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°luftschacht

Florian Scheibe

Weiße Stunde

Roman

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© Luftschacht Verlag – Wien 2012

www.luftschacht.com

Umschlaggrafik: Jürgen Lagger

eISBN: 978-3-902844-35-4

Und bitte keine wüsten Träume! Ich mache in Gedanken einen Rundgang um Dein Bett und befehle Stille. Und nachdem ich hier Ordnung gemacht und vielleicht noch einen Betrunkenen aus der Immanuelkirchstraße gedrängt habe, kehre ich, ordentlicher auch in mir, zu meinem Schreiben oder vielleicht gar schon zum Schlaf zurück.

Franz Kafka, Briefe an Felice

Inhalt

Erster Teil

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Zweiter Teil

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Erster Teil

Eins

Im Nachhinein kann ich nicht mehr genau sagen, in welchem Moment mir eigentlich klar wurde, dass Svenja verschwunden war. Ich weiß nur, dass ich zu diesem Zeitpunkt schon wieder im Auto saß und meinen Blick gedankenverloren über die Landschaft schweifen ließ: Karge Hügel wellten sich, und dahinter lag das Meer, ganz blau und still.

Meine plötzliche Gewissheit musste etwas mit der Zeit zu tun haben. Mit dem Gefühl, dass eine bestimmte Grenze auf einer imaginären Zeitachse überschritten war, zwischen dem Moment, als ich Svenja alleine in dem Haus zurückgelassen hatte, und der Sekunde, in der ich plötzlich begriff, dass sie zu lange fort war, um wiederzukommen.

Oft habe ich darüber nachgedacht, ob es vielleicht irgendeinen äußeren Reiz gab, der mich zu dieser Gewissheit getrieben hatte. Irgendein Geräusch vielleicht, einen Schrei oder das entfernte Brummen eines Motors. Doch je länger ich versuche mich daran zu erinnern, desto stärker breitet sich eine absolute Stille in mir aus, die diesen Moment wie mit Watte dicht umschließt.

Alles hatte damit begonnen, dass wir ein wenig die Insel erkunden wollten. Ohne ein konkretes Ziel hatten wir uns am Morgen in den Mietwagen gesetzt und waren losgefahren. Wir hatten angehalten, wenn ein Strand besonders schön und einladend wirkte, und waren wieder aufgebrochen, wenn die Hitze an uns zu nagen begann. Wir waren Serpentinen hinauf- und wieder hinuntergefahren, hatten in einer Trattoria zu Mittag gegessen und in den Bergen einen alten Friedhof besucht.

Später, am Nachmittag und bereits auf dem Rückweg nach Noto, hatten wir beschlossen, noch einen kleinen Umweg zu fahren. Wir hatten eine Abzweigung genommen, unausgeschildert, eine schmale Straße, die sich einen Hügel hinaufschlängelte und die schließlich auf dem verlassenen Parkplatz eines leer stehenden Hauses endete.

Ohne den Motor abzustellen, hatte ich meinen Blick kurz schweifen lassen (ein großes, altes Landhaus mit einer breiten Terrasse, von Wein bewuchert, die Fensterläden geschlossen, einige von ihnen zersplittert, schief und aus den Angeln gerissen) und wollte gerade wieder wenden, als ich feststellte, dass Svenja bereits die Beifahrertüre geöffnet hatte und auf den Parkplatz gesprungen war.

Die Arme verschränkt, stand sie neben dem Auto und blickte in die Ferne und sagte etwas von der herrlichen Aussicht, und wie sie diese Landschaft liebte: Und siehst du, ganz da hinten ist Noto, man kann es erahnen, hinter dem dritten Hügel. Ich betrachtete schweigend nur sie und nicht die Umgebung und spürte, wie sich etwas in mir zusammenzog, ein Knoten, der immer enger wurde.

Bereits den ganzen Tag hatte ich mich ihr gegenüber kleiner gemacht, geringer (und am Ende könnte man ironischerweise sogar sagen: verschwindend gering). Und je geringer ich wurde, desto stärker hatte sie sich ausgebreitet, in ihrem Italienisch, ihrer Kenntnis über die Geschichte der Insel, den Mezzogiorno und seine Menschen und ihrer rückhaltlosen Begeisterung für die kleinen Dinge am Rand – Dinge, die ich selbst erst durch ihre Augen hindurch entdecken konnte (und vor allem durfte).

Doch zugleich war auch meine Hoffnung gewachsen, dass ihr vielleicht irgendwann auffallen würde, wie ich mich immer mehr in mich selbst verkroch, nichts mehr sagte oder kommentierte, nur noch nickte, müde und kraftlos, und am Ende nicht einmal mehr das.

