch was in die neue Kiste hauen, tipp-tipp-hurra.

»Wie soll ich dir das jetzt auf die Schnelle verkasematuckeln?«

Häh?

»Ich meine …«, fährt Mama fort. »Wie soll ich dir das mit den drei Namen erklären? Es ist ein und dieselbe Stadt, Schätzchen. Eine Traumstadt in der Türkei. Aber jetzt muss ich erst einmal an die Kiste, um meinen Artikel fertig zu schreiben. Lies Trudel was vor. Oder sing mit ihr.«

Ja, ja, ja. So lange, bis die kleine Schwester eingepennt ist. Aber dann, Mama!

Heute muss Millie Trudel nach dem Rosinenkuchen- und dem Oma-Lied auch noch Es tanzt ein Bibabutzemann vorsingen. Es dauert eben, bis sich die kleine Schwester richtig in ihr Bettchen eingekuschelt hat. Millie singt noch ganz leise Widele, wedele und dann schnarcht Trudel bereits. Aber ehrlich!

Millie darf noch etwas aufbleiben. Sie schleicht sich ins Schlafzimmer der Eltern und schnappt sich das Büchlein mit den drei Überschriften.

Also ein Reisebuch. Das hat was zu bedeuten!

Na klar. Die Herbstferien stehen doch vor der Tür. Papa muss zwar aus beruflichen Gründen oft in der Welt herumkutschieren. Und Mama ist manchmal ebenfalls ganz alleine unterwegs, um ihre Zeitungsartikel zu schreiben. Aber beide versuchen doch, soweit es geht, die meisten Reisen mit Millie und Trudel gemeinsam zu machen.

Istanbul?

Millie guckt sich schon mal die Fotos dieser Traumstadt in dem Reisebuch an.

Boah!

Sieht ja klasse aus. Sieht ja aus wie im Märchen Tausendundeine Nacht.

Planen Mama und Papa eine Reise nach Istanbul? Wenn Millie Herbstferien hat?

Na?

Na?

Richtig geraten!

»Ja, Schätzchen«, sagt Mama, als sie ihren Artikel fertig geschrieben und den Computer ausgeschaltet hat. »Wir fahren nach Istanbul. Keiner von uns war schon mal dort. Aber irgendwann muss man da einfach hin. Es gibt so vieles zu sehen.«

»Was denn, Mama?«

»Lass dich überraschen, mein Schatz. Ich denke, die paar Ferientage werden ausreichen, um die wichtigsten Sehenswürdigkeiten anzugucken.«

Bis zu den Herbstferien ist es gar nicht mehr lange hin. Übermorgen ist es schon so weit. Obwohl das Schuljahr gerade erst angefangen hat. Frau Heimchen, Millies Lehrerin, hat noch nicht voll aufgedreht. Aber das neue Lesebuch hat Millie schon fast durchgelesen.

Ein Tag Schule: Das ist zu schaffen. Millie muss nur noch die Mückenplage zu Hause überstehen. Eine doofe Mücke hat sie schon wieder am Fuß erwischt. Millie muss wie blöd kratzen. Mama kann das nicht ertragen: »Hör auf zu kratzen. Sonst kriegst du noch eine Entzündung.«

Entzündung hört sich schlimm an. Dann könnte aus der Reise eventuell nichts werden. Bei einer Entzündung muss man im Bett bleiben oder man kommt sogar ins Krankenhaus. Wie Frau Morgenroth. Millies Nachbarin musste mal wegen einer Blinddarmentzündung ins Krankenhaus eingeliefert werden.

Doch Millie beruhigt Mama.

»Ich kratze nur drum herum«, sagt sie.

Die Stelle am Fuß juckt aber am nächsten Tag immer noch. Es ist gar nicht so einfach, schnell mal dranzukommen. Millie muss ihren Schuh und sogar das Söckchen ausziehen.

»Hör auf zu kratzen«, mahnt Mama schon wieder.

