EINFÜHRUNG
Wochenendausflug

Ein sonniger Samstagmorgen im Februar 2002; wieder einmal stand ein typischer Ausflug nach Art der Familie Karnazes auf dem Programm: Niemand hatte am Vorabend irgendetwas zusammengepackt, und kein Wecker klingelte für einen zeitigen Aufbruch. Jeder pellte sich nach Lust und Laune aus den Federn. Und dann brach das Chaos aus. In wilder Hast wurden Taschen vollgestopft und ins Mutterschiff verladen – unser treues 9-Meter-Wohnmobil. Rasch bereitete Speisen verschwanden in hungrigen Mündern, kaum dass sie vom Herd an den Tisch gebracht worden waren. Kinder lachten, und Bälle und manch anderes Spielzeug flogen durch die Luft.

Alle paar Minuten fragte mein Vater, ob jemand diesen oder jenen dringend benötigten Gegenstand gesehen habe – so auch die Wagenschlüssel. Er war gerade zur Küche hinaus, als meine Frau Julie hereinkam.

»Ist Popou so weit?« Wenn sie das griechische Wort für »Paps« in den Mund nahm, dann musste auch sie in Wochenendstimmung sein! Sie hatte es bei derlei Unternehmungen nicht immer leicht mit der levantinischen Unbekümmertheit ihrer griechischen Familienhälfte, aber meist ließ sie sich früher oder später doch davon anstecken und mischte kräftig mit.

»Popou sucht die Autoschlüssel«, meinte unsere siebenjährige Tochter Alexandria.

»Aber wo ist Nicholas?«, rief Julie entgeistert, der eben aufgefallen war, dass sie unseren Vierjährigen schon eine Weile nicht gesehen hatte.

»Popou sagt, er sei schon mit Yiayia im Wohnmobil«, meldete Alexandria, wobei sie für ihre Großmutter, meine Mutter, ebenfalls das griechische Wort benutzte.

So klein Nicholas noch war, zeigten sich bei ihm bereits erste Anzeichen für die unersättliche Wanderlust seines Vaters. Ließ man ihn auch nur für Sekunden aus den Augen, dann war er schon stracks zur Haustüre hinausspaziert.

»Warte mal …«, ging es Alexandria durch den Sinn. »Wenn Nicholas und Yiayia schon im Auto sind, dann müssen sie doch auch den Schlüssel haben. Wie hätten sie sonst hineinkommen sollen?«

Da hatte sie natürlich recht. Dass ihn ein Kind übertrumpfte, brachte Popou aber nicht aus der Fassung. So etwas kümmerte ihn nicht weiter; Hauptsache, das Abenteuer nahm endlich seinen Anfang und der verdammte Schlüssel, nach dem er seit zehn Minuten überall gesucht hatte, war endlich aufgetaucht.

Schließlich saßen dann doch alle auf ihren Plätzen im Mutterschiff und ließen die Sicherheitsgurte einschnappen. Wie ein erfahrener Kapitän steuerte Popou das Schiff mit sicherer Hand über den Highway nach Norden, während wir sangen, scherzten und Sprüche aus unseren Lieblingsfilmen zitierten.

Der Unterschied zwischen einem Jogger und einem Läufer ist mir erst im Lauf der Jahre richtig klar geworden: Der Jogger hat sein Leben noch im Griff. Wir waren noch keine Stunde unterwegs, als ich schon rastlos mit den Hufen scharrte und meinen Vater bat: »Halt mal kurz an.«

Ich hatte das kommen sehen und meine Laufsachen schon vorher angezogen. Dad dirigierte das Wohnmobil in die nächste Haltebucht, wie wir das im Lauf vieler Familienausflüge perfektioniert hatten. Manchmal startete ich zu Hause vor dem Rest der Familie, und sie lasen mich dann irgendwo an der Strecke wieder auf. Bei anderen Gelegenheiten fuhr ich mit bis zum Ziel und machte mich von dort auf – ab und zu die ganze Nacht über –, bis ich am Morgen wieder zu ihnen stieß. Heute war das Programm vergleichsweise einfach: Ich wollte das letzte Wegstück die Straße entlanglaufen, während die Übrigen Vorräte einkauften, einen Stellplatz anfuhren und ein Schlemmermahl zubereiteten.

Im Hinaushasten gab ich Alexandria und Nicholas noch einen Schmatz auf die Wange, drückte meiner Mutter die Hand, umarmte Julie und winkte meinem Vater.

Mit einem knappen »Dann bis später« war ich aus dem Wagen hinaus.

Ich hatte mir 26 oder 27 Meilen vorgenommen, also in etwa einen Marathon. Was für viele Läufer die ultimative Herausforderung bedeutet, ist für mich eigentlich ein ganz normaler, längerer Wochenendlauf. Es ist nicht außergewöhnlich, wenn ich am Samstag einen Marathon laufe und am Sonntag gleich noch einen. Mehr als einmal bin ich 200 Meilen nonstop gelaufen und nehme jedes Jahr an mehreren 100-Meilen-Rennen an extremen Schauplätzen teil. Bei einem gemütlichen Lauf über einen Bruchteil dieser Distanz sollte ich mich also nicht allzu sehr verausgaben. Ich brauchte mich nur dem hypnotischen Ein- und Ausströmen meines Atems und den rhythmischen Kontraktionen der Muskeln hinzugeben – alles Übrige gab der herrliche Tag dazu. Es war ein perfekter Wintermorgen, wie er für das Napa Valley typischer nicht sein könnte: Am Himmel nicht eine einzige Wolke, die trockene Luft, weder zu kühl noch zu warm, strich mir in einer leichten Brise über die Haut.

