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Originalausgabe

1. Auflage 2015

© 2015 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

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Redaktion: Matthias Teiting

Umschlaggestaltung: Melanie Melzer

Layout: Kristin Hoffmann

Satz: FotoSatz Pfeifer GmbH

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN Print 978-3-86883-464-2

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86413-615-3

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86413-616-0

 

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Inhalt

Vorwort

Bevor die Reise losgeht ...

Malta

Seekrank im wasserärmsten Land der Welt

Zypern

Willkommen im »Berlin« Europas

Spanien

Heiße Sohlen unter der Sonne

Irland

Elfen, Bier, Tanz und Gesang

Luxemburg

Durchfahrtsland mit vielen Sprachen

Schweiz

Der gute Klang von Berg und Tal

Liechtenstein

Ein Land so groß wie eine Kleinstadt

Slowenien

Mein Kampf gegen den Winter

Griechenland

Wühlen im Dreck der Geschichte

Bulgarien

Vom Glück, dass plötzlich alles anders ist

Österreich

»Schaunma mal« und »Passt scho!«

Tschechische ­Republik

Die Wiege der Brauereikunst

Slowakei

Das Leben nach dem Kalten Krieg

Ungarn

Angenehmes Baden allerseits!

Rumänien

Ostern mal ganz anders

Kroatien

»Pack schlägt sich, Pack verträgt sich«

Polen

Warum Spanien wirklich die EM gewann

Frankreich

Am Puls der EU

Litauen

Das Gold der Ostsee

Lettland

Zwischen Gefühl und Verstand

Estland

Insekten, Schnecken, Mittelalter

Finnland

Ab jetzt bin ich Klimapunktemillionär!

Schweden

Alles Ikea, oder was?

Dänemark

Glücklich im Land der starken Winde

Niederlande

Die geschäftliche Seite der Romantik

Island

Vom Sich-treiben-Lassen im Paradies

Deutschland

Nachdenken übers Altwerden

Norwegen

Schön, reich und keinen Bock auf EU

Monaco

Zu Gast bei Prunk und Protz

Belgien

Blattschuss im Radio

Vereinigtes ­Königreich

Unter Haien

Portugal

Voll verkork(s)t

Italien

Wie ich fühlte, Wind und Meer zu sein

Epilog

Dankeschön

Bildnachweis

Vorwort

Bevor die Reise losgeht ...

 

 

 

 

 

Einmal Luftfahrt, immer Luftfahrt. Meine Eltern waren ihr Leben lang in der Luftfahrt, nun bin ich es. Es ist gleichzeitig meine Leidenschaft, mein Studium, und es wird – voraussichtlich/höchstwahrscheinlich – mein gesamtes zukünftiges Berufsleben sein. Zu gradlinig und einseitig? Ein bisschen zu »monothematisch«? Ja, fand ich auch! Hinzu kam, dass ich eine satte Portion Wut und Unzufriedenheit im Bauch hatte. Mein erster Job nach dem Studium war nicht so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, es lief nicht wirklich gut. »Ich bin wahrscheinlich für Höheres bestimmt«, sagte ich mir. Das war natürlich arrogant und totaler Quatsch, aber es tat gut, mir das einzubilden.

Höchste Zeit, etwas anderes auszuprobieren und zu erleben! Nur was?

Eine Weltreise? Dafür fehlte mir unter anderem das Geld. Humanitäre Hilfe vor Ort? Dafür war ich nicht qualifiziert. Ideen hatte ich viele, funktionieren wollte jedoch keine.

Dann erinnerte ich mich an zwei deutsche Frauen, denen ich während meiner Ferien in Indonesien über den Weg gelaufen war und die gerade neun Monate »Work & Travel« in Australien hinter sich hatten. Australien kam nicht infrage, da ich für eine so weite Reise die Unterstützung der Familie gebraucht hätte … Aber, hmmm, eigentlich keine so schlecht Idee: in kurzer Zeit verschiedene Jobs auszuüben und dabei etwas anderes kennenzulernen als die Luftfahrt. Ja, genau, das war’s!

Nur wollte ich nicht wahllos irgendetwas machen. Orangen pflücken oder Weinreben stutzen, so wie die beiden Mädchen das getan hatten, das war mir zu eintönig. Nein, eine breite Vielfalt sollte es werden. Und interessant sollte die Arbeit natürlich sein! Und wo ich gerade schon zu träumen begonnen hatte, wollte ich bitte auch noch möglichst viele Länder bereisen.