Und als sie gerade mit den Vorbereitungen für die Reise beginnen wollen, scheint es auch Trudel erwischt zu haben. »Mama! Mich hat eine Beiß-Beiß-Fliege gebisset!«

»Oh, Schätzchen, wo denn?«

Mama kann sich aber nicht richtig um Trudel kümmern. Sie steht auf der Ziehtreppe, die zum Dachboden führt, und will die Reisekoffer runterholen. Millie soll sich der kleinen Schwester annehmen.

»Zeig mal her«, befiehlt sie.

Trudel streckt ihr den Arm entgegen.

Millie kann überhaupt nichts entdecken. Deshalb zuckt sie nur mit den Schultern. »Außerdem gibt es gar keine Beiß-Beiß-Fliege«, sagt sie. »Es gibt nur die Stech-Stech-Mücke. Oder … Mama?«

Mama hat schon stöhnend einen Koffer runtergehievt. Sie ist nicht bei der Sache. »Was?«, fragt sie.

»Es gibt doch keine Beiß-Beiß-Fliege«, wiederholt Millie. »Es gibt nur eine Brumm-Brumm-Fliege.«

»Nein!«, brüllt Trudel.

»Oder die Summ-Summ-Biene«, fährt Millie ungerührt fort.

»Nein! Nein!«

Trudel ist empört. »Hat nicht gesummt, hat gestecht und gebeißt!«

»Ach so«, sagt Millie. »Dann ist es wohl eine Stech-Beiß-Fliegen-Mücke gewesen.«

Das hat die kleine Schwester beruhigt. »Ach so«, wiederholt sie. »Ach so.«

Sie schaut sich ihren Arm an, auf dem wirklich nichts zu sehen ist, nicht das kleinste bisschen.

Aber die Stelle an Millies Fuß fängt wieder an zu jucken. Millie braucht das Wort Mücke bloß zu hören!

Jetzt muss sie schnell ihren Schuh ausziehen. Und das Söckchen. Und kratzen, kratzen, kratzen.

»Millie!«

Millie stöhnt aber schon vor Erleichterung. Der Mückenstich sieht schlimm aus, blutrot, und tut nun auch richtig weh. Aber ein schöner Schmerz ist besser als ein entsetzliches Jucken.

»Und?«, fragt Mama. »Bist du jetzt zufrieden? Der Stich hat sich ja richtig entzündet.«

Entzündet? Heißt das …

Nein, heißt es nicht. Natürlich fahren sie nach Istanbul. Papa ist abends sehr froh, dass Mama die Koffer schon vom Dachboden geholt hat. Jetzt können sie in aller Ruhe packen, Abendbrot essen und noch einen Blick in das Istanbul-Buch werfen. Noch einmal schlafen. Und dann … ja, dann geht’s los. Mit dem Flugzeug!

Millie ist schon öfter geflogen. Nach Moskau, nach Afrika und nach Nu Jork. Das macht sie inzwischen mit links. Und auch Trudel ist schon ein alter Flughase.

Auf dem Flughafen in Istanbul muss man aber leider erst mal Schlange stehen, um durch die Passkontrolle gelassen zu werden. Bitte warten steht dort auf dem Fußboden vor dem Schalter.

Aha, das Zauberwort bitte heißt auf Türkisch also lütfen.

Als das Warten endlich ein Ende hat, geht es mit dem Bus in die Stadt. Und schon während der Fahrt kann Millie erkennen, dass Istanbul tatsächlich so aussieht wie auf den Abbildungen in Mamas Reisebuch.

Wie heißen denn noch die schlanken, hohen Türme, die man hier überall sehen kann?

»Minarette?«, fragt Papa nach. »Meinst du die Türme von den Moscheen?«

Richtig! »Kann man denn auch Bleistiftspitzen dazu sagen?«

»Nee«, meint Mama. »Minarett bedeutet doch Finger Gottes

Na gut, aber wenn Millie nicht Bleistift sagen soll, dann könnte ja vielleicht Geburtstagskerze passen. Oder? Hört sich doch sehr nett an.