Aber Svenja fiel nichts auf (und wenn doch, dann verbuchte sie es wahrscheinlich unter dem, was sie meine ewige Verstocktheit nannte, mein ständiges Brüten).

Und so stand sie auch in diesem Moment ganz unbekümmert auf dem Parkplatz, deutete zu dem Haus und sagte: Lass uns doch kurz hineingehen, vielleicht finden wir ja irgendwas, einen Schatz zum Beispiel, und lächelte. Wiederum fast schweigend machte ich sie auf die Schilder aufmerksam. „Vietato l’ingresso“ stand darauf, in Rot auf weißem Grund, mit Ausrufezeichen und hochgereckten Lettern. Doch Svenja lächelte nur weiter und sagte: Wir sind hier in Italien, Süditalien, und nicht in Deutschland, wann gewöhnst du dich denn endlich daran?!

Und noch ehe ich reagieren konnte, fasste sie mich an meiner Hand und zog mich die Treppen hinauf, Stufe für Stufe, bis zu der schweren Tür (und ich schwieg immer noch und ließ es geschehen).

Seltsam, was für ein Bild wir in diesem letzten gemeinsamen Moment da draußen abgegeben haben müssen: ich an ihrer Hand, wie ein kleiner Junge missmutig hinterhergezogen, und sie, strahlend mit ihren blonden Locken, vorauseilend, eine antike Kriegerin, im Sturm der Eroberung.

Das Erste, das mir aus dem Haus entgegenschlug wie eine kühle Welle, war die Dunkelheit, und es dauerte eine ganze Weile, bevor ich zwischen den hellen, scharf konturierten Linien aus Licht, die durch die Ritzen der geschlossenen Läden fielen, überhaupt etwas erkennen konnte.

Zu diesem Zeitpunkt war Svenja mir schon wieder um einige Schritte voraus, tastete sich mutig durch die flimmernde Schwärze, stieß an etwas, stieß es sogar um, kicherte und sagte: Wie unheimlich es doch hier ist, wie in einer Geisterbahn.

Erst jetzt erkannte ich einen Flur voller Gerümpel, an den Wänden entlang aufgetürmt. Svenja war bereits auf dem Weg nach oben und rief: Komm, komm her, und ich zögerte erst, doch dann folgte ich ihr (besonders zielstrebig und schnell sogar, als bewusster Kampf gegen meinen inneren Widerstand).

Als ich oben angelangt war (ich hatte inzwischen aufgeholt und war nur noch wenige Schritte von ihr entfernt), öffnete sich ein großer, halbrunder Saal, gesäumt von verdunkelten Fenstern (doch die Läden waren brüchig, und der Staub tanzte in den überstrahlten Bahnen). Auch hier stand wieder Gerümpel, Stühle und Tische und ganz am Ende ein Bett, noch bezogen sogar, mit einem blassen, verknickten Laken. Svenja befand sich in der Mitte des Saals und drehte sich und rief: Komm, lass uns tanzen, doch schon im nächsten Moment hatte sie sich wieder abgewandt. Nun war sie über einen Tisch gebeugt und sagte: Sieh mal, hier sind Papiere, handbeschrieben, und sogar Fotos, komm, komm doch mal her!

Ich fühlte mich unwohl. Dieses Haus war eine fremde Welt, in die wir uns, ohne nach Erlaubnis zu fragen, Eintritt verschafft hatten. Die Dinge strahlten eine seltsame Intimität aus, die wie eine verletzliche Hülle alles bedeckte. Ich versuchte, diesem Unwohlsein irgendwie Ausdruck zu verleihen, es in Worte zu kleiden, doch ich wusste nicht wie. Ich spürte, dass Svenja darauf wartete, dass ich etwas sagte. Doch ich murmelte nur etwas von „unerlaubtem Eindringen“, „privat“ und von „Verbot“, starrte zu Boden und schwieg.

Eine ganze Weile standen wir so in der Stille, während der Staub in den Sonnenbahnen sich allmählich beruhigte. Dann holte Svenja tief Luft und sagte: Ich glaube, es ist am besten, du setzt dich einfach wieder in den Wagen und liest in deinem verdammten Buch, wenn dich die Welt nicht interessiert.

Und noch ehe ich etwas erwidern konnte, war sie verschwunden, und ich sah nur noch ihre Schulter, für eine Sekunde von einem Lichtstrahl aus dem Schwarz herausgeschält. Unzählige Male habe ich diesen Moment inzwischen vor meinem inneren Auge abgespielt, ihn vor- und zurückgespult, angehalten und vergrößert und versucht, ihn nachträglich aufzuhellen, denn dieses Stück Schulter war das Letzte, was ich von Svenja gesehen habe.

