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© für die Originalausgabe und das eBook:

2015 LangenMüller in der

F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag und Illustration: atelier-sanna.com, München

Satz und eBook-Produktion:

Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

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ISBN 978-3-7844-8232-3

Dem kleinen Mädchen zum Geschenk

Dónde está el niño que yo fui,

sigue adentro de mí o se fue?*

Wo ist das Kind, das ich gewesen,

wohnt es in mir oder ist es fort?

Pablo Neruda*

»Hereinspaziert! Hereinspaziert! Der Sommer ist geöffnet!«, rief ich laut, und die Worte stoben mit meinem Atem als dicke weiße Wolke in die eiskalte Winterluft. »Treten Sie näher! Treten Sie näher! Und erleben Sie das Wunder der Wärme am eigenen Leib!« Mit einer weit ausholenden Handbewegung wies ich in Richtung Schuppentür, als handelte es sich dabei um den Eingang zu einer Schatzkammer aus Ali Baba und die 40 Räuber und nicht um eine schiefe, morsche Platte aus Holz, durch die der Wind pfiff.

Zögerlich traten Frau Andörfer und die Witwe Bindernagel näher, die Arme fest um ihre Mäntel geschlungen und die Gesichter bis zur Nasenspitze in den Kragen verborgen. Ihre Stiefel schmatzten bei jedem Schritt, weil der Schnee an diesem Samstag im Februar 1966 nass und pappig war. Sie musterten mich mit misstrauischen Blicken, deshalb versuchte ich, sie zu mir heranzurudern, indem ich den rechten Unterarm so entschlossen kreiste wie ein Schaufelrad.

»Tropische Temperaturen und die sengende Sonne der Karibik warten«, fügte ich hinzu und klopfte mit meinem rechten Fäustling überschwänglich gegen die Hüttenwand. Ich verzog das Gesicht, als das kleine Holzhaus gleich darauf ein mitleiderregendes Ächzen von sich gab.

»Ist das auch sicher?«, fragte die Witwe Bindernagel besorgt und so leise, dass ich mich anstrengen musste, ihre Worte zu verstehen. Ich überlegte, ob sie flüsterte, um nicht gehört zu werden oder damit die Menschen sich besonders um sie bemühen mussten. Sie betrachtete erst mich, dann den Verschlag.

»Aber natürlich.« Ich nickte eilig. »Das ist solide schwedische Bauweise mit Qualitätsgarantie.«

»Schwedisch?« Sie hob zweifelnd die Augenbrauen, so hoch, dass sie beinahe in ihrer Wollmütze verschwanden. »Ich dachte, diese ganze … ähm … Schwitzhaussache käme aus Finnland.«

»Ja, genau, genau«, mischte sich nun auch Frau Andörfer ein und sprach so schnell, als rollten sich ihre Silben von einer Spule ab. Die Töne klapperten dabei so dicht aneinander, dass für Luft kein Platz blieb. »Das hat zumindest Frau Böhme gesagt, die es von einer Cousine weiß, die schon mal in einem solchen Bad in Recklinghausen gewesen sein soll. Das hat Frau Böhme gesagt und sie muss es ja wissen. Ihr Mann ist immerhin Pfarrer. Pfarrer ist er und arbeitet für Gott«, erklärte sie und beide Frauen machten ernste Gesichter, als stünde Letzterer in diesem Augenblick neben ihnen.

Ich runzelte kurz die Stirn, dann beeilte ich mich zu sagen: »Das ist natürlich richtig, aber das Schwitzhausbauen haben die Finnen von den Schweden, die die Schuppen als Ställe für ihre Elche benutzen.«

»Für ihre Elche?«

»Aber klar.« Ich lächelte. »Die wollen es schließlich auch schön warm haben, oder nicht?«

»Wahrscheinlich«, murmelte die Witwe Bindernagel.

»Wenn Sie dann Ihre Mäntel und Ihren Schmuck hier bei Arthur abgeben würden, unserem offiziellen Mantel- und Schmuckbeauftragten.« Ich wies auf meinen kleinen Bruder, der unser Gespräch aufmerksam verfolgt hatte und die beiden Frauen nun mit großen, abwartenden Augen ansah. Ich konnte sehen, dass er schluckte.

»Unseren Schmuck?«, erwiderte die Witwe Bindernagel entsetzt. »Aber den habe ich von meinem Mann, Gott hab ihn selig«, fügte sie hinzu und schloss die Hände augenblicklich zu einer Faust, als fürchtete sie, wir würden ihr im nächsten Moment den Ring vom Finger ziehen. »Der ist viel wert.«

»Kommt gar nicht in die Tüte!«, erklärte auch Frau Andörfer entschieden. »Auf keinen Fall! Das könnte dir so einfallen, was? Die Ketten, die ich trage, sind Erbstücke und unbezahlbar. Unbezahlbar, hörst du? Ich hab es doch immer schon gesagt.« Sie wandte sich an die Witwe Bindernagel und zischte: »Ganz der Vater, die Kleine. Ganz der Vater.«

Ich presste den Mund zusammen und warf ihr einen zornigen Blick zu, doch gerade, als mir eine patzige Antwort über die Lippen flutschen wollte, trat Frau Habermann aus dem Schuppen und den beiden Frauen blieben die Münder offen stehen. Sie war vollkommen nackt, die Wangen hochrot, und die gefärbten Haare klebten ihr nass auf der Stirn und im Nacken. Die dicke Schicht Schminke hatte sich gelöst und war nach unten gerutscht, sodass es aussah, als hätte Frau Habermann zwei Gesichter auf einmal; das gewohnte, das weiter oben saß, und das gemalte, das sich bereits in Richtung Kinn auf den Weg gemacht hatte. Frau Habermann schien ihre eigene Erscheinung nicht zu stören. Unbekümmert musterte sie die Frauen aus zusammengekniffenen Augen.

»Sie sind ja nackt!«, stellte Frau Andörfer entsetzt fest.

»Was hat mich verraten?«, gab Frau Habermann ungerührt zurück.

»Aber …« Frau Andörfers Blick hüpfte von Frau Habermann zu mir und wieder zurück. Dabei schien sie angestrengt darum bemüht, nichts zu sehen, was üblicherweise durch Kleidung versteckt war. »Wir … wir müssen uns doch nicht ausziehen, oder? Wir müssen doch nicht vollkommen …« Sie machte einige ruckartige Bewegungen mit der Hand, als wollte sie eine Fliege von Frau Habermanns unbekleideten Brüste verscheuchen. »Ich meine, ich meine … ausziehen tue ich mich nicht!«, erklärte sie schließlich entschlossen.

»Das kannste halten, wie du lustig bist«, entgegnete Frau Habermann. »Aber mit Schmuck würde ich da schon mal nicht reingehen.« Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und ließ ihn zu Boden spritzen. Frau Andörfer verzog den Mund.

»Aber der ist wertvoll«, erwiderte die Witwe Bindernagel in diesem Moment kaum hörbar.

Frau Habermann schüttelte unwillig den Kopf. »Was sagste?«, fragte sie und beugte sich ein Stück vor.

