Vorwort

Die Entdeckung des Unbewussten hat das abendländische Denken verändert und das geistige Leben des 20. Jahrhunderts in den verschiedenen Bereichen nachhaltig geprägt. Sigmund Freud, der Entdecker des Unbewussten, hat sich dazu bekannt, dass er dem Stolz und dem Selbstverständnis des abendländischen Menschen damit eine tiefe Kränkung zugemutet hat.1Er stellte seine Entdeckung damit in eine Reihe mit denen von Kopernikus, Galileo Galilei und Charles Darwin.

Kopernikus und Galilei hatten im 16. Jahrhundert das geozentrische Weltbild des Ptolemäus erschüttert und gelehrt, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist. Darwin revolutionierte 200 Jahre später die Auffassung von der Entstehung der Menschheit, indem er lehrte, dass der Mensch dem Tierreich entstammt und nicht von Gott geschaffen wurde. Freud schließlich machte die Beobachtung, dass das bewusste Denken von Trieben und anderen unbewussten Einflüssen bestimmt wird und Vernunft und freier Wille nur einen kleinen Teil des Seelenlebens ausmachen.

Die Kräfte, die neben Wille und Vernunft im Seelenleben wirksam sind, kann der Mensch nicht völlig kontrollieren und oft nur indirekt an ihren Wirkungen erfahren. Freud ordnete sie dem Bereich der Psyche zu, den er „das Unbewusste“ nannte.

Zwar war er nicht der erste, der über das Unbewusste nachgedacht hat. Ihm kommt aber das Verdienst zu, als erster eine Psychologie des Unbewussten als Erfahrungswissenschaft entwickelt zu haben, d. h. als eine Zugangsweise zu vielfältigen Phänomenen der conditio humana, die mit der Methode der Psychoanalyse systematisch erfahrbar werden.

Wie kam Freud zu seinen Ideen und wie entwickelten sie sich weiter? Das ist das Thema dieses Buches. Es beruht auf meiner Vorlesung „Bewegungen in der Psychoanalyse“, mit der ich Freud aus Anlass seines 150. Geburtstags bei den Lindauer Psychotherapiewochen 2006 gewürdigt habe. Die Hörer haben mich zur Überarbeitung und Veröffentlichung ermutigt.

Das Buch beschreibt zunächst Freuds Weg zur Psychoanalyse und dessen geistigen und biographischen Hintergrund. Darauf aufbauend stellt es seine wichtigsten Entdeckungen und Konzepte dar und stellt sie in den Zusammenhang der wissenschaftlichen und zeitgeschichtlichen Entwicklung der Psychoanalyse zwischen 1880 und Freuds Tod im Jahre 1939. Es mündet in einen Ausblick auf die bleibenden Erträge, welche die Psychoanalyse noch heute zum bedeutendsten Zugangsweg zum Verständnis der Tiefendimension des menschlichen Erlebens machen.

Ich danke Herrn Dr. Poensgen vom Kohlhammer-Verlag, der die Entstehung des Manuskriptes wieder mit Interesse begleitet hat, und besonders meinem Freund Wolf Kohl, der den Text mit viel Einfühlung durchgesehen und mir bei der Schlussredaktion geholfen hat.

München, im Februar 2008

Michael Ermann

1 Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse (1917)

1. Vorlesung
Freuds Weg zum Unbewussten

Das Reale wird immer „unerkennbar“ bleiben 2

Biographischer Hintergrund

Als Sigmund Freud am 6. Mai 1856 in Freiberg in Mähren zur Welt kam, hatte die beginnende Industrialisierung auch den entlegenen Osten der damaligen österreichischen Monarchie erreicht und begann, die dortigen Lebensverhältnisse zu verändern. So sah Freuds Vater, der Textilien bearbeitete und sie nach Galizien exportierte, auf Dauer keine sichere Zukunft mehr für sein Geschäft in dieser Region und übersiedelte über Leipzig nach Wien, als Sigmund drei Jahre alt war. Hier verbrachte Freud den allergrößten Teil seines Lebens. Erst kurz vor seinem Tode verließ er das von den Nazis besetzte Österreich und ging ins Exil nach London, wo er 1939 starb.