Sprachprobleme sah ich keine. Ich spreche Deutsch, Englisch und Französisch, damit war schon mal eine Menge abgedeckt. In Österreich und Luxemburg wird schließlich auch Deutsch gesprochen (wenn auch mit teils fürchterlichem Akzent), in Belgien spricht man Französisch, und mit Englisch hat man noch ganz andere Möglichkeiten, nicht nur in Großbritannien und Irland, sondern auch in Ländern wie Schweden oder den Niederlanden. Und wenn ich schon halb Europa auf meinem Zettel hatte, dann konnte ich auch gleich ganz Europa besuchen. Also alle Länder, in denen man keine Arbeitserlaubnis braucht – und das sind immerhin 33! Zu den 28 EU-Ländern kamen nämlich noch Norwegen, Island und Liechtenstein dazu sowie die Schweiz und Monaco.

Dieses Projekt passte einfach perfekt zu mir. Ich reise mit Leidenschaft, bin sehr neugierig, kontaktfreudig und zielstrebig, komme manchmal auf sonderbare Ideen (wie diese hier) und fühle mich durch und durch als Europäer und dem europäischen Ideal verbunden. Denn ja, für mich ist Europa ein Ideal, eine Utopie: Menschen und Völker, die sich über Jahrhunderte bekriegt haben, aber dennoch – oder gerade deswegen – beschließen, zusammenzuarbeiten, sich gegenseitig zu unterstützen und eine Schicksalsgemeinschaft zu bilden. Wie gut oder schlecht die konkrete Ausführung ist (sprich, wie gut die EU funktioniert und die EU-Politik sich umsetzen lässt), darüber kann man streiten. Mir aber geht es um die Grundprinzipien der EU, und die halte ich für eine wirkliche Errungenschaft. Allein ist man schwach, gemeinsam ist man stark.

Europa ist mein alltäglicher Horizont, es ist ein spannender Entdeckungsort, mein Spielplatz, auf dem ich mich austoben kann. Es ist mein Zuhause. Ich fühle mich nicht fremder in Helsinki als in Hamburg, genauso geborgen in Madrid wie in München. Ich habe das Recht, ohne Grenzen frei zu reisen, überall zu arbeiten und zu leben.

Natürlich habe ich von den Umständen profitiert: Ich war erst 23 Jahre alt, aber hatte meinen Master schon in der Tasche. In Deutschland mag das sehr jung erscheinen, in Frankreich aber ist das nichts Außergewöhnliches. Und wenn man jung ist, ist man auch freier als im Alter. Man hat keine Familie, um die man sich kümmern muss, kein Banker rennt einem wegen eines unbezahlten Hauskredits hinterher …

Ich komme aus bodenständigen Verhältnissen, habe bescheidene Bedürfnisse und komme mit wenig klar. Ich rauche nicht, trinke nicht (zumindest nicht übermäßig), habe nie ein Auto oder ein Motorrad besessen und allein dadurch schon eine Menge Geld angespart, das ich nun in das Projekt investieren konnte.

Letztendlich muss ich auch eingestehen, dass ich es als Deutsch­franzose mit abgeschlossenem Studium natürlich einfach hatte, im Ausland akzeptiert und aufgenommen zu werden. Ich war sicherlich nicht den Anfeindungen ausgesetzt, mit denen sich beispielsweise eine 45-jährige Rumänin mit Migrations- oder Minderheitshintergrund und ohne Schulabschluss hätte herumschlagen müssen …

Irgendwie passte diesmal also alles zusammen. Und deshalb wollte ich mein Glück einfach versuchen. Nachdem fünf Unternehmen mir eine Zusage erteilt hatten, wusste ich: Das konnte tatsächlich etwas werden. Dass ich am Ende tatsächlich alle 33 Länder besucht und in allen gearbeitet habe, davon war ich später selbst überrascht. Meine Lebensgefährtin übrigens auch. Denn hätte sie geahnt, dass ich tatsächlich 33 Wochen weg sein würde – vielleicht hätte sie mich gar nicht erst ziehen lassen …