»Sie hat ihren Schmuck noch von ihrem verstorbenen Mann, Gott hab ihn selig«, antwortete Frau Andörfer hastig. »Von ihrem verstorbenen Mann. Und meine Ketten sind Erbstücke. Die sind unbezahlbar. Unbezahlbar!«

»Von mir aus auch das.« Frau Habermann hob gleichgültig die Schultern. »Da drin wird es zwar heißer als in der Badewanne des Teufels«, sie wies hinter sich, »aber wenn ihr zwei euch die Brustwarzen wegbrennen wollt – tut euch keinen Zwang an.« Damit legte sie Arthur eine Hand auf den Kopf, als wäre diese ein Deckel, und stapfte ohne ein weiteres Wort durch den Schnee in Richtung Haus.

Die Witwe Bindernagel starrte ihr schockiert nach, und Frau Andörfer gab ein abfälliges Grunzen von sich. Einige Minuten verstrichen, doch dann sahen sich die Frauen gegenseitig an, langsam an sich herunter und schließlich fingen sie ebenfalls an, sich eilig ihre Ketten, Reifen und Ringe vom Leib zu zupfen.

1

»Ich zähle täglich meine Sorgen«

Peter Alexander

Bei meiner Geburt fehlte mir genau ein Zeh. Zwar stellte sich dieser Umstand schon kurze Zeit später als Unachtsamkeit der Hebamme heraus, die ihre liebe Not mit dem Zählen hatte, aber seit diesem Tag hatte ich immer das Gefühl, dass mit mir irgendetwas nicht stimmte. Als wäre ich mein Leben lang auf der Suche nach dem einen vermissten Zeh und als müsste ich auf meine Zehen immer ein bisschen besser aufpassen als alle anderen.

Auch heute zog ich die Füße schnell wieder zurück, als die Kälte in sie biss. Denn der Januar 1966 war so kalt, wie ich es bis dahin noch nicht erlebt hatte, und die Welt schien wie angehalten. Es war die Zeit, in der niemand über den Krieg reden wollte und die Leute stattdessen von einem wichtigen Mann sprachen, der ermordet worden war, von einer Musikgruppe, die irgendetwas mit Pilzen zu tun hatte, und von einer Mauer, die noch größer zu sein schien als die von Bauer Zeleschke, über die ich nicht einmal gucken konnte, wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte. Es war die Zeit der Kuba-Krise, die den Leuten noch in den Knochen steckte, wie die Frau des Metzgers oft sagte, die Zeit des Kalten Krieges, der die Welt mit seinem eisigen Atem anblies und die Temperatur in der Nacht unter Minus 20 Grad hatte fallen lassen. Und es war die Zeit, in der mein Vater weg, meine Mutter krank und ich zwölf Jahre alt war.

Ich zog die Knie an die Brust, vergrub das Gesicht unter der Decke und zögerte den Moment hinaus, in dem ich mich dem Morgen geschlagen geben musste. Schließlich gab ich ein ergebenes Knurren von mir, setzte mich auf und in derselben Sekunde schlang sich die erstarrte Luft im Raum um mich wie ein gefrorener Schal, der mir den Atem nahm. Ich japste, obwohl ich im Januar 1966 an den andauernden Frost eigentlich hätte gewöhnt sein sollen. Als ich die Füße zum Boden ausstreckte, fühlte sich dieser so kalt an, als tippte ich mit dem dicken Zeh in Eiswasser. Ich fuhr mir mit der rechten Hand über das Gesicht, während meinen linken Arm ein dicker weißer Gips zierte, der an meiner Schulter hing wie der Anker eines Schiffes und unter dem es schrecklich kribbelte. Vier Buntstifte hatte ich bereits an das Brennen und Prickeln unter dem Verband verloren.

Nachdem ich wieder atmen konnte, galt mein erster Gedanke meinem Nachttisch, genauer dessen oberster Schublade, und noch genauer einem Einmachglas, das sich in dieser versteckte, zu einem stolzen Drittel gefüllt mit Knöpfen jeder Form, Farbe und Größe. Ich hatte einmal gehört, dass Einbrecher auf der Suche nach Bargeld und Wertgegenständen immer mit dem untersten Fach eines Schranks anfingen, um die Schubladen nicht wieder schließen zu müssen und dadurch Zeit zu sparen. Nicht, dass es in unserer Gegend jemals einen Diebstahl gegeben hatte. Solche Geschichten kannte ich nur von Orten wie New York City, London oder Düsseldorf und nicht von einem gewöhnlichen 1000-Seelen-Dorf, wie es am Niederrhein so viele gab. Aber sicher war sicher, deshalb bewahrte ich alles, was wichtig war, ganz oben auf: ein kleines Stück übrig gebliebenes verkohltes Holz, eine Feder, den Abdruck eines Lippenstifts auf einem Stück Verband, eine Trüffelpraline in einer durchsichtigen Tüte, einen Brief, ein Bonbonpapier, einen kleinen geschnitzten Vogel, Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande, Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen, ein dünnes Buch aus dem Jahr 1960 mit gelbem Einband, und natürlich das Glas mit Knöpfen, das ich jeden Morgen herausnahm, schüttelte und es dann oben auf das Tischchen stellte. Neben den alten Wecker, der manchmal so laut tickte, dass ich kaum denken konnte, vom Schlafen ganz zu schweigen.

Neunzehn große Knöpfe befanden sich in dem Behälter, dreiundzwanzig mittlere und siebzehn kleine, das machte neunundfünfzig insgesamt. Das war nicht schlecht, aber lange nicht genug. Ich ahnte bereits damals, dass der Mond sehr viel mehr kostete.

Ich bildete mir ein, ein leises Knirschen zu hören, als ich endlich aufstand. Ein leises Knirschen, als würde ich auf Schnee gehen. Nicht sehr wahrscheinlich, aber ich tat oft Dinge, die nicht sehr wahrscheinlich waren. Mein erster Weg führte mich zum Fenster. An dessen Oberfläche pressten sich schimmernde weiße Eiskristalle, ob von außen oder innen ließ sich nicht sagen. Sie streckten die feinen Ärmchen zueinander aus, als wollten sie sich bei den Händen halten, und wuchsen so in einem zarten, aber gleichmäßigen Geflecht aus Kälte über die Scheibe. Ich stellte mir manchmal vor, dass es Bilder waren, die eine junge Eisprinzessin in der Nacht an das Glas gemalt hatte. Möglicherweise waren es die Blumen aus einem Land voller Schnee und Wind und warteten darauf, gepflückt zu werden. Es konnten aber auch kleine Feen sein, die in einem Ringelreigen über die Scheibe tanzten. Oder die zerbrechlich wirkenden Linien waren eine geheime Schrift, die ein finsterer Geselle mit einem spitzen Messer in mein Fenster gekratzt hatte.

Mir kam es oft so vor, als bestünde die Welt aus zu vielen Möglichkeiten, als dass ich mit Sicherheit hätte sagen können, welche von ihnen wirklich war.