Millie findet jedenfalls, dass die Stadt von Weitem wie ein Geburtstagskuchen aussieht mit vier, acht, neun, dreizehn … mit siebzehn Geburtstagskerzen! Sie hat laut gezählt und Trudel hat versucht mitzuhalten: »Sieben, acht, zehn, gelb.«

Ach, Trudelchen!

»Istanbul ist siebzehn Jahre alt«, sagt Millie. »Hab ich nachgerechnet.«

Papa wiegt den Kopf. »Ich denke, es dürften ein paar Jährchen mehr sein«, sagt er. Aber er weiß auch nicht, wie alt die Stadt ist.

Mama weiß es, das heißt, sie guckt schnell in dem Reisebuch mit den drei Städtenamen nach.

»Also …«, beginnt sie, »also … es gab mal einen griechischen König Byzantas oder Byzas. Damals sind Könige oder Herrscher und Heerführer einfach in andere Länder einmarschiert und haben die besetzt.«

»Das darf man nicht«, wirft Millie ein.

»Recht hast du«, sagt Papa.

»Aber diesem Byzantas wurde geweissagt, ich glaube, es war in Delphi, dass er hier eine neue Stadt gründen würde«, fährt Mama fort. »Er nannte sie Byzanz. Das war vor … lass mich mal nachrechnen … vor fast zweitausendsiebenhundert Jahren.«

»Geweissagt?«, will Millie erst mal wissen. Was soll denn das heißen?

»Eine Weissagung ist so was wie Hellseherei«, versucht Papa das zu erklären. »Man sagt auch Orakel dazu. Und das berühmteste Orakel gab es in Delphi.«

Das wird sich Millie nicht alles merken können, das mit der Oh-Krakelei, aber jedenfalls weiß sie jetzt, wie Bü-Tanz entstanden ist.

»Und wie ging es dann weiter, Mama? Erzähl mal.«

»Mit vielen Kriegen«, sagt Mama. »Schließlich haben die Römer die Stadt erobert, aber erst ihr Kaiser Konstantin hat sie … mal wieder rechnen … vor tausendsiebenhundert Jahren umbenannt.«

»In Constanze-Opel!«, ruft Millie.

Mama korrigiert sie aber: »Konstantinopel, mein Schatz!«

Ach so. Jetzt hat Millie kapiert, wie das funktioniert. Klar, dass Konstantin der Stadt seinen Namen gegeben hat. Das war damals so. Es könnte auch eine Millie-Stadt geben oder eine Trudel-Stadt. Doch das ginge höchstens im Kinderzimmer, wenn sie eine Legostadt bauen. Aber Krieg dürfen sie nicht führen, da passen Mama und Papa schon auf. Zank und Streit zu Hause kommt nicht infrage, nur ein bisschen meckern ist erlaubt.

»Und seit wann gibt es Istanbul?«, will Millie wissen.

»Seitdem der türkische Sultan Mehmet die Stadt erobert hat«, weiß Mama.

»Sultan?«

»Ein Sultan ist ein Herrscher.«

»Vons Ganze«, sagt Papa.

Mama schüttelt den Kopf über Papas blöde Bemerkung. »Der Sultan ist so was wie der Kaiser oder der König eines Landes. Sultan Mehmet ist vierzehnhundert-noch-was … mal schauen … ja, genau, 1453 in die Stadt einmarschiert. War nicht so einfach. Die Stadt liegt auf sieben Hügeln. Mehmet nannte Konstantinopel dann einfach Die Stadt, auf Türkisch: Istanbul.«

Dann fahren sie ja jetzt in die Stadt. Ist ja witzig.

In der Stadt liegt auch ihr Hotel. Aber es wäre viel zu schade, den Abend auf ihrem Zimmer zu verbringen. Nur schnell das Gepäck abladen – und nichts wie raus. Schon ruft der Mützi oben vom Finger Gottes zum Gebet. Na ja, Millie weiß, dass der Mützi eigentlich Muezzin heißt. Das weiß sie, seitdem sie in Ägypten war. Und es ist auch klar, dass da oben nicht der Mützi, sondern ein Lautsprecher steht. Der Muezzin ist unten in der Moschee geblieben und singt ins Mikrofon. So laut und dröhnend kann nämlich kein Mützi bloß mit seiner Stimme rufen.

