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PAPARAZZO – TRAUMJOB ODER ALBTRAUM?

Liebe Leserin, lieber Leser, die Welt des Glitzers und Glamours übt auf Menschen eine große Anziehungskraft aus. Doch welche Mühen und Risiken es kostet, an Hochglanzbilder von Stars und Promis zu kommen, die später Zeitungen, Zeitschriften und Magazine schmücken, bleibt für die meisten ein Rätsel. Oft wird der Beruf des Paparazzo hart kritisiert, dabei tut er doch nichts anderes, als den Voyeurismus des Publikums zu bedienen. Der erste Fotograf, der übrigens in den 1950er Jahren Jagd auf Prominente machte, war Tazio Secciaroli aus Rom. Sein aufregendes Leben bot 1960 für den Star-Regisseur Frederico Fellini die Vorlage zur Filmfigur des Paparazzo. Durch Zufall entdeckte Fellini während der Vorbereitungen zu seinem Film »La dolce vita« in einem Reiseführer den Namen eines Hotelbesitzers aus Catanzaro: »Coriolano Paparazzo«. Dieser Name gefiel ihm so gut, dass er seinen aufdringlichen Pressefotografen im Film Paparazzo nannte.

Klatsch und Tratsch gibt es wohl schon, seitdem es Sprache gibt. Und derartige Nachrichten sind die begehrtesten. Nachrichtenmagazine und Tageszeitungen kommen ohne Boulevardgeschichten nicht aus. Wir alle sind Paparazzi – Fotografen und Leser – Stars und Promis liefern den Lesestoff.

Der deutsche Schauspieler Ralf Möller erklärte mir zu Beginn meiner Karriere in Hollywood:

»Fotografiert werden wollen sie alle!« Ich begriff schnell, dass Stars sich immer wieder in den Medien sehen wollen. Mit steigendem Bekanntheitsgrad werden sie süchtig danach, abgelichtet zu werden. Auf der einen Seite wehren sie die Paparazzi ab, auf der anderen Seite würden sie gern ihren Mit-Promis zurufen: »Hilfe, Paparazzi verfolgen mich!« Ein Hilfeschrei, der beweisen soll, wie begehrenswert sie doch für die Linsen der Fotografen sind. Auf dem roten Teppich der Veranstaltungen kann man sehen, wer in ist und wer out. Als Gradmesser dienen die vielen Fotografen, die sich um die Stars drängeln. Sie gieren nach Blitzlichtgewitter und Medienauflauf. Sind sie out, kümmert sich kaum noch ein Pressefotograf um sie. Um auf die Titelseiten der Magazine zu kommen, lassen Stars sich einiges einfallen. Britney Spears kommt ohne Höschen zur Party in Beverly Hills. Andere Stars küssen während der Live-Fernsehaufzeichnung den Moderator auf den Mund oder prügeln vor laufender Kamera auf die schussbereiten Fotografen ein. Paris Hilton und Pamela Anderson schocken die Welt mit geheimen Sexvideos.

Promis kämpfen ständig ums Überleben. Sie vermarkten ihre eigenen Geschichten in den Medien oft für viele Millionen Dollar. Bei ihren Liebschaften, Hochzeiten, Geburten und Geburtstagen gelten die Paparazzi allerdings als Eindringlinge und werden von den Leibwächtern und der Polizei bedroht. Fällt den Stars zur eigenen Vermarktung nichts mehr ein, bestellen sie Reporter und plaudern Intimstes aus, nur um in die Zeitung zu kommen. Der ehemalige Unterhaltungschef der Bild-Zeitung, Manfred Meyer, weiß es genau: »80 Prozent der Geschichten sind mit den Medien abgesprochen!« Die Klatschreporterin der Bild-Zeitung, Katja Kessler, hat dazu eine ganz eigene Meinung: »Was ich mir da anhören muss, sind oft die Seelenqualen der Prominenz, die die Öffentlichkeit als eine Art Therapieraum sehen!«

Die Stars sind süchtig nach Medienpräsenz. Die Paparazzi sind Tag und Nacht auf der Jagd und süchtig nach dem Welt-Foto. Beide sind voneinander abhängig. Jeder benötigt jeden.

Den Tag vergesse ich nie, als ich den ersten großen Scheck für ein Exklusivfoto erhielt. Viele Paparazzi erleben diesen Tag als etwas ganz Besonderes. Dann sind sie nicht mehr zu stoppen. Das Geld macht sie süchtig. Weltweit hat sich der Run auf das ganz große Geld herumgesprochen. Von überall aus der Welt strömen die »Glücksritter« nach Hollywood, um am Boom teilzuhaben. Ein Chaos bahnt sich an, es herrscht Goldgräberstimmung!

Das vorliegende Tagebuch, das ich im Flugzeug, in meinem klapprigen Van, in den Straßencafés von Beverly Hills und Hollywood und am Strand von Malibu geschrieben habe, möchte Ihnen einen Eindruck von meiner Arbeit mit den Prominenten vor und hinter den Kulissen vermitteln und zeigen, wie hart dieser schnelllebige Job ist. Begleiten Sie mich auf meiner spannenden Jagd nach dem ultimativen »Schuss« und erleben Sie hautnah die ganze Bandbreite dieser facettenreichen Arbeit mit. Doch wie wird man eigentlich zum Paparazzo? Muss man schlicht ein Abenteurer sein oder fällt man die Entscheidung rational und kaltblütig am häuslichen Schreibtisch? Ich glaube, es gibt so viele Wege dorthin, wie es Paparazzi gibt. Meinen ganz persönlichen Werdegang will ich Ihnen allerdings nicht vorenthalten. Und so werden Sie also daran teilhaben, wie ich als junger Mann aus dem »Mief« der niedersächsischen Provinz ausbreche, um über teils abenteuerliche Stationen dort zu landen, wo ich heute angekommen bin. Ein Patentrezept für den Lebenslauf eines Paparazzo dürfen Sie dabei allerdings nicht erwarten.