Zwei Dinge trage ich auf Trainingsläufen stets bei mir: Handy und Kreditkarte. Ich war schon drei Stunden unterwegs, als das Handy klingelte.

»Hey, Liebling, wir haben vergessen, Parm…« Eine Kolonne von Lastwagen donnerte vorbei und übertönte den Rest des Satzes.

Ich steckte einen Finger ins eine Ohr und presste das Telefon ans andere. »Wie bitte?«

»Wir haben keinen Parmesan gekauft. Käse, hörst du?«

»Ohhh!«

»Kannst du noch welchen mitbringen?«

»Na klar.«

Die anderen waren gerade mit den Vorbereitungen fertig, als ich anderthalb Stunden später auf dem Campingplatz eintrudelte. Was stand da draußen auf einem Picknicktisch doch Herrliches bereit: frische Nudeln, Sauerteigbrot, Cäsarsalat, eine reife Melone und – weil unser Wohnmobil keinen Backofen hat – Kekse aus der Mikrowelle.

»Hast du Parmesan bekommen?«, fragte Alexandria.

»So ein Mist! Ich wusste doch, dass ich etwas vergessen habe!« Ich schlug mir mit der Hand an die Stirn.

»Daaad!«, schalt meine Tochter grinsend, rannte um mich herum und griff in die Lauftasche auf meinem Rücken. Sie hatte mich natürlich durchschaut.

Nach dem Essen machten wir einen langen Spaziergang. Wir gingen einen schmalen von einer Baumreihe gesäumten Pfad entlang, und meine Gedanken wandten sich einem vertrauten Thema zu. Diese Familienausflüge waren für mich der Himmel auf Erden. Alles, was ich mir wünschte, kam da zusammen: die Menschen, die mir lieb und teuer waren, Abenteuer, Freiheit und dazu jede Menge Gelegenheit, weite Strecken zu laufen. Vier oder fünf solche Ausflüge schafften wir im Jahr, meist innerhalb von Kalifornien, aber gelegentlich waren wir bis Oregon und Colorado gekommen. Manchmal flogen wir zusammen in einen weiter entfernten Bundesstaat, mieteten dort ein Wohnmobil und genossen die gleiche Mischung aus Camping, Besichtigungen und, was mich anging, Dauerlaufen. Auf jeder dieser Reisen wünschte ich mir früher oder später, dass die Reise länger dauerte und weiter weg führte. Diesmal jedoch gingen meine Gedanken über den bloßen Wunsch hinaus, und ich entwickelte eine klare Vorstellung, wie dieser perfekte Urlaub aussehen müsste.

Eines ist mir im Leben ganz besonders wichtig: die Herausforderung zu immer gewaltigeren, ganz und gar unmöglich erscheinenden Konditionsleistungen. Auf der Suche nach einer solchen Aufgabe ging mir mit einem Mal durch den Sinn, doch einmal an 50 aufeinanderfolgenden Tagen in jedem der 50 US-Bundesstaaten einen Marathon zu laufen. Jeder Tag wäre wie dieser, nur der Ort und die Landschaft wären verschieden und natürlich die regionale Kultur. So eine Unternehmung wäre natürlich eine harte Probe für die Ausdauer der ganzen Familie. Nacht für Nacht mussten Hunderte von Meilen zurückgelegt werden, im Wechsel mit meinen solo abgespulten 26,2er-Etappen. Kurze Teilstücke konnten die Kinder und meine Eltern ja mitlaufen, wie sie es auch sonst manchmal taten. Sogar Julie könnte mitmachen, obwohl sie normalerweise nur rennt, wenn sie gejagt wird. Mir spukten plötzlich die verschiedensten Möglichkeiten im Kopf herum.

Doch plötzlich wurde mir klar, dass wir uns eine derartige Aktion niemals würden leisten können. Julie und ich mussten beide arbeiten, um über die Runden zu kommen. Und dann war da noch die Schule. Nicholas kam bald in die Vorschule, und Alexandria war bereits eine eifrige Zweitklässlerin. Meine Mutter arbeitete als Grundschullehrerin in Orange County. Auch sie konnte unmöglich so lange freinehmen, und sie würde erst in vier Jahren aus dem Schuldienst ausscheiden. Es waren einfach zu viele Hindernisse zu überwinden, mein Plan war unausgegoren. Ich heftete die Idee in Gedanken ab als einen Traum. Einen verrückten und leider unerfüllbaren Traum.

Während der folgenden Jahre hauchte eine Folge glücklicher Umstände diesem Traum jedoch neues Leben ein, und am Ende erfüllte er sich in einer Weise, die ich mir nicht hätte träumen lassen.

Der erste Schritt war ein Sponsorenvertrag mit The North Face, einer in der San Francisco Bay gelegenen Firma für Outdoor-Ausrüstung und Bekleidung. Ich brauchte zwar noch immer meinen Job, um die Familie zu ernähren, aber mein Sponsor deckte nun einen Großteil der Reisekosten zu Wettkämpfen auf der ganzen Welt ab. Ich begriff das sogleich als Chance, mir höhere Ziele zu stecken. Schon wenige Monate nach Vertragsabschluss bei North Face nahm ich meinen Mut zusammen und reichte bei der Marketingabteilung den Vorschlag für mein »50 Marathons, 50 Bundesstaaten, 50 Tage«-Abenteuer ein. Der Antrag war recht bescheiden. Ich bat lediglich um die Übernahme der Sprit- und Verpflegungskosten für die Zeit, die ich mit meiner Familie durch die Lande karriolte. Wie alle unerfahrenen Athleten mit Sponsorenverträgen vergaß ich dabei, deutlich herauszustellen, was es bei der Sache für den Ausrüster zu gewinnen gab. Ich hatte mir vorgestellt, ich würde einfach ihre Produkte tragen und damit dafür sorgen, dass das Firmenlogo in Outside und Runner’s World zu sehen war.