Einige Sekunden noch blieb ich stehen, hörte, wie sie in irgendetwas wühlte, dann machte ich kehrt, stieg die Treppe hinunter (knarzend und morsch), lief durch den dunklen Gang, stieß mich an etwas, spürte den Schmerz, fluchte, und im nächsten Moment stand ich wieder draußen in dem hellen, beißenden Licht.

Als ich mich kurz darauf ins Auto setzte (tatsächlich, um mein Buch zu nehmen, genau wie Svenja es mir an den Kopf geworfen hatte), gab es einen Moment, in dem ich glaubte, von irgendwoher eine Stimme zu hören: ein kurzes Aufbranden, ein lautes Rufen, punktuell, an einem bestimmten Fleck hinter dem Haus. Doch inzwischen, nachdem ich unzählige Male gedrängt worden bin, mich des Klangs dieser Stimme zu entsinnen, ob sie zu einer Frau oder zu einem Mann gehörte, ob sie auf Italienisch rief oder auf Deutsch, seitdem bezweifle ich, dass sie überhaupt existierte.

Es ist ein Phänomen: Je intensiver man versucht, sich an etwas zu erinnern, das eigentlich nur als eine unscharfe Randnotiz des Bewusstseins existiert, desto weiter entfernt man sich davon. Es ist, als ob man eine flüchtig aufs Papier geworfene Skizze im Nachhinein mit dicken Strichen übermalt – das Bild, das entsteht, wird mit dem ursprünglichen Ansatz nur noch wenig zu tun haben.

Zwischen dem Moment, in dem ich mich ins Auto gesetzt hatte, und meinem plötzlichen Bewusstsein, dass Svenja verschwunden war, muss ungefähr eine halbe Stunde gelegen haben. Eine halbe Stunde, in der ich versunken gewesen bin: in mein Buch, mein Rauchen, in das Radio oder mich selbst. Eine halbe Stunde, in der ich mir keine Gedanken gemacht habe, zumindest nicht über Svenja und über unseren wortlosen Streit, doch dann, plötzlich und scheinbar überfallartig, wusste ich: Sie ist verschwunden.

Woher kam dieses Wissen? Wo waren meine Gedanken zuvor? Warum kann ich mich nicht mehr an die Seiten aus dem Buch erinnern, in dem ich gelesen habe? Warum nicht an die Musik im Radio? In was für eine Richtung lief mein Bewusstsein zwischen dem Moment, in dem ich die Stufen der Treppe hinuntergegangen war, und dem Augenblick, in dem ich das Auto wieder verließ?

Doch im Nachhinein interessierte man sich nicht für diese Unsicherheiten. Man interessierte sich nur für das, was ich getan, gesehen und gehört hatte, für meine konkreten Erinnerungen, Schritte und Handgriffe, und je weiter man damit kam, desto weiter entfernte man sich von der Wirklichkeit. Es ist ähnlich wie bei der Geschichtsschreibung: Ereignisse (vor allem solche, denen eine eigene, im Nachhinein kaum mehr nachvollziehbare Dynamik innewohnt) werden so lange gebrochen, zerstückelt und wieder neu geordnet, bis sie einen logischen, allgemein nachvollziehbaren Ablauf ergeben; doch die einzelnen Menschen, die einen solchen Zeitraum noch erlebt haben, werden sich selbst nie wiederfinden darin. (Und genau so verfahren wir auch mit unserem eigenen Leben: Wir teilen es in Abschnitte ein, in der Hoffnung, dass wir mit bestimmten Phasen abschließen, neue Epochen begründen, dass wir lernen, uns weiterentwickeln, unsere Schwächen überwinden, dass wir reif, klug und erwachsen werden, aber letztlich bleiben wir nur eine wirre Ansammlung von Einzeleindrücken, unmöglich zu strukturieren und bar jeder Logik.)

Als ich schließlich nach jener halben Stunde das Auto wieder verließ, wanderte mein Blick über die von Dornen bewachsene Treppe Stufe für Stufe hinauf, bis zu der schweren Tür, die immer noch angelehnt war, und ich rief Svenjas Namen, laut und mehrmals. Doch noch bevor meine Stimme sich an dem massiven Gemäuer brach und zu Teilen wieder zurückgeworfen wurde, wusste ich, dass ich keine Antwort erhalten würde.