Als ich ein Geräusch aus dem Nachbarraum hörte, löste ich mich aus meinen Geschichten um Elfen und böse Buben, öffnete meine Zimmertür und trat auf den Flur hinaus.

Draußen schien es mir noch kälter als zwischen meinen eigenen Tapeten. Außerdem hing hier eine schwere Stille unter der Decke, dickflüssig und zäh wie Kleister. Ich tastete mich an der Wand entlang auf die Tür zu, die links neben meiner lag. Sie war geschlossen. Sie war meist geschlossen in letzter Zeit. Als ich vor ihr stand, zögerte ich einen Moment, in meinem Nachthemd zitternd, schließlich drückte ich die Klinke nach unten und schlüpfte durch den Spalt.

Im Inneren des Raumes war es dunkel, und ich hörte meine Mutter atmen, leise und flach. Seit mein Vater gegangen war, hatte niemand die Vorhänge geöffnet und meine Mutter die Sonne nicht gesehen. Ich war mir nicht sicher, ob sie wach war oder schlief. Einen Moment überlegte ich, ob ich etwas sagen, vielleicht an ihr Bett treten sollte, wie ich es früher getan hatte. Aber ich wusste, dass es nicht mehr früher war, und wagte es nicht, sie zu stören. Ich hielt deshalb noch einige Minuten inne, ehe ich mich wieder nach draußen stahl.

Seit es vor Wochen zu schneien angefangen hatte, war die Welt vor unseren Fenstern eine Welt aus den Nuancen der Farbe Grau. Über den Bäumen, Dächern und Straßen lag herabgefallenes Weiß, über uns wölbte sich ein glatter Himmel, der nachts schwarz und tagsüber fahl und bleiern war. Dazwischen hing Nebel, den man selbst fühlen konnte, wenn er nicht zu sehen war. Die einzigen Farbtupfer waren der gelbe Postwagen, der sich einmal die Woche durch den Winter schob, und Frau Habermanns obligatorisch orangefarbener Filzhut. Die Bäume trugen längst dicke Mäntel aus Eis. An bunte Blumen war nicht zu denken. Alles schlief oder hielt die Luft an und wartete auf den Frühling, auf die Wärme, das Licht und einen Neuanfang.

Doch es gab einen Ort, dem Frost und Schnee nichts anhaben konnten, in dem die Wiesen saftig grün und die Blüten hellrosa, strahlendblau, leuchtendrot und sonnengelb waren und in dem ich mir sogar das Summen von Bienen einbilden konnte, wenn ich besonders angestrengt lauschte. In Oma Floras Zimmer war das ganze Jahr über schönes Wetter. Nicht, weil es dort wärmer gewesen wäre als in den anderen Räumen des Hauses, sondern weil ihre Wände mit Gerbera, Rosen, Gladiolen, Nelken, Tulpen, Osterglocken, Freesien, Chrysanthemen und Amaryllis bewachsen waren. Diese rankten sich auf glänzend schimmernden Klebebildern von der Fußleiste bis hinauf zur Decke, an den Fenstern entlang, um den Türrahmen herum, und bedeckten jeden freien Zentimeter ihrer Tapete. Ihre selbst gemachte Blumenwiese war im Januar 1966 längst so üppig, dass Oma Flora an einigen Stellen damit begonnen hatte, neue Blüten über alten zu befestigen. Ich war mir damals sicher, dass sich zwischen den farbenprächtigen Pflanzen kleine Kobolde versteckten, die nachts über den Fußboden tobten, und ich hatte keinen Zweifel daran, dass ich die unterschiedlichen Düfte riechen und die Blätter, Knospen und Dornen an meinen Fingerspitzen fühlen konnte, wenn ich die Hände nach den Bildern ausstreckte.

Oma Floras Schlafzimmer war mit Abstand der schönste Platz des ganzen Hauses und es gab keinen Ort, an dem ich lieber gewesen wäre. Zumindest nicht bis zu diesem Winter.

Auch jetzt war ich wieder überwältigt von dem Bunt der unzähligen Blumen, als ich kurz klopfte, dann die Tür auf- und mich hindurchschob. Es war frostig, wie überall vom Keller bis zum Dach, aber hierhin hatten sich die Farben und die Frische des Frühlings gerettet.

»Guten Morgen«, sagte ich zu dem Sessel, über dessen Lehne ein weißer Haarknoten hinausragte wie ein Häubchen Sahne auf einem Kuchenstück.

Meine Oma wandte sich nicht um, sondern sah weiter aus dem Fenster, wie sie es immer tat, die Augen leicht zusammengekniffen, als würde sie das Leben aus der Ferne betrachten, könnte es aber nicht scharf genug sehen. Und genau genommen war es auch so, denn Oma Flora hatte schon vor langer Zeit aufgehört, ihr Zimmer zu verlassen. Sie sagte, sie hätte in der Welt schon alles gesehen. Manchmal glaubte ich ihr, manchmal glaubte ich, sie meinte nicht alles, sondern eigentlich zu viel, und manchmal wurde mir nur klar, wie wenig ich sie eigentlich kannte. Ich hatte keine Ahnung, wie alt sie war, aber die Altersflecken auf ihren Händen sahen aus wie eine geheime Karte, die einen zum Schatz vergangener Jahre führen konnte, wenn man herausfand, wie man die einzelnen Punkte richtig verband. Ich wusste nicht, wie der Mann geheißen hatte, mit dem sie verheiratet gewesen und der nicht aus dem Krieg zurückgekommen war, wie sie mir einmal gesagt hatte. Er war der Vater meiner Mutter, doch niemand sprach über ihn. Früher hatte mir das keine Angst gemacht. Heute war das anders. Ich konnte nicht sagen, warum sie manchmal zornig aussah, wenn sie in die Ferne blickte, wieso sie oft weinte oder nie etwas von ihrer Vergangenheit erzählte. Ich wusste, dass sie zwei Töchter und einen Sohn hatte, auf dessen Briefe sie jeden Tag wartete und der ihr niemals schrieb. Ich wusste, dass sie abends nach Rumpralinen roch. Ich wusste, dass sie unter all ihren Blumen die Rose La Reine Victoria am liebsten hatte, die nach einer britischen Königin benannt war. Ich wusste, dass ihre Wangen sich aufblasen konnten wie ein Ballon, wenn sie schlief. Ich wusste, dass ich ihr vorlesen musste, weil ihre Augen schlecht waren, vielleicht weil sie zu oft und zu lange Dinge betrachtete, die zu weit weg waren. Und ich wusste, dass mein Kopf perfekt in die Kuhle an ihrem Hals passte.

Sie war meine Oma Flora, aber das hieß nicht, dass ich sie kannte.

»Guten Morgen«, wiederholte ich, als ich neben dem Sessel stand.

Nun bemerkte sie mich. »Guten Morgen, meine Freddi«, erwiderte sie lächelnd und streckte die Hände nach mir aus.