Die Marketingleute bei North Face sahen offenbar kein großes Potenzial in meiner Idee und rührten sich nicht. Aus Tagen des Wartens wurden Wochen, aus Wochen Monate. Wahrscheinlich hofften sie, dass ich die Sache vergessen würde.

Dann ergab sich ein weiterer glücklicher Umstand: Ich schrieb ein Buch1, das mich praktisch über Nacht zu einem der bekanntesten Läufer Amerikas machte – und das nicht nur in Läuferkreisen. Ich schilderte darin meine Erlebnisse als 24-Stunden-Läufer, und überraschend wurde es zum Bestseller. Meine verrückten langen Läufe der vergangenen Dekade erregten mit einem Mal Interesse. Ich wurde zu David Lettermans Late Show und zu 60 Minutes eingeladen und von Howard Stern interviewt. Rennveranstalter und Präsidenten von Laufklubs auf der ganzen Welt luden mich zu Vorträgen über Motivation ein – und häufig reichten die Stühle nicht aus. Runner’s World und Outside setzten mich auf die Titelseiten, und Time brachte eine Geschichte über mich. Time Magazine! Plötzlich waren meine privaten Abenteuer in aller Munde.

Auch bei North Face wuchs mein Stellenwert. Inzwischen war 2005, und die Geburtsstunde meiner großen Idee lag drei Jahre zurück, als Joe Flannery dort neuer stellvertretender Marketingchef wurde. Als ihm mein schon von Motten angefressener Antrag in die Hände fiel, hatte er selbst eine Vision.

Bei unserem Gespräch in seinem weitläufigen Büro in der Firmenzentrale war ich verständlicherweise mehr als nervös.

»Ich möchte das alles viel größer haben«, meinte Joe.

»Wie, soll ich etwa mehr als die geplanten 50 laufen?«, scherzte ich.

Er lachte kurz und entgegnete: »Nicht weiter, sondern größer.«

Nach Joes Vorstellung sollte aus meinem exzentrischen Familienurlaub ein gigantischer transkontinentaler Fitness-Wanderzirkus samt Medienspektakel namens The North Face Endurance 50 werden. Und anstatt 50 beliebige und vom Kilometerzähler des Mutterschiffs vermessene Solomarathons zu laufen, wo immer ich im betreffenden Bundesstaat gerade Lust hatte, mir die Beine zu vertreten, sollte ich an 50 offiziell beglaubigten und auch für andere Läufer offenen Marathons teilnehmen. Wie bei anderen Marathons würde es sowohl vor als auch nach dem Rennen zusätzliche Veranstaltungen geben. An jedem Austragungsort würde man örtliche wie bundesstaatliche Behörden mit ins Boot holen. Joe und seine Leute würden eine aggressive Medienkampagne ausarbeiten mit dem Ziel, dass jeder in den USA, ob Mann, Frau oder Kind, mindestens einmal von den Endurance 50 hören musste. Der Werbeeffekt für The North Face musste überwältigend sein!

Großartig, dachte ich. Das war’s dann wohl mit dem netten Familienurlaub. Mir müssen die Gesichtszüge entgleist sein, denn Joe spielte gleich seine Trümpfe aus.

»Dean, du bist für viele Menschen zu einem Vorbild geworden«, meinte er ernst. »Das hier ist eine Chance, mehr Leute zu inspirieren, als du dir je hättest erträumen lassen. Von den möglichen Spenden für Karno’s Kids mal ganz abgesehen«, fügte er an. Ich habe diese Stiftung ins Leben gerufen, um Mädchen und Jungen zu körperlicher Aktivität zu ermuntern.

Damit war die Sache klar. Ich war mit dabei, und zwar richtig. Sollte ich im Leben auch nur eine Handvoll Nichtsportler zum Laufen inspiriert haben, dann könnte ich in der Gewissheit sterben, die Welt ein wenig verbessert zu haben. Und das nicht etwa, weil mir kein höheres Ziel einfällt, sondern weil ich davon überzeugt bin, dass es kein besseres Ziel gibt. Man rennt ja nicht bloß, um ein paar Pfunde loszuwerden. Laufen kann Depressionen heilen, schafft Erfolgserlebnisse und stärkt das Selbstbewusstsein. Laufen ist mein Rezept für eine harmonischere Welt.

»Ich bin dabei«, sagte ich.

Joe rief zuerst bei Merrill Squires an, dem Gründer der Squires Sports Group. Die SSG ist eine Art Eventagentur, ihre Spezialität ist die Logistik von Etappenveranstaltungen wie dem olympischen Fackellauf von 2002 quer durch Amerika.

»Klar, das kriegen wir hin«, meinte Merrill zuversichtlich. Dabei hatte SSG bislang noch nichts organisiert, was den Endurance 50 auch nur annähernd gleichkam, ja nicht einmal von einem solchen Versuch gehört. Später erfuhr ich, dass Merrills Freunde ihm hinter seinem Rücken nur eine Chance von eins zu 20 eingeräumt hatten, dass er es hinbekommen würde.

Es war eine gewaltige Herausforderung. Zunächst einmal mussten wir 50 Marathonveranstalter finden, die bereit dazu waren, ihren Lauf an einem von uns vorgeschlagenen Termin in kleinem Rahmen noch einmal durchzuführen oder unser Event parallel zu ihrem Marathon abhalten zu dürfen. Dann mussten wir die Abfolge der Rennen so einrichten, dass es möglich war, von einem zum nächsten zu fahren, alles aufzubauen und den Lauf innerhalb des engen Zeitfensters durchzuführen, das Polizeieinsatz, Genehmigungen und Straßensperren vorgaben. Unzählige Einzelheiten zu Transport, Versorgung, Versicherung und Personal waren zu klären. Und da sich die Kosten für diese beispiellose »Expedition«, wie sie bald genannt wurde, auf unglaubliche 1,2 Millionen Dollar summierten, mussten wir weitere Sponsoren anwerben.