In Wien ging er zur Schule. Hier studierte er an der Universität und erhielt seine wissenschaftliche Ausbildung als Neuropathologe. Hier gründete er seine Familie, wirkte er als Arzt und Psychotherapeut und machte er seine Entdeckungen. So wurde Wien zum Geburtsort der Psychoanalyse, die das Antlitz des 20. Jahrhunderts entscheidend mit geprägt hat.

Freud war das erste Kind aus der dritten Ehe seines Vaters, der ersten seiner Mutter. Zu seinem Vater Jacob (1815–1896) bestand ein zwiespältiges Verhältnis. Im Zusammenhang mit seiner Selbstanalyse erkannte er später in diesem Zwiespalt die Spuren eines ungelösten Ödipuskomplexes. Zu seiner Mutter Amalie Nathanson (1835–1930) bewahrte er lebenslang eine enge Bindung. Die Eltern hatten ein Jahr vor seiner Geburt geheiratet. Sein Vater war bei seiner Geburt 41 Jahre alt, seine Mutter 21. Aus dieser Ehe stammten insgesamt acht Kinder, fünf Mädchen und drei Jungen, von denen einer früh starb.

Die Familie entstammte dem jüdisch-bürgerlichen Milieu und vermittelte ihm mit den jüdischen Traditionen ein Gefühl tiefer Zugehörigkeit zur jüdischen Kultur, das er sein Leben lang bewahrte. „Obwohl der Religion meiner Vorväter längst entfremdet“, schrieb er später3, „habe ich das Gefühl der Zusammengehörigkeit nie aufgegeben.“ Vertraut mit den religiösen Riten, blieb er religiös allerdings distanziert gegenüber einem Gottesglauben und entwickelte sich zu einem strengen Atheisten und scharfen Religionskritiker. In einem Brief an seinen Freund, den Schweizer Pfarrer Oskar Pfister, nannte er sich später selbst einen „gottlosen Juden“.4

Tab. 1: Von der Geburt zur Familiengründung

6. Mai 1856

Geburt in Freiberg (Příbor) in Mähren

1859

Zur Sicherung der wirtschaftlichen Existenz – der Vater ist ein jüdischer Wollhändler – übersiedelt die Familie über Leipzig nach Wien, wo Freud bis 1938 lebt

1865–1873

Realgymnasium in Wien

1873

Beginn des Medizinstudiums in Wien

1876–1882

Physiologie-Assistent bei E. W. von Brücke an der Universität Wien

1882

Verlobung mit Martha Bernays

1882–1885

Arbeit als Arzt im Allgemeinen Krankenhaus in Wien. Veröffentlichungen über Neurologie

1885

Dozent für Neuropathologie an der Wiener Universität. Stipendiat in der Neurologie bei Jean-Martin Charcot in Paris. Hinwendung zur Psychopathologie

1886

Eröffnung einer neuropsychiatrischen Praxis und zugleich Leitung einer kinderneurologischen Station

1886

Heirat

1887–1895

Geburt seiner sechs Kinder: 1887 Mathilde, 1889 Jean Martin, 1891 Oliver, 1892 Ernst, 1893 Sophie und 1895 Anna

Sein Unterricht lag zunächst in den Händen der Eltern, bis er in eine Privatschule und schließlich auf das Leopoldstädter Gymnasium in Wien kam, wo er mit siebzehn mit Auszeichnung den Abschluss machte. Er studierte Medizin an der Wiener Universität, erhielt Stipendien und betätigte sich in der Zoologie. Später war er Assistent in der Physiologie und publizierte erste Forschungsarbeiten. Zweifellos beabsichtigte er, eine wissenschaftliche Laufbahn im Bereich der Neurophysiologie einzuschlagen.