Im Nachhinein befremdet es mich, dass ich in diesem Moment nichts empfunden habe. Aber zugleich ist diese Beschreibung falsch, denn genau genommen empfand ich alles auf einmal, und diese Gefühle hoben sich nur gegenseitig auf, in einer seltsamen, stummen Verwirrung.

Immer noch rufend stieg ich die Treppe hinauf, und als ich oben vor der Tür angelangt war, blickte ich noch einmal in die Ferne, landeinwärts. Eine gewundene Straße führte auf der anderen Seite von dem Hügel hinab, hinunter ins Tal.

Später meinte ich mich daran erinnern zu können, dass ich in diesem Moment die blitzende Heckscheibe eines sich entfernenden Wagens gesehen hatte. Doch wenn ich mich heute wieder in diese Situation zurückversetze, dann sehe ich nur noch die trockene Landschaft vor mir, menschenleer und still.

Zum zweiten Mal betrat ich nun den dunklen Flur, stieg die Treppen hinauf, tastete mich durch den oberen Saal, durch die einzelnen Zimmer, über die Terrasse (auf einmal wieder hell und gleißend), und rief dabei in regelmäßigen Abständen Svenjas Namen. Über eine schmale Steintreppe gelangte ich wieder hinab in den Garten, vom Garten unten in die Küche, über steile Stufen hinunter in den Keller (plötzlich ganz kühl und modrig) und schließlich wieder nach oben, hinter das Haus, wo sich gebückte Olivenbäume in den Hügel krallten.

Dort stand ich eine ganze Weile mit dem Rücken an die Hauswand gelehnt, atemlos, während mein letzter Ruf nach Svenja verebbte; ich stand einfach nur da und lauschte der Stille und dem Zirpen der Grillen, das sich anfühlte wie feine Nadelstiche auf meiner Haut. Wieder suchte ich nach einer Empfindung, nach Angst, Panik, innerer Unruhe zumindest. Aber da war nichts, zumindest nichts von alledem.

Langsam ging ich über den Parkplatz. Ich setzte mich in den Wagen und ließ meinen Blick ein letztes Mal über die Landschaft gleiten. Dann startete ich den Motor, wendete und fuhr langsam den Hügel hinab.

Zwei

Als ich wieder in Noto ankam, hatte sich die Sonne bereits rötlich verfärbt. Die Hitze des Tages hing noch in den sandfarbenen Gebäuden und strahlte unermüdlich in die Dämmerung hinaus. Auf dem Vorplatz der Chiesa di Santa Lucia parkte ich den Wagen, setzte mich auf die große Mauer und zündete mir eine Zigarette an.

Hier oben, auf der dritten Etage der Stadt, war dieser Platz einer der wenigen, die plötzlich den Blick öffneten, hinaus auf die Dächer und die Kuppel der mächtigen Kathedrale, die den Mittelpunkt bildete, wie ein großer Stein, der in einen See gefallen war und um den sich in konzentrischen Kreisen eine Ortschaft entwickelt hatte. Es führten nur zwei Straßen hier herauf, auf den Scheitel des Hügels, wo unsere Wohnung lag, und eine davon war sehr schmal und steil und beschrieb eine gewundene Kurve. Sie schlängelte sich an einem Wellblechzaun entlang, der bunt gesprenkelt war mit Plakaten, wahllos übereinandergeklebt und zum Teil wieder heruntergerissen. Immer wenn ich hier herauffuhr, hatte ich das beruhigende Gefühl, dass es neben dem üppigen Barock, der die Straßen im Inneren des Ortes durchzog, auch noch etwas anderes gab, einen Makel, einen Fehler, wie eine Narbe in einem allzu perfekten Gesicht.

Die zweite Straße, die wie der Arm eines Hufeisens auf der anderen Seite der Altstadt hinaufführte, war breiter und zweispurig und darauf ausgerichtet, dass auch Lkws auf ihr fahren konnten. Doch wenn man schnell zu unserer Wohnung wollte, dann nahm man die „Wellblechstraße“, wie wir sie immer nannten.

Bereits nach wenigen Tagen hatte ich das Gefühl gehabt, Noto zu kennen. Zu klar war der architektonische Aufbau der Stadt, als dass es möglich gewesen wäre, sich in den engen Gassen zu verlaufen, und zu gleichförmig und beruhigend der Ausblick in die hügelige Landschaft hinaus.

