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Für meine liebste siebzehnjährige High-School-Schülerin

Weißt du, wenn du angefangen hättest, den Parthenon zu bauen, als du geboren wurdest, dass du im nächsten Jahr damit fertig wärst?

Natürlich hättest du das nicht ganz allein hingekriegt, also vergiss es, alles in Ordnung.

Du wirst geliebt, so wie du bist.

Aber wusstest du, in deinem Alter bekam Judy Garland schon 150.000 Dollar pro Film, Johanna von Orleans führte die französische Armee zum Sieg und Blaise Pascal hatte immerhin sein Zimmer aufgeräumt – nein, warte, ich meine, er hatte den Taschenrechner erfunden?

Natürlich hast du später im Leben für so was auch noch Zeit, wenn du aus deinem Zimmer rauskommst und aufblühst, oder wenigstens mal deine Socken wegräumst.

Aus irgendeinem Grund fällt mir jetzt ein, dass Lady Jane Grey schon mit fünfzehn Königin von England war.

Aber dann wurde sie geköpft, insofern ist sie auch nicht so ein tolles Vorbild.

Ein paar Jahrhunderte später, als er in deinem Alter war, wusch Franz Schubert nach dem Essen das Geschirr der Familie ab, was ihn jedoch nicht daran hinderte, schon in seiner Jugend zwei Symphonien, vier Opern und zwei vollständige Messen zu komponieren.

Aber gut, das war in Österreich auf der Höhe der Romantik, nicht hier in einem Vorort Clevelands.

Und wen kümmert es schon, ob Annie Oakley mit fünfzehn bereits eine Meisterschützin war oder ob Maria Callas mit siebzehn erstmals die Tosca sang?

Wir finden dich toll, so wie du bist – wenn du mit dem Essen spielst und ins Nichts starrst.

Und übrigens, das mit Schubert und dem Abwasch war gelogen, was aber nicht heißen soll, dass du nicht mal ein bisschen mithelfen könntest.

BILLY COLLINS

Herzlich willkommen in der Pubertät

Es ist Mode geworden im Bildungsbürgertum, Teenager auf Armeslänge distanziert zu belächeln, als wären sie die Dorfidioten: Gut, es sind die Hormone, sie können vielleicht nichts dafür, aber guck mal, was der für komische Grimassen schneidet!

Der Trend in Erziehungs- und Pubertätsratgebern geht seit längerem dahin, die eigenen Kinder als Tyrannen zu sehen, die vor allem Grenzen brauchen, dazu haufenweise Nein aus Liebe, und vor allem natürlich gute deutsche Disziplin. Das behaupten jedenfalls einige der erfolgreichsten Buchtitel der letzten Jahre.

Die Autoren favorisieren a) mehr oder weniger hartes Durchgreifen (denn die Kinder rebellieren in Wahrheit ja nur, um mal so richtig Grenzen gezogen zu bekommen) oder b) eine deutlich geschicktere Manipulation als bisher (denn das Rebellieren der Kinder stört den Alltag doch erheblich) oder c) entnervtes Ducken und Durchhalten (denn alles geht irgendwann von allein vorbei).

Ihnen gemeinsam ist ein klagender Unterton. Es ist selbstgerechtes Stammtisch-Gejammer, das nur deshalb in Buchform ausgeliefert werden muss, weil die gestressten Eltern vor lauter Besorgt- und Genervtheit keine Zeit zum Kneipenbesuch mit Freunden mehr haben. Oder es sind gar keine Freunde mehr da, weil die missratene Brut so viel Kraft zehrt.

Neu hinzugekommen sind seit kurzem klar diffamierende Bezeichnungen: Die Kinder sind mittlerweile Pubertäter oder gar Pubertiere, so die Titel zweier aktueller Klageschriften. Sagen wir mal so: Wie man in den Wald rein ruft, so schallt es heraus. Wen man als »Täter« oder »Tier« abstempelt, der hat nicht mehr viel zu verlieren – und wenig Möglichkeiten, noch die Liebe und Anerkennung der Eltern zu erlangen.