Glücklicherweise war es nicht meine Aufgabe, all das auf die Beine zu stellen. Mir war bei der The North Face Endurance 50 eine andere Rolle zugedacht, als es bei einem Familienurlaub der Fall gewesen wäre. Wenn man sich die Endurance 50 als Film vorstellt, dann konnte ich gottlob die Arbeit als Produzent, Regisseur, Location Scout, Techniker und Kameramann getrost anderen überlassen. Ich war in diesem ganzen Apparat das Talent, wie man so sagt. Ein kleiner Star in einer sehr großen Show.

Die folgenden 15 Monate bis zum Start von Marathon Nummer eins – eine intensive Zeit mit an die 6000 im Training und zur Einstimmung bei Ultradistanzrennen abgespulten Meilen – sind in meiner Erinnerung so verwischt, als hätte jemand die Taste für schnellen Vorlauf gedrückt. Das legte sich erst mit meinem Flug nach St. Louis, Missouri, im September 2006. Von dort fuhren wir ins beschauliche Städtchen St. Charles, wo das seinen Ausgang nahm, was die 50 intensivsten Tage meines ganzen bisherigen Lebens werden sollten – ohne Übertreibung.

St. Charles war Austragungsort des Lewis & Clark Marathon, eines von acht »Liveevents« auf unserer Tour. Der Lauf fand zum zwölften Mal statt und hatte etwa 5000 Teilnehmer. Von St. Charles aus waren im Jahr 1804 Meriwether Lewis und William Clark zu ihrer legendären transkontinentalen Erkundungsexpedition in den äußersten Nordwesten der USA aufgebrochen, und das erfolgreiche Ende der Expedition (23. September 1806) jährte sich zum 200. Mal – passender hätten die Endurance 50 kaum beginnen können.

Am Morgen nach unserer Ankunft traf ich mich mit Joe Flannery auf einem großen Parkplatz. »Das ist es«, rief er. »Dein Zuhause für 50 Tage.« Er deutete auf einen gewaltigen und völlig mit bunten Bildern und auffälligen Sponsorlogos bedeckten Reisebus. »Und hier sind deine neuen Freunde«, fügte er an.

Vor mir stand ein zusammengewürfelter Haufen verwahrlost aussehender Typen, die meisten in den Zwanzigern. Einige hatte ich zuvor schon ein- oder zweimal getroffen, andere waren mir völlig fremd. Und doch sollte ich einen guten Teil der nächsten 50 Tage und Nächte mit diesen Leuten auf Tuchfühlung in einer mobilen Umkleidekabine mit Dreierstockbetten wie in einer Militärbaracke verbringen. Ich konnte nur hoffen, dass wir uns nicht gegenseitig an die Gurgel gingen.

Jason Koop und Jimmy Hopper kannte ich bereits ein wenig. Mit seiner schlaksigen Statur, dem eckigen Kinn und dem verfilzten Haar sieht »Koop« aus wie direkt dem Filmset von Chariots of Fire entsprungen. Als erfolgreicher ehemaliger Collegeläufer und Mitarbeiter von Lance Armstrongs persönlichem Trainer Chris Carmichael war Koop hier in erster Linie für die Überwachung meiner Ernährung und meiner physiologischen Parameter zuständig. »Hopps« konnte mit seinem Blondschopf als südkalifornischer Surfer durchgehen, erschien jedoch am nächsten Morgen aus unerfindlichen Gründen mit kahl rasiertem Schädel.

Neu waren mir English, unser englischer Busfahrer (und ich brauchte entsetzlich lange, bis ich kapierte, dass er aus England stammte und English hieß), und Dave, ein altgedienter Tourmanager bei vielen Rockbands. Er sollte unsere Expedition anführen, weil … nun, weil wir uns außer der Tournee einer Rockgruppe nichts vorstellen konnten, das unserem Vorhaben nur annähernd als Vorbild dienen konnte. English fiel auf durch sein fedriges, silbergraues Haar mit passendem Ziegenbärtchen und durch seinen deftigen Händedruck. Dave hatte stechende Augen, kämmte das Haar mit Gel nach hinten und war auch dann im Hintergrund präsent, wenn er sich gerade mit Gott und der Welt unterhielt. Die beiden waren die Veteranen unserer Mannschaft.

Die jüngeren Mitglieder des Teams hatten die Endurance 50 inzwischen ohne mein Wissen schon in ihrem Sinne uminterpretiert: 50 Bundesstaaten, 50 Tage, 50 Telefonnummern – in der Hoffnung, dass sie in jedem Staat dieser großartigen Nation einer ahnungslosen Helferin die Telefonnummer entlocken konnten. Ohne Zweifel ein ehrgeiziges Ziel, und ich musste feststellen, dass sie mir an Entschlossenheit um nichts nachstanden – vom Einfallsreichtum ganz zu schweigen.