Außer den beiden Straßen, die den Ort umrahmten wie eine Fassung, gab es etliche schmale Gassen und vor allem Treppen, unzählige davon, die die drei Ebenen der Stadt miteinander verbanden. Eine reine Fußgängerstadt, hatte Svenja mir noch in Berlin gesagt, und sie hatte recht damit behalten. Sogar die eigentliche Hauptstraße, der Corso, der Noto einmal quer durchschnitt wie eine Lebenslinie, wurde nicht von Autos befahren. Ausgehend von der Piazza Maggio reihten sich hier die Cafés und Restaurants aneinander (Schulter an Schulter, wie auf einer Perlenschnur). Hier lagen auch die wichtigsten Sehenswürdigkeiten, das Theater, das Kloster der Benediktiner, der Dom und die große Treppe, bequem an einem Tag zu besichtigen (in wenigen Stunden sogar), die perfekte Ausflugsstadt. Natürlich fand sich hier auch die größte touristische Konzentration (vor allem viele italienische Touristen, Norditaliener, wie Svenja mit verächtlichem Unterton sagte, für die Sizilien fast Afrika war und Sizilianer Menschen zweiter Klasse).

Vor der Kathedrale lag die große Piazza Municipio, der Mittelpunkt des Ortes. Der Platz war gesäumt von Bäumen (außer den Palmen und Kakteen an der Piazza Maggio die einzigen Bepflanzungen innerhalb der Altstadt), und wenn man in der Dämmerung auf einer der Bänke saß, kamen die Stare und versteckten sich, eng zusammengedrängt, in dem dichten Blätterwerk. Man konnte sein eigenes Wort kaum verstehen inmitten des heiseren Krächzens, das jedes Mal zu einem Kreischen anschwoll, kurz bevor sich die Vögel plötzlich in einem Schwarm erhoben, um ihre hektischen Kreise um die Kuppel der Kathedrale zu ziehen. In diesen Minuten zwischen Tag und Abend, in denen der Himmel brannte, bevor er sich in den tiefen Tönen des Blaus verlor, wirkte diese Szene wie eine aufwendige Inszenierung vor einem gewaltigen Bühnenbild, der Prolog zu einem großen Drama.

Wenn man der touristischen Meile weiter folgte, kam man, vorbei an den Geschäften, den Bäckereien und Restaurants, zu der großen Treppe, die mit ihren siebenundachtzig Stufen zur Chiesa di San Francesco all’Immacolata führte. Hier saßen im Sommer abends (und oft bis spät in die Nacht) die Jugendlichen, tranken, lachten, hielten Händchen und beobachteten den unaufhörlich vorbeiziehenden Strom der Menschen.

Kurz darauf folgte schon das alte Stadttor, und dahinter lagen die Gärten, der Markt und der neue Teil von Noto, direkt an der Landstraße, die die Stadt mit den anderen Orten im Südosten Siziliens verband.

Die Rückfahrt entlang dieser Landstraße (ich fuhr langsam, fast gemächlich) war seltsam gewesen. Immer wieder hatte ich nach einer klaren inneren Haltung zu Svenjas Verschwinden gesucht, doch selbst das einfachste Gefühl, die Fassungslosigkeit, wollte sich nicht einstellen. Stattdessen war ich wie eingehüllt in eine Blase, die jedes Empfinden unmöglich machte.

Ich betätigte das Gas, die Bremse, den Blinker und drehte in den richtigen Momenten am Lenkrad, aber all das waren nur Automatismen, ohne Bezug zu mir selbst und meiner Situation. Und letztlich war es genau dieser seltsame Zustand, von dem sich alles Weitere ableitete, wie eine Weiche, die unwiderruflich in eine bestimmte Richtung führt.

Wenn ich direkt von der Küstenstraße aus zur nächsten Polizeistation gefahren wäre, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben, dann hätte diese Anzeige der Irrationalität von Svenjas Verschwinden ein Stück Normalität entgegengesetzt, etwas Handfestes, Aktenkundiges, einen sicheren Boden, auf dem alles Weitere hätte aufbauen können.

Aber ich bin nicht zur Polizei gegangen, und die genauen Gründe dafür sind mir immer noch unklar. Natürlich könnte ich meine Untätigkeit damit begründen, dass ich unter Schock stand (vielmehr: eigentlich unter Schock stehen musste). Aber zugleich bin ich mir bewusst, dass dieser Erklärungsversuch unzureichend ist und am eigentlichen Kern der Frage vorbeizielt. Denn bereits als ich den Berg hinunterfuhr (langsam, wie gesagt, mit ausgekuppeltem Gang) und das verlassene Haus in dem Rückspiegel immer kleiner wurde und schließlich ganz hinter einer Gruppe Zypressen verschwand, brodelte innerhalb der Blase eine Gemengelage an Gründen, die dafür sprachen, nicht oder vielmehr noch nicht zur Polizei zu gehen.