Über das eigene Kind in Kolumnen und Büchern zu spotten, ist aus meiner Sicht respektlos und im Hinblick auf die angeblich erhoffte Verbesserung des Familienlebens kontraproduktiv. Wobei man den Autoren ja immerhin zugute halten muss, dass sie nicht heimlich lästern. Breitbeinig stehen sie im Leben und erfreuen sich ihrer Sicht der Dinge.

Erinnert sich noch jemand an Loriot, Ephraim Kishon, Otto oder sogar Erma Bombeck? Die waren auch lustig – aber nicht verletzend. Die neue Generation Pubertätsautoren sind aus meiner Sicht die Mario Barths und Atze Schröders der Buchwelt: In-die-Fresse-»Humor« auf Kosten der Schwächeren.

Bitte denken Sie einmal zurück. Nie waren wir verwundbarer als in der Pubertät.

Jetzt sehen Sie sich um. Pubertät ist nicht einfacher geworden.

Deshalb bin ich für Rücksicht und möglichst viel Verständnis, statt für altersweise Abschätzigkeit.

Auch wenn es schwer ist, umzuschalten. Modernes Elternsein kann nicht darin bestehen, die Kinder bis zum zwölften Geburtstag so intensiv zu bemuttern und bevatern wie möglich, nur um sie angeekelt fallen zu lassen, sobald sie Widerstand zeigen. Das ist zu kurz gesprungen.

Ja, höhnischer Trotz verschafft genervten Eltern kurzfristige Erleichterung. Aber er macht nichts besser. Nicht im Job, nicht in der Liebe, nicht bei Teenagern.

Es lohnt, die eigenen – oft übernommenen – Werte und Vorgehensweisen zu überprüfen. Zu versuchen, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen. Und sich manchmal sogar entspannter zu geben, als man ist. Denn gut gechillt ist halb gewonnen.

Dabei hat in den meisten Fällen doch alles so gut angefangen. Über die ganz kleinen Kinder freuen sich noch alle: Hei-dei-dei und duzi-duzi. Außer wenn sie schreien natürlich, dann reicht man sie flugs an die Mama zurück. Doch selbst wenn das Baby der besten Freundin krötenhaft hässlich ist, säuseln alle: »Wie süß, ganz der Papa!«

Nach ein paar Wochen, Monaten oder Jahren – spätestens im Kindergartenalter – geht es schon handfester zur Sache. Nach einem ganzen Tag Trotzphase, »Räum dein Zimmer auf« und »Hände waschen nicht vergessen« greifen viele Eltern auch heute noch verzweifelt zu Hardcore-Ratgebern der Marke Jedes Kind kann schlafen lernen. Der Lack ist ab: Das Kind hat nicht zu schlafen, wenn es müde ist, sondern wenn im Aufgabenplan »Zubettgehen« steht, verdammt noch mal. Es ist zu seinem besten – und außerdem ist im Kalender der Eltern für heute Abend »Beziehungspflege« eingetragen (auch so ein toller, realitätsferner Tipp).

Zudem ist Gehorsam eine Tugend, die spätestens in Beruf, Schule und den meisten Kindergärten benötigt wird. Was soll sonst aus dem Kind werden, wenn es jetzt schon nicht hört und einfach aufbleibt, obwohl Schlafenszeit ist?

Mir erscheint der Vorschlag, das Kind bis zum Erreichen des Lernziels allein vor sich hin schreien zu lassen – wenn auch unter engmaschiger Kontrolle –, mittlerweile reichlich unbegreiflich. Das liegt vor allem daran, dass ich selbst noch meinem ersten Kind derart »beigebracht« habe, zu schlafen.

Bei den nächsten Kindern sah ich’s lockerer und habe deutlich weniger Zeit mit dem kaum erträglichen Aushalten von Geschrei vertan. Ein paar Mal waren die Kids sogar – noch in der Kindergartenzeit, aber auch in den Grundschuljahren – länger auf als ich. Fand ich nicht gut, aber alle haben überlebt.