Dave erläuterte, sie würden dort auf dem Parkplatz das »Finish Festival« aufbauen, als Generalprobe für die sich nun Tag für Tag sieben Wochen lang wiederholende Prozedur. Ich musste kurzfristig noch zu ein paar Besprechungen gehen. Zwei Stunden später kam ich zurück und traute meinen Augen kaum. Die Crew hatte inzwischen aus Zelten, Teppichen, Werbebanden und Podesten fast so etwas wie eine kleine Stadt aufgebaut. Nichts erinnerte mehr an den Hotelparkplatz; das Ganze glich nun eher einem firmengesponserten marokkanischen Basar. Die Mannschaft hastete mit Hämmern, Akkuschraubern und anderem Gerät herum, schleppte Kühltruhen voller Nahrungsmittel und Getränke heran und kniff, tief über komplizierte Bauanleitungen gebeugt, die Augen zusammen. Aus Megawatt-Lautsprechern dröhnte Musik, und alle waren von der Schlepperei schweißgebadet. Den improvisierten Eingang zu unserer Traumstadt bildete ein überdimensionales, aufblasbares Zieltor, das wie ein startbereiter Zeppelin hin- und herschwankte, während zwei für das Wochenende gewonnene Freiwillige vom Ort ihr Bestes gaben, um den Bogen sicher zu vertäuen.

Schweigend betrachtete ich das Durcheinander, und mein Magen signalisierte ein Gefühl banger Vorahnung.

Heute würde ich zum letzten Mal für zwei Monate die ganze Nacht in Ruhe durchschlafen können. Die Tatsache traf mich mit voller Wucht, als ich im Hotelzimmer neben Julie wach lag: Während der nächsten 50 Tage muss ich in 50 Staaten 50 Marathons laufen! Ich war zuversichtlich, dass ich es schaffen konnte, aber dennoch konnten Dutzende möglicher Missgeschicke das Scheitern bedeuten. Ein verdrehter Knöchel oder schlimme Blasen an den Füßen und erst recht ein Zusammenstoß mit einem Auto würden das ganze Spektakel schlagartig beenden. Und dabei war das Laufen noch der leichtere Teil der Übung. Von der eigenen Haustür aus 50 Marathons zu laufen war eine Sache, aber das Gleiche eingezwängt zwischen hektischen Zielfeiern und vielstündigen Busfahrten eine ganz andere.

Ich hatte schon öfter aufgeben müssen, aber noch nie zuvor hatten so viele Menschen darauf gezählt, dass ich es schaffte. Ich musste an die mehreren Tausend Läufer denken, die sich gemeldet hatten, um mich bei den 42 extra für die Endurance 50 geschaffenen Rennen zu begleiten, an die Lehrer im ganzen Land, die sich für ihre Schüler im Rahmen der Veranstaltung besondere Aktivitäten hatten einfallen lassen, an die Zeitschriften, Tageszeitungen, Radio- und Fernsehsender, die für mein Vorhaben Sendezeit und Ressourcen bereitgestellt hatten, und die Sponsoren, die beträchtliche Summen vorgestreckt hatten, um das Ganze überhaupt möglich zu machen.

Wenn man sich so lange auf eine Aufgabe vorbereitet, wie ich es bei den Endurance 50 getan habe, dann hat man in Gedanken so viele Eventualitäten durchgespielt, dass es kaum möglich erscheint, dass das Ereignis noch Überraschungen bereithält. Doch genau das hat es getan. Die Endurance 50 haben mich in vielfältiger Weise überrascht, doch am meisten durch die Herausforderung, jede einzelne Lektion, die ich jemals über das Laufen – und das Leben – gelernt habe, auch anzuwenden. Und sie haben mich eine ganze Menge Neues gelehrt, das mir in Zukunft nützlich sein wird. Und das sich weiterzugeben lohnt. Also dann mal los …

Umrechnungstabelle Meilen – Kilometer

Meilen

Kilometer / Meter

1

1,6093 km = 1609,3 m

2

3,2186 km = 3218,6 m

3

4,8279 km = 4827,9 m

5

8,0465 km

10

16,093 km

20

32,186 km

26,2 – die Marathondistanz

42,195 km

100

160,93 km

199

320,25 km

350

563,26 km

1 »Ultramarathon Man. Aus dem Leben eines 24-Stunden-Läufers«, riva Verlag, München 2007.

Kapitel 1

Der rechte Fuß

1. Tag

17. September 2006

Lewis & Clark Marathon

St. Charles, Missouri

Höhe: 301 m ü. d. M.2

Wetter: 28 °C; schwül

Laufzeit: 3:50:52

Verbrauchte Kilokalorien: 31873

Teilnehmerzahl: 4800

Mit einer Kanüle im Arm saß ich steif in einem kalten Konferenzraum des Hotels. Es war 5.30 Uhr am Morgen von Tag 1 der North Face Endurance 50. Die für den Aderlass bestellte Ärztin, eine schmallippige Mittfünfzigerin, zapfte drei Ampullen Blut und reichte mir dann einen kleinen Plastikbecher.

»Ihren Urin bitte«, meinte sie trocken.

Ein morgendliches Ritual dieser Art musste ich während meiner ganzen Tour durch das herbstliche Amerika nun etwa zweimal die Woche über mich ergehen lassen.

50 Tage, 50 Bundesstaaten, unzählige Einstiche mit der Kanüle zur Beobachtung meiner wichtigsten Gesundheitsparameter während der nächsten sieben Wochen. In letzter Zeit hatten mehrere medizinische Studien darauf hingedeutet, das Laufen langer Strecken könne physiologische Schäden hervorrufen. Ich wollte das Gegenteil beweisen oder bei dem Versuch zugrunde gehen.

Etwas benommen und mit einem mulmigen Gefühl bahnte ich mir den Weg zur Marathon-Expo und der Startzone, doch der Grund dafür hatte nichts mit der Blutabnahme zu tun. Hier herrschte das reinste Chaos. Hektisch hasteten Läufer und ihre Fans umher, dazu Rennkommissare und freiwillige Helfer, alle mit gehetztem Gesichtsausdruck. Auf dem Festgelände der Endurance 50 herrschte enormes Gedränge. Der marokkanische Basar war in vollem Gang. So hektisch hatte ich mir die Sache beileibe nicht vorgestellt.