Ich kletterte auf die Armlehne, zog die nackten Füße unter das Nachthemd, kauerte mich zusammen und kuschelte mich in Oma Floras Berührung. Ihre weichen, warmen Finger tätschelten mein kaltes Gesicht, ihre Lippen küssten meine Stirn. Gemeinsam hielten wir einige Minuten inne und genossen es, dass der Tag noch nicht begonnen hatte, der Morgen noch nicht vollständig erwacht war, die Nacht die Welt nicht gänzlich freigeben wollte. Es war der Moment, in dem alles groß und klein zugleich schien. Der Moment, in dem alles vergangen, alles noch nicht geschehen, alles möglich war.

»Dann erzähl mal, meine Freddi. Was hast du heute vor?«, fragte Oma Flora in meine Gedanken hinein. »Du hast doch sicher viel zu tun, oder nicht?« Sie sagte das mit einem Schmunzeln.

»Und ob«, erwiderte ich. »Jede Menge.« Ich spähte über das Fensterbrett nach draußen in die erstarrte Welt, als könnte ich dort den Tag erkennen, wenn ich nur genau genug hinsah, und ich fragte mich, ob dieser Winter jemals zu Ende gehen würde.

»Soll heute nicht …?«, setzte meine Oma an, doch ich unterbrach sie lächelnd und wandte mich ihr zu: »Ich hole sie um ein Uhr vom Zug ab. Vielleicht bringe ich ihr auch was mit!«

»Das wäre sehr nett von dir.«

»Findest du?« Ich legte die Wange an meine Schulter. »Ich weiß nur noch nicht, was. Was glaubst du, könnte ihr gefallen? Ich meine … Wie ist sie so? Ich hatte ja noch nie eine Tante.« Nachdenklich kaute ich auf meiner Unterlippe. »Ich möchte da nichts falsch machen. Sie soll einen guten Eindruck von mir haben. Denkst du, ich kann das? Glaubst du, sie wird mich mögen?«

»Wenn sie weiß, was gut ist, wird sie das«, antwortete Oma Flora, legte mir eine warme Hand auf die Wange und kniff mir dann zärtlich in die Nase. »Das wird sie.«

»Ich werde sie jedenfalls toll finden. Das weiß ich!« Ich nickte energisch. »Ich wette, sie ist wunderschön und klug und lustig und nett und nach der neusten Pariser Mode gekleidet. Denkst du nicht auch? Sie führt in Frankreich sicher ein ganz tolles Leben. Ein Leben wie ein Abenteuer, oder?«

»Ich weiß es nicht.« Meine Oma schüttelte den Kopf, während sie sich in die Polsterung ihres Sessels sinken ließ. Sie wirkte nachdenklich. »Ich habe sie lange nicht mehr gesehen und wir …« Sie hielt inne. »Ich weiß es wirklich nicht.«

»Aber ich!«, rief ich begeistert, sprang vom Sessel und auf die Füße. »Und ich werde alles dafür tun, damit sie mich auch mag. Du wirst schon sehen. Sie hat gesagt, sie könnte nicht lange bleiben, aber am Ende wird sie mich so gernhaben, dass sie uns nie wieder verlässt!« Ich lachte. »Aber jetzt muss ich unbedingt los. Ich habe noch so viel zu erledigen.« Ich hob entschlossen den Zeigefinger in die Luft. »Keine Zeit zu trödeln«, erklärte ich ernsthaft.

»Na, dann mach dich mal an die Arbeit, mein Schätzchen. Aber vielleicht besuchst du mich später noch einmal und liest mir wieder etwas vor?«

»Das mache ich. Natürlich!« Ich küsste Oma Flora überschwänglich auf die Wange, lief dann zur Tür.

»Ach, und Freddi?« Die Klinke bereits in der Hand, hielt mich ihre Stimme zurück. »Siehst du nach, ob ein Brief für mich gekommen ist?«

Das Anziehen hatte heute länger gedauert als sonst. Ich wollte einen guten Eindruck machen und meine besten Sachen tragen, deshalb hatte ich mich schließlich für mein grünes Kleid entschieden, und darunter, weil es so kalt war, eine Hose, die am wenigsten verschlissen und ausgebeult war, außerdem meinen alten Herrenhut mit der lilafarbenen Blume, die mir meine Mutter gehäkelt hatte. Das Problem waren die Ärmel. Wir hatten sie allesamt auftrennen müssen, damit mein Gips hineinpasste. Auch gegen mein unordentliches, krauses Haar konnte ich wenig tun, ich musste es schweren Herzens lassen, wie es war, und an den lästigen Sommersprossen, die sich selbst im tiefsten Winter auf meinem Nasenrücken versammelten, war ebenfalls nichts zu ändern. Ich konnte nur hoffen, dass meine Tante einigermaßen zufrieden mit mir sein würde.

Nachdem ich fertig war, ging ich nach unten in die Küche, die kälter und stiller war als jeder andere Raum im Haus. Ich blieb einen Augenblick in der Tür stehen. Früher war das Zimmer immer warm und hell und gemütlich gewesen, doch nun schien es allein aus den grauschwarzen Schatten zu bestehen, die in den Ecken hingen. Ich zögerte, dann schaltete ich das Licht ein.

Ich hatte bereits damit begonnen, das restliche Brot in Scheiben zu schneiden, in der Pfanne anzuwärmen und mit Käse und Wurst zu belegen, als ich tapsende Schritte auf der Treppe, dann auf den Fliesen hörte. Im nächsten Moment lugte mein Bruder Arthur um die Ecke, die Haare vom Schlaf zerzaust, das Gesicht von Träumen zerdrückt. Er trug noch seinen Schlafanzug, die Füße waren nackt. Er lächelte sein Zahnlückenlächeln, als er mich sah.

»Guten Morgen«, sagte ich. »Warum hast du keine Socken an? Es ist viel zu kalt, um ohne Schuhe herumzulaufen. Ich habe dir doch erzählt, dass Kälte nach neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen genau genommen aus winzigen kleinen Eiszwergen besteht, die nichts lieber tun, als mit ihren spitzen Hacken Stücke von deinen Zehen abzuschlagen. Die nehmen sie dann mit in ihre Höhlen und kochen sich daraus ein Süppchen. Willst du das? Willst du, dass sich Eiszwerge aus deinen Füßen ein Süppchen kochen?« Ich wartete darauf, dass mein Bruder mit großen Augen den Kopf schüttelte, dann nickte ich zufrieden und wies neben mich: »Hier, setz dich auf den Stuhl, dann machst du es ihnen zumindest ein bisschen schwerer. Sonst fehlt dir am Ende tatsächlich noch ein ganzer Zeh. Wie hast du geschlafen? Hast du Hunger?« Ich schob ihm einen der Teller zu. Ohne eine Antwort griff er nach dem Brot und begann, schweigend zu essen.