Mit der Einschulung beginnt der »Ernst des Lebens«, und so richtig glücklich ist mit dem aktuellen Stand des Bildungssystems kaum jemand mehr. Entsprechend wutentbrannt wird inzwischen über Lehrpläne und Schulalltag gestritten. Zufrieden sind mittlerweile weder die traditionellen Befürworter des Frontalunterrichts, noch die aufwieglerischen Freunde des individuellen Lernens. Zugleich erreicht in dieser Phase die erzieherische Frustration oft einen ersten Höhepunkt. Ein Kindergartenkind konnte man noch recht leicht austricksen oder einigermaßen liebevoll lenken – der Elternwille war verlässlich durchsetzbar. Es ging um die Form: schreit man, drängelt man, lobt man, regt man an, und was wirkt beim eigenen Kind wann am besten?

Jetzt aber soll das Kind endgültig ordnungsgemäß funktionieren. Und zugleich voll individuell bleiben. Also: Lese-Rechtschreib-Schwäche – bäh. Hausschuhe verweigern – Ausdruck der Persönlichkeit. Ich fürchte allerdings, über messbare Leistungsdefizite in Mathe oder Deutsch hat ein Mensch viel weniger Kontrolle als über Handlungsmanierismen. Wir wollen das Beste für unsere Kinder (und, insgeheim, wenn wir ganz ehrlich sind, oft auch für uns). Aber ich denke, manchmal fördern und »behandeln« wir die jeweils falschen Bereiche.

Über die Jahre jedoch groovt man sich ein. Das Kind lernt zum Beispiel: Schlechter Test trägt mir ellenlanges Betroffenheitsgenöle der Eltern ein, weil ich es doch mal besser haben soll. Keine Hausschuhe bringt bloß dreckige, kalte Füße und interessiert sonst keine Sau.

Je nach Engagement der Eltern fallen in diese Zeit endlose Hausaufgabennachmittage, Nachhilfe, kognitive Messungen, Testung von Augen, Ohren und Hirn, Physiotherapie zur Anregung der Bildung neuer Nervenbahnen, eben das volle Grundschulprogramm. Das ist mehr oder weniger anstrengend, in den allermeisten Fällen jedoch immer noch auszuhalten. Die Eltern sorgen sich, den Kindern ist das ziemlich egal, und jeder tut halt, was er oder sie kann.

Dann aber, mit dem Eintritt in die weiterführende Schule oder ein paar Jahre später, beginnt die abenteuerlichste Zeit, die wir mit unseren Kindern erleben. Die Pubertät, die Teenagerjahre. In keiner Phase gehen die Ratschläge der Erziehungsexperten so weit auseinander. Denn in keiner Phase sind die Reaktionen von Kindern auf Erziehung so unterschiedlich (von Kind zu Kind, aber auch von Tag zu Tag) und damit unberechenbar.

Es ist ein bisschen wie die aktuelle Jobsituation, entweder man hat Arbeit (»Was für ein Stress!«) oder man sucht Arbeit (»Was für ein Stress!«), oder man muss sich arrangieren damit, vorzeitig ausgemustert worden zu sein (»Was für ein Stress!«). Alles richtig, aber zugleich auch ein Zeichen der Zeit; Stress zu haben gehört einfach dazu, wird erwartet und vorausgesetzt. Und so schlägt man also anlässlich pubertierender Teenager die Hände über dem Kopf zusammen und bestätigt sich gegenseitig mit Sätzen wie »Das können doch nicht meine sein«, »Die sind alle so«, »Will einer den adoptieren?«, und im Grunde somit irgendwie: Früher war alles besser.

Gemeint ist: früher, als wir noch Teenager waren. Eine völlig absurde Behauptung, dass wir unseren Eltern »besser« gehorcht hätten, dass diese mit uns »besser« klarkamen. Wenn überhaupt, haben sie sich weniger um uns gekümmert, wussten weniger über uns und unseren Alltag, regierten mehr Marke »Wird schon werden«.

Das kollektive Stöhnen hilft durchaus gegen akuten Frust, aber mir fehlt etwas: Verständnis. Nicht im Sinne von »Du, ich versteh dich, voll krass, LOL und so.« Sondern im Sinne von: verstehen wollen. Wie geht es meinem Kind gerade?

Denn das ist doch auch bei uns Erwachsenen zumeist der Grund für Schreien (oder Schweigen): Wir wollen gehört werden!