Meine Überlegungen vollzogen sich in einem Dreischritt. Erstens: Der direkte Kontakt zur Staatsgewalt ist mir ausgesprochen unangenehm, und wenn es sich irgendwie vermeiden lässt, dann gehe ich der Polizei aus dem Weg. Zweitens: Ich hatte keinen Ausweis dabei und keinen Führerschein und war zudem in einem Mietwagen unterwegs, dessen Papiere auf der Flurkommode in unserer Wohnung in Noto lagen. Drittens: Ich hatte nicht nur keine Ahnung, was ich sagen sollte, ich wusste auch nicht wie. (Der Gedanke, in ein sizilianisches Polizeirevier zu spazieren und auf Englisch – eine Sprache, die hier kaum jemand verstand – zu erzählen: Meine Freundin ist verschwunden, she vanished in an old, empty house, and I am convinced, that she won’t come back, kam mir absurd, ja geradezu lächerlich vor.)

Doch es gab noch weitere Gründe, die mich davon abhielten, zur Polizei zu gehen. Ich musste an die Situation denken, bevor ich Svenja in dem Haus zurückgelassen hatte, an ihre Wut und an die Möglichkeit, dass sie sich versteckt gehalten hatte, während ich sie suchte. Ich musste daran denken, dass sie vielleicht den Hügel hinabgeklettert war, um alleine nach Noto zu trampen (und keine Frage, jeder hätte sie gerne mitgenommen, die große, blonde Deutsche mit ihrem perfekten Italienisch). Schon einmal war sie nach einem Streit in Berlin (wir hatten gerade unsere gemeinsame Wohnung bezogen) einfach verschwunden und hatte sogar die Nacht in einem Hotel verbracht. Als ich ihr am nächsten Tag von meinen Sorgen erzählt hatte, war sie vollkommen ungerührt geblieben, hatte nur mit den Schultern gezuckt und gesagt: Selber schuld, warum warst du auch so ekelhaft zu mir?!

Und somit hatte ich (bei allem Zweifel daran, dass Svenja sich tatsächlich in dem Haus versteckt gehalten hatte und dass sie tatsächlich alleine nach Noto getrampt war) Angst davor, mich durch eine Vermisstenanzeige lächerlich zu machen.

Aber schließlich war da noch etwas ganz anderes (und vielleicht auch Entscheidendes), das neben diesen Überlegungen meinen Körper durchlief wie ein tiefer, rhythmischer Basslauf: das Gefühl, dass ich erst einmal alleine sein wollte, bevor ich eine Entscheidung treffen konnte, ganz allein mit mir und ohne einen Einfluss von außen.

Noch immer saß ich rauchend auf der Mauer und blickte auf die Stadt hinab. Nun stand ich auf. Ich ließ die Zigarette auf das helle, noch aufgeheizte Pflaster fallen und lief die Straße zu unserer Wohnung hinunter.

Es war eine schmale, leicht abfallende Kopfsteinpflasterstraße. Aus den Fenstern der Häuser gegenüber drang bereits der raue, kehlige Dialekt der sizilianischen Familien, die beim Abendessen saßen. Eine Gruppe magerer Katzen beäugte mich misstrauisch, pendelnd zwischen der Angst, dass ich sie treten, und der Hoffnung, dass ich sie vielleicht füttern könnte.

Die große, dunkle Eisentür zur Straße hin ließ sich wie immer schwer öffnen, und während ich die Treppen nach oben stieg, musste ich daran denken, wie Svenja und ich bei unserem allerersten Versuch sie aufzuschließen zu der Überzeugung gelangt waren, vor dem falschen Haus zu stehen. Erst als ein Nachbar die Tür von innen geöffnet und uns den Trick verraten hatte (zuerst ziehen, dann drücken oder umgekehrt – ich wusste es nie genau), kamen wir zurecht, wenn auch nur mühsam.

Die Wohnung befand sich ganz oben, in der dritten Etage, vier große Zimmer mit einem langen, schmalen Balkon (eher ein Wehrgang, wie auf einer Burg, umgeben von einer hohen Zinne, ohne Sicht nach draußen). An die Küche schloss sich nach hinten eine breite Terrasse an, mit freiem Blick auf Noto Alto, den neuen Teil der Stadt, der weiter oben auf dem Hügel lag.