1. Malta

Seekrank im wasserärmsten Land der Welt

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»Merħba għall Malta!« Mit einem breiten Lächeln im Gesicht heißt Publius Falzon mich am Malta International Airport willkommen. Ich verstehe zwar kein Wort, mutmaße aber, dass der Satz so etwas wie »Herzlich willkommen auf Malta« heißt, und ergreife die mir hingestreckte Hand. Eigentlich müsste ich dem freundlichen Herrn am Flughafen jetzt: »Jien ma nitkellimx bil-malti« entgegnen, was übersetzt hieße: »Ich spreche kein Maltesisch.« Stattdessen aber bedanke ich mich auf Englisch, wohl wissend, dass Publius Falzen mich genau versteht und sogar besser Englisch spricht als ich. Malta war nämlich mal eine britische Kolonie, und deshalb ist Englisch dort noch immer die zweite Amtssprache.

Das Leben ist schön. Es ist die erste von 33 Wochen in 33 Ländern. Die Sonne scheint, die Leute sind nett, und auf mich wartet eine spannende Woche als Fischer. Gleich wird Publius, der beruflich übrigens Vorsitzender von einer der beiden maltesischen Fischereiorganisationen ist, in den Hafen des nur sieben Kilometer entfernten Örtchens Marsaxlokk fahren, wo ich meinen Job antreten werde auf vermutlich einem dieser farbenfroh bemalten, kleinen Fischerboote, die man hier »Luzzus« nennt. Morgens hinaus aufs Mittelmeer, fischen, die Netze einholen, zurück in den lauschigen Hafen – so habe ich es mir zumindest vorgestellt. Aber denkste … Publius fährt mich zwar nach Marsaxlokk, liefert mich dort aber am Pier direkt neben der »Madonna di Pompeji« ab, und kurz erinnere ich mich daran, dass ich ihm am Telefon gesagt hatte, er brauche mich nicht zu schonen. Je härter die Realität mich treffe, desto besser gefalle es mir. Er hat sich daran gehalten: Die »Madonna di Pompeji« ist ein alles andere als romantisch-folkloristisch aussehender Fischtrawler. 24 Meter lang, zwei Decks, sechs Mann Besatzung – ich bin die Nummer sieben. Und mit dem Englisch, das hier jeder spricht, ist es plötzlich auch nicht mehr weit her. Amir, der Kapitän, beherrscht nur ein paar Brocken, der Rest der Besatzung spricht Arabisch, und zwar ausschließlich. Ich spreche Deutsch, Französisch und Englisch, ebenfalls ausschließlich.

»Wird schon passen!«, denke ich, frage mich aber doch, wieso ein Schiff der maltesischen Fischereiflotte ausschließlich mit Ägyptern besetzt ist. Weil sie billiger sind? Also noch billiger als maltesische Arbeiter, die, statistisch gesehen, auch nicht zu den bestbezahlten in der EU gehören? Tatsächlich galt Malta in den 1970er-Jahren noch als Billiglohnland und war für viele Schuh- und Klamottenproduzenten eine gut erreichbare Alternative zu Indien, Thailand und ähnlichen Standorten. Oder, überlege ich, sind die arabischen Fischer hier, weil Malta arabische Wurzeln hat und seit jeher als »Brücke nach Nordafrika« gilt?

Kurze Situationsbeschreibung: Malta, das sind sieben felsige Inseln im Meer, von denen nur drei – nämlich Malta, Gozo und Comino – bewohnt sind und die es insgesamt auf eine Fläche von 316 Quadratkilometern bringen. Das ist gerade mal so groß wie München (310,43 Quadratkilometer), und zumindest die Haupt­insel sieht aus dem Flugzeug aus wie ein Pfannkuchen im Meer. Knapp 420 000 Menschen leben hier, hauptsächlich wegen des angenehmen Klimas. Denn ansonsten ist Malta relativ abgelegen und hat wenig zu bieten: Sandstrände gibt es kaum, dafür jede Menge steiler Klippen. Es gibt keine Berge, keinen Fluss und keinen See. Bodenschätze gibt es auch nicht, und da es kaum regnet, sind Flora und Fauna eher ärmlich. Eidechsen, Geckos und ein paar andere Krabbeltiere finden sich zuhauf, ein wildes Tier, das größer ist als ein Kaninchen, ist aber auf Malta noch niemals herumgelaufen.