Ich bin der Meinung, gerade wenn man sich nicht ganz von alleine gut versteht, sollte man nicht abtauchen, zumachen, wegsehen, aushalten. Sondern sich extra viel Mühe geben. Wer sich von seinem Kind stundenlang vollschreien lässt, damit es schlafen lernt, wer mit ihm ewig im Wartezimmer sitzt, um Hirnströme checken zu lassen – der sollte jetzt auf den letzten Metern gemeinsamer Strecke noch mal alle Kraft zusammen nehmen und sich besinnen auf die große Liebe, die man vor gar nicht so vielen Jahren für dieses neue Wesen empfand.

Was nicht heißt, dass es einfach ist. Oder mir andauernd gelingen würde, bestimmt nicht. Aber einander mit Interesse und Offenheit zu begegnen, halte ich für wichtig, richtig und vor allem – spannend!

Ich glaube zudem, dass wir es in Deutschland mit einem weltweit fast einzigartigen Erziehungsstil zu tun haben – dem Austreibenwollen von Fehlern, dem »Beschämen«. Schulexperten mahnen schon lange an, dass der deutsche Unterricht sich im internationalen Vergleich dadurch abhebt, dass der Lehrer seine Schüler »an der kurzen Leine« durch die Wissensströme navigiert, dass Fragen und Fehlermachen unerwünscht sind, dass der Umgangston distanzlos, respektlos und eben »beschämend« sei. Und zwar natürlich nur in einer Richtung. Als würde man die Schnauze eines Hundes in seine Pipipfütze drücken. Daraus lernt er zwar nichts, das ist bekannt und nachgewiesen, aber wir bleiben trotzdem dabei. Wir suchen – nicht nur bei unseren Kindern, auch bei unseren Partnern, unseren Arbeitgebern, unseren Kollegen und wohl auch bei uns selbst – nicht nach Stärken, sondern nach Schwächen. Und die bemängeln wir dann.

Eines unserer Kinder hatte einen Lehrer, den ich insgesamt sehr schätzte. Aber bei Klassenarbeiten bekam man sozusagen vorab die volle Punktzahl, dann wurden in Rot Abzüge für Fehler oder fehlende Infos vorgenommen. Die Endnote war natürlich identisch, ob man zwei von vier Punkten bekommt, oder ob einem von vier Punkten zwei abgezogen werden, ist sachlich gleich. Emotional aber nicht. In der rechten Spalte standen keine Plus-, sondern ausschließlich Minuspunkte. Sein Signal war: Ich will nicht wissen, was du kannst, sondern nur, was du nicht kannst.

Wen motiviert das?

Unsere Sicht auf die Kinder scheint geprägt von einem Ideal; das wichtigste Merkmal der Wirklichkeit besteht in den Abweichungen von dieser Idealvorstellung, den Fehlern. Und die werden dann beklagt, oft in unbewusst strenger, schneidender, harscher Art. Als wäre unser Kind ein Montagsauto, bei dem wir möglichst viele Probleme noch vor Ablauf der Garantie zur Reparatur anmelden müssen. Ja, wir wollen nur ihr Bestes, das mag stimmen, aber kriegt man das so?

Wenn uns einer als falsch, unfähig oder faul bezeichnet, mühen wir uns dann für ihn ab, entfacht das den Ehrgeiz? Nein. Fachleute wissen längst: Ein Vertrauensvorschuss ist die beste Möglichkeit der Motivation. Im Job, in der Schule, in der Beziehung, im Leben.

Wie geht es Ihnen? Halten Sie »Führen durch Angst« oder »Führen durch Liebe« für effektiver? Ganz egal, welchen Stil Sie persönlich im Job bevorzugen – zu Hause hat sich »Führen durch Angst« nicht bewährt. Geben Sie Ihrem Teenager nicht das Gefühl, er wäre defekt, störend, müsste sich mehr Mühe geben, Sie haben es doch schon tausend Mal gesagt! Neueste psychologische Erkenntnisse besagen, dass Teenager sich um so verträglicher verhalten, je intensiver ihr Gefühl ist, gemocht und geliebt zu werden.