Es war kein ungewohntes Gefühl, den Flur allein zu betreten, denn schließlich hatte ich viel Zeit alleine in der Wohnung verbracht in den letzten Wochen. Stunden hatte ich in dem Zimmer hinten links gesessen, mit dem Gesicht zur Wand, und hatte geschrieben (oder vielmehr versucht zu schreiben, genau wie zu Hause in Berlin). Aber oft war ich unkonzentriert gewesen, war aufgestanden und herumgelaufen, zwischendurch ein paar Schritte hinunter, hinaus in die Gassen.

Regelmäßig hatte ich mich in eines der Cafés unten am Corso gesetzt und die Menschen beobachtet (Menschen – und eigentlich müsste man sagen: Männer –, die jeden Tag hier waren, jeden Tag am gleichen Platz, seit Jahren und wahrscheinlich Jahrzehnten schon). Manchmal hatte ich nur kleine Details wahrgenommen, ledrige Hände, die auf Stöcken ruhten, gegerbte Haut, graue, durchlässige Inseln auf den Wangen, die beim Rasieren vergessen worden waren. An anderen Tagen wiederum hatte sich mein Blick geöffnet: Nun sah ich die kleinen Gruppen, die zusammensaßen, erahnte die Beziehungen untereinander, Freundschaften, die in erster Linie auf Schweigen beruhten (in einer Reihe, seit Jahren und vermutlich Jahrzehnten schon). Oft hatte ich die Zeit darüber vergessen, wie sie ihre Zigaretten rauchten, die Bügelfalten ihrer Hosen zurechtzupften, sich die spärlichen Haare über die Glatze strichen und dabei ihre Blicke einer Gruppe junger Touristinnen hinterherschickten.

Svenja war immer erst am Abend zurückgekommen, meist voller Energie, die sie vor sich herschob, mit großen Schritten in die Wohnung hinein, in jedes einzelne Zimmer, bis kaum sonst noch etwas Platz darin hatte. Ihre Tage verbrachte sie im Studierzimmer der Kathedrale über Baupläne und handschriftliche Aufzeichnungen gebeugt, mein kleines Forschungslabor, wie sie es nannte. „Der Triumph des Barock in Noto. Rekonstruktion einer sizilianischen Stadt am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts“, so lautete der Titel ihrer umfangreichen wissenschaftlichen Untersuchung. Thema war der Wiederaufbau von Noto nach dem beispiellosen Erdbeben von 1693, das die ganze Stadt in Schutt und Asche gelegt hatte. So etwas hat es in der gesamten Geschichte nicht gegeben, dozierte Svenja gerne und immer voller Begeisterung, dass eine ganze Stadt komplett zerstört und dann ein paar Kilometer weiter wieder aufgebaut wurde, ähnlich wie Bauklötze, die von einem ins andere Zimmer getragen werden.

Inzwischen stand ich in der Küche. Das Dämmerlicht neigte sich langsam der Dunkelheit zu, und aus der unteren Wohnung war ein Fernseher zu hören, eine Talkshow, laut und aufgeregt mit versprenkelten Lachern und wildem Klatschen. Ich lehnte mich an den Küchenschrank und öffnete die angebrochene Flasche Wein des Vorabends (vielmehr eine Amphore, eine Zweieinhalb-Liter-Abfüllung, sizilianischer Anbau, Nero d’Avola, tiefrot und herb und schwer).

Noch immer hatte ich kein Licht in der Wohnung gemacht, und der Flur war nur noch in Schatten gezeichnet. Eine ganze Weile stand ich so und trank und beobachtete, wie die Dunkelheit den Konturen allmählich die Schärfe nahm, bis sie schließlich allgegenwärtig wurde. Nur die Lichter, die sich in den Häusern gegenüber dem Fenster den Hügel hinaufzogen, boten nun noch eine Orientierung.

Der Fernseher war inzwischen verstummt, und von unten im Treppenhaus hallten Schritte. Einen Moment lang hielt ich den Atem an und lauschte. Doch mit jeder weiteren Stufe erkannte ich den Unterschied zu Svenjas Rhythmus. Die Schritte da draußen waren langsam und schleppend, Svenja hingegen erstürmte die Stufen immer wild und entschlossen, als ob sie zuvor Anlauf genommen hätte.

Ich zündete mir eine Zigarette an. Das Streichholz warf einen kurzen, hellen Schein auf mein Gesicht, und ich stellte mir vor, wie diese Szene in einem Film wirken würde, von der anderen Seite des Hügels aus fotografiert: ein einsamer Mann in einer fremden Küche, an einem fremden Ort (in einem fremden Land, ja auch das), plötzlich durch das Aufflammen des Schwefelkopfes ausgeschnitten aus der Dunkelheit, herausgeschält, und dann wieder abgetaucht wie in einen schwarzen See.

