Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2015

Coverfoto: © Miriam Dörr - Fotolia.com

Covergestaltung / Reihenentwurf: Christian Tschepp

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2015

Satz & Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-332-4

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-391-1 (EPUB), 978-3-95571-392-8 (MOBI),
978-3-95571-393-5 (PDF).

Vorwort

Antworten geben, wo wir nicht gefragt sind;
anpacken, obwohl uns niemand darum gebeten hat;
vermitteln, wo direkte Kommunikation nötig wäre.

Es bedarf nicht immer einer expliziten Aufforderung, damit wir uns helfend einbringen. In vielen Fällen reicht schon ein Blick, eine flüchtige Andeutung oder die einschlägige Erfahrung, um uns aktiv werden zu lassen. Die verdeckten, verschlüsselten Botschaften, die wir empfangen, haben einen weit höheren Appell-Charakter als anderen zuweilen lieb ist.

Wenn wir zwischen den Zeilen lesen, wenn wir Dinge ahnen oder kommen sehen, dann springt scheinbar wie auf Knopfdruck ein Motor in uns an, der zu sagen scheint: „Tu etwas!“ In einigen Fällen stottert er uns auch zu: „Lass es!“ Wir lassen die Dinge gern auf sich beruhen, weil wir der Meinung sind, damit richtig zu liegen.

Es ist unsere Empathie-Fähigkeit, die es uns ermöglicht, die unausgesprochenen Wünsche, Bedürfnisse und Stimmungen anderer wahrzunehmen: zu erspüren, zu deuten und angemessen darauf zu reagieren. Wir trösten in der Trauer, wir ermutigen bei Angst, wir beschwichtigen im Zorn oder wir unterstützen im Stress. Wir gehen ein Stück des Weges in den Schuhen des Menschen, der unsere Hilfe braucht. Wir finden so heraus, wo es drückt.

Die Kompetenz des „Einfühlens“ und die daraus resultierende (In-)Aktivität leisten einen wichtigen Beitrag zu unserem Zusammenleben. Wir können Probleme im Keim ersticken, deeskalieren, fördern und motivieren, ohne dazu aufgefordert zu werden. Ein Großteil unserer Interaktionen basiert auf dieser Kompetenz. Kulturell gibt es in den Deutungen und Handlungen erhebliche Unterschiede. Ein US-Amerikaner würde vielleicht dem traurigen Freund auf die Schulter klopfen und Mut zusprechen. Asiaten stehen eher für Diskretion und könnten mit respektvollem Abstand reagieren.

Bei meinen Klienten beobachte ich jedoch, dass dieses „Anspringen“ noch einen anderen Hintergrund hat. In den letzten Jahren tauchen immer mehr Menschen mit einer narzisstischen Selbstwertthematik in meiner Praxis auf. Sie versuchen, ihre Minderwertigkeit durch eine fassadenhafte Großartigkeit zu überdecken, und verlieren dadurch den Bezug zu ihrem wahren Ich. Ist das die Folge einer „schamlosen Gesellschaft“, in der Big Brother, Dschungelcamp und viele Formen von Dokusoaps zur Normalität werden?

Gleichzeitig ist die Anfälligkeit bei dieser Klientengruppe für Kränkungen besonders hoch. Die Gründe für diese Sensibilität werde ich anhand von verschiedenen Beispielen darstellen. Ihre Verletzbarkeit äußert sich zum Beispiel in Schuldzuweisungen, Aggressionen und oft auch im Beziehungsabbruch.

Ob es sich dabei um eine narzisstische Kränkung handelt, hängt nicht vom auslösenden Ereignis ab (wie Kritik, Ironie, Zurückweisung oder Vertrauensbruch), sondern davon, wie dieses Ereignis erlebt wird. Die Grenzen zwischen Kränkung und narzisstischer Kränkung sind – wie wir noch sehen werden – fließend. In jedem subjektiven Erleben steckt aber auch die Chance, etwas an sich selbst zu verändern.

Ich werde in diesem Buch darstellen, auf welche Weise viele meiner Klienten auf solche Auslöser reagiert haben und warum diese Reaktionen zum Problem wurden. Sie alle suchten Unterstützung in meiner Coaching-Praxis. Und alle hatten eine Frage:

Warum werde ich zurückgewiesen, wenn ich es doch gut gemeint habe?

Ich werde anhand von zahlreichen Beispielen deutlich machen, was sich zwischen den Interaktionspartnern abspielt, wenn diese „gut gemeinte“ Hilfe auf wenig Gegenliebe stößt. Manchmal führt sie sogar zu ernsten Konfrontationen, im schlimmsten Fall zum Kontaktabbruch, wie wir noch sehen werden.

Die „gut gemeinte“ Hilfe ist womöglich nicht immer so selbstlos und am Wohle der Mitmenschen orientiert, wie man zunächst vermuten könnte. Es scheint da nämlich einen Anteil in uns zu geben, der sich über die Autonomie der „hilfsbedürftigen“ Person hinwegsetzt. Einen Anteil, der deutlich den eigenen Selbstwert im Fokus hat, der Aufmerksamkeit und Anerkennung sucht und nach liebevoller Zuwendung verlangt.

Was aber steckt hinter diesen Bedürfnissen? Wie können wir sie befriedigen, ohne durch „gut gemeinte“ Aktivitäten unsere Beziehungen zu gefährden?

Ich bin der Überzeugung, dass wir uns dazu mit unseren narzisstischen Persönlichkeitsanteilen auseinandersetzen müssen. Sie sind eine wunde Stelle, die uns für Kränkungen anfällig macht. Daher lade ich Sie ein, mit mir eine Vielzahl verschiedener „narzisstischer Kränkungen“ kennenzulernen, die durch „gut Gemeintes“ ihren Auslöser fanden.

Wie ist dieses Buch aufgebaut?

Im ersten Teil meines Buches werde ich kurz die charakteristischen Eigenschaften eines Narzissten erläutern. Dabei werde ich zwischen der narzisstischen Störung mit Krankheitswert und dem gesunden Narzissmus differenzieren.