Ihr

Hans Paul

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2007: GLEITFLUG ÜBER MALIBU

Ein ruhiger, ereignisloser Samstag, dachte ich. Nichts los. Die Sonne scheint. Der Wind weht leicht von Norden. Es ist 16 Uhr nachmittags. Vor zwei Jahren kamen an solch einem Tag immer Stars zum »Coffee Bean« auf dem »Malibu-Country-Market«. Seitdem die vielen Paparazzi aus Europa hier sind, lässt sich nur noch selten ein Promi blicken. Auch die Strände sind gähnend leer. Die schönen Tage, an denen ich noch allein am Strand meiner Arbeit als Paparazzo nachgehen konnte und Kate Hudson mit Demi Moore und viele andere Stars ablichtete, sind endgültig vorbei. Von den Zeiten kann ich nur noch träumen.

Jennifer Aniston hat heute Geburtstag. Wahrscheinlich feiert sie in ihrem Strandhaus in Malibu. Vom Strand aus hat man keinen Einblick, denn das schwer bewachte Grundstück ist rundum mit Sichtblenden verbarrikadiert, sodass niemand auf die Veranda schauen kann. Dort vermute ich die Geburtstags-Party. Ich starte neben dem Malibu-Fußballfeld und fliege mit meinem Gleitschirm und einem 14-PS-Motor auf dem Rücken in drei Meter Höhe die Strandhäuser der Stars vom Colonie-Strand bis zum vier Kilometer entfernten Strand von Charlize Theron ab. Vorbei an lauernden Paparazzi, die ihre Objektive plötzlich nur noch auf mich richten.

Die Menschen am Strand kennen mich alle. Sie winken mir zu. Ich verstecke vorsorglich mein 100–400-Millimeter-Teleobjektiv unter meinem grünen Overall. Das Objektiv nehme ich immer für die Abschüsse aus der Luft mit. Ich schaue nach Leonardo DiCaprio und umfliege sein Grundstück. Da sehe ich Leos Mutter mit ihren Hunden am Strand. Sie winkt und lacht mir freundlich zu. Ich gebe Vollgas, steige auf 150 Meter und halte wieder auf Jennifer Anistons braunes Holzhaus zu. Unter mir sehe ich auf die große Veranda. Zwei Leibwächter stehen vor ihrer Tür. Sie muss da sein. Ich sehe aber keine Party. Ich drehe einen Spiralflug über ihr Haus, ziehe meine Kamera und schieße einige Fotos. Vielleicht sitzt sie irgendwo mit ihrem neuen Freund in der Ecke. Plötzlich sehe ich ein Dutzend Paparazzi aufspringen und zu ihrem Haus laufen. Sie glauben, ich hätte Jennifer »abgeschossen«. Fehlanzeige. Ich drehe ab und halte auf die Paparazzi zu. Es weht immer noch leichter Seewind, keine Böe ist zu spüren, deshalb kann ich sehr tief fliegen. Die Paparazzi passiere ich langsam fliegend in drei Meter Höhe. Ich schaue in die gehetzten Gesichter.

Ich steige im Steigflug Richtung Sonne über das Meer auf und verschwinde in 700 Meter Höhe Richtung Halle Berrys Strandhaus. Halle hat einen neuen Freund. Doch auch sie ist nicht da. Ihr weißer Range Rover ist nicht zu sehen. Ich fliege die riesige Fensterfront entlang und betrachte ihr Mobiliar. Ich fliege einen Abstecher rüber zu Ursula Karvens Haus. Ursula ist in Deutschland. Da sehe ich schon vor mir Gottschalks Windmühle. Sein Gärtner fährt mit seinem kleinen Treckergespann durch die Gegend. Ich drehe drei Kurven. Gottschalk ist nicht da. Ich fliege weiter nördlich bis an den Strand von Trancas, wo ich über Goldie Hawns und Kurt Russels Terrasse schwebe. Da steht Kurt Russel neben dem Kaffeetisch auf der Veranda und schaut direkt zu mir. Ich fliege schnell weiter.

Rechts unter mir sehe ich erst Danny DeVitos, dann Dustin Hoffmans leeres Haus, auch Pierce Brosnan ist nicht da. Ich drehe, gehe wieder auf drei Meter Höhe runter, fliege zurück zu Goldie Hawns Anwesen und lande dort auf dem Strand vor ihrer Terrasse. Ich bin gerade dabei, meinen Schirm für den Abflug vorzubereiten, als Kurt Russel barfuß zu mir kommt. Oh, denke ich, jetzt gibt es entweder Ärger oder ein gutes Foto.

»Wo kann ich es lernen?«, fragt er mich spontan.