Auf dem Weg durch die Menge rannte ich beinahe einen dürren Mann im Priestergewand über den Haufen – meinen alten Freund, Ultradistanzlaufkollegen und eingeschworenen Friedensrichter Topher Gaylord.

»Gaylord!«, rief ich. »Äh … ich meine, Pater! Mann, bin ich froh, dich zu sehen.«

»Folge mir, Sohn«, antwortete er. Topher war eigens aus Italien eingeflogen, den Talar sorgsam in den Koffer gefaltet.

Wir fanden eine Lücke im Gedränge, und dort stand auch meine Familie: Julie, unsere Kinder und meine Eltern. Topher schnappte sich ein Mikrofon und las laut einen vorbereiteten Text ab. Ich legte Julie den Arm um die Taille, Alexandria präsentierte einen Blumenstrauß, und Nicholas zog ein mit Samt bezogenes Ringetui hervor. Völlig verblüfft schoss Julies Blick von Tophers Talar zu den Blumen, von dort zu den Ringen und schließlich zu mir. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Überraschung, Julie! Wir erneuerten unser Ehegelübde.

Tophers tief empfundene und über Lautsprecher verstärkte Predigt ließ Hunderte um uns zusammenströmen. Und wie verabredet rief der Ansager, nur wenige Augenblicke nachdem wir beide »Ich will!« gesagt hatten: »Noch fünf Minuten bis zum Start!«

Zu den wichtigsten Dingen beim Marathon gehört, auf dem rechten Fuß zu beginnen. Man muss körperlich wie geistig bei der Sache sein. Was dann nach 18 oder 20 Meilen passiert, entzieht sich der Kontrolle. Dann fängt das Leiden wirklich an, und immer ist es schlimmer als erwartet, auch wenn man schon viele Marathons gelaufen ist. Dann hilft nur noch, alle in Körper und Geist verbliebene Stärke zusammenzunehmen und durchzuhalten.

Den ersten Teil der Strecke kann man allerdings recht gut kontrollieren, und man ist gut beraten, dies so zu tun, dass der zweite Teil wenn nicht leichter, so doch zumindest besser durchzustehen ist. So kann man dem Drang widerstehen, die Strecke zu schnell anzugehen, darauf achten, genügend Flüssigkeit zu sich zu nehmen, den kürzesten Weg zu laufen usw.

Meine Frau Julie mit einer Erneuerung unseres Ehebundes zu überraschen war meine Methode, um diesen Marathon der Marathons auf dem rechten Fuß zu beginnen. Eigentlich waren die Endurance 50 als Traum eines Familienurlaubs erdacht worden, doch war etwas völlig anderes daraus geworden. Julie hatte nicht wie erhofft ihre Tätigkeit als Zahnärztin unterbrechen können und würde meist nur an den Wochenenden zu uns stoßen können. Doch obwohl sie den größten Teil des Abenteuers selbst gar nicht mitmachen konnte, hatte sie alle Planungen für die Familie übernommen. Unermüdlich hatte sie sich monatelang abgerackert. Eines Nachts war ich nach einem Trainingslauf um 1.30 Uhr ins Haus gestolpert, und sie saß am Telefon und handelte mit Travelocity die Einzelheiten der Flüge, Mietwagen und Hotelübernachtungen für meine Eltern und die Kinder aus. Diesen uneigennützigen Einsatz wollte ich würdigen, und zwar öffentlich, und so war es geschehen.

Nach der Fünf-Minuten-Ansage des Sprechers schob sich alles Richtung Startlinie. Wir umarmten uns noch einmal. Topher streifte den Talar ab, und darunter kamen seine Laufsachen zum Vorschein. Wortlos gingen wir beide zur Startrampe. Der Startschuss ertönte, der Pulk setzte sich in Bewegung, und mein fünf Jahre lang gehegter Traum machte einen ersten Schritt in die Wirklichkeit, dann noch einen und noch einen.

Topher und ich fanden in einen angenehmen Trott knapp unterhalb der Vier-Stunden-Marathonzeit. Die ersten Meilen verliefen flach durch das historische Zentrum von St. Charles. Die Luft war warm, feucht und windstill. Bald schon würde es heiß, feucht und windstill sein.

Einige Läufer in unserer Nähe erkannten mich und liefen heran, um uns aufzumuntern oder selbst Zuspruch zu erhalten. Nach fünf Meilen schnappte sich ein schlaksiger 12- oder 13-Jähriger die Lücke neben mir.

»Bist du Dean?«, fragte er.

»Ja, ich bin Dean«, bestätigte ich.

»Ich bin John«, sagte der Junge. Er habe sich den Halbmarathon vorgenommen, eine Schleife. Für den Marathon war dieselbe Runde zweimal zu laufen. Er meinte, ich sei ein großes Vorbild für ihn und er sei mit seiner Mutter hergekommen in der Hoffnung, mich zu treffen. Als mir die Bedeutung seiner Worte klar wurde, fühlte ich mich nun meinerseits durch den Jungen inspiriert.

»Du machst das großartig!«, sagte ich, und Topher pflichtete mir bei. Und er war wirklich gut unterwegs – eine Weile lang. Als wir bei Meile zehn an seiner Mutter vorbeiliefen, strahlte er übers ganze Gesicht. Sie rief herüber und hielt ein Schild hoch mit der Aufschrift Auf Geht’s, Team Dean! Aber bald schon stach die Sonne gnadenlos vom Himmel. So weit war John noch nie gelaufen, und offenbar musste er ein härteres Tempo als gewohnt anschlagen, um mit uns Schritt halten zu können.