Meine Klienten kamen ausnahmslos ohne Krankheitsbild in meine Coaching-Praxis. An den „gut gemeinten“ Themen arbeiteten wir deshalb auf Basis einer selbst initiierten Persönlichkeitsentwicklung und Selbsterfahrung. Ich werde auch auf die Begriffe „Kränkung“ und „narzisstische Kränkung“ näher eingehen. Hier werde ich vor allem die Besonderheit darstellen, warum die Verletzung unserer Selbstliebe dazu führt, dass wir uns Handschellen anlegen, uns in ein inneres Gefängnis zurückziehen und damit endgültig den Kontakt verlieren: zu uns selbst und unseren Mitmenschen.

Im zweiten Teil werde ich Ihnen acht verschiedene Klienten vorstellen, die es alle „gut gemeint“ haben. Sie werden ihre Geschichten kennenlernen, ihre Glaubenssätze und Hoffnungen. Sie werden Einblick erhalten in den Prozess des Coachings, meine Interventionen und die Klärung der narzisstischen Kränkung. Dabei werde ich Ihnen Fälle vorstellen, die thematisch sehr unterschiedlich sind und sowohl aus dem privaten wie beruflichen Kontext stammen. Und ich werde aufzeigen, dass es mit ganz verschiedenen Herangehensweisen gelingen kann, den Heilungsprozess der narzisstischen Kränkung zu unterstützen.

Im dritten Teil des Buches werde ich Gemeinsamkeiten der Fälle herausarbeiten. Ich werde versuchen, die Komplexität auf ein Mindestmaß zu reduzieren und in einem Modell Abläufe der Kränkung darzustellen, wie sie bei Klienten mit narzisstischem Persönlichkeitsstil typisch sind. Und Sie bzw. Ihre Klienten können auch selbst etwas tun: Anhand von Arbeitsblättern und Checklisten können Sie darauf hinwirken, Ihr Handeln wieder auf Kooperation auszurichten. Sie werden aus Ihrer anfänglichen Sprachlosigkeit wieder zu Worten finden, die Erklärungen liefern für Ihre Verwundbarkeit. Und Sie erarbeiten sich die Kompetenz, zukünftig zielgerichteter und störungsfreier Hilfe anzubieten.

Alle im Buch genannten Fälle sind Tatsachenberichte auf Basis meiner Protokolle. Daher habe ich sämtliche Namen und biografischen Angaben geändert, sodass keine Rückschlüsse mehr auf konkrete Klienten möglich sind. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre daher rein zufällig. Ansprechen möchte ich im Besonderen praktizierende Coaches und Berater, die ein weiterführendes Verständnis für das Zusammenspiel von narzisstischer Selbstwertproblematik und narzisstischer Kränkung entwickeln möchten. Sie werden in meinem Buch Hintergründe und Interventionsansätze finden, um ihre Klienten zielführend durch den Prozess zu begleiten. Aber auch interessierten Laien kann es eine Tür öffnen, um sich selbst noch besser kennenzulernen. Vielleicht entdecken Sie sich ja in dem einen oder anderen Fall sogar wieder.

Die Situationen habe ich sehr kompakt dargestellt. Tatsächlich umfassten die Prozesse in der Regel mehrere Beratungsstunden. Ich habe den Fokus bewusst auf die Arbeit an der narzisstischen Kränkung gelegt und den vor- bzw. nachgelagerten Verlauf auf ein Minimum beschränkt. Meiner Meinung nach wird dadurch die Arbeitsweise klarer und die Komplexität reduziert.

Minderwertigkeit und Grandiosität, die beiden Seiten des narzisstischen Persönlichkeitsstils, werden durch dessen Kränkung in Kontakt gebracht mit dem authentischen, demaskierten Ich. Das Ergebnis eines Coaching-Prozesses kann darin bestehen, dass der Klient ein freies, eigenverantwortliches und erwachsenes Selbst entwickelt. Wir Coaches und Berater können unseren Klienten auf diesem Weg der Selbstwerdung unterstützen.

Erich Fromm hat es in „Haben oder Sein“ schon vor vielen Jahren vorweggenommen: Statt viel Image zu „haben“ können wir zu einem wahren „Sein“ reifen, das mehr ist als das Produkt einer Gesellschaft oder eines Systems. „Haben“ ist eine äußere Repräsentanz, während „Sein“ die innere Erfahrung erlaubt. Auch unser beobachtbares Verhalten ist nach außen gerichtet. Solange wir handlungsfähig sind, sind wir auch etwas wert. In einer immer älter werdenden Gesellschaft ergibt sich daraus fast automatisch eine Selbstwertproblematik, insbesondere dann, wenn die Pflegebedürftigkeit steigt.

Ich wünsche Ihnen viele spannende Aha-Momente beim Lesen. Sollte ich Ihre Erwartungen nicht ganz erfüllen können, denken Sie bitte daran: Auch ich habe es auf jeden Fall gut gemeint!

Teil 1: Eine kurze theoretische Einführung

1.1 Ausdrucksformen der narzisstischen Persönlichkeitsstörung

Wer bin ich? Wer möchte ich sein?

Ein Abteil in einem Intercity Richtung Norddeutschland. Ich bin auf dem Weg zu einem Coaching-Seminar. Nach mehrmonatiger Ausbildung sollen zwanzig zukünftige Coaches ihre erworbenen Fähigkeiten unter Beweis stellen. Ich werde als Beisitzer meine Beobachtungen einbringen. Zuerst aber wird die Gruppe wissen wollen, wer ich überhaupt bin. Das ist hier nicht anders als in den meisten anderen Seminaren: Gestartet wird mit einer Vorstellungsrunde, damit sich die Teilnehmer auf sicherem Terrain den neugierigen Fremden präsentieren können.

Was aber sage ich zu mir? Was gibt in einigen wenigen Sätzen Auskunft darüber, wer ich bin? Ich werde gleich zu Beginn mit einer der schwierigsten Fragen konfrontiert, die man sich im Coaching stellen kann.

Vielleicht bin ich die Anzahl meiner Rollen, die ich einnehme. Richard David Precht ist in seinem Buch „Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?“ unter anderem dieser Frage nachgegangen. Was aber bin ich dann jenseits der Rollen? Sollte es einen inneren Wesenskern geben, der meine Identität bestimmt? Dann wäre ich mehr als die Summe meiner Rollen. Vielleicht bin ich aber auch mein Verhalten. Immerhin verhalten wir uns ständig irgendwie – wir können uns nicht nicht verhalten, sodass wir uns ständig mitteilen, ob wir wollen oder nicht. Dann jedoch würde ich den kompletten Bereich von Geist und Seele unberücksichtigt lassen. Finde ich also eine Antwort auf meine Frage „Wer bin ich?“, wenn ich meine Gedanken und Gefühle erforsche? Sie gelten doch als Antrieb für unser Verhalten.