»Wir müssen uns heute ein bisschen beeilen«, erklärte ich, nun ebenfalls kauend. »Wir haben nämlich viel vor.« Arthur hob die Augen über sein Frühstück und sah mich an. »Es gibt so viel zu tun. Ich weiß gar nicht, wie wir das alles schaffen sollen. Und um eins müssen wir auch noch unsere Tante abholen. Da dürfen wir auf keinen Fall zu spät kommen. Eine Tante lässt man nicht warten, schon gar nicht eine, die aus Frankreich kommt. Sie wird uns wahrscheinlich einer kritischen Begutachtung unterziehen. Denk daran, wenn du dich gleich anziehen gehst. Wir wollen doch einen guten Eindruck machen, oder? Der erste Eindruck ist sehr wichtig, ganz besonders bei einer Tante aus Frankreich. Denn in Paris sind die Menschen viel schöner als irgendwo sonst auf der Welt, wusstest du das?« Arthur schüttelte den Kopf. »Aber so ist es«, erklärte ich ihm. »Es ist deshalb von größter Wichtigkeit, dass wir heute einen guten Eindruck auf unsere neue Tante machen. Du hattest ja bisher noch keine, deshalb kannst du es nicht wissen, aber Tanten müssen einen nicht zwangsläufig gernhaben. Bei Müttern und Vätern und auch Geschwistern, wie wir es sind, ist das anders. Aber Tanten …« Ich hielt kurz inne. »Tanten müssen dich nicht mögen, wenn sie nicht wollen.« Als ich den unsicheren Blick meines Bruders sah, fügte ich schnell hinzu: »Ich denke aber, das wird sie. Da bin ich mir sogar ziemlich sicher. Sieh uns an.« Ich kicherte. »Ich glaube, wir sind ziemlich reizend.«

Nachdem wir aufgegessen hatten, schickte ich meinen Bruder in sein Zimmer, damit er sich anziehen konnte. Ich selbst brachte einen Teller mit Frühstück zu Oma Flora und einen weiteren zu meiner Mutter, die jedoch nicht erkennen ließ, ob sie mich überhaupt bemerkt hatte. Anschließend packte ich einen kleinen Beutel mit meinem Buch, einer alten Zeitung und zwei Broten, nahm etwas Geld aus der Haushaltsdose, klemmte mir mein Knopfglas unter den Arm und verließ mit Arthur an der Hand das Haus in Richtung Wald, als es gerade wieder zu schneien begann.

Der Schnee war an diesem Morgen hart und fest. Er knackte unter unseren Füßen und schien mit seiner Schwere jedes Geräusch erstickt zu haben, denn auf den Straßen und im Wald war es so still, dass wir nur unsere Schritte und das eigene Atmen hören konnten. Noch kein Lichtstrahl hatte die tief hängenden, dichten Wolkenschichten durchbrechen können, deshalb spendete das Weiß der am Boden liegenden Kälte die einzige Helligkeit. Ansonsten trug die Welt ein farbloses Kleid aus dunkelgrauem Stoff mit einem Kragen aus gefrorenem Fell. Die Luft war glatt und frisch und erinnerte mich an Glas.

Wir wohnten am Ende der Straße in einem der letzten beiden Häuser, die noch zum Dorf gehörten. Unsere einzige direkte Nachbarin war Frau Habermann, hinter deren Garage bereits der Wald begann. Wir hatten es deshalb nicht weit und waren nach wenigen Minuten von prächtigen Eichen, Birken und Buchen umgeben, die jetzt allerdings als ausgemergelte Gerippe unter der Last des Winters schweigend ächzten. Sie hatten ihre Köpfe und Äste tief in Richtung Boden gebeugt, einige waren bereits so durchgefroren, dass sie an der Kälte zerbrochen waren. Die letzten Zeugnisse davon ragten als spitze, dunkle Finger aus dem Schnee, würden jedoch bald unter den nächsten Flocken verschwinden. An einigen Stellen war die Eisdecke so verschlossen, dass wir auf ihr gehen konnten, als liefen wir auf Asphalt, an anderen sanken Arthur und ich tief in sie hinein und mussten uns gegenseitig helfen, um weiterzukommen. Ich wusste, der Wald schlief nur. Irgendwo verborgen in den blattlosen Baumkronen, in der erstarrten, dick verpackten Erde warteten die winzigen Botschafter des Frühlings darauf, ans Werk zu gehen. Doch auf mich wirkte er tot. Vielleicht würde der Winter dieses Mal für immer bleiben. Vielleicht würde nicht alles einfach so weitergehen, nur, weil es immer so gewesen war. Wer konnte das mit Sicherheit sagen?

Keine halbe Stunde von unserem Haus entfernt hatten mein Bruder und ich im September einen Staudamm gebaut. Damals waren die Tage hell und warm gewesen, der Bach laut glucksend und lebendig. Jetzt kämpfte sich ein schwaches, dünnes Rinnsal durch die kristallenen, festen Platten aus Frost. Trotzdem führte uns unser Weg zunächst hierher. Mit erfahrenen Blicken und geübten Griffen überprüften wir die Stabilität der Steine und Hölzer, dann gingen wir weiter. An manchen Tagen konnten wir unseren eigenen vergangenen Fußspuren folgen, welche die Kälte in den Untergrund geschrieben hatte, doch in der Nacht war zu viel Schnee gefallen und hatte unseren Weg verschwinden lassen.

Während Arthur und ich durch das Schweigen des Waldes in Richtung Dorf stapften, erzählte ich ihm von dem Jahr, in dem zwölf Monate lang Sommer gewesen war, und von den zwei verfeindeten Bienenvölkern, die hier früher einmal gelebt hatten, als es noch keine Menschen gab. Ich berichtete ihm vom verheerenden Kampf der Samtlocken-Bienen und der Abate-Vespidea-Wespen, der schließlich dazu geführt hatte, dass Millionen Insekten an einem gewöhnlichen Sonntagmorgen vor Erschöpfung gleichzeitig vom Himmel gefallen waren.

»Jetzt weißt du, warum sich das Dorf an einer kleinen Anhöhe befindet«, erklärte ich, gerade, als wir Frau Finsters Lebensmittelladen erreichten. »Wir stehen gewissermaßen auf dem, was die Vergangenheit uns übrig gelassen hat. Aber das ist ja meistens so.«

Der Laden von Frau Finster war das einzige größere Geschäft in der Stadt, wenn man einmal von der Kneipe an der Ecke absah, die selbst sonntags gut besucht war, wenn eigentlich alle in der Kirche sein sollten. Mein Vater sagte dazu oft: »Nüchtern betrachtet sind mir die sturzbetrunkenen Katholiken am liebsten.« Und ich fand, dass er recht hatte, obwohl ich mir nicht ganz sicher war, was er damit meinte.

Es gab genau zwei Dinge, die ich an Frau Finsters Laden mochte. Die helle Glocke, die klingelte, wenn man durch die Tür trat, und ihre große Auswahl wirklich schöner Knöpfe. Auch jetzt blieb ich einen Moment im Eingang stehen, bis das helle Läuten vollständig verklungen war, dann sah ich mich um. Auf der linken Seite gab es verschiedene Fleisch- und Käsesorten, außerdem Brot, Marmelade, Milch, Mehl, Zucker und Kaffee. In einer kleinen Auslage glänzten Karamellbonbons, Schokoladenwürfel und erlesene Pralinen im klaren, hellgelben Deckenlicht, doch ich wagte es nicht, sie zu lange anzuschauen. Sie mussten ein Vermögen kosten. Der rechte Teil des Geschäfts bestand aus Haushaltswaren, Stoff, Garn und Wolle, Postkarten, Schulheften, Stiften und Rollen von buntem Seidenpapier.