Danach blieb nur noch die Spitze der Glut, die heller wurde, wenn ich inhalierte, und dann wieder träge glimmte, wenn ich sie einfach nur hielt und darauf wartete, dass die Asche von allein zu Boden fiel.

Ich weiß nicht, wie lange ich so stand und auf diese Weise rauchte und trank. Ich weiß nur, dass ich irgendwann spürte, wie der schwere Wein sich in meinem Kopf zu drehen begann (ein angenehmes Kreisen, das den Gedanken die Richtung nahm und sie rund machte) und wie ich mich langsam und tastend in den Flur bewegte. Blind drückte ich mich mit der Schulter an der Wand entlang, und erst als ich schon in Svenjas Zimmer stand (vielmehr auf der Schwelle der Tür) und das Licht anknipste, erkannte ich mein unbewusstes Ziel.

Einen Moment lang war ich davon überzeugt, dass sie dort wartend sitzen würde, als Teil des Spiels und Strafe für meine Ignoranz, mein Brüten. Doch der Kronleuchter warf sein helles Licht nur über all die Dinge, die sie am Morgen unseres Aufbruchs zurückgelassen hatte. Auf dem Sekretär türmten sich die Blätter (Fotokopien und Ausdrucke, bekritzelt und verknickt), ein Gettoblaster stand am Boden vor der Balkontür, umgeben von CDs, zum Teil ohne Hülle, eine wilde Mischung. Um das Bett herum lagen Bücher, vor allem Geschichte und Kulturgeschichte auf Italienisch, aber auch Belletristik entdeckte ich, Krimis (Donna Leon, Venedig, meine große Schwäche, wie sie immer sagte). Und mittendrin, wie auf einem Thron zwischen den zerwühlten Laken, ihr Laptop. Bereits morgens im Bett begann sie damit zu hantieren. Mit ernstem Gesichtsausdruck verschob sie Dateien, erstellte Sicherheitskopien und organisierte ihren Desktop neu. (Die Ordnung auf meiner Festplatte steht in keinem Verhältnis zu dem Wirrwarr in meinem Kopf, sagte sie, wenn ich sie in solchen Momenten beobachtete.)

Bereits einige Jahre zuvor (spätestens jedoch, nachdem wir zusammengezogen waren) hatten Svenja und ich damit begonnen, in getrennten Betten zu schlafen. Es war eine pragmatische Entscheidung gewesen, die von uns beiden zu gleichen Teilen getragen wurde, denn wir schliefen von Anfang an ausgesprochen schlecht nebeneinander. Ich bin die Wühlerin, und du, du bist der Brocken, hatte Svenja einmal gesagt, und wenn wir aufeinander losgelassen werden, kommt es zu einem Erdbeben. Und tatsächlich hatten wir uns in einigen dieser gemeinsamen Nächte gegenseitig fast verletzt, Svenja mit ihren weit ausholenden Armbewegungen, die wie Boxschläge auf meinen Oberkörper niederfielen, und ich selbst, indem ich sie mit meinen in die Decke gewickelten Knien immer wieder rammte und stieß.

Und so war es auch hier auf Sizilien keine Frage gewesen, dass wir in getrennten Zimmern schlafen würden, sie rechts, ich links, jeder einen eigenen Kronleuchter und einen eigenen Zugang zu dem schmalen Balkon. Alles hatte seine Ordnung gehabt (und jahrelang hatte ich diese Ordnung auch nicht infrage gestellt, nicht vor Svenja und auch nicht vor mir selbst). Doch aus heutiger Sicht kommen mir all diese Arrangements seltsam künstlich und konstruiert vor. Zu reflektiert und abgeklärt haben wir uns verhalten, wie zwei Kinder, die Hand in Hand vor einem Spiegel stehen und versuchen erwachsen zu sein.

Ich löschte das Licht und schloss die Tür. Dann tastete ich mich durch das Dunkel in mein eigenes Zimmer bis zu dem Bett und setzte mich auf die Kante. Langsam zog ich mich aus und ließ meine Kleider auf den Teppich fallen. Nackt legte ich mich auf den Rücken und starrte an die Decke. Dann kam der Schlaf.

Drei

Ich weiß nicht mehr genau, ob es die Hitze war, die mich weckte, oder das helle Licht der Sonne, das sich über den hohen Schutzwall des Balkons in das Zimmer zwängte. Zuerst kam der Durst, dann der Schwindel. Schließlich so etwas wie eine Erinnerung (aber nicht als Gedanke, sondern eher wie ein Bild von einem blassen, strukturlosen Traum).