Manche Klienten scheinen eins zu sein mit ihren Gedanken und Gefühlen. Sie „haben“ keine Angst, sondern sie „sind“ die Angst. Sie erleben Gedanken nicht als vorübergehende Momentaufnahme, sondern stecken fest in ihren Grübeleien. Dann ist es für sie eine wichtige Erfahrung, die Flüchtigkeit des Augenblicks kennenzulernen. Mithilfe eines Coaches oder Therapeuten können sie lernen, dass sie mehr sind als ihre Gedanken, Gefühle und ihr Verhalten. – Offenbar führen meine Überlegungen also in eine Sackgasse.

Vielleicht ist die Frage nach dem „Wer bin ich?“ wenig zielführend, wenn ich den Seminarteilnehmern von mir erzählen möchte. Ich könnte es mit der Frage versuchen: „Wer möchte ich sein?“ Immerhin ist es mir wichtig, in einem bestimmten Bild bei anderen zu erscheinen und einen möglichst positiven Eindruck zu hinterlassen. Insofern könnte ich am Ende des Seminars die Frage von den Teilnehmern beantworten lassen: Wer ist Horst Lempart? Ich hätte dann einen spannenden Querschnitt ganz unterschiedlicher Wahrnehmungen. Außerdem würden auch meine blinden Flecken Berücksichtigung finden, die einen Teil meiner Identität ausmachen. Spannend ist an dieser Stelle ein Blick in die Bibel. Je nach Übersetzung erklärt sich Gott als „Ich bin, der ich bin“ oder „Ich werde sein, der ich sein werde“. Wenn wir Gottes Geschöpfe sind, welche Worte könnten uns dann treffend beschreiben, was würde ein hinreichend treffendes Bild von uns ergeben?

Was macht die narzisstische Persönlichkeit aus?

Mit der Frage „Wer möchte ich sein?“ habe ich eine Überleitung zum Thema Narzissmus gefunden.

Der Narzisst ist in sein idealisiertes Selbstbild verliebt.

Der Narzisst ist in sein idealisiertes Selbstbild verliebt. Oder in sein Ich-Ideal – um einen anderen gebräuchlichen Begriff zu verwenden. Dahinter verbergen sich überzogene, unrealistische Erwartungen an uns selbst. Ein Narzisst möchte so wahrgenommen werden, dass dieses Ich-Ideal intakt bleibt. Er hat große Angst vor einer Destabilisierung seines fassadenhaften Größenselbst. Er befürchtet, zurückgewiesen und nicht geliebt zu werden.

Diese Befürchtung resultiert aus biografischen Erfahrungen. Als Kind übernehmen wir fremde Meinungen und Wertungen, sogenannte Introjekte, setzen sie Stück für Stück zu einer Welt zusammen und schaffen uns daraus „eigene“ Überzeugungen und Glaubenssätze. Diese werden zu einem Teil unserer Persönlichkeit. Im Entwicklungsstufenmodell des Psychologen Jean Piaget, das die kognitive Entwicklung in Phasen einteilt, spricht man von einem Schema. Es wirkt wie eine Lochkarte oder Schablone und startet automatisierte Denk- und Verhaltensmuster. Durch das positive Selbstschema einerseits („Ich bin der absolute Überflieger“) und das negative Selbstschema andererseits („Ich bin unzureichend“) entsteht ein starkes Spannungsverhältnis.

Ambivalenz von positiven und negativen Selbstschemata

Diese Ambivalenz ist charakteristisch für die narzisstische Persönlichkeit. Sie gibt auch Einblick in die Innenwelt des Narzissten: Was nach außen oft so selbstsicher, ja teilweise arrogant oder größenwahnsinnig wirkt, findet im Innenleben nicht unbedingt eine Entsprechung. Vielmehr kann er von Selbstzweifeln geplagt und dem Gefühl der inneren Leere verfolgt werden.

Innerhalb einer differenzierten Persönlichkeitsentwicklung werden neue Erfahrungen entweder in bereits vorhandene Schemata integriert oder ein vorhandenes Schema wird entsprechend verändert; beides, um nicht mit dem Gesamtsystem (z. B. der eigenen Persönlichkeit) im Widerspruch zu stehen. Stark narzisstisch geprägten Klienten gelingt die Änderung eines Schemas kaum. Neue Erfahrungen müssen sie entsprechend zurechtbiegen und ihrem Schema anpassen, damit ihr System stabil bleibt. Die früh verinnerlichten Botschaften werden angereichert durch angepasste, neue Erfahrungen und festigen damit mehr und mehr die Persönlichkeit eines Menschen.

Wenn es zu einer starken Differenz kommt zwischen dem idealisierten Selbstbild und dem „wahren Ich“ (wie es auch durch das soziale Umfeld wahrgenommen wird), dann können daraus Gefühle wie Schuld oder Scham entstehen. Häufig entwickelt sich auch eine starke Aggression, die nach innen wie nach außen destruktiv wirken kann. Viele Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung leiden an Suchterkrankungen, gehen riskanten Hobbys nach oder leben finanziell deutlich über ihre Verhältnisse. In Außenbeziehungen wirken sie dann rechthaberisch, egozentrisch oder provokativ.

Starke Emotionen: Schuld, Scham, Aggressivität

Narzisstische Persönlichkeiten weisen oft auch eine hohe Empfindlichkeit auf, sodass sie Kränkungen subjektiv stärker erleben, als es den objektiven Umständen entspricht. Daraus kann eine Reaktion erfolgen, die „weit über das Ziel hinausschießt“ und die Beteiligten nur mit Kopfschütteln und Unverständnis zurücklässt. Bindungsverlust droht und ist oft die Folge. Als Konsequenz verfolgt der Narzisst die Strategie „mehr vom Selben“ und hält damit seinen Kreislauf aufrecht. Er ist nicht in der Lage, Bestätigung und Anerkennung zu speichern, sondern versucht durch permanentes Nachbestellen ein Fass ohne Boden zu füllen. So stabilisiert er sein System auf tragische Weise selbst.