Bei Meile elf keuchte er mühsam, und seine Schuhe tappten schwer auf den Asphalt. Nach zwölf Meilen lief er zusammengekrümmt und schnaubte vor Anstrengung.

»Du schaffst es!«, riefen wir.

Das Ziel war bald nur noch eine Viertelmeile entfernt, doch John kam ins Schlingern und brach völlig ein. Er rannte nicht mehr, sondern stolperte voran wie ein Mensch, der in Flammen stand.

»Auf geht’s! Du schaffst es!«, schrien wir.

Es waren kaum mehr hundert Meter zu laufen, als John mitten auf der Straße stehen blieb und sich in einem breiten Kegel wie aus einem Feuerwehrschlauch auf den Boden erbrach.

»Alles okay?«, fragten wir. »Willst du dich nicht für eine Minute hinsetzen?«

»Lauft weiter, ich werde gehen«, brachte er schließlich heraus. Mehrere besorgte Zuschauer hatten sich inzwischen um ihn geschart. Topher und ich nahmen wieder Tempo auf, und ich fragte mich, ob wir uns eben einer Art von Kindesmisshandlung schuldig gemacht hatten. Schönes Vorbild bist du, dachte ich.

Die zweite Schleife wurde für immer mehr Marathonläufer zur Qual. Die Temperatur war inzwischen auf 27 °C angestiegen. Topher und ich überholten auf jeder Meile nun zwei oder drei Läufer, die ihr Tempo nicht halten konnten. Offenbar waren diese nicht auf dem rechten Fuß gestartet. Viele hatten ihre unter diesen Bedingungen unrealistischen Zeitvorgaben nicht angepasst. Nun mussten sie den Preis dafür zahlen.

Wie sich Übelkeit und Magenprobleme im Rennen vermeiden lassen

»Ist ja ganz schön brutal«, meinte Topher.

»Ja, ziemlich mollig hier. Die Leute tun mir ganz schön leid.«

Die Ziellinie überquerten wir zehn Minuten früher als geplant – vielleicht ein bisschen zu schnell, wenn man bedachte, was mir noch bevorstand.

Dann gab ich zwei Stunden lang Interviews, lächelte in die Kameras, signierte Bücher und Poster und palaverte mit Läuferkollegen. Als ich einmal von meinem Platz aufsah, stand der zwölfjährige John mit seiner Mutter vor mir. Er sah wie ausgewechselt aus.

»Hast du’s geschafft?«, fragte ich vorsichtig.

»Kleinigkeit!« Er strahlte von einem Ohr zum anderen.

Ich schrieb eine Widmung in sein ziemlich zerlesenes Exemplar meines Buches, und er schilderte mir voller Begeisterung seine nächsten Ziele als Läufer. Es ist schon seltsam: Wenn man wirklich fürs Laufen geboren ist, dann kann ein derartiges physiologisches Missgeschick in Sichtweite des Ziels genauso motivierend sein wie ein Sieg.

Kurztipp Leichte Übelkeit und Magenprobleme lassen sich mit rohem Ingwer lindern. Mit frisch aufgeschnittenen Knollen erzielen Sie die stärkste Wirkung; eingelegter Ingwer oder Ingwerbonbons wirken milder. Sie können ihn entweder prophylaktisch oder während des Rennens beim ersten Unwohlsein nehmen.

Kaum hatte ich mich von John und seiner Mutter verabschiedet, als ich Regentropfen auf der Haut spürte. Es begann als leichtes Nieseln, doch kaum eine Viertelstunde später goss es wie aus Kübeln.

Rasch zerstreute sich die Menge. Wie eine Armee auf dem Rückzug trat die Mannschaft der Endurance 50 in Aktion, baute ab und packte ein, bevor alles völlig durchnässt war. Das Festgelände ähnelte bald einem Schlachtfeld. Überall lagen vollgesogene Plakate herum, und die Mülltonnen liefen über von aufgeweichten Essensresten. Der heiße Asphalt dampfte. Still verrichtete jeder seine Arbeit. Von den Hänseleien und dem Gelächter, das den Aufbau gestern begleitet hatte, war nichts mehr zu hören.

Endlich war die mühsame Pflicht vollbracht. Topher sagte rasch Lebewohl, denn er musste noch einen Nachtflug zurück nach Europa erreichen. Julie umarmte mich noch einmal. Auch sie musste zum Flughafen. Meine Eltern und die Kinder stiegen in ein kleines angemietetes Wohnmobil, mit dem sie dem Tourbus die 300 Meilen bis Memphis folgen wollten, wo der morgige Marathon stattfinden sollte.

Es hatte sich nicht vermeiden lassen, dass wir eine saftige Portion Nässe und Dreck mit in den Bus schleppten, sodass wir nun nicht nur die Enge ertragen mussten, sondern auch noch den durchdringenden, feuchten Mief. Alle Fenster waren beschlagen, alles in unserer fahrbaren Umkleidekabine war feucht, der Boden gefährlich glitschig.

Nach dem Marathon

Durch das Herumreisen waren die Erholungsphasen nach meinen Marathonläufen während der Endurance 50 alles andere als ideal. Wenn Sie einen Marathon gelaufen sind, dann sollten Sie auf Folgendes achten:

»Na, ist doch echt gemütlich«, meinte ich beim Einsteigen bedeutsam zu English. Er grunzte nur.