»Habt ihr schon Hunger?«, will Mama wissen.

Nee, später, Mama. Die Stadt ist ja viel zu aufregend, als dass man jetzt an Essen denken könnte.

Der Himmel wird tiefblau und die Sterne fangen an zu leuchten. Und all die siebzehn oder fünfunddreißig oder neunhundertneunundneunzig Minarette auch. Istanbul sieht bei Dunkelheit aus wie eine funkelnde Märchenlandschaft. Und jetzt steht auch noch der Mond über der Stadt. Eine Sichel aus glasklarem Gold, ohhh.

Papa schlägt vor, sich irgendwo hinzusetzen und das Leben und die Leute von Istanbul an sich vorbeirauschen zu lassen.

Tolle Idee!

Denn das Café, in dem sie Platz nehmen, hat nicht nur türkischen Kaffee für Mama und Papa, sondern auch heiße Schokolade für Millie und die kleine Schwester. Und Mandelkuchen!

Ob der türkische Kaffee Mama und Papa reicht? Das ist ja nur ein Mini-Mini-Kaffee in einer Mini-Mini-Tasse. Gerade nur ein Schlückchen.

Da hat Millie die bessere Wahl getroffen. Ein netter Kellner bringt ihr und Trudelchen Kakao in großen Bechern. Und wenn das nicht reicht … gerade vor ihnen auf der Theke steht ein Brunnen aus fließender Schokolade. Ehrlich. Und die Schokolade läuft und läuft und läuft … Millie könnte stundenlang hinsehen. Ob der Schokobrunnen nicht irgendwann mal überläuft? Trudelchen schaut auch ganz fasziniert auf die strömende leckere Schokolade.

Aber leider werden sie jetzt gestört. Vor ihrer Nase schleicht ein junger Mann durch das Café. Er sucht ein geeignetes Plätzchen. Ja, es ist voll, Mann! Obwohl hier und da noch ein einzelner freier Stuhl zu finden wäre, auch an ihrem Tisch. Aber der junge Mann, der lang und dünn ist und das Gesicht voller Pickel hat, traut sich nicht. Mit gerunzelter Stirn läuft er mal hierhin und mal dorthin und übersieht die freien Stühle.

Nicht nur Millie, auch Papa und Mama sind aufmerksam geworden und schauen sich die Suche mit Interesse an.

Papa murmelt: »Das ist aber ein komischer Vogel.«

Trudel fällt in diesem Moment eines ihrer Lieblingslieder ein. »Oh du lieber Augustin, Augustin, Augustin, oh du lieber Augustin, alles ist hin«, singt sie.

He, das passt doch zu dem komischen Vogel wie die Faust aufs Auge.

»Der Augustin soll sich aber nicht zu uns setzen«, sagt Millie.

»Millie!«

Ja, soll sie ihn denn Knitterpflaume nennen? Oder etwa … Pickelgesicht?

Außerdem hat Augustin sie gar nicht hören können. Er steht neben dem Schokoladenbrunnen und hat nun doch Millies Tisch im Visier. Aber noch zögert er.

Da hat Mama Mitleid: »Möchten Sie vielleicht hier Platz nehmen?«

Mit einer Handbewegung bietet sie ihm den freien Stuhl an ihrem Tisch an.

»Ja«, sagt er.

»Sind Sie auch das erste Mal in Istanbul?«, erkundigt sich Mama, nachdem sich der lange Augustin auf den Stuhl gequetscht hat.

»Ja.« Er sieht keinen an. Und als der nette Kellner seine Bestellung aufnehmen möchte, zeigt er nur mit dem Finger auf die Karte.

»Wohnen Sie auch hier im Hotel um die Ecke?« Papa versucht ebenfalls, ein höfliches Gespräch mit ihm anzufangen.

Aber das funktioniert nicht.

»Ja«, sagt der liebe Augustin nur.

Hey, was ist denn das für einer? Wer Ja sagen kann, ist doch nicht stumm!