Das zentrale Motiv bei Personen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung ist die Anerkennung.

Die Differenz zwischen Ich und Ich-Ideal muss aber nicht zwangsläufig negative Folgen haben. Es hängt davon ab, wie realistisch unser ideales Selbstbild ist. Wenn wir uns auf der Karriereleiter schon ganz weit oben sehen, wenn spirituelle Erfahrungen für uns das oberste Ziel sind, dann kann uns das Ich-Ideal fördern und motivieren. Das zentrale Motiv bei Personen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung ist die Anerkennung. Nun ist ja Anerkennung auch bei gesunden Menschen eine gern gesehene Form der Aufmerksamkeit und sicher nicht pathologisch. Eine Störung mit Krankheitswert wird daraus, wenn das gesamte Handeln der Person nur noch diesem übergeordneten Ziel folgt. Wenn ich hingegen reflektiert mit meinem Ich-Ideal in Klausur gehe, dann tauchen Fragen auf wie: Kann ich ihm überhaupt gerecht werden oder sind die Ansprüche unrealistisch? Muss ich ihm gerecht werden oder bindet das unnötig Energie, die an anderen Stellen fehlt? Ist es zielführend, wenn ich ihm gerecht werde, und welchen Preis muss ich bei seiner konsequenten Verfolgung zahlen?

Was von den Beziehungspartnern als störend, nervig oder narzisstisch wahrgenommen wird, scheint dem Narzissten ganz normal. Allen Persönlichkeitsstörungen ist gemeinsam, dass sie von den Betroffenen als ich-synton wahrgenommen werden. Sie erleben also ihre Denk- und Verhaltensweisen als selbstverständlichen und gesunden Anteil ihrer selbst. Und wie schwer es ist, die Grenze zwischen krank und gesund zu ziehen, dürfte jedem bekannt sein, der sich einmal mit „Auffälligkeiten“ anderer Menschen auseinandergesetzt hat. Sicher ist, dass narzisstisches Verhalten oft einen hohen Preis hat und Lösungsmuster hervorbringt, die dauerhaft nicht zum gewünschten Ziel führen – auch wenn Narzissten durch ihre extravertierte, dynamische und selbstsicher wirkende Art erst einmal Aufmerksamkeit erregen und attraktiv wirken.

Ist Narzissmus sexy?

Das liegt vielleicht genau daran, dass narzisstische Persönlichkeiten zwar wahrgenommen, aber weniger stigmatisiert werden als paranoide, schizoide oder zwanghafte Persönlichkeiten. Ist Narzissmus sexy? Suchen Sie sich einen Narzissten, verbringen Sie eine längere Zeit mit ihm und finden Sie es heraus!

Narzissmus – diagnostische Klassifizierung

Diagnose nach ICD-10 und DSM-IV

In der ICD-10 (der internationalen Klassifizierung der Krankheiten), die in Europa Anwendung findet, wird die narzisstische Persönlichkeitsstörung unter „sonstigen spezifischen Persönlichkeitsstörungen geführt“. Man widmet ihr (noch) kein eigenes Hauptkapitel. Mag es daran liegen, dass sie (ähnlich der exzentrischen oder unreifen Persönlichkeit) so schwer nach Diagnosekriterien abzuarbeiten ist? Oder scheuen wir uns davor, einem Großteil der Gesellschaft (und darunter sind sicher viele „wichtige“ Persönlichkeiten) eine Diagnose auszustellen?

In den Vereinigten Staaten arbeitet man nach dem DSM, einem ähnlichen Klassifizierungssystem wie in Europa, das eigene, diagnostische Kriterien der narzisstischen Persönlichkeitsstörung ausweist. Sie finden inzwischen als Diagnosemerkmale auch in Europa Anwendung.

1.

Hat ein grandioses Gefühl der Wichtigkeit.

2.

Ist stark eingenommen von Fantasien grenzenlosen Erfolgs, Macht, Glanz, Schönheit oder idealer Liebe.

3.

Glaubt von sich, „besonders“ oder einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder angesehenen Personen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit ihnen verkehren zu können.

4.

Verlangt nach übermäßiger Bewunderung.

5.

Legt ein Anspruchsdenken an den Tag.

6.

Ist in zwischenmenschlichen Beziehungen ausbeuterisch.

7.

Zeigt einen Mangel an Empathie.

8.

Ist häufig neidisch auf andere und glaubt, andere seien neidisch auf ihn / sie.

9.

Zeigt arrogante Züge, überhebliche Verhaltensweisen oder Handlungen.

Abbildung 1: Diagnostische Kriterien der narzisstischen Persönlichkeitsstörung nach DSM-IV

Wenn mindestens fünf dieser Kriterien erfüllt sind, wird die Diagnose „narzisstische Persönlichkeitsstörung“ vergeben. Was aber ist überhaupt eine Störung? Und ist eine Störung eine Krankheit? Wie viele „Gestörte“ begegnen Ihnen denn im Alltag, wenn Sie einmal die Messlatte an Ihre Umgangssprache legen? Die Tatsache, dass in der neuesten Fassung des DSM, dem DSM-V, die narzisstische Persönlichkeitsstörung nicht mehr als eigenständige Diagnose aufgeführt ist, belegt schon die Ambivalenz zu diesem Thema: Wie normal ist gestört?

Eine Störung bringt Unordnung oder Unruhe in ein System. Sie destabilisiert. Insofern bin ich als Coach vielleicht ein Paradebeispiel für eine Störung. Ich verstehe mich selbst als „Persönlichkeitsstörer“. Nach systemischen Gesichtspunkten gibt es keine Gestörten, sondern nur Störer, durch die sich andere gestört fühlen. Störungen sind der Motor für Veränderungen. Ich möchte deutlich machen, dass ich die Persönlichkeit des Klienten wertschätze, andererseits aber in der Sache für Unordnung sorge und sein Denk- und Verhaltenssystem störe. Seine Symptome sind dabei seine und meine Verbündeten.

Der Narzisst in uns allen

Kein Mensch ist ein reiner Narzisst.