Ich hatte zwar eine kleine Einkaufsliste, die im Wesentlichen aus Butter, Konserven und Schwarzbrot bestand, trotzdem wandte ich mich zunächst dem Ständer zu, in dem Briefumschläge und Fotografien fremder Länder aufgereiht waren. Arthur ließ meine Hand los und streifte durch die Gänge, während ich den Blick über exotische Sandstrände, blühende Bergwiesen und Stadtansichten weit entfernter Metropolen schweifen ließ, deren Namen ich kaum aussprechen konnte. Am längsten betrachtete ich eine Gruppe von Bildern, auf denen das Meer zu erkennen war, dessen Wellen in der Sonne glitzerten. Ich war selbst nur einmal am Strand gewesen, im Sommerurlaub an der Nordsee, aber jetzt kam es mir vor, als würde mir allein vom Ansehen wärmer. Ich konnte nicht anders, ich musste die Finger nach der Karte ausstrecken, um herauszufinden, ob auch das Papier glühte.

»Man guckt mit den Augen, nicht mit den Händen!«, zischte in diesem Moment Frau Finsters Stimme durch den Laden und direkt auf mich zu. Erschrocken fuhr ich zusammen, zog den Arm zurück, ließ dabei beinahe mein Glas mit Knöpfen fallen und starrte sie an.

Sie stand keine zwei Meter von mir entfernt und lauerte, wie sie es immer tat. Sie war eine mittelgroße Frau mit straffen Schultern und unnachgiebigem Blick, dem nichts entgehen konnte. Sie hieß nicht wirklich Finster, doch ich fand, dass dieser Name sehr viel besser zu ihr passte, denn in ihrer Nähe war es immer ein bisschen dunkler als anderswo. Nicht nur mich hatte ihr scharfer Tonfall erreicht, auch anderen war er nicht entgangen. Zwei Frauen, die sich bisher über die richtige Dicke von Stricknadeln unterhalten hatten, wandten sich zu uns um. Ich sah ihre Gesichter, ich sah, dass sie tuschelten. Unwillkürlich schob ich meinen eingegipsten Arm hinter den Rücken.

»Willst du was kaufen?«, fragte Frau Finster, nicht bemüht, die Lautstärke ihrer Worte zu senken. Sie kam langsam auf mich zu.

»Ja … ähm«, begann ich stotternd, ließ die Augen von Postkarte zu Postkarte springen. »Sagen Sie, sind diese Aufnahmen echt?« Ich wies ungenau mit der freien Hand über den Ständer.

»Was soll das heißen?«

»Sind das echte Aufnahmen von echten Orten?«

»Natürlich sind sie das. Was ist denn das für eine komische Frage?« Ihre Brauen sausten ungehalten in die Höhe, verhakten sich mit ihrem strengen Haaransatz und fanden keinen Weg mehr nach unten, was ihrem Gesicht einen seltsam gedehnten Ausdruck gab.

»Dann gibt es sie wirklich?«

»Wen?«

»Diese … Städte und Strände.«

»Natürlich gibt es sie! Willst du nun etwas kaufen oder mit diesen Dummheiten meine Zeit verschwenden?«

»Ich wollte nur sichergehen«, murmelte ich.

»Also?«, fauchte sie mich an. Obwohl sie noch immer einen großen Schritt von mir entfernt stand, spürte ich die Kälte der Töne aus ihrem Mund.

»Was?«

»Wie bitte.«

»Was?« Ich verstand nicht, konnte aber sehen, wie sie die Worte zerbiss.

»Es heißt, ›wie bitte‹.«

»Was heißt wie bitte?«

Frau Finsters Gesicht verdunkelte sich, als hätte jemand einen Eimer roter Farbe über ihren Kopf gegossen. »Kaufst du was oder nicht?«, fragte sie. Jeder Ton knackte.

Ich war zu entsetzt, um sofort antworten zu können, doch als eine Ader an ihrem Hals zu klopfen begann und die Augen unnatürlich hervortraten, erwiderte ich hastig: »Ja, ich hätte gern eins von den Klebebildern mit Rosen.« Ich zeigte auf eine leuchtend rosa Blüte, deren äußere Blätter mit Glitzer verziert waren. »Und …«

»Uuuund?«, gab Frau Finster gedehnt zurück und zupfte dabei mit spitzen Fingern eine der Blumen aus dem Ständer.

»Und …« Mein Blick huschte durch den Laden, über Kartons, Dosen und Flaschen, und blieb schließlich am dunkelbraunen Schimmer einer Trüffelpraline hängen. »Und eine Praline«, sagte ich, ehe ich selbst wusste, was ich tat.

»Eine Praline?!«, wiederholte Frau Finster ungläubig. Erneut hörte ich gedämpftes Getuschel.

Ich schluckte, reckte dann das Kinn entschlossen nach vorne. »Ja«, antwortete ich, bemüht, sicherer zu klingen, als ich mich fühlte.

»Na dann.« Sie kniff den Mund zu einer schmalen Falte zusammen, machte in einer zackigen Bewegung auf dem Absatz kehrt und rauschte vor mir in Richtung Kasse.

Ich folgte langsamer, während ich verzweifelt überlegte, wie ich das bezahlen sollte. Doch ich durfte mir keine Blöße geben. Nicht vor diesen Klatschtanten, nicht vor Frau Finster, vor niemandem. Ich hob deshalb würdevoll den Blick und erklärte: »Die ist für meine Tante. Sie kommt zu Besuch aus Paris. Das ist in Frankreich«, fügte ich hinzu. Die Damen kicherten.

»Ist das dann alles?«, wollte Frau Finster von mir wissen, als ich die Theke erreicht hatte. Sie hatte die Praline bereits in einer kleinen durchsichtigen Tüte verpackt, auf der das Licht schimmerte.

»Ich …« Möglichst unauffällig tastete ich in meiner Hose nach dem Einkaufszettel. Was hatte ich mir nur gedacht? Vorsichtig lehnte ich mich nach vorne und senkte die Stimme: »Kann ich auch mit Knöpfen bezahlen?«, flüsterte ich.

»Mit Knöpfen?«, rief Frau Finster zurück. »Ob du mit Knöpfen bezahlen kannst?«, wiederholte sie an die Kundschaft im Laden gerichtet. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass mich alle anstarrten. »Rede keinen Unsinn, Kind!« Der Spott ihrer Worte tropfte wie Gelee von jedem ihrer Töne. »Knöpfe verkaufe ich selbst. Sie sind nichts wert! Oder dachtest du, du wärst plötzlich reich, nur weil du dieses alberne Glas mit dir herumträgst?« Sie lachte hart. »Mach dich nicht lächerlich!«

»Sie werden sich noch wundern«, murmelte ich leise, die Unterlippe trotzig nach vorne geschoben. »Sie werden sich noch wundern, wenn erst der Kalte Krieg zu Ende ist …«

»Was sagst du, Kind?«

»Gar nichts«, knurrte ich, schob den Einkaufszettel zurück in die Tasche und reichte stattdessen das Geld aus der Haushaltskasse über den Tresen. Eilig nahm ich meine zwei kleinen Tüten entgegen, stürzte dann zum Ausgang. Ich hörte die Frauen noch lachen, als ich längst auf der Straße stand.