»Hier am Strand, bei mir«, scherze ich, »sind Sie

schon mal geflogen?«

»Ich besitze ein Motorflugzeug!«

»Was für eine Maschine?«

»Eine Zweimotorige!«

»Wo steht die Maschine?«

»In Camarillo auf dem Flughafen!«

»Passen sie auf, ich zeige Ihnen, wie es funktioniert!«

Ich zeige Kurt Russel die Technik des Gleitschirmes. Er ist begeistert. Doch wer fotografiert diese Situation, schießt es mir durch den Kopf. Viel Gerede und kein Foto. Ein netter Mensch, denke ich, er weiß bestimmt, dass ich ein Paparazzo bin.

Ich fliege deprimiert ohne Foto Richtung Malibu zurück, kurve dort über dem Einkaufszentrum herum und suche die unübersehbare Meute von Paparazzi. Kleben sie in Massen irgendwo wegen eines wichtigen Promi wieder an einer Schaufensterscheibe, dann werde ich direkt hinter dem »Coffee Bean« notlanden und mich dazu gesellen. Es ist aber nichts los. Also fliege ich wieder Richtung Jennifer Aniston. Ich gehe auf 800 Meter Höhe, die Sonne im Rücken. Über Anistons braunem Holzhaus kurve ich in engen, linken Steilkurven runter auf 50 Meter, lasse beide Steuerleinen los, greife zur Kamera und schieße in jeden Winkel des Hauses. Eigentlich brauche ich diese Fotos nicht. Als aber die lauernden Paparazzi sehen, dass ich fotografierte, springen sie wieder auf und glauben, jetzt gehe die Party los – ich hätte Aniston gesichtet und »abgeschossen«. Ich habe sie alle getäuscht. Ich steige im Geradeausflug direkt gegen die untergehende Sonne wieder auf 700 Meter Höhe und verschwinde am Horizont. Der Landeanflug hier über der Bergschlucht am Fußballfeld ist immer ein Problem. Es gibt jedesmal Turbulenzen. 60 Meter bin ich noch hoch. Plötzlich wird es ruhig um mich herum. Der Propeller bleibt stehen. Ich habe kein Benzin mehr, der Tank ist leer. Die Ruhe ist himmlisch, aber ein Durchstarten gibt es nun nicht mehr, der Motor ist aus. Ich gleite lautlos über der Bergschlucht, werde dann heftig durchgeschüttelt. Plötzlich falle ich 20 Meter durch, der Gleitschirm fängt sich wieder und ich rase auf die Büsche zu. Es scheppert und knackst. Und schon liege ich mittendrin. Zum Glück sehe ich keine Klapperschlange in der Nähe. Ich kontrolliere meine Knochen. Ich kann noch alles bewegen. Aber mein Fuß schwillt an, ich spüre eine dicke Beule am Kopf, meine Schulter schmerzt – und die Fotoauslese ist gleich null.

Was ist das für ein Traumjob, denke ich, es war doch immer mein Jugendtraum, ein erfolgreicher Fotograf zu werden. Und dafür habe ich so einiges auf mich genommen. Aber lesen Sie selbst.

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BILDJOURNALIST AUF WELTREISE

Am Rande der Lüneburger Heide, beim Burgdorfer Kreisblatt, lernte ich als freier Mitarbeiter den Lokaljournalismus kennen, schon bald wechselte ich zur Hannoverschen Presse. Bei lokalen Veranstaltungen lassen sich die Leute gerne interviewen und fotografieren. Sie sind stolz, wenn sie ihr Gesicht am nächsten Tag in der Zeitung sehen und die Nachbarn sie darauf ansprechen. Das war schon immer so. Damals bestimmten die Vereinsvorsitzenden und Pressewarte, wann und wo ich jemanden fotografieren sollte. Oft fühlte ich mich wie ein folgsamer Hund ohne Namen. Ich musste lange warten, bis sich alle artig vor meiner Kamera aufgereiht hatten. »Bitte lächeln«. Gestellte Fotos wurden zur Routinearbeit. Ich berichtete von Ratssitzungen, Vereins- und Schützenfesten. Ich durfte weder das Umfeld recherchieren noch Hintergründe aufdecken, geschweige denn, unbequeme Fragen stellen. Ich fühlte mich als kleines Rad in einer Pressemaschinerie und von niemandem ernst genommen.

»Journalismus dient der Wahrheitsfindung«, davon war ich felsenfest überzeugt. Mich faszinierten Recherchen, aus denen Exklusivgeschichten zu machen waren. Genau solche Geschichten wollte ich produzieren. Ich nahm also meine alte »Rolleicord«-Kamera, packte meine Sachen in einen Seesack und ging auf Reisen, um mit Fotos Geld zu verdienen.

Immer wieder dachte ich an den bekannten österreichischen Fotografen Hans Hubmann, diesen weltreisenden Bildjournalisten, dessen eindrucksvolle Ausstellung ich mir in Hannover ansah. So ein Fotograf wollte ich werden!


MEINE ZEIT MIT MISSIONAR HERBERT IN BRASILIEN

Im Hafen von Bremerhaven heuerte ich 1974 als Deckarbeiter auf dem alten Frachtschiff »Cap Palmas« der Reederei Hamburg Süd an. Statt einer Heuer erhielt ich freie Kost und Logis. Das Schiff fuhr nach Santos in Brasilien. Nachts musste ich auf der Kommandobrücke Wache schieben. Der alte Kapitän wurde in den einsamen Nachtstunden auf der Brücke gesprächig und gab mir Überlebenstipps fürs Ausland: »Nimm jede Arbeit an, auch wenn du von der Arbeit nichts verstehst. Nach drei Tagen merkt dein Chef, dass du die Arbeit nicht kannst und er schmeißt dich raus. Du gehst zum nächsten Arbeitgeber, auch er schmeißt dich raus, aber erst nach einer Woche. Inzwischen hast du aber schon dazugelernt und der nächste Arbeitgeber behält dich für zwei Wochen oder für immer.« Der alte Kapitän faszinierte mich in der Originalität seiner Denkungsweise.