Wenn ich im Folgenden von Narzissten oder einer narzisstischen Persönlichkeit spreche, dann meine ich damit die Persönlichkeitsanteile in uns, die narzisstische Muster aufweisen. Kein Mensch ist ein reiner Narzisst. Wir alle ver-„körpern“ auch „den Narzissten“ in uns. D. h., wir verleihen diesem inneren Anteil je nach Kontext mehr oder weniger stark Ausdruck und Gestalt, wir geben ihm einen Körper. Welche anderen Persönlichkeitsanteile noch in uns zu Hause sind, werden Sie in den folgenden Kapiteln erfahren.

… schwankt der Mensch permanent zwischen Grandiosität und Minderwertigkeitsgefühlen, dann entsteht Narzissmus

Je nach Situation, aktueller Empfindlichkeit und gerade dominantem Anteil kommen wir zu unterschiedlichen Wahrnehmungen, Interpretationen und Bewertungen, was Einfluss auf unser Verhalten hat. Friedemann Schulz von Thun, Psychologe und Kommunikationswissenschaftler, spricht hier vom „Inneren Team“. Ich werde Ihnen im Fall „Nachbarschaftshilfe oder: Hilfe, der Nachbar!“ ein ähnliches Modell zur Bearbeitung der narzisstischen Kränkung vorstellen. Im Wesentlichen geht es darum, dass dieser Persönlichkeitsanteil ebenso liebevoll und respektvoll behandelt wird wie alle anderen Facetten in uns. Ziel ist seine Integration in unsere „Multiple Persönlichkeit“. Ein zentrales Thema im Coaching ist daher die persönliche Integrität des Klienten, die Übereinstimmung seiner Werte mit dem eigenen Handeln. Werden die „grandiosen und minderwertigen“ Teile einer Persönlichkeit nicht integriert und schwankt der Mensch permanent zwischen Grandiosität und Minderwertigkeitsgefühlen, dann entsteht Narzissmus.

In einem weit gefassten Sinne könnte man „gestörte Persönlichkeiten“ auch als Symp­tomträger eines Systems verstehen. Eine Störung ist demnach eine „normale Reaktion auf ein abnormes Erlebnis“, wie auch die posttraumatische Belastungsstörung charakterisiert wird. Für die narzisstische Persönlichkeit waren die biografischen Erfahrungen in ihrem sozialen Kontext womöglich dramatisch oder sogar traumatisch.

Wer muss ich sein, um geliebt zu werden?

Was wir als Störung bezeichnen, war in einem frühen Entwicklungsstadium eine Anpassungsleistung, um wichtige Bedürfnisse zu befriedigen. So hat ein Kind vielleicht nur Aufmerksamkeit, Zugehörigkeit und Liebe erfahren, wenn es besondere Leistungen erbrachte. Oder es hat die Erfahrung gemacht, dass es sich nur auf sich selbst verlassen kann, weil die Eltern unberechenbar und widersprüchlich waren. Wenn Kinder nur wenig bedingungslose Liebe erfahren, dann lernen sie, sich so darzustellen, wie sie sein sollen. Daraus resultiert die Frage: Wer muss ich sein, um geliebt zu werden? Die Verbindung zum wahren Selbst geht dadurch mehr und mehr verloren wie auch die Fähigkeit zur differenzierten Wahrnehmung und Selbstem­pathie.

Winnicott: falsches Selbst

Der Psychoanalytiker und Kindertherapeut Donald Winnicott hat dafür den Begriff des „falschen Selbst“ geprägt. Das Kind wird von den Eltern narzisstisch besetzt, weil sie in ihrem Nachkommen unerfüllte Wünsche, Erwartungen oder abgelehnte Eigenanteile ausagieren. Kinder reagieren auf systemische oder atmosphärische Störungen in einer kindgerechten Art: Sie verweigern die Kommunikation, neigen zur Gewalt, nässen plötzlich wieder ein, die Schulleistungen lassen nach oder sie machen erste Erfahrungen mit Süchten. Aus diesen kindlichen Bewältigungsmustern können feste Grundüberzeugungen resultieren, die im späteren Leben wie Wahrnehmungsfilter wirken und die Persönlichkeit prägen. Für eine narzisstische Persönlichkeit kann das bedeuten: „Ich bringe die beste Leistung und bin mir selbst der Nächste.“ Auf der anderen Seite entstehen dazu negative Schemata: „Ich bin unzureichend und verdiene es nicht, geliebt zu werden“. Auch sich selbst können sie keine Liebe entgegenbringen, da ihr natürliches Wesen hinter einem Ideal verschwindet, das stellvertretend alle Zuwendung bekommt. So unwirklich ihr Inneres ist, so verzerrt ist auch die Außenwahrnehmung. Kritiken, Zurückweisungen oder andere Meinungen werden als Bedrohung wahrgenommen und bekämpft.

Wie „funktioniert“ die narzisstische Persönlichkeitsstörung?

Ebenen der Interaktion: Motivebene, Schemata, Spielebene

Rainer Sachse hat in seinem Buch „Persönlichkeitsstörungen verstehen“ sehr anschaulich dargestellt, wie die narzisstische Persönlichkeitsstörung funktioniert. Demnach finden die Interaktionen auf drei unterschiedlichen Ebenen statt. Auf der Motivebene handelt eine Person offenkundig und unverfälscht, sie macht also ihre Beziehungsmotive deutlich. So würde sie verständlich kommunizieren, dass sie Nähe oder Anerkennung wünscht, wodurch eine Befriedigung dieses Motivs möglich wird. Damit ist nicht gesagt, dass das Motiv unmittelbar und umfassend befriedigt wird. Verfügen wir jedoch über regulative Mechanismen, wirft es uns nicht aus der Bahn, wenn wir auf die Befriedigung unserer Bedürfnisse warten müssen. Bestenfalls haben wir gelernt, uns selbst zu lieben (zu „bemuttern“), auch allein sein zu können und stolz auf uns zu sein.