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Abb. 1–3: Freud mit seinem Vater (1864), mit seiner Mutter (1872) und mit seiner Verlobten Martha Bernays (1882), die er 1886 heiratete.

Nach einem Studienaufenthalt in Paris bei dem berühmtesten Neurologen der damaligen Zeit, Jean-Martin Charcot, wandte er sich allerdings überraschend der Psychopathologie zu. Dabei distanzierte er sich durch kritische Äußerungen von den vorherrschenden Lehrmeinungen in der Wiener Neurologie und besiegelte damit das Ende seiner Universitätslaufbahn. 1886 eröffnete er eine neuropsychiatrische Privatpraxis, in der er vorwiegend psychotherapeutisch arbeitete.

Die Entscheidung, die Universität zu verlassen und in die Praxis zu gehen, stand auch im Zusammenhang damit, dass er sich 1882 mit der Hamburger Kaufmannstochter Martha Bernays (1861–1951) verlobt hatte und die Gründung einer Familie plante. 1886 heirateten sie. Sie blieben bis ans Lebensende verbunden und hatten sechs Kinder – Mathilde, Jean Martin, Oliver, Ernst, Sophie und Anna –, die zwischen 1887 und 1895 geboren wurden. Die Ehe wird als glücklich und harmonisch geschildert, die Atmosphäre im Hause als herzlich. Der einzige Schatten scheint durch eine nach der Zeugung der sechs Kinder unbefriedigende Sexualität auf das Paar gefallen zu sein.

Von der Neurophysiologie zur Psychopathologie

Die Entwicklung von Freuds Konzept des Unbewussten fand in einem widersprüchlichen gesellschaftlich-geistigen Klima statt. Es war einerseits stark traditionsorientiert und durch die konservative Wertewelt der österreichischen Monarchie geprägt. Andererseits gab es eine Fülle von z. T. revolutionären Strömungen in allen Bereichen des Geisteslebens und der Kultur. Die Schriften von Charles Darwin, Friedrich Nietzsche und Karl Marx eröffneten neue weltanschauliche und soziale Horizonte. Die Industrialisierung und der Ausbau der Verkehrswege, Mechanisierung und Elektrifizierung bestimmten zunehmend das Alltagsleben. Im kulturellen Bereich entstanden mit dem aufkommenden Expressionismus, dem Naturalismus und dem Jugendstil neue Perspektiven. Die Medizin feierte mit der Erfindung von Heilseren und der Entdeckung der Röntgenstrahlen revolutionäre Erfolge.

Freud, der mit seinen eigenen Ideen maßgebliche Veränderungen im Denken anstieß, nahm an den neuen Strömungen im Geistesleben wenig teil. Seine Interessen richteten sich mehr auf die Antike und die Renaissance, sein Lebensstil war bürgerlich, und politisch scheint er keine besonderen Interessen gehabt zu haben.

Bezugspunkte im Denken

Das 19. Jahrhundert stand im Zeichen der Auseinandersetzung mit Kant. Es bestand eine untergründige Tendenz, ihn zu verbessern oder zu widerlegen. Das geistige Klima dieser Zeit war durch gegensätzliche Strömungen geprägt. Sie zeigten Spuren der Aufklärung und der Romantik (s. Tab. 2). Auf der einen Seite verwiesen Naturalismus, Positivismus und Psychologismus auf die Aufklärung, rationales Denken und ein sachliches Menschenbild. Auf der anderen Seite gab es mit dem Idealismus eine starke Strömung, die in der Tradition der Romantik stand und die irrationale, dunkle Seite des Lebens betonte. Zunehmend gewannen dabei rationale und positivistische Anschauungen die Oberhand. Sie bestimmten auch Freuds anfängliche wissenschaftliche Entwicklung.

Tab. 2: Philosophische Strömungen im 19. Jahrhundert

Das 19. Jahrhundert stand im Zeichen der Auseinandersetzung mit Kant mit der untergründigen Tendenz, ihn zu verbessern oder zu widerlegen.