Ich wartete schwer atmend hinter einer Hausecke auf Arthur. Die Tränen fühlten sich auf meinen Wangen heiß an, meine Brust war zu eng, und ich bekam kaum Luft. Ich drückte mich gegen die Mauer, den Kopf an die kalten, nassen Steine gepresst, mein linker Arm kam mir plötzlich wieder sehr schwer vor und schmerzte.

Die würden sich noch wundern!, dachte ich. Ja, die würden sich noch wundern! Sie alle zusammen. Wenn erst der Kalte Krieg vorbei war und ein Knopf mehr wert als ein ganzes Kilo Gold, würde ihnen das Lachen schon vergehen. Dann würde ich die ganze Stadt kaufen, nur so zum Spaß.

Ich beruhigte mich erst, als ich Arthur an meiner Seite spürte. Er sagte nichts, lehnte sich nur an mich. Ich brauchte einige Momente, dann sah ich ihn an, noch immer schluchzend. »Die werden sich noch wundern«, flüsterte ich. Mein Bruder nickte, streckte einen Zeigefinger aus und strich eine Träne von meiner Wange. Ich folgte seiner Bewegung mit der Hand und wischte mir das Gesicht trocken, dann lächelte ich entschlossen. »Lass uns gehen. Wir haben keine Zeit, schließlich müssen wir unsere Tante aus Frankreich abholen.«

Ich schob meinen Hut, der mir in den Nacken gerutscht war, zurück auf meinen Kopf. Dann traten wir gemeinsam hinaus auf die Straße. Zwischen den Häusern hing kalte, starre Luft, die nach frischem Schnee roch. Die obere Schicht der Eiskristalle auf dem Boden war noch weich und nass und nicht zu einem dicken, unnachgiebigen Panzer zusammengefroren wie die darunter. Unsere Schuhe sanken deshalb zunächst ein, ehe unsere Schritte rutschig wurden. Auf den Dächern lastete der Winter, und dort, wo diese notdürftig geräumt waren, mussten wir uns an aufgetürmten Schneemassen vorbeischlängeln, die so hoch waren, dass ich allein den matschig grauen Himmel über uns sehen konnte. Es war wie ein Labyrinth aus Eis, von dem wir umgeben waren. Man wusste nie, wer plötzlich vor einem stehen würde.

»Fred!« Als ich das erste Mal meinen Namen hörte, achtete ich nicht weiter darauf. »Frederike Biller«, wiederholte die Stimme energischer, deshalb blieb ich stehen, blickte auf und starrte geradewegs in das runde, gerötete Gesicht von Frau Günther.

Sie blinzelte mich durch ihre dicken Brillengläser an und nickte dabei, eine seltsame Angewohnheit, als würde sie allem im Leben zustimmen: dem schlechten Wetter und ewig langen Winter, den gestiegenen Lebensmittelpreisen und dem Krieg, über den niemand sprach, als hätte es ihn nie gegeben, der Mückenplage im letzten Sommer und Bienen, die in Limonade ertranken, dem Bau der Mauer und der Ermordung des amerikanischen Präsidenten, der Tatsache, dass das Postauto immer freitags kam, eine Geometrische Landschildkröte mit Mathematik wenig anfangen konnte und man Marmelade am besten im Verhältnis 1 : 1 einkochte. Ich hatte sie eigentlich sehr gern, konnte sie aber nie lange ansehen, weil mich ihre ständige Billigung der Geschehnisse dieser Welt ärgerlich machte.

»Ich habe dich schon eine Weile nicht in der Schule gesehen«, sagte sie und machte ein ernstes Gesicht, während sich ihr Kopf weiter gleichmäßig bewegte.

Ich dachte erst, sie wollte dieser Feststellung etwas hinzufügen, vielleicht einen Tadel, eine Zurechtweisung, doch als sie stumm blieb, antwortete ich: »Ja … nein. Ich habe viel zu tun.«

»Zu viel zu tun für die Schule?«, fragte Frau Günther zurück.

Ich reckte ihr trotzig mein Kinn entgegen. »Mein Vater sagt, die wirklich wichtigen Dinge lernt man nicht in einem Klassenzimmer«, erklärte ich entschlossen.

»Ja … dein Vater …« Frau Günther sah erst mich an, dann glitt ihr Blick über meine linke Schulter meinen Arm hinab. Unwillkürlich schob ich den Gips hinter meinen Rücken. »Davon habe ich gehört«, fügte sie hinzu. Ich zog die Augenbrauen zusammen und musterte sie böse. »Aber er würde doch wollen, dass du lesen lernst, oder Fred? Trotz aller Schwierigkeiten.« Wieder dieses Nicken, wie eine Taube, die nicht aufhören konnte zu picken.

»Das kann ich längst«, erwiderte ich knapp. »Ich lese meiner Oma jeden Abend vor. Und …« Ich straffte die Schultern. »Und es geht Sie zwar nichts an, aber genau das soll ich eigentlich gerade nicht lernen.«

»Du sollst nicht lesen lernen?«, fragte Frau Günther überrascht zurück.

Ich glaubte sogar, etwas wie Bestürzung in ihrem Gesicht zu erkennen, und für einen Moment tat sie mir leid. Sie wusste es nicht besser, und eigentlich hatte ich sie gern, weil sie wahrscheinlich die einzige ernsthafte Optimistin war, die ich kannte. Und weil ich das Gefühl hatte, dass es davon nicht viele geben konnte, nicht nach allem, was passiert war. Vielleicht irgendwo anders. Zumindest aber nicht hier. Trotzdem schüttelte ich entschieden den Kopf. »Nein«, sagte ich. »Aber ich habe keine Zeit, Ihnen die Gründe dafür zu erklären. Mein Vater sagt, Lehrer verstehen nur das, was sie verstehen wollen, und was sie nicht verstehen können, wollen sie auch nicht verstehen. Und lehren wollen sie es schon gar nicht. Das war schon zu seiner Zeit so und das ist heute nicht anders, weil es immer noch dieselben Lehrer sind.« Ich fasste Arthurs Hand fester und zog ihn eng an meine Seite. »Aber jetzt entschuldigen Sie uns bitte, Frau Günther. Mein Bruder und ich haben es eilig. Wir holen meine Tante heute vom Bahnhof ab. Sie kommt aus Paris, müssen Sie wissen, das liegt in Frankreich, und sie spricht fließend Französisch.«

»Na, dann will ich euch nicht aufhalten.« Sie lächelte etwas traurig. »Aber vielleicht sehen wir uns am Montag in der Schule?«

» Das kann doch nicht euer Ernst sein. Steht hier mit schmutzigen Stiefeln und nassen Mänteln in der Küche. Hat euch keiner beigebracht, dass man den Dreck von draußen nicht durchs ganze Haus trägt? Kein Wunder, dass es hier wie bei Hempels unterm Sofa aussieht.« Sie schüttelte energisch den Kopf, streckte die Hand aus und wies zur Tür. »Ihr macht sofort, dass ihr hier rauskommt, und zieht euch gefälligst die schmutzigen Sachen aus. So kommt ihr mir nicht in meine frisch geputzte Küche. «»«

Erschrocken starrten Arthur und ich uns an, dann machten wir hastig kehrt und stürzten aus der Tür. Wir stolperten zurück zum Eingang, schlüpften aus unseren Jacken, zogen uns gegenseitig die Schuhe von den Füßen und liefen eilig zurück.