Das ist das Tragische an der narzisstischen Persönlichkeit: Sie ist im hohen Maße abhängig von ihrer Umwelt, da sie „Spiegelhalter“ braucht, die ihre Einzigartigkeit und Überlegenheit bestätigen. An dieser Stelle wird das Bedürfnis zur Bedürftigkeit: Der Narzisst ist nicht in der Lage, durch eigene Mittel für seinen Unterhalt (d. h. hier, für seine seelische Gesundheit) zu sorgen. Offenbar verfolgt er sogar Ziele, die seinen eigenen Motiven zuwiderlaufen. Das wird besonders deutlich, wenn einerseits die Ziele Macht und Dominanz verfolgt werden, andererseits das tiefe Bedürfnis nach Liebe und Zuwendung vorherrscht. Im Coaching-Prozess verwende ich daher viel Zeit mit dem Klienten darauf, seine Ziele und Motive differenziert herauszuarbeiten.

„Kompensation“ bzw. „Über-Kompensation“

Die Abhängigkeit des Narzissten von seiner Umwelt steht in völligem Widerspruch zur zweiten Ebene der Schemata (Grundüberzeugungen oder Glaubenssätze): „Ich brauche niemanden!“ oder: „Ich bin der Beste!“ Wenn im Hintergrund dann noch negative Haltungen wirken wie: „Mit mir hält es sowieso niemand aus“ oder: „Ich kann es keinem recht machen“, müssen die Größenfantasien umso übertriebener ausgestaltet werden. Sachse spricht hier von einer „Kompensation“ bzw. „Über-Kompensation“.

Eine besondere Dramatik bekommt die dritte Ebene, die Spielebene. Hier entfaltet die narzisstische Persönlichkeit ihr besonders manipulatives Verhalten. Sie teilt sich ihren Interaktionspartnern nämlich nicht offen und unverfälscht mit, sondern sie „wirft einen Köder aus und baut darauf, dass der Fisch ihn schluckt“. Das zentrale Motiv der narzisstischen Persönlichkeit ist Anerkennung. Bleiben wir der Einfachheit halber daher bei diesem Motiv. Wenn der Narzisst seine Anerkennung nicht freiwillig, umfassend und sofort bekommt, packt er seinen Spielekoffer aus. Die Verbindung zu einem kindlichen Verhalten ist nicht zufällig. Auch Kinder versuchen, ihre Bedürfnisse auf kreative Art und Weise zu befriedigen, anstatt sofort den Rückzug anzutreten. Denken Sie an Ihre eigene Kindheit oder beobachten Sie Ihren Nachwuchs!

Verdoppele deine Anstrengungen oder reagiere aggressiv, aber stelle dich nicht infrage!

Ein manipulatives Spiel kann darin bestehen, dass ein Narzisst in besonderer Weise betont, wie einzigartig er ist: durch Wissen, theatralische Auftritte, übertriebenes Engagement, durch Arbeitsanweisungen an andere usw. Diese manipulativen Spiele verursachen hohe Beziehungskosten. Mit der Zeit geht der Narzisst seiner Umwelt ziemlich auf die Nerven. Seine Unfehlbarkeit, seine Besserwisserei, seine Inszenierungen gehen den meisten ziemlich gegen den Strich und sie reagieren mit Rückzug. Was ist für den Narzissten Mittel der Wahl? „Verdoppele deine Anstrengungen oder reagiere aggressiv, aber stelle dich nicht infrage!“

Motivebene

Zentrales Motiv der narzisstischen Persönlichkeit ist Anerkennung. Weitere Motive sind z. B. Bedeutung und Solidarität. Auf dieser Ebene werden die Bedürfnisse transparent, die Intention ist erkennbar.

Schemaebene

Positive Grundüberzeugungen sind z. B.:

  • „Ich bringe die beste Leistung.“
  • „Ich bin mir selbst der Nächste.“

Negative Grundüberzeugungen sind z. B.:

  • „Ich bin unzureichend.“
  • „Ich verdiene es nicht, geliebt zu werden.“

Spielebene

Das strategische Handeln richtet sich nach Anerkennung, Aufmerksamkeit, Lob, Bewunderung und verfolgt manipulative Strategien.

Abbildung 2: Handlungsregulation der narzisstischen Persönlichkeit (nach Sachse 2011)

Wenn das manipulative Spielangebot vom Gegenüber nicht angenommen wird oder der Interaktionspartner aus dem Spiel aussteigt, reagiert die narzisstische Persönlichkeit mit einer narzisstischen Kränkung. Man könnte sagen: „Der Köder hat vor allem dem Angler geschmeckt, nicht aber dem Fisch.“ Narzisstische Persönlichkeiten verwechseln Bewunderung mit Liebe. Fühlen sie sich nicht bewundert, fühlen sie sich nicht geliebt. Ihre Beziehungen sind damit immer an Bedingungen geknüpft.

Narzisstische Persönlichkeit vs. Antisoziale Persönlichkeit

Die narzisstische Persönlichkeitsstörung überschneidet sich in ihrer Symptomatik mit anderen Persönlichkeitstypen, unter anderem auch mit der antisozialen Persönlichkeit. In der Außenwirkung ist das Verhalten ähnlich, die Ursachen dafür sind aber recht unterschiedlich. Während die narzisstische Persönlichkeit eher unter ihrer geringen Empathiefähigkeit leidet, geht die antisoziale Persönlichkeit rücksichtslos mit den Gefühlen anderer Menschen um. Während der Narzisst zwischenmenschliche Beziehungen ausnutzt, missachtet die antisoziale Persönlichkeit Umgangsformen. Allerdings steht bei der narzisstischen Persönlichkeit das Großartigkeitsmerkmal deutlich im Vordergrund, was bei der antisozialen Persönlichkeit kaum eine Rolle spielt. Weitere Überschneidungen stelle ich Ihnen im Kapitel 1.5 vor.

1.2 Der gesunde Narzissmus und Narzissmus ohne Krankheitswert

Was ist „krank“? Was ist „gesund“?

Die Psychopathologie unterscheidet nur zwischen krank und nicht krank (wobei „nicht krank“ noch lange kein Hinweis darauf ist, dass es sich um „gesunde“ Denk- oder Verhaltensweisen handelt). Für die narzisstische Persönlichkeitsstörung gilt: Nur wenn mindestens fünf der Diagnosekriterien aus dem DSM (s. Abbildung 1) erfüllt sind, spricht man von einer „Störung mit Krankheitswert“. Allerdings wird, wie bereits erwähnt, die narzisstische Persönlichkeitsstörung bis heute in der ICD gar nicht explizit aufgeführt, sondern nur am Rande erwähnt. Auch das mag ein Hinweis darauf sein, dass narzisstische Verhaltensweisen in großen Teilen unserer Gesellschaft etabliert und akzeptiert sind.

Bei narzisstischem Verhalten stellt sich also die Frage: Störung oder keine Störung?

Auch beim Burnout ist die gesellschaftliche Akzeptanz höher als bei einer psychischen Erkrankung. Burnout wird von einigen Fachleuten als eine Form der Depression oder als Anpassungsstörung gedeutet, andere sehen darin ein eigenständiges Krankheitsbild.

Bei narzisstischem Verhalten stellt sich also die Frage: Störung oder keine Störung?

Mich begeistert an meiner Tätigkeit als Coach und psychologischer Berater, dass ich mit „gesunden“ Menschen arbeite. Das unterscheidet meine Arbeit von der vieler Psychotherapeuten und Mediziner: Ich arbeite nicht mit Störungen. Ich arbeite mit Menschen.

Coaches und Berater müssen sich in psychischen Krankheitsbildern auskennen, um die (ohnehin schwierige) Grenze zur Pathologie einschätzen zu können. Aber ich bin überhaupt kein Freund von Diagnosen. Diagnosen beschränken mich in meiner Wahrnehmung und führen dazu, dass ich am Ende nur noch die Symptome sammle, die meine Diagnose bestätigen. Wenn ich zu diesem Zeitpunkt noch keine Bestätigung oder Anerkennung durch den Klienten bekomme, dann ist das doch ein guter Anfang, um meine fachliche Überlegenheit zum Ausdruck zu bringen. Die Illusion, alles im Griff zu haben, besser als der Klient zu wissen, woran er leidet, ist sehr verlockend. Sie erkennen auch an dieser Stelle, wie nah wir uns im Alltag an der Schwelle zu narzisstischem Verhalten bewegen. Ich widme daher der narzisstischen Kränkung des Coachs ein ganz eigenes Kapitel (siehe hier).

Nicht gestört, sondern verhaltensoriginell

Damit ich jeden Morgen wieder daran erinnert werde, wie nah Gesundes und Gestörtes beieinanderliegen, habe ich mir ein Frühstücksbrettchen angeschafft mit der Aufschrift: „Ich bin nicht gestört, ich bin verhaltensoriginell!“

Mit diesen Verhaltensoriginalitäten arbeite ich, wenn Klienten zu mir in die Praxis kommen. Das Umdeuten einer Störung in eine Verhaltensoriginalität ist übrigens ein wichtiges Werkzeug, das ich Ihnen in meinem ersten Fall „Mutterliebe, die erdrückt“ vorstelle. Natürlich habe auch ich meine Originalitäten:

Nach dem Aufstehen nehme ich mir morgens zwischen zwanzig und dreißig Minuten Zeit für die Morgentoilette. Wenn ich mit Duschen, Eincremen, Rasieren und Parfümieren fertig bin, schaue ich mich im Spiegel an und sage „Horst, du siehst wieder gut aus!“ Mein Mann, der dieses Ritual seit Jahren kritisch beobachtet und nicht müde wird, Kommentare dazu abzulassen, geht inzwischen zum Angriff über: „Du bist so ein Narzisst!“ Stellen Sie sich die absurde Situation vor, ich würde nun mit dem Kommentar kontern: „Ich habe es doch nur gut gemeint!“ Hier würde meine narzisstische Kränkung in eine verblüffend neue Richtung der Selbsterkenntnis führen. Für mich ist meine morgendliche Bad-Zeit ein Vorzeichen für den Tag. Mein Mann pflegt seine Sprüche, ich pflege meine Seele. Die knappe halbe Stunde Zeit widme ich daher gerne meinen narzisstischen Anteilen.

Gelegentliche narzisstische Kränkungen sind kein K. o.-Kriterium für erfüllende Beziehungen.

Gelegentliche narzisstische Kränkungen sind kein K.o.-Kriterium für erfüllende Beziehungen. Wie bereits erwähnt, wirken sie eher wie ein Seismograf, der uns anzeigt, das etwas in Bewegung gerät und unsere Hinwendung und Aufmerksamkeit fordert. Es kommt auf die Dosis an, auf das „Zuviel des Guten“ und die Heftigkeit der Eruptionen.

Gestört, gesund – oder etwas dazwischen?

Lassen Sie uns einen Blick darauf werfen, wo im Spektrum der narzisstischen Persönlichkeitsanteile ich meine Darstellungen einordne:

Abbildung 3: Der subklinische Narzissmus in Abgrenzung zur narzisstischen Persönlichkeitsstörung

Wenn wir lediglich zwischen einem „gesunden“ und einem „krankhaften“ Narzissmus unterscheiden, dann ist m. E. unser Blickwinkel zu eingeschränkt.

Wenn wir lediglich zwischen einem „gesunden“ und einem „krankhaften“ Narzissmus unterscheiden, dann ist m.E. unser Blickwinkel zu eingeschränkt. Es gibt dazwischen einen beachtlichen Anteil an narzisstischen Denk- und Verhaltensmustern, die zwar nicht „gestört“ im pathologischen Sinne sind, aber zu teilweise ganz massiven Störungen der Beziehungen und Interaktionen führen können. Anhand der Praxisfälle werden Sie erfahren, welche destruktive Kraft diese Muster entfalten können.

Der „normale, erwachsene Narzissmus“ (von mir auch gesunde, narzisstische Persönlichkeitsanteile genannt) leistet einen wesentlichen Beitrag zu unserer Selbstwertregulierung. Er ist verbunden mit einem stabilen Selbstwertgefühl. Er bejaht uns, unabhängig von unserer Leistung und dem Wohlwollen unserer Umwelt. Wir können zu uns selbst sagen: „Ich bin o.k.“. Diese Selbstakzeptanz wird uns im Modell der Transaktionsanalyse wieder begegnen, das ich Ihnen im Fall von Stefan M. („Kollegen wissen es besser“) zur Auflösung der narzisstischen Kränkung vorstellen werde.

Der liebevolle Umgang mit uns selbst ist eine Voraussetzung für ein erfülltes, selbstbestimmtes Leben. Er verleiht uns Autonomie und macht uns widerstandsfähiger in Zeiten, die viel Energie von uns erfordern. Diese Zeiten müssen nicht unbedingt als Belastung empfunden werden. Auch Herausforderungen, neue Ziele und Aufgaben, die Umsetzung lang gefasster Pläne erfordern Kraft. Selbstliebe kann eine kraftvolle Ressource sein, die uns Mut zuspricht, uns antreibt, Fehler verzeiht und unsere Unzulänglichkeiten akzeptiert. Dieser Aspekt wird auch in dem biblischen Satz „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ ausgedrückt. Der Mensch hat eine tief verwurzelte Sehnsucht nach Liebe. Für viele hat Religion deshalb eine substanzielle Wirkung: Sie fühlen sich geliebt und getragen. Aus diesem Verständnis heraus kann es leichter fallen, die Frage „Was will ich?“ umzuformulieren in „Was kann ich dir geben?“ Eine Fragestellung, die dem Narzissten nicht vertraut ist. Er weiß in der Regel besser als alle anderen, was manchen Menschen fehlt. Etwas spitzfindig formuliert bringt es folgender Spruch volkstümlich auf den Punkt: „Ich bin kein Klugscheißer, ich weiß es wirklich besser.“

Selbstwert

Das Thema Selbstwert taucht in nahezu jedem Coaching-Anliegen auf. In meiner Praxis beobachte ich häufig, dass es vielen Menschen schwerfällt, Lob und positive Rückmeldungen anzunehmen. Sie sind es eher gewohnt, sich kritisch zu beschreiben (und die Selbstkritik ist in vielen Fällen deutlich schärfer als die Fremdkritik). Frei nach der schwäbischen Faustformel „Nicht geschimpft ist genug gelobt“ fällt es ihnen leicht, ihre positiven Charakterzüge als selbstverständlich hinzunehmen, ihre „Schwächen“ jedoch in Fehler umzudeuten. Dass jede Schwäche auch eine Stärke sein kann, wird ausgeblendet oder wenigstens heruntergespielt. Dabei ist die Fähigkeit, seinen eigenen Wert zu betonen und Lob annehmen zu können, eine Voraussetzung für die stabile Persönlichkeit.

Im Klappentext zu Joachim Bauers Buch „Prinzip Menschlichkeit“ heißt es: „Kern aller Motivation ist es, zwischenmenschliche Zuwendung, Wertschätzung und erst recht Liebe zu finden und zu geben. Was wir im Alltag tun, wird meist dadurch bestimmt, dass wir sozialen Kontakt gewinnen oder erhalten wollen. Bei dauerhaft gestörten Beziehungen oder dem Verlust von Bindungen kann es zu einem Absturz der Motivationssysteme kommen. Dann – und erst dann – setzen Aggressionen ein.“ Damit bringt er auf den Punkt, was sowohl gesunden als auch pathologischen Narzissmus verbindet. Die gesunde Selbstliebe gründet darauf, Zuwendung zu empfangen und zu geben, und zwar auf eine sehr transparente, authentische Weise. Sie trägt wesentlich dazu bei, Beziehungen einzugehen, zu erhalten und in Gemeinschaften zu funktionieren. In der Evolutionsbiologie war das überlebenswichtig, denn nur die ausreichende Balance zwischen Selbst- und Fremdfürsorge garantierte das Überleben. Weder ein zu ausgeprägter Egoismus noch Altruismus wären für ein Volk von Jägern und Sammlern existenzsichernd.

Der pathologische Narzissmus tendiert dazu, Zuwendung
zu erzwingen.

Der pathologische Narzissmus tendiert jedoch dazu, die Zuwendung anderer zu erzwingen. Menschen, die in diesen Teil des Spekt­rums passen, manipulieren und taktieren – spielen undurchschaubare Spiele. Dauerhaft resultieren daraus gestörte Beziehungen oder der Verlust von Bindung. Beim Narzissten zieht das unterschiedliche Formen von Aggression nach sich, wie wir in den Fallbeispielen noch sehen werden.

Selbsttäuschung und Selbstbetrug

Wahrnehmungsfilter, geprägt von Erfahrung, Wünschen und Erwartungen

Eine besondere Form des gesunden Narzissmus ist die Selbsttäuschung. Sie leistet einen wesentlichen Beitrag zu unserer Psychohygiene. Dinge und Menschen wahrzunehmen, „wie sie sind“, ist ein Anspruch, der kaum zu erfüllen ist. Jeder von uns läuft mit seinen eigenen Wahrnehmungsfiltern durch die Welt, die von Erfahrungen, Wünschen, Erwartungen usw. geprägt sind. Insofern gibt es die Objektivität, die Realität nicht, sondern nur Konstruktionen davon.

Damit wir unseren Platz in dieser „Irr-Realität“ finden, müssen wir aus der Fülle von Kontexten, Rückmeldungen und Eindrücken jene auswählen, die uns in unserer Identität stabilisieren. Das hat zwei gute Gründe.

  1. Wir erleben uns als autonom und handlungsfähig, weil wir uns nicht ständig selbst infrage stellen müssen. Hier ist die Selbsttäuschung ressourcenschonend, denn sie bewegt sich auf gut ausgebauten „Trampelpfaden“, die wir neuronal durch regelmäßige Wiederholung angelegt haben. Auf diesen bekannten Wegen bewegen wir uns sicher und ökonomisch.
  2. Gleichzeitig werden wir durch ein stabiles Selbst auch für unsere Umgebung berechenbar.

Lebenslügen verhindern Selbsterfahrung, den Blick über den Tellerrand.

Wenn wir uns jedoch zu sehr in die eigene Tasche lügen, wird die Selbsttäuschung leicht zum Selbstbetrug. Überheblichkeit kann die Folge sein, die bei anderen Antipathie hervorruft. Lebenslügen verhindern Selbsterfahrung, den Blick über den Tellerrand. Wer sich für vollkommen hält, der verliert den Blick für das Mögliche, sein Potenzial; er wird impotent statt omnipotent. Permanentes Schönreden kann die Motivation blockieren, etwas zu verändern. Selbst die beste Medizin wird bei zu hoher Dosierung zum Gift.