Zu seinen Bezugspunkten gehörte die Evolutionslehre von der Entstehung der Arten. Mit dieser Lehre hatte der englische Naturforscher Charles R. Darwin (1809–1882) den vorrationalen Schöpfungsmythos überholt, indem er postulierte, dass die höheren Tierarten sich durch Auslese in einem fortwährenden Existenzkampf aus niederen Arten entwickelt hätten. Damit verwarf er die traditionelle christliche Vorstellung vom Menschen als unmittelbare Schöpfung Gottes.

Ein weiterer Bezugspunkt war für Freud das Denken von Hermann von Helmholtz (1881–1894), der in Berlin lehrte. Er galt als universeller Forscher, der Mathematik und Physik ebenso beherrschte wie Physiologie und Psychologie. Zu seinen Kerngedanken gehört die Idee, dass alle Prozesse im Organismus auf physikalisch-chemische Kräfte zurückzuführen seien.

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Abb. 4–5: Ernst Wilhelm von Brücke (links) und Jean-Martin Charcot waren Freuds wegweisende Lehrer

Dieser Positivismus beherrschte auch die Arbeit von Ernst Wilhelm von Brücke (1819–1892), der als Leiter des physiologischen Instituts in Wien von 1876 bis 1882 Freuds bewunderter und verehrter Lehrer und Vorgesetzter wurde. In seinem Umfeld vollzog Freud seine ersten Schritte in der Wissenschaft auf dem Gebiet der Neurophysiologie und Neuropathologie. Mit 20 Jahren erhielt er bei ihm eine Assistentenstelle, mit 21 publizierte er seine erste Arbeit über Als Hoden beschriebene Lappenorgane des Aals (1885). Mit 29 Jahren wurde er Dozent für Neuropathologie an der Wiener Universität.

Ernst Wilhelm von Brücke (1819–1892)

Geboren in Berlin, gestorben in Wien. Sohn des Historienmalers Johann Gottfried Brücke (1796–1873). Nach dem Medizinstudium in Berlin und Heidelberg wurde er Assistent bei Johannes Müller in Berlin. 1845 Gründung der „Physikalischen Gesellschaft“ zusammen mit Emil Du Bois-Reymond u. a. 1849 wurde er in Königsberg Professor für Physiologie, danach Ordinarius in Wien, wo er bis 1890 lehrte und 1892 hoch geehrt (Adel, Orden „Pour le mérite“) starb.

Bei Brücke lernte Freud, alle Lebensvorgänge als energetische Prozesse zu betrachten und sie auf messbare und quantifizierbare Größen zurückzuführen. Auch als er sich später nicht mehr mit Physiologie beschäftigte, blieb diese Orientierung in seinen Theorien spürbar: Freud beobachtete psychologische Phänomene, aber er entwarf dafür energetische Konzepte und verwandte Begriffe wie „Besetzung mit“ oder „Verschiebung von Energien“, in denen der Einfluss der Lehrjahre bei Brücke unverkennbar blieb.

Schritte ins Neuland

Seine Entwicklung von der Physiologie hin zur Psychologie begann 1885 mit einem Studienaufenthalt bei Jean-Martin Charcot (1825–1893), dem größten Neurologen seiner Zeit, im Armenkrankenhaus Salpêtrière in Paris. Durch Reproduktion und Aufhebung hysterischer Symptome im Zustand der Hypnose hatte Charcot den funktionellen („dynamischen“) Charakter der Hysterie bewiesen. Damit hatte er als erster die Unterscheidung zwischen epileptischen und hysterischen Krämpfen auf eine rationale Basis gestellt. Diese Entdeckung hatte auf Freud eine starke Wirkung. Die Tatsache, dass die Hypnotisierten Auskünfte über ihr Erleben geben konnten, erweckte in ihm das Interesse, die seelischen Hintergründe der hysterischen Phänomene näher zu erforschen.