Kaum waren wir unterwegs, als mich die Erschöpfung überfiel. Nicht die körperliche Müdigkeit, auf die ich nach einem anstrengenden Lauf natürlich gefasst war, sondern eine geistige Abgespanntheit wie am Ende des eigenen Hochzeitstags, wenn man zwölf Stunden lang Menschen begrüßt, mit ihnen gequasselt, gelächelt und kleine Katastrophen umschifft und die ganze Zeit im Rampenlicht gestanden hat. Der Marathon hatte mir ein klein wenig zugesetzt, aber der ganze Festauftrieb danach hatte mir den Rest gegeben. Wie ich das 49 Tage lang bis zu unserer letzten Station in New York durchhalten sollte, war mir ein Rätsel.

Wie kann man 50 offiziell beglaubigte Marathons hintereinander laufen?

50 offizielle Marathons in 50 Staaten an 50 aufeinanderfolgenden Tagen zu laufen ist nicht möglich, weil praktisch alle Laufwettbewerbe an Wochenenden ausgetragen werden. Wir mussten dazu die Rennveranstalter, die für die von uns ausgewählten Strecken verantwortlich waren, ins Boot holen. Uns war klar, dass das eine Menge Arbeit machen würde. Es stellte sich als noch sehr viel mühsamer heraus als gedacht, aber das war die einzige Möglichkeit, 50 Marathons in 50 Staaten in 50 Tagen zu laufen und dies auch offiziell beglaubigt zu bekommen. Doch trotz der monatelangen Vorbereitungen war es die richtige Entscheidung gewesen.

Wir wussten, dass viele der im Internet eingestellten Streckenpläne entweder unvollständig waren oder auf Routen verliefen, die nur am Tag des Rennens für Autos gesperrt und für Fußgänger zugänglich waren. Ohne die Hilfe der Rennveranstalter konnten wir gar nicht prüfen, ob wir auch tatsächlich ihre ausgewiesene Strecke liefen. Und jeder hätte unsere Unternehmung infrage stellen können. In allen anderen Belangen hatten wir bei der Planung der Endurance 50 keine Mühen gescheut; deshalb wollte auch hier niemand Kompromisse eingehen. Und so war jeder gelaufene Marathon zweifelsfrei dokumentiert. Ansonsten hätte ich nachts gar nicht ruhig schlafen können.

Es war uns außerdem wichtig, dass sich die Teilnehmer bei den Endurance-50-Marathons genauso anmelden konnten wie bei jeder anderen Laufveranstaltung. Interessenten brauchten nur zur Website der Endurance 50 zu gehen und sich dort wie gewohnt über eine Seite von Active.com anzumelden (so etwas wie www.sifi-timing.de). Sie wurden im System registriert und bekamen rechtzeitig vor dem Marathon das betreffende Teilnehmerpaket zugeschickt. Bei der Einschreibung vor dem Start des Rennens wurden ihre Daten dann noch einmal abgegli-chen. So gesehen, waren die Endurance-50-Rennen wie alle anderen.

Haben wir also doch auf dem rechten Fuß begonnen?, fragte ich mich. Einen desaströsen Marathon zu erleben ist denkbar einfach: Man braucht ihn nur anzugehen, bevor man dazu bereit ist – bevor man den Körper durch konsequentes Training befähigt hat, die Distanz zu bewältigen. Wenn ich an das Chaos bei der Autogrammstunde nach dem heutigen Rennen dachte, an das nur mit letzter Kraft bewältigte Zusammenpacken unter einem wahren Monsunregen, und wenn ich nun die mutlosen Blicke in den Gesichtern von Koop, dem inzwischen glatzköpfigen Hopps und unserem Rock-and-Roll-Tourmanager Dave sah, dann sah es ganz so aus, als hätten wir uns doch zu viel vorgenommen. Sehr unwahrscheinlich, dass wir das noch 49 weitere Tage durchhalten würden.

Wenig später ertappte ich mich dabei, Notfallpläne zu entwickeln. Wir konnten den Sponsoren ihr Geld zurückgeben, den Tourbus stehen lassen und diese Sache in dem kleinen Rahmen zu Ende bringen, für den sie einmal erdacht worden war. Schnell war mir klar, dass das ein reines Hirngespinst war. Von den Geldgebern einmal ganz abgesehen – sollte ich etwa all die Johns enttäuschen, die dort draußen schon darauf warteten, etwas wie er zu erleben (aber hoffentlich ohne das Kotzen)? Völlig ausgeschlossen! Entweder wir zogen die Endurance 50 richtig durch oder gar nicht.

Jetzt lass das Gejammer, Karno, sagte ich mir. Um diese Expedition zu stoppen, muss schon mehr passieren als ein etwas holpriger Start.

Wir waren diese Nacht noch lange unterwegs, und ich las E-Mails, um mich auf andere Gedanken zu bringen. Das half tatsächlich. Ich schöpfte nicht nur neuen Mut und neue Kraft zum Durchhalten, sondern konnte sogar herzhaft lachen. Jemand schrieb im Hinblick auf die für Julie überraschende Erneuerung unseres Traugelübdes:

Nachricht an Dean Karnazes –

Du bist echt ein Scheißkerl. Jetzt hast du die Latte so hoch gelegt, wer von uns soll das toppen? Schon jetzt liegt mir meine Frau in den Ohren, was ich bei meinem nächsten Marathon vorhabe. Und ich weiß ganz genau, worauf sie da anspielt!

Viel Glück, Karno. Aber du musst uns allen eines versprechen: Zieh bloß nie wieder so eine Nummer ab.

2 Meter über dem Meeresspiegel, in Deutschland offiziell: Meter über Normalhöhennull (m ü. NHN)

3 Die Summe der von mir bis zu diesem Zeitpunkt bei den Marathons der Endurance 50 verbrannten Kilokalorien. Berechnung nach www.coolrunning.com.