Wasser ist ein Problem. Tatsächlich ist Malta laut Statistik das wasserärmste Land der Welt, und entsprechend karg sieht es hier auch aus. Ein paar Kiefern, Oliven- und Eukalyptusbäume, ansonsten nur anspruchslose Sträucher wie Thymian, Rosmarin und diverse Hartgräser. Wenn irgendwo drei Bäume zusammenstehen, sind sie das, was ein Malteser unter dem Begriff »Wald« versteht. Seltsam: Seit 2001 gibt es auf der Insel einen Ferrari-Club. Warum das seltsam ist? Weil man sich fragt, wo die Clubmitglieder die immerhin 47 hier zugelassenen Sportwagen wohl ausfahren. Malta ist nämlich gerade mal 27 Kilometer lang, 14 Kilometer breit, und es gibt weder eine Autobahn noch große, mehrspurigen Straßen. Im Gegenteil: Geländewagen sind Trumpf! Wer so richtig dem Geschwindigkeitsrausch verfallen möchte, braucht ein PS-starkes Boot, denn die unendliche Weite des Meeres ist so ziemlich das Einzige, was Malta in Hülle und Fülle zu bieten hat. Sizilien ist knapp 50 Seemeilen entfernt, bis zur afrikanischen Küste sind es etwa 160 Seemeilen.

Kein sonderlich romantisches Plätzchen also, aber schon immer irre beliebt. In den vergangenen 2500 Jahren lebten hier die Punier, die Römer und die Araber. Die Insel spielte eine Rolle im Ränkespiel der europäischen Adelshäuser, wurde im Jahr 1530 die »Zentrale« des Malteserordens, 1798 von Frankreich besetzt und zwei Jahre später dem britischen Königreich einverleibt. Erst 1964, nach genau 164 Jahren Kolonialzeit, wurde Malta von Großbritannien in die Unabhängigkeit entlassen. 1974 wurde es zur parlamentarischen Republik, und seit 2004 ist das nur knapp 7100 Einwohner zählende Städtchen Valletta die kleinste Hauptstadt aller EU-Länder.

Bis heute aber ist es nicht einfach, Malta einzuordnen. Zur Begrüßung sagt man »Merhaba«, zum Abschied »Ciao«. Maltesisch hat sich aus einem arabischen Dialekt entwickelt, und wer die aus dem Italienischen in die Sprache eingeflossenen Worte weglässt, kommt auch im Arabisch sprechenden Ausland gut klar. Und auch die Häuser erinnern an die engen Gassen einer arabischen Stadt: Erker, hölzerne Vorbauten und flache Dächer. Malteser, die in Tunesien Urlaub machen, stellen nicht selten fest: »Da sieht es aus wie bei uns.«

Und die Fischerei? War mal ganz groß, gehört auf der Insel heute aber zu den aussterbenden Berufen, zumindest wenn man von den Fischern spricht, die noch selbst mit ihrem Boot aufs Meer hinaustuckern. Große Fischereikonzerne, sinkende Fischbestände, ausländische Konkurrenz, Fangquoten und strenge Auflagen der Behörden machen den maltesischen Fischern das Leben schwer. Die Regierung hat deshalb ein Projekt angestoßen, das den Export von Fisch wieder lukrativ machen soll: Thunfischfarmen. Nur wenige Hundert Meter vor der Küste schwimmen ein paar Dutzend bis zu 60 Meter tiefe Käfige, in denen man versucht, die bis zu 300 Kilogramm schweren Raubfische zu züchten. Es ist ein von Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace mit Skepsis und Argwohn beobachtetes Unternehmen, das den Einsatz modernster Technik nötig macht. Schließlich ist der vom Aussterben bedrohte atlantische Blauflossenthun nicht nur einer der begehrtesten Speisefische der Welt, sondern auch das so ziemlich sensibelste Geschöpf, an dem man sich als Fischzüchter versuchen kann …

Bei uns an Bord hingegen geht es weniger technisiert zu. Gleich an meinem ersten Tag tobt draußen auf dem Meer ein Sturm, und wir können mit der »Madonna di Pompeji« nicht auslaufen. Beinahe zwei Tage liegen wir im Hafen fest. Die Fischer schauen arabische Telenovelas, wir unterhalten uns mit Händen und Füßen, mit Schnalzen, Pfeifen und Lachen und warten, dass es losgeht. Wenn man nur will, versteht man sich auch ohne Worte.

Als der Wetterbericht am späten Abend eine Beruhigung vorhersagt, laufen wir aus, doch weit kommen wir nicht. Nach eineinhalb Stunden sind wir wieder zurück am Ausgangspunkt, der Wellengang war doch noch zu stark. Am Dienstag ist es dann schließlich so weit: Das Wetter klart auf, Käpt’n Amir befiehlt: »Leinen los!«, und mit voller Kraft dampft die »Madonna di Pompeji« aus dem Hafen von Marsaxlokk und nimmt Kurs auf die libysche Küste. Ein wundervoller Tag – von dem ich allerdings nicht viel mitbekomme. Erwähnte ich schon, dass ich seekrank werde? Nach nur zehn Minuten auf See gehe ich – wortwörtlich – auf die Bretter. Ich sterbe beziehungsweise fühle mich, als ob ich sterben würde. Liegen ist die einzige Möglichkeit, um weiterzuleben. Kalte Schweißausbrüche, ein benebeltes Hirn – und dann diese Übelkeit! »Es gibt keine Krankheit, die so schnell zu Selbstmordgedanken führt wie die Seekrankheit«, sagte 2010 der österreichische Universitätsprofessor und Allergologe Dr. Rainhard Jarisch in einem Interview mit einem Fachblatt für Medizin. Apathisch liege ich in meiner schmalen Koje. Die Ursachen für dieses spezielle Leiden sind übrigens nach wie vor unbekannt. Dass erstaunlich viele taube Menschen dagegen gefeit zu sein scheinen, führt zu der Vermutung, dass die Seekrankheit etwas mit dem Innenohr zu tun haben könnte. Andere Wissenschaftler vermuten, dass die Histaminkonzentration im Blut verantwortlich ist. Da Histamine durch Vitamin C abgebaut werden, müsste ich demzufolge einfach nur frisches Obst essen, um wieder zu den Lebenden zurückzukehren. Aber das schaffe ich einfach nicht – ich bringe keinen Bissen hinunter.

Mir ist schlecht, ich bin nicht ansprechbar und kraftlos, und der Geruch des frittierten Fisches, der in der Gemeinschaftsküche im Fettbad brutzelt, macht’s auch nicht gerade besser. Trockenes Toastbrot, mehr geht beim besten Willen nicht. Einen großartigen Seemann gebe ich gerade ab …

Doch alles Leid hat irgendwann tatsächlich ein Ende. Meine Rückkehr unter die Lebenden wird durch das Drosseln der Geschwindigkeit eingeläutet. Wir haben die von Amir angesteuerten Fischgründe erreicht, und bei langsamer Fahrt spürt man auch den Wellengang viel weniger. Innerhalb kurzer Zeit habe ich meine alte Stabilität zurück.

Doch was kommt, ist kaum angenehmer. Ich habe mal ein Buch gelesen, in dem erinnert sich ein mehrfacher Weltumsegler an seine Reisen. »Es gab wundervolle warme Tage mit Sonnenschein und türkisfarbenem Wasser, meistens aber war es kalt und nass, und ich war ständig übermüdet!« So ist es auch bei den Fischern. Jetzt, da wir die Netze ausbringen können, leben wir im Zweieinhalb-Stunden-Rhythmus: Netze raus, zweieinhalb Stunden fischen, Netze einholen, Fische entladen, Netze wieder ausbringen, Fische sortieren, säubern, einfrieren. Wer schlafen, essen oder einfach mal ausruhen möchte, muss das zwischendurch tun. Wir arbeiten rund um die Uhr, an Bord wird tatsächlich jede Hand gebraucht. »Good fish«, sagt Amir und zeigt auf ein paar an Bord zappelnde Seeteufel, Doraden, Goldbrassen, Shrimps und Tintenfische (die immer wieder versuchen, sich davonzustehlen). Der Rest, kleine Haie, Rochen und eine ganze Reihe anderer Fische, von denen ich nicht einmal weiß, wie sie heißen, sind »bad fish«. Schlecht, weil unverkäuflich. Und das heißt: ab über Bord, zurück ins Wasser. Es ist eine enorme Verschwendung, zumal die meisten der als Beifang rausgeholten Fische durch den Druckabfall beim Hochholen des Netzes bereits verendet sind. Andere Fische überleben das Einziehen zwar, ersticken aber an Deck. Insbesondere die ungefähr 20 cm großen Kleingefleckten Katzenhaie, von denen wir bei jedem Fang Dutzende an Bord holen, kämpfen hartnäckig um ihr Leben. Minutenlang winden sie sich wie verrückt, es ist schrecklich anzusehen. »Rette sie!«, schreit da der Umweltschützer in mir, zumal ihre Überlebenschancen gut sind, wenn man sie rechtzeitig wieder ins Wasser wirft. Wie ein Wiesel hüpfe ich also über Deck und versuche, dem Meer möglichst viele seiner Fische unversehrt zurückzugeben. Natur- und Umweltschutzorganisationen wie der WWF schätzen, dass durch diesen »Beifang« rund 40 Prozent des jährlichen Weltfischfangs verloren gehen. Und den toten Beifang einzusammeln und mitzunehmen? Wäre doch schlau, oder? Vielleicht könnte ein Aquariumsbetreiber ihn als Futter gebrauchen, vielleicht würde ein anderer Fischer ihn kaufen? Geht nicht, ist verboten. Ein Fischer in der EU braucht für jede von ihm gefangene Fischart eine Erlaubnis. Hat er die nicht, darf er den Fisch nicht an Land bringen. Also wirft man ihn weg und tut, als hätten wir noch eine zweite Welt irgendwo in Reserve. (Anmerkung: Inzwischen hat die EU sich der Sache tatsächlich angenommen. Fische dürfen nicht mehr über Bord geworfen werden, sie werden nun zu Futter für Zuchtfische weiterverarbeitet …)

Die Zeit von drei bis sechs Uhr in der Früh ist die härteste. Bei der Marine nennt man das die »Schweinewache«. Alles im Körper ist auf Schlafen eingestellt. Aber es ist faszinierend: Wer, wie ich, aus der Stadt kommt, kennt keine wirklich dunklen Nächte. Irgendwo ist immer Licht, und selbst wer kilometerweit aufs Land zieht, sieht die sogenannte Lichtverschmutzung der Städte und deshalb weniger Sterne. Hier draußen aber herrscht tintenschwarze Nacht mit einem gigantischen Sternenhimmel, auf dem ich problemlos unzählige Sternenbilder entdecken könnte, wenn ich nur mehr als den obligatorischen Großen und Kleinen Wagen kennen würde …

Mit auffrischendem Wind und stärker werdendem Seegang nehmen wir Kurs auf Afrika. Unser Fang ist bisher bescheiden, weil das Mittelmeer, verglichen mit anderen Ozeanen, einfach zu klein, zu warm, zu salzig, nicht nahrhaft genug und deshalb zu fischarm ist. Amir verspricht sich vor der Küste Libyens mehr Erfolg. Dort herrschen Tiefenströmungen, die das Wasser kälter und dadurch nährstoffreicher machen. Fische lieben das – hofft der Kapitän.

Das Boot stampft und rollt durch das dunkelblau schimmernde Wasser – und allmählich habe ich meine Seekrankheit im Griff. Der Himmel klart weiter auf, die See ist ruhiger. Vor az-Zawiyya, der lybischen Stadt an der Grenze Tunesiens, nähern wir uns auf 25 Kilometer der Küste. Links und rechts passieren wir die Offshore-Ölplattformen beider Länder. Die gewaltigen Flammen des bei der Förderung anfallenden Gases erleuchten den schwarzen Nachthimmel und verleihen dem Ganzen eine »Herr der Ringe – Willkommen in Mordor«-Stimmung, die auch ein wenig zur Situation passt: Libyen versteht keinen Spaß, wenn ein europäisches Fischerboot seine Grenzen überschreitet. 72 nautische Meilen vor der Küste endet die für uns erlaubte Wirtschaftszone. Und was passiert, wenn Amir sich bei der Navigation um ein paar Meilen verrechnen sollte, das hat bereits 2010 der Kapitän eines italienischen Fischtrawlers zu spüren bekommen. Das Schiff war auf dem Heimweg in seinen sizilianischen Heimathafen, als plötzlich ein libysches Schnellboot auftauchte, den Kapitän über Funk zum Beidrehen aufforderte und schließlich das Feuer eröffnete. »Plötzlich peitschten Maschinengewehrsalven durch die Luft, Kugeln schlugen an Deck ein. Wir konnten gerade noch in Deckung gehen und überlebten – wie durch ein Wunder unverletzt«, sagte der Kapitän später in einem Interview. Das war aber noch unter Gaddafi …

Doch Amirs Rechnung geht auf: Die Netze sind vor der libyschen Küste zwei- bis dreimal so voll. Zwischen dem Ausbringen und dem Einholen bleibt kaum noch Zeit zum Schlafen, geschweige denn für die bei der Besatzung so beliebten arabischen Telenovelas, die unter Deck ständig auf einem alten Computer laufen. Sortieren, putzen, einfrieren. Die Nacht ist klar, keine Wolke ist mehr am Horizont, absolute Windstille, das Meer glatt wie ein Spiegel. Die gesamte Crew schläft, bis auf einen, der auf der Brücke Wache hält. Ich denke zurück an das vergangene Jahr, in dem ich diese Reise sorgfältig vorbereitet habe. Und nun bin ich hier, allein auf der Hochsee, mitten in der Nacht, auf einem 24 Meter langen Schiff mit sechs Ägyptern, die kaum Englisch sprechen, ohne Handy- oder Internetempfang. Erst allmählich werden mir die Verrücktheit und Einzigartigkeit meiner Situation bewusst.

Und dann, als wäre das alles nicht schon schön genug, passiert im Morgengrauen das für mich Unfassbare: Delfine und Thunfische! Blitzschnell schießen sie direkt unter der durchsichtigen Meeresoberfläche entlang, um sich ihren Teil am Fang zu sichern. Flipper, seine ganze Familie – und ein großer Schwarm lebendes Sushi! Für die Fischer ist das Routine, für mich aber: einfach magisch. Es gibt kein anderes Wort, um dieses Bild zu beschreiben. Und weil Freude ansteckt, ist die Besatzung gern bereit, ein paar Sardinen zu opfern, damit ich mir den Spaß gönnen kann, sie an die Delfine zu verfüttern.

Seekrank bin ich mittlerweile nicht mehr, wirklich bedauere ich es aber nicht, als das Wetter wieder schlechter wird und wir deshalb unseren erfolgreichen »Fischzug« vorzeitig abbrechen müssen. Die Heimreise dauert knappe 24 Stunden, die ich größtenteils damit verbringe, mich an verschiedene Objekte zu klammern, um nicht durchs Schiff geschleudert zu werden. Selbst in meiner Koje muss ich mich festklammern. Wie fühlen sich wohl die Flüchtlinge, die von hier aus in winzigen Booten versuchen, nach Europa zu kommen?

Sonntag, kurz nach Mitternacht, erreichen wir den Hafen von Malta. Alle sind müde, alle kaputt. Das im Vorschiff verteilte Brot ist durch die ständige Feuchtigkeit leicht schimmelig, dafür gibt es nun reichlich Fisch. Schlafen können wir nicht lange. Schon um sechs müssen alle wieder an Deck stehen, um den Fisch zu entladen und für den Export nach Zypern vorzubereiten. Nur ein kleiner Teil wird auf dem lokalen Markt verkauft. Und dann muss natürlich auch ich zum Flughafen, da auf Zypern schon mein nächster Job auf mich wartet – ich werde mich als Mitarbeiter im Fremdenverkehrsamt versuchen. Kurzer Nebengag: Es gibt nur einen Flug nach Zypern. Ich werde also gemeinsam mit den von mir aus dem Netz geholten Fischen fliegen.

Malta war eine seltsam interessante Insel und der Beruf des Fischers ein guter Einstieg in mein Jobhopping. Sicher kein Vergleich mit den Bedingungen vor der Küste Norwegens oder im Atlantik, aber doch eine bereichernde Erfahrung. Zum einen weiß ich jetzt, dass ich niemals Fischer werden will – es ist ein knochenharter Job, der auf Dauer zermürbend ist. Zum anderen habe ich zwar kein Wort von dem verstanden, was die Mannschaft den Tag über geredet hat. Aber wir haben zusammen gelacht, Witze gemacht, ich wurde als Besatzungsmitglied voll akzeptiert. Kurz: Ich hatte immer das Gefühl, unter Freunden zu sein. Dafür ein Danke! an alle.