Tab. 3: Der Weg zum Konzept des Unbewussten

1885

Freud als Stipendiat bei Jean-Martin Charcot in Paris

seit 1887

Fast ausschließlich Arbeit mit hysterischen Patientinnen. Freundschaft und Zusammenarbeit mit Josef Breuer

1895

& Studien über Hysterie, gemeinsam mit Josef Breuer: Sexualätiologie der Neurosen

ab 1895

Entfremdung von Breuer, Freundschaft mit Wilhelm Fließ in den Jahren 1887–1902 & Aus den Anfängen der Psychoanalyse: Briefe an Wilhelm Fließ (veröffentlicht 1950). Darin enthalten: 1895 & Entwurf einer Psychologie (1950), ein Versuch, eine Brücke zwischen psychologischen Erkenntnissen bei der Behandlung von Neurosen und physikalischphysiologischen Energie-Modellen zu schlagen

1895

„Der Traum von Irmas Injektion“, ein Schlüsseltraum der Traumdeutung

1896

& Ätiologie der Hysterie: Verführungstheorie der Neurosenentstehung

1896

Tod des Vaters. Beginn der Selbstanalyse, die zur Entdeckung des „Ödipuskomplexes“ führt

1897

Relativierung der Verführungstheorie der Neurosenentstehung

1900

& Traumdeutung als das zentrale Manifest der Psychoanalyse: erste systematische Theorie des Unbewussten

Hysterie, Abwehr und Sexualität

Über eine Freundschaft und die Zusammenarbeit mit Josef Breuer, einem erfahrenen Wiener Praktiker der Hypnotherapie, intensivierte sich Freuds Interesse an der Hysterie und der Hypnose.

Da er aber offenbar kein erfolgreicher Hypnotiseur war, verwandte er zunehmend die Methode der Katharsis. Sie besteht darin, unterdrückte Gefühle aufsteigen zu lassen und abzureagieren. Später ging er dazu über, sich auch die begleitenden Erinnerungen erzählen zu lassen, die dabei aufstiegen. So gelangte er Schritt für Schritt zu einer Methode, die als „freie Assoziation“5ein Merkmal der psychoanalytischen Behandlungstechnik wurde.

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Abb. 6: Zusammen mit Josef Breuer enthüllte Freud die Psychodynamik der Hysterie.

Josef Breuer (1842–1925)

Geboren in Wien, habilitierte sich nach dem Medizinstudium im Bereich der Physiologie. Er erforschte u. a. die Strömung der Endolymphe im Innenohr (Mach-Breuersche Strömungstheorie). Später betrieb er eine Privatpraxis in Wien, in der er u. a. mit Hypnose experimentierte. Zu seinen Patienten gehörten Prominente der Wiener Gesellschaft.

1880/81 behandelte er Berta Pappenheim („Anna O.“). Die Behandlung ging weit über die Hypnose mit Abreaktion von unterdrückten Gefühlen (Katharsis) hinaus. Sie stärkte insbesondere die Selbstbehauptung und Affektwahrnehmung der jungen Patientin, die sich gegen den Druck der Familie und der Gesellschaft emanzipierte. Sie wurde später eine bedeutende Menschenrechtlerin und kämpfte engagiert gegen Prostitution und Menschenhandel.

Zusammen mit Freud publizierte er:

& 1893

Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene

& 1895

Studien über Hysterie

Die Erfahrungen, die er dabei sammelte, und die Diskussionen mit Breuer ließen nach und nach die psychodynamischen Wurzeln der Hysterie deutlicher werden. Freud bezog auch die Zwangsneurose und die Phobie in diese Betrachtungen mit ein. 1894 schrieb er in Die Abwehr-Neuropsychosen, dass Neurosen auf einer unbewussten Abwehr von Vorstellungen und Affekten beruhen (vgl. 3. Vorlesung). Er erwog darin auch die Möglichkeit, dass die Abwehr dazu führen kann, dass Vorstellungen und Affekte aus dem seelischen Erfahrungsbereich ins Körperliche gewendet werden. Diesen Mechanismus, der zur Bildung von Körpersymptomen wie z. B. Krämpfen oder Sehstörungen führen kann, nannte er Konversion (d. h. Verkehrung).