Ankunft in Brasilien. Von Santos aus trampte ich nach São Paulo, weiter ging es im Bus nach Asunción in Paraguay. In Asunción begegnete mir ein heruntergekommener deutscher Franziskanerbruder. Mit einer braunen Kutte bekleidet, mit fettigen Haaren und unrasiert saß er auf der Terrasse eines Restaurants und aß Hähnchen mit Reis. Mir knurrte der Magen und wieder mal hatte ich kein Geld. So folgte ich ihm ins Kloster und unterstützte ihn bei seiner Entwicklungsarbeit in einem einsamen Ort, 80 Kilometer südlich von Asunción.

Ein Jahr später trampte ich – immer noch ohne Geld – in den Nordosten Brasiliens. Meine Kenntnisse von der Hannoverschen Presse kamen mir jetzt zugute und ich schrieb Artikel für die Kirchenzeitungen einiger Klöster und wurde sogar Kirchendiener. Als Gegenleistung bekam ich freies Essen und freie Unterkunft. In diesem Teil Brasiliens arbeitete der aus Siegen stammende deutsche Missionar Herbert. Der 47-Jährige lebte bescheiden in der dürren Ebene im Staat Pernambuco in dem kleinen Ort Custódia. Herbert war anders, einfach ganz anders als seine Kollegen. Er machte mich neugierig. Er war ein richtiger Philosoph. Herbert veränderte meine Einstellung zum Leben, er schaffte es, mich für die Philosophie zu begeistern. Ich zog in sein altes Pfarrhaus, wurde Hilfspriester und las Gottesdienste.

Herbert klärte mich über die wahren Werte des Lebens auf: »Materialismus ist nebensächlich!«

»Wie kann Geld nebensächlich sein?«, dachte ich. Ich kapierte es nicht. Ich benötigte Geld zum Leben. Herbert ließ mich philosophieren. Ich kam zu der Erkenntnis, dass es unser höchstes Ziel ist, glücklich zu sein. »Welches Glück wir erfahren, ist doch egal«, sagte Herbert. »Ob wir in der Religion, im Sex, in der Familie, in der Freiheit oder im Materialismus unser Glück finden. Hauptsache, wir fühlen uns glücklich. Nur im Materialismus findest du kein fortwährendes Glück. Denn jeder erfüllte Wunsch bekommt wieder Kinder. So entscheide dich: Welches Glück willst du erfahren?« Ich entschied mich für das Glück, frei zu sein, und erkannte, dass Bedürfnislosigkeit frei macht. Pater Herbert führte mich damals in die Grundzüge der Philosophie ein. Und die ist bis heute meine Leidenschaft geblieben. Philosophie kann man nicht lernen, aber philosophisch zu denken, das kann man sich aneignen. Herbert wurde mein geistiger Vater, ein Vorreiter. Er vermittelte mir das ewige Gefühl des Glücks durch Freiheit. Heute glaube ich, dass ich einer der glücklichsten Menschen auf Erden bin. Philosophisches Denken verhalf mir zu neuen Erkenntnissen, machte mich frei und gab mir die Kraft, Probleme als Herausforderungen zu betrachten und nicht als Barrieren. Ich wollte immer beweisen, dass Sein nicht sein kann und doch sein kann. Ich gab und gebe mich nie damit zufrieden, wenn die Leute sagen: »Es ist nun mal so!« Über Dinge nachzudenken, macht mir Spaß.

Einmal bekam Herbert Besuch von Professor Schmalz, einem 60-jährigen Deutschen, der an der Universität Olinda Jura lehrte. Er sagte zu mir: »Die Vagabunden sind die Glücklichsten.« Seine Worte gingen mir nicht aus dem Kopf. Er hatte recht. Ich blieb ein Vagabund. Ich suchte mir Vorreiter, Menschen, von denen ich lernen konnte. So erweiterte ich ständig meinen Horizont und bildete mich weiter.

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Heute benötige ich als gelernter Fotolaborant keinen Anzug oder ein schickes Auto, um meine Mitmenschen zu beeindrucken. Oft rede ich über meine simple Philosophie und gebildete Menschen horchen auf. Ich habe Neurolinguistische Programmierung (NLP) gelernt; seitdem motiviere ich mich selbst. Wenn ich keine Lust habe, etwas zu tun, dann lüge ich mir einfach etwas vor. So manipuliere ich mich selbst und bekomme schließlich doch Lust, es zu tun. Selbst Depressionen und Frust ersetze ich auf diese Art und Weise durch Freude und Kraft.


AUF NACH VENEZUELA!

Beim sonnabendlichen Gottesdienst in der Kirche von Pater Herbert lernte ich einen jungen Argentinier kennen. Er war auf der Durchreise. Die kleine Pfarrei in Custódia lag an der Transamericana, der Straße, die von Alaska bis in den Süden Südamerikas verläuft. Der Argentinier erzählte uns vom großen Boom in Venezuela und von der »größten Baustelle der Welt«: »Deutsche und Amerikaner bauen dort ein Stahlwerk und zahlen viel Geld. Sie suchen Leute.« Das Geld reizte mich. Geld zu verdienen, wollte ich mir aber nur zur Tugend machen, nicht zur Pflicht. Mit dem Geld wollte ich mir noch mehr Vagabundenfreiheit kaufen; ich sparte für eine Afrikareise.

1978 trampte ich los in Richtung Amazonas. In Belén ging ich auf das Schiff nach Manaus. Von dort fuhr ich auf einem kleinen Frachtboot den Río Negro entlang. Morgens um fünf Uhr hörte ich Schüsse und mittags gab es Affenfleisch zu essen. Ich schlief in meiner eigens mitgebrachten Hängematte. Die Reise dauerte acht Tage. Per Anhalter fuhr ich weiter nach Boa Vista im Norden Brasiliens. Ich fragte dort beim venezolanischen Konsulat nach einem Touristenvisum. Sie verweigerten es mir, da ich kein Flugticket vorlegen konnte, das mich irgendwann wieder außer Landes befördern würde. Und ich hatte kein Geld, um mir eines zu kaufen. 80 Kilometer waren es noch bis zur Grenze nach Venezuela. Ein Lkw-Fahrer nahm mich mit. Kurz vor der Grenze stieg ich aus. Ich wartete, bis es dunkel wurde. Dann überquerte ich durch den Sumpf die grüne Grenze. Von Santa Elena waren es noch 200 Kilometer bis Puerto Ordaz. Immer wieder tauchten Polizeisperren auf. Vor der Goldminenstätte »KM 88« versuchte ich im tiefsten Urwald die Sperren zu umgehen.

Plötzlich hielt ich inne. Vor mir stand ein ausgewachsener Jaguar und blickte mich neugierig an. Uns trennte nur ein kleines, drei Meter breites Flüsschen. Eigentlich wollte ich dort rüber. Doch da stand der Jaguar, als wäre er eine friedliche Hauskatze und rührte sich nicht. Ich wusste, eine falsche Bewegung und ich würde zu Katzenfutter. Nur die Vernunft konnte mich retten. Ich schaute den »Tigre« an – so werden alle Raubkatzen dort genannt – und setzte mich ganz vorsichtig in Bewegung – am Ufer des Flusses entlang. Der »Tigre« folgte mir im Gleichschritt. Ich hatte Todesangst. Ich ging langsam auf die anliegenden Häuser neben der Polizeisperre zu. Lieber im venezolanischen Gefängnis landen, als vom »Tigre« verspeist zu werden. Der Gedanke ließ mich nicht los. Jeden Moment konnte er mich anspringen und sich in meinem Hals festbeißen. Ich wusste, das würde ein grausamer Tod sein. Nach zehn Minuten schlich sich der »Tigre« auf und davon. Nachdem ich diese Todesangst empfunden hatte, wusste ich, was mir mein Leben wert war. Zum ersten Mal merkte ich, wie sehr ich am Leben hing.


MALOCHE IM STAHLWERK

Die deutsche Firma Dillinger Stahlbau, die am Orinoco eine Stahlfabrik baute, war die größte Firma in Puerto Ordaz. Die Hitze war brutal. Baufahrzeuge wühlten sich durch den Staub wie Ameisen. Zwei große, neu erbaute Steinbaracken mit Wellblechdächern standen dort. Die Vorarbeiter und Chefs sprachen Deutsch. Die Arbeiter waren Venezolaner. Der deutsche Personalchef wollte wissen, was ich vorher gemacht hatte. »Ich war Deckschlosser auf See. Ich kann alles. Ich brauche nur Arbeit.« Ich erinnerte mich an die Sprüche des alten Kapitäns auf dem Weg nach Santos. Es zeigte sich, dass er recht hatte. Bei meinem Vorstellungsgespräch tat ich ein bisschen dümmlich, denn ich konnte dem Arbeitgeber schlecht erzählen, dass ich aus einer Pfarrei kam, dort Philosophie »studierte« und bei den Andachten das Wort Gottes las. Der Chef fragte, ob ich ein Arbeitsvisum für Venezuela habe. Ich log ihm vor, dass ich bald ein Visum bekommen würde.

Ich wurde im Archiv für Baupläne eingestellt, in dem ich Ordnung schaffen sollte. Dort schlief ich bei der ewig summenden Klimaanlage des Öfteren auf dem Bürotisch ein. Der Bürotisch wurde zum Bett. Zu tun gab es kaum etwas. Abends wurde ich erst richtig wach. Nachts kamen aus dem Hafen die Tieflader mit Eisenträgern zum Abladeplatz. Ich meldete mich und wurde als Koordinator eingestellt. Ich fuhr Gabelstapler und arbeitete bis nachts um zwei Uhr. Ich verdiente ziemlich viel Geld. Zwei Jobs mit zwei Gehältern. Ich war stolz, dass ich als Ungelernter so schnell unabkömmlich geworden war. Die Freizeitgestaltung hier war natürlich sehr monoton. Die Wochenenden verbrachte ich im Puff und nahm an Trinkgelagen teil. Nach einem Jahr kündigte ich und fuhr mit meinem roten Yamaha-Motorrad, das ich mir zugelegt hatte, zurück zu Herbert nach Brasilien. Mir fehlten seine Lebensratschläge. Vielleicht war er in der Zwischenzeit wieder zu neuen Erkenntnissen gelangt. Ich vermisste seine Denkanstöße.


UNTER SPIONAGEVERDACHT IM GEFÄNGNIS

Zwei Monate hielt ich es bei Herbert aus. Dann trieb es mich zurück nach Puerto Ordaz. Diesmal überquerte ich den Amazonas mit dem Schiff von Belén aus, dann ging es per Landweg weiter in Richtung Venezuela. Die Río-Negro-Strecke über Manaus kannte ich bereits. Es war der härteste Motorradritt durch Hitze, Dreck, Regen und Schlamm. Das wollte ich nicht noch mal erleben und deshalb entschied ich mich, diese Abkürzung ohne Motorrad zu nehmen. Nördlich von Belén hörte die Straße plötzlich auf. Damit hatte ich nicht gerechnet.

Zum Glück traf ich dort einen Goldminenbesitzer, der mich in seiner Cessna mitnahm. Wir starteten um vier Uhr morgens bei hellem Mondschein auf einer Straße im Ortskern eines Kuhdorfes. Die Straße war mit Schlaglöchern übersät, sie war durch viele Kurven unübersichtlich und überall lagen widerkäuende Kühe herum. Der unrasierte Pilot umschlängelte alle Hindernisse und gab Vollgas. Ich wäre am liebsten wieder ausgestiegen. Doch er hob gekonnt ab und nach kurzer Flugzeit landete er rasant am Strand. Seine Ranch, über der gerade die Sonne aufging, lag dort eingebettet im Busch. Mir grauste es bei dem Gedanken, dass er hier wieder starten musste. Nach einer Stunde ging es weiter und wir flogen nach Französisch-Guayana. Von dort fuhr ich per Anhalter im Jeep und dann mit der Eisenbahn nach Suriname, weiter mit einem Boot über den Fluss zur Grenze nach Guayana. Die Grenzbeamten in der alten Holzhütte am Fluss waren freundlich zu mir. Ich sagte, dass ich nach Venezuela wolle. »Von Georgetown fliegen Flugzeuge nur nach Trinidad, da mit Venezuela Grenzstreitigkeiten bestehen«, erklärten mir Mitreisende.


Beglotzt und verfolgt

Guayana war ein streng kommunistisches Land. Ich dachte mir nichts dabei, denn mit Politik hatte ich noch nie etwas im Sinn. Ich bekam für fünf Tage ein Visum. Ich fotografierte die Hauptstadt Georgetown und die Leute –, so wie es Touristen nun mal tun. In den Läden gab es nichts zu kaufen, sie waren leer. »Wie kann man hier nur leben?«, schoss es mir durch den Kopf. Ich suchte Kekse oder irgendetwas anderes Essbares. Es gab nichts. Die meisten Häuser waren aus Holz und mit Wellblechdächern bestückt. Überall wurde ich beglotzt. Ich hatte das Gefühl, dass ich verfolgt wurde. Keiner war freundlich zu mir. Alle Einwohner, die ich etwas fragte, wendeten sich ab. Komische Leute, dachte ich. Keiner sprach mit mir. Mir wurde unheimlich zumute. Ich sah nur in verschlossene Gesichter. Ich wollte hier weg. Für die nächsten drei Wochen waren die Flüge ausgebucht. Trotzdem versuchte ich auf der langen Stand-by-Liste der Fluglinie außer Landes zu kommen. Vergeblich.

Am sechsten Tag wurde ich auf der Straße von zwei zivilen Polizisten festgenommen. Sie führten mich dem Polizeichef vor. Er wollte meine Kamera sehen, ließ mich dann gehen. Ich hatte kaum das große Polizeigebäude verlassen, da verfolgten mich schon wieder zwei Männer. Die Bespitzelung wurde immer beklemmender. Abends fuhr ich mit einem Minibus nach Linden, eine 80 Kilometer entfernte Stadt, deren einzige Fabrik Zuckerrohr produzierte. Auch hier waren mir die Leute unheimlich. Eine deutsche Botschaft gab es in diesem Land nicht. Ich wollte nur noch zur brasilianischen Grenze. Das ist eine rund 300 Kilometer lange Schlaglochstrecke durch den Urwald. Wenn ich es schaffen würde, mich per Anhalter durch den Urwald zu schlagen, dann wäre ich, wenn alles gut ging, in einer Woche in Boa Vista, Brasilien. Es war inzwischen stockdunkel geworden. Nach ungefähr drei Kilometern, die ich zu Fuß gegangen war, sah ich, versteckt in einem Graben, dass ein Landrover an mir vorbeifuhr. Ich konnte nicht erkennen, dass derselbe Landrover umkehrte. Der Wagen stoppte. Drei Polizisten sprangen heraus und zwangen mich ins Auto. Sie brachten mich zur Polizeistation nach Linden. Am nächsten Morgen musste ich in Handschellen in einen kleinen Polizeibus steigen, der mich nach Georgetown ins Gefängnis brachte. Im Bus saß neben mir eine geistig gestörte Frau, die fürchterlich stank und mich dauernd angriff, bis ein Polizist mit dem Knüppel dazwischen haute. Ich wurde in ein riesiges Gefängnisgebäude aus Holz eingeliefert. Eine schreiende Menschenmenge drängte sich im Anmelderaum. Menschen vieler Nationalitäten, indischer Abstammung, Indios, Negros und einige Weiße waren hier untergebracht. Englisch war hier die Landessprache, weil Georgetown früher englische Kolonie war. Die Wärter praktizierten englisches Kolonialverhalten im Strafvollzug. Ich wurde in einem Gehege ohne Dach eingesperrt, in dem schon 25 bis 30 Mann saßen.


Horror in der Einzelzelle

Am zweiten Tag, ich hatte gerade Hofgang und versuchte, durch das hohe Tor nach draußen zu spähen, sprang plötzlich ein Mitgefangener von hinten auf meine Schulter und überwand mit einem zweiten gewaltigen Satz das Tor. Die Gefangenen johlten, zeigten mit dem Finger auf mich und erwarteten eine gehörige Strafe für meine »Fluchthilfe«. Aber das Tor führte zum Innenhof und nicht in die Freiheit. Also machte meine ungewollte Hilfestellung für den Entrissenen gar keinen Sinn. Die Beamten sahen, dass ich von der johlenden Masse ausgelacht wurde. Die Wärter rissen mich aus der Menge. Trotz meiner Unschuld wurde ich erst mal gefügig gemacht. Sie schlugen zu zweit mit ihren Holzstöcken brutal auf mich ein, systematisch in die Kniekehlen, bis ich zusammenbrach. Immer wieder hörte ich: »Get up!« Ich versuchte aufzustehen. Sie schlugen auf meine Arme, dann auf meinen Bauch, einmal konnte ich mich ein wenig aufrichten, brach dann aber sofort zusammen. Und wieder schrien sie: »Get up!« Sie schlugen auf die Arme, damit ich mich bemühte aufzustehen, dann schlugen sie wieder auf die Beine, bis ich zusammenbrach. Das wiederholten sie ein Dutzend Mal. Schließlich wurde ich in eine dunkle, winzige Einzelzelle ins Nebengebäude geschleppt. Hier herrschte der Horror. Ich schlief auf dem nackten Holzboden ohne Matratze und ohne Decken. Nachts bissen mich kleine Käfer. Kaum nickte ich ein, biss mich wieder so ein Tier. Ich zerdrückte es, es roch nach Marzipan. Sie krochen aus den Ritzen des Holzbodens. Der Marzipangestank machte mich wahnsinnig. Schlafen konnte ich nicht. Nach einer Woche brachten die Beamten mich zurück in eine 25-Mann-Abteilung und endlich sah ich Tageslicht. Das Licht blendete. »Mehr als aus dem Land weisen können sie mich nicht.« Ich bewahrte die Ruhe. Umlegen würden sie mich nicht. Warum auch?


Sechs Wochen bei Reis, Fisch, Brot und Wasser

Am nächsten Tag wurde ich wie ein Spion verhört, vier Stunden lang. Der Beamte wollte immer wieder wissen, was ich in Guayana fotografiert und mit wem ich geredet hatte. Er ließ nicht locker. Mir wurde bewusst, dass ich wegen wertloser Fotos im Knast saß. Ich musste in einem kahlen, großen Raum stehen – setzen durfte ich mich nicht. Ich durfte nicht fragen, nur antworten. Nach etlichen Stunden wurde ich erschöpft in die Zelle zurückgebracht. Am nächsten Tag ging das Verhör weiter. Sechs Wochen verbrachte ich so mit Dieben, Mördern und politisch unbequemen Zeitgenossen. Ich bekam Reis, Fisch, Brot und Wasser. Das frische Brot am Morgen schmeckte mir besonders gut. Ich hatte in der großen Zelle eine kleine Koje und daneben direkt die Toilette. Hier war es einigermaßen auszuhalten. Morgens um sechs Uhr kamen die Beamten mit Holzknüppeln lautlos hereingeschlichen und prügelten wahllos auf die Schlafenden ein. Glücklich der, der schon vorzeitig wach war. Ich stand vor der Koje, als die Beamten mit ihren Knüppeln kamen. So entging ich ihren Schlägen. Dann wurden wir alle eine Etage tiefer ins Parterre in einen Aufenthaltsraum geführt, in dem wir uns den ganzen Tag verbergen mussten. Dort war ein extra abgetrennter kleiner Raum. Ein fast zum Skelett abgemagerter Häftling indischer Abstammung lag da. Er kam seit Jahren nicht aus dieser Minizelle raus. Keiner durfte mit ihm sprechen. Wenn er sprach, schaute er sich hastig um, ob ihn nicht ein Wärter beobachtete. »Wird er beim Reden erwischt, kommen zwei Wärter und prügeln mit Knüppeln vor allen Gefangenen auf ihn ein«, berichtete ein Mitgefangener.

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»Ich habe vor Jahren einen Polizisten getötet, der meine Freundin belästigte«, erzählte der Lebenslängliche. Aber er schien nicht unglücklich zu sein. Er musste lebenslang in dieser Hölle schmoren, würde höchstwahrscheinlich irgendwann an Unterernährung oder den Folgen der Folter sterben. »Ich war bereits zum Tode verurteilt. Bevor ich zum Galgen geführt werden konnte, schaffte die Regierung die Todesstrafe ab. Deswegen wurde daraus eine lebenslange Haft. Der Galgen steht hier immer noch. Du glaubst nicht, wie glücklich ich bin, dass ich leben darf«, sagte er mir. Genau deshalb freute er sich so über dieses Leben in der Hölle. Jeder andere Mensch hätte wohl Selbstmord begangen. »Ist es das wert, so zu leben. Jeden Tag hungrig zu sein und ohne Hoffnung auf Freiheit?«, fragte ich ihn. »Es gibt keine Alternative zum Leben. Selbst den letzten Gang zum Galgen wirst du noch als ein Stück Leben genießen, wenn es soweit ist«, entgegnete er. Er hatte recht, denn es gab wirklich keine Alternative zum Leben. Ich erkannte, wie wertvoll Leben und Freiheit sind. Leben heißt bewegen. Nur in Freiheit kann man sich bewegen. Und dabei fallen mir wieder die Worte von Professor Schmalz ein: »Die Vagabunden sind die Glücklichsten.«


Endlich frei – ein berauschendes Gefühl

Es vergingen zwei Monate. Eines Morgens kamen zwei Beamte, legten mir Handschellen an und setzten mich stillschweigend in einen klapprigen blauen Toyota. Sie brachten mich zum Flughafen. Dort stand eine alte, zweimotorige Fokker-Passagiermaschine, in die sie mich hinein schoben. In der voll besetzten Maschine saßen die beiden Polizisten in der hintersten Reihe und ließen mich nicht aus den Augen. Nach zwei Stunden setzte die Maschine mitten auf einer Sandpiste im Urwald auf. Alle Leute stiegen aus. Ringsum war nur Busch. »Was soll ich hier?«, fragte ich. Sie schwiegen. »Soll ich hier erschossen werden? Wollen die mich loswerden?«, schoss es mir durch den Kopf. Ich traute denen alles zu. Ein Jeep kam und fuhr uns zum Fluss. Dort wartete ein Kanu. »Nimm das Kanu und fahre auf die gegenüber liegende Seite. Da ist Brasilien. 80 Kilometer weiter liegt Boa Vista. Da vorn ist die Grenzstation. Hier ist dein Pass. Komm nur nicht zurück, sonst sperren wir dich für ein halbes Jahr weg.« Diese Warnung nahm ich ernst. Der Kanufahrer brachte mich schweigend zum anderen Ufer. Dort sprach man portugiesisch. Ich hatte meinen schwarzen Nadelstreifenanzug mit Schlips an, mehr besaß ich nicht, alles andere hatten sie mir weggenommen. Auch meine Kamera war ich los. Doch ich war frei, ein berauschendes Gefühl. Ich war überglücklich.

Der brasilianische Einwanderungsposten in seiner kleinen Holzbude musterte erstaunt meinen Anzug. Ich zeigte meinen Pass.

»Ihr Impfzeugnis!«

»Ich habe kein Impfzeugnis.«

»Dann müssen Sie wieder nach Guayana zurück, das heißt nach Georgetown, wo Sie jetzt herkommen und müssen sich impfen lassen.«

Ich ging einige hundert Meter zurück. Die Worte des guayanischen Polizisten gingen mir nicht aus dem Sinn: »Wenn du zurückkommst, sperren wir dich für ein halbes Jahr ein.« Gut, dass ich mit illegalen Grenzüberschreitungen so meine Erfahrungen hatte. Ich wartete, bis es dunkel wurde, überquerte im Dschungel die grüne Grenze und lief 70 Kilometer zu Fuß bis Boa Vista. Immer, wenn ich ein Auto hörte, schmiss ich mich in den Graben oder in den Busch. Meistens fuhren Militärfahrzeuge der brasilianischen Armee die Holperstraße entlang. Noch mal wollte ich nicht ins Gefängnis.

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Lagerchef bei Dietz

Einige Monate später war ich in Puerto Ordaz auf Stellungsuche und fand eine Anstellung bei Horst Dietz, dem Baustellen-Chef der deutschen Elektrofirma Brown Boveri. Ich wurde Lagerchef, obwohl ich weder Schrauben noch Elektroteile auseinanderhalten konnte.

Horst Dietz hatte Sorgen. Ständig wurde die Getränkekasse ausgeraubt. Das Geld fehlte, um wieder neue Getränke für die Mitarbeiter einkaufen zu können. Um ihm die Sorge abzunehmen, überredete ich ihn, mir zwei Kühlschränke zur Verfügung zu stellen, damit ich den Getränkeverkauf übernehmen könnte. Ich verkaufte an die Venezolaner Coca-Cola und an die deutschen Arbeiter venezolanisches Bier der Marke Polar. Mein Getränkegeschäft florierte. Den Gewinn durfte ich behalten. So kassierte ich wieder zwei Gehälter. Ich blieb dort recht lange. Dann wurde es Zeit aufzubrechen.

Die An- und Abfahrt zur Baustelle wurde für mich gefährlich. Ich konnte nicht mehr mit dem Arbeiterbus mitfahren, denn auf der 15 Kilometer langen Strecke von Puerto Ordaz nach Matanza errichtete das venezolanische Militär immer wieder Straßensperren. Die Soldaten standen dort mit Maschinengewehren und kontrollierten Pässe und Arbeitsvisa der passierenden Arbeiter. Ich hatte weder einen gültigen Einreisestempel noch ein Arbeitsvisum. Ich kaufte mir also von meinen Ersparnissen eine weiße 900-ccm-Kawasaki Z1, umfuhr die Straßensperren und konnte so vor den Polizisten flüchten.

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