»Schon viel besser!«, empfing uns die Frau und winkte uns mit einer knappen, beherrschten Geste zu sich heran.

Das Wasser im Kessel hatte mittlerweile zu brodeln angefangen und Dampf stieg auf, als würde ein wütender Drache schnauben. Die Frau nahm ihn in aller Ruhe vom Ofen, füllte mit dem kochenden Inhalt drei Tassen, stellte ihn zur Seite, trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch und drehte sich schließlich zu uns um. Aus der Nähe wirkte sie noch größer, ihr Gesicht weniger schön, dafür umso strenger. Sie war die ältere Schwester meiner Mutter, hatte jedoch kaum Ähnlichkeit mit ihr und noch weniger mit Oma Flora. Ich wusste, sie war Ende dreißig, aber sie wirkte älter, als sie aussah. Sie musterte uns, kniff dabei die Augen zusammen und machte den Mund schmal. Sie hatte etwas von einem Raubvogel, wie ich fand. Ihre Züge waren glatt und scharf, ihre Haltung so aufrecht, als wäre sie mit dem Lineal gezogen. Sie trug ein schwarzes Kleid mit einem weißen, gestärkten Kragen. Ich konnte nicht eine Falte erkennen, nicht auf der Stirn, nicht im Stoff ihres Kleides, nicht einmal ein zaghaftes Knittern. Sie war perfekt von Kopf bis Fuß, und ich hatte keinen Zweifel, dass sie nichts anderes als Vollkommenheit duldete.

»Dann lasst euch mal ansehen«, sagte sie, streckte die Hände nach uns aus und schob uns entschieden ins Licht. »Du musst Arthur sein.« Aus ihrem Mund klang sein Name seltsam, zu hoch und auf eine eigenartige Weise gestelzt. Das U wurde bei ihr zu einem Ü. Ich hätte sie gern verbessert, wagte es jedoch nicht. »Was für ein hübscher kleiner Junge«, lobte sie. »Du wirst einmal ein bel homme! Du kommst ganz nach deiner maman. Diese blonden Locken.« Sie strich ihm über die Haare. »Adorable!« Sie verzog die Lippen, bekam jedoch nur ein sehr knappes Lächeln zustande. »Und du?« Nun wandte sie sich an mich. Ich sog geräuschvoll die Luft ein, bemühte mich, gerade zu stehen, reckte das Kinn vor, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. »Dann bist du sicherlich …«

»Fred«, beendete ich hastig ihren Satz, räusperte mich. »Ich bin Freddi.«

»Freddi?«, wiederholte sie. Ihre Augen wurden eng, die Ähnlichkeit mit einem Habicht, der sich auf seine Beute stürzte, wurde größer. »Das ist kein Name!«

»Doch«, sagte ich leise. »Meiner …«

»C’est absurde!« Sie schüttelte bestimmt den Kopf. »So kann niemand heißen, schon gar kein Mädchen, Frederike!« Dieses Mal bog sie die Silben nicht entschlossen nach oben. »Auf keinen Fall!« Sie nickte sich selbst zu, damit war das Thema für sie beendet. »Alors«, begann sie, »ich freue mich, euch kennenzulernen. Ich bin eure Tante Noelle.« Das Wort glitt aus ihrem Mund wie eine formvollendete, schimmernde Perle, die beiden Silben schlangen sich kunstvoll ineinander. »Ich werde zwar nicht lange bleiben können, aber ich bin gekommen, um …«

»Wir haben dir etwas mitgebracht!«, rief ich.

»Pardon?«

»Was?«

»Wie bitte«, verbesserte Noelle tadelnd, doch ich sprach hastig weiter.

»Wir haben dir etwas mitgebracht«, wiederholte ich aufgeregt und griff mit meiner Hand in den Beutel. »Ein Geschenk, Tante No-elle …«

»Es heißt Noelle.« Sie warf mir einen strengen Blick zu. »Noelle … nicht No-elle. Es ist Französisch«, fügte sie belehrend und mit hochgezogenen Augenbrauen hinzu. »Außerdem mache ich mir nichts aus Geschenken. Und es ist unhöflich, einen anderen Menschen zu unterbrechen. Weißt du das nicht?«

»Nein«, erwiderte ich ehrlich. Davon hatte ich keine Ahnung. »Wir haben es dir heute Vormittag gekauft, im Laden von Frau Finster.«

»Frau Finster?«

»Ja, eigentlich heißt sie Reiser, aber …«

»Dann kannst du sie doch nicht einfach Finster nennen, wenn das offensichtlich nicht ihr Name ist.«

»Doch, kann ich«, erwiderte ich leichthin. »Sie sieht nämlich aus wie eine Frau Finster, glaub mir.« Ich nickte. »Aber in ihrem Laden gibt es wirklich fast alles. Brot, Mehl, Butter, Marmelade, Stifte, viele bunte Stoffe, Hefte, Papier, Klebebilder. Oh, und Postkarten. Ganz wunderbare Postkarten von Orten überall auf der Welt. Manche der Namen habe ich noch nie gehört, aber dort gibt es Palmen und Kokosnüsse, Sandstrände und Wasser, das so aussieht, als würde es nach Blauer Engel schmecken … der Eissorte. Blauer Engel«, sagte ich noch einmal, doch Noelles Gesicht blieb ausdruckslos.

»Es gehört sich nicht, so schnell zu sprechen«, erklärte sie stattdessen. »Wer ungeordnet redet, denkt auch ungeordnet. Und das willst du doch nicht, oder? Sonst halten dich die Leute noch für einen Einfaltspinsel. Das solltest du dir dringend abgewöhnen. Einen Einfaltspinsel hat niemand gern.« Ich starrte sie entsetzt an, mein Mund klappte zu. »Bien!«, sie wandte sich von uns ab. »Ich werde euch etwas zu essen kochen. Ihr seht ja halb verhungert aus, als hättet ihr seit Wochen nichts Vernünftiges mehr auf den Tisch bekommen. Wer hat denn«, sie zögerte kurz, »seit dieser Sache für euch gesorgt?« Sie machte ein mitfühlendes Gesicht. Gerne hätte ich ihr geantwortet, dass ich mich um alles kümmerte und wir sehr gut allein zurechtkamen, doch ich brachte kein Wort heraus. »Ein Glück, dass ich da bin! Jetzt wird wieder Ordnung in dieses Haus einziehen. Ihr werdet schon sehen!«

Mir kam dieser Satz wie eine Drohung vor.