Das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit mit Breuer war die Publikation der Studien über Hysterie (1895). Freud trug dazu mehrere Fallvignetten sowie den größeren Teil der theoretischen Ausführungen bei, Breuer die Darstellung der Behandlung seiner Patientin „Anna O“.6Sie hatte wegen verschiedener hysterischer Symptome bei Breuer eine Behandlung begonnen, mit der es auch gelang, ihren Zustand zu verbessern. Dabei benutzte Breuer die Hypnose, mit der er Anna dazu verhalf, die Anlässe ihrer Symptome zu erinnern und die damals unterdrückten Gefühle abzureagieren.7Das überzeugte Breuer vom Wert der Katharsis als Behandlungsmethode.

„Wir fanden [...], dass die einzelnen hysterischen Symptome sogleich und ohne Wiederkehr verschwanden, wenn es gelungen war, die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken, damit auch den begleitenden Affekt wachzurufen, und wenn dann der Kranke den Vorgang in möglichst ausführlicher Weise schilderte und dem Affekt Worte gab.“8

Allerdings nahm die Behandlung ein unglückliches Ende: Anna entwickelte eine Scheinschwangerschaft. Breuer, der sich dieser Komplikation nicht gewachsen fühlte, brach die Behandlung ab. Trotzdem wurde sie zum Schlüssel für das Verständnis der Bedeutung verdrängter Erinnerungen und Affekte, die den Hintergrund der Hysterie bilden. Freud war es, der nun zu dem Schluss gelangte, dass diese vor allem sexueller Natur sein müssten. Er führte die Hysterie schließlich auf unterdrückte Erinnerungen an sexuelle Übergriffe zurück, auf „Verführungen“, wie er es nannte, in der Kindheit oder frühesten Jugend.9Später schrieb er in seiner Selbstdarstellung: Es stellte sich heraus, „dass nicht beliebige Affekte hinter den Erscheinungen der Neurose wirksam waren, sondern regelmäßig solche sexueller Natur, entweder aktuelle sexuelle Konflikte oder Nachwirkungen früherer sexueller Erlebnisse“10.

Vorläufer dieser Auffassung finden sich im 19. Jahrhundert an verschiedenen Stellen11. So war die Idee, dass die Hysterie mit dem Geschlechtstrieb zusammenhänge, damals unter Ärzten Gang und Gäbe. Erst durch ein Lehrbuch des Pariser Hysterie-Spezialisten Paul Briquet (1796–1881) aus dem Jahre 1859 war darüber ein Dissens entstanden. Freud am nächsten war die Auffassung des Wiener Neurologen Moritz Benedikt (1835–1920). Er hatte 1864 in der „Praktischen Seelenheilkunde“ geäußert, dass die Hysterie auf Libido-Störungen beruhe, die er auf eine falsche Behandlung in der Kindheit zurückführte.

Die Bezeichnung „Hysterie“ ist übrigens heute aus der offiziellen Nomenklatur verschwunden. Sie stammte von Hippokrates, der die Gebärmutter (griech. hystera) als den Entstehungsort vielfältiger Krankheitserscheinungen ansah, die man noch im 19. Jahrhundert als Krankheitseinheit betrachtete. Darunter fielen Gedächtnis- und Bewusstseinsstörungen und verschiedene körperliche Symptome, z. B. Schwindel, Übelkeit, Schmerzen oder Sensibilitätsstörungen bei einer exaltierten, zu Dramatik und Selbstdarstellung neigenden Persönlichkeit.

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Abb. 7: Das Konzept der Hysterie im Wandel

Heute ordnet man die hysterischen Phänomene verschiedenen Krankheitsgruppen zu: