Cover

Claudia Starke • Thomas Hess • Nadja Belviso

Das PatchworkBuch

Wie zwei Familien zusammenwachsen

Impressum

Dieses Buch ist auch als Printausgabe erhältlich:

ISBN 978-3-407-85839-9


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© 2015 Beltz Verlag, Weinheim und Basel

Umschlaggestaltung: www.anjagrimmgestaltung.de, Stephan Engelke (Beratung)

Umschlagabbildung: © plainpicture/Etsa, © plainpicture/Oscar, © plainpicture/Mielek, © Guido Mieth/Getty Images, © BeTa-Artworks/Fotolia


ISBN 978-3-407-22284-8

Inhalt

Einleitung

Geschichte Einer Patchworkfamilie

Wie alles anfing …

Ehekrise

Alternative 1

Trennung

Alternative 2

Neue Liebe

Alternative 3

Rosa Brille

Zusammenziehen

Alternative 5

Stieffamilienalltag

Alternative 6

Getrübte Vorfreude

Alternative 7

Patchworkchaos

Alternative 8

Scherbenhaufen

Alternative 9

Erklärungen und Lösungen aus therapeutischer Sicht

Begriffe, Definitionen und Zahlen

1. Hintergründe von Patchwork

2. Individuelle Ausgangslagen

3. Bindungen und Trennungen

4. Kinder und Jugendliche in Trennungs- und Patchworksituationen

5. Nahtstelle Partnerschaft

6. Eltern und Stiefeltern

7. Das gesamte Patchworksystem

Schluss

Literaturverzeichnis

Dank

Einleitung

Nach wie vor wird die herkömmliche Familie als Ideal hochgehalten und von einem Großteil der europäischen Bevölkerung angestrebt. Doch wer heute in einer alternativen Familienstruktur lebt, ist längst kein Exot mehr. Er teilt seine Lebensform mit 9 Millionen Menschen allein im deutschsprachigen Raum.

Zu diesen dennoch bis heute als unkonventionell bezeichneten Lebensformen gehört auch die Patchworkfamilie. Von Film und Fernsehen immer wieder als bunte Bereicherung für alle Beteiligten dargestellt, ist die Bildung einer solchen Familie in Wahrheit eine große Herausforderung, die allen Beteiligten eine ungeheure Arbeit abverlangt, damit eben nicht ein mehr schlecht als recht genähtes Flickwerk, sondern ein stabiles Beziehungsnetz entsteht.

Welchen persönlichen und gesellschaftlichen Zerreißproben diese Familien ausgesetzt sind, sehen wir tagtäglich in unserer Praxis. Stiefmütter wenden sich verzweifelt an uns, weil sie plötzlich merken, dass zwischen ihnen und ihrem Stiefkind Hassgefühle entstanden sind, obwohl sie all ihre Energie und Aufmerksamkeit in die Patchworkfamilie gesteckt haben. Wir sehen Männer, die mit aller Kraft den Ansprüchen als Stiefvater gerecht werden wollten und dabei die Frau, die sie liebten, verloren. Sie alle fühlen sich als Versager, geraten in tiefe persönliche Krisen, werden von Schuldgefühlen erdrückt, weil sie nicht verhindern konnten, dass ihre Kinder ein weiteres Mal das Zerbrechen einer Familie erleben mussten.

Drei Viertel aller Familien, die unsere Hilfe suchen, sind Patchworkfamilien. Für die meisten von ihnen ist der Gang zum Familientherapeuten die letzte Hoffnung. Bereits vorher haben sie gekämpft. Davon zeugen die zahlreichen Sachbücher und Ratgeber über Patchwork, die bereits auf dem Markt sind. Wieso können auch sie nicht verhindern, dass über die Hälfte aller Patchworkfamilien zerbricht?

Wir glauben, dass viele der bereits existierenden Ratgeber zwar die Problematik einleuchtend umreißen und Motivation und guten Willen wecken. Aber in Fachkreisen ist bekannt, dass Einsicht alleine noch keine Verhaltensänderung nach sich zieht. Besonders, wenn die Emotionen hochkochen, wird man Vorsätze wie »Beim nächsten Streit werde ich erst einmal ruhig zuhören« nicht so einfach umsetzen können.

Aus unserer Sicht ist die wichtigste Voraussetzung für das Gelingen einer Patchworkfamilie, dass man die Handlungen und Reaktionsweisen der anderen Beteiligten nachvollziehen kann. Wer sich in andere einfühlen und deren Handeln verstehen kann, beharrt weniger auf seiner eigenen Sichtweise und reagiert verständnisvoller und flexibler. Dadurch kommt ein Prozess in Gang, der eine bessere Beziehungsgestaltung und einen konstruktiven Umgang mit Konflikten ermöglicht.

Deshalb beschränkt sich das vorliegende Buch nicht darauf, Tipps für ein harmonisches Patchworkleben zu geben, sondern ermöglicht den Lesern auch, sich in die Perspektive seines Expartners oder seiner neuen Partnerin einzufühlen. Dazu haben wir jene Fälle aus unserer jahrelangen Arbeit mit Patchworkfamilien und getrennt lebenden Elternteilen gesammelt, die immer wieder auftauchende Muster besonders gut illustrieren, und sie im ersten Teil dieses Buches zu einer romanhaften Geschichte zusammengefügt. Um das Einfühlen in die anderen Beteiligten eines Patchworksystems zu erleichtern, erzählen wir diese Geschichte aus verschiedenen Perspektiven.

Wir sind überzeugt, dass jeder Moment – von der ersten Ehekrise, über die Trennung, das Neuverlieben, die Gründung einer neuen Familie und die damit verbundenen Krisen bis hin zu einem erneuten drohenden Scheitern – die Möglichkeit bietet, die Weichen neu zu stellen. Deshalb halten wir während der Geschichte immer wieder inne und zeigen alternative Handlungsmöglichkeiten auf, die zu besseren Lösungen führen können. Bei jeder dieser Schlüsselstellen finden die Leser außerdem einen Hinweis auf die passenden Kapitel und Abschnitte der theoretischen und therapeutischen Überlegungen, die den zweiten Teil des Buches zusammen mit konkreten Empfehlungen bilden. Dort finden sich ausführliche psychologische und beziehungsdynamische Informationen, die das Verständnis für bestimmte Verhaltensweisen fördern, und konkrete Empfehlungen für Menschen in Trennungs- und Patchworksituationen. Einen besonderen Platz haben wir in diesem Rahmen der sorgfältigen Begleitung und dem einfühlsamen Umgang mit den eigenen Kindern und den Stiefkindern eingeräumt.

Geschichte einer Patchworkfamilie

Wie alles anfing …

Lars
Im Juli

Ich habe noch nie zuvor eine Polizeiwache von innen gesehen. Und ich bin weiß Gott nicht immer ein braver Bürger gewesen. Ich meine, als Jugendlicher schraubte ich in einer Sommernacht im Stadtpark einen Kahn ab, um meiner Freundin bei einer Bootsfahrt im Mondschein den ersten Kuss abzuringen. Einmal nahm ich an einer Anti-Atomkraft-Demonstration teil. Da füllte die Polizei einen ganzen Kastenwagen mit Demonstranten, aber wenigstens war ich nicht dabei. Und mit dreiundzwanzig entkam ich einer vorübergehenden Festnahme nur, weil das Blasdings der Verkehrskontrolle wahrscheinlich nicht geeicht gewesen war. Ich hatte sechs Bier und zwei Gin Tonic intus, aber auf dem Display erschien bloß die Zahl 0,48. Und jetzt sitze ich auf diesem unbequemen Holzstuhl und starre auf ein Bild an der Wand gegenüber, das die Fahrzeugflotte der Stadtpolizei zeigt. Ich sitze da, ohne dass ich etwas verbockt habe. Und warte auf meinen 14-jährigen Sohn.

Den haben sie vor ein paar Stunden gute 50 Kilometer nördlich von zu Hause aufgegabelt. Als sie ihn fanden, hatte er ein halbes Gramm Gras in der Hosentasche (»0,5 Gramm des Rauschmittels Marihuana mitgeführt«, wie es die Polizistin genannt hat, die mich empfing). Das ist aber nicht der Grund gewesen, dass sie ihn mitgenommen haben. Es verschlimmert die ganze Misere bloß noch. Das eigentlich Schreckliche ist, dass er vorgestern ausgerissen ist und meine Exfrau mir die Schuld daran gibt. Und wenn ich ehrlich sein soll, bin ich auch schuld. Denn ich habe eine neue Freundin, die zwei Kinder hat, mit denen wir lustige Dinge unternehmen, während Timo sich um seine Mutter sorgt, was er zwar nie zugibt, was aber auf der Hand liegt. Immerhin ist sie – nun ja … depressiv. Glaube ich zumindest.

Ich sitze also da mit diesem Formular, das mir die freundliche, aber auch etwas nervig mitleidige Polizistin in die Finger gedrückt hat, und bin nicht fähig, es auszufüllen. Ich will mich in eines dieser Polizeifahrzeuge setzen und mich selbst aus dem Staub machen. Nicht wegen des Formulars – jeder wird verstehen, dass ich nicht in der Lage bin, mich zu konzentrieren. Sondern, weil ich nicht weiß, was ich Timo sagen soll, wenn er gleich durch die Tür neben dem Foto kommt. Soll ich ihm ordentlich den Kopf waschen? Soll ich in Tränen ausbrechen und den verlorenen Sohn in die Arme schließen? Soll ich mich von Beate trennen und zurück in den Schoß der Familie kehren? Ich weiß, dass das albern ist. Meine Familie hatte es schon lange nicht mehr gegeben, als ich Beate zum ersten Mal begegnete. Und Maria hatte schon immer unter einem melancholischen Gemüt gelitten. Deshalb sind wir ja gescheitert, wobei sie die Sache wohl anders beurteilen würde.

Jedenfalls ist meine Reaktion auf das Erscheinen meines Sohnes nicht die, an die er sich eines Tages mit feuchter Rührung in den Augen erinnern wird. Das heißt, ich halte ihm nicht die Sorgen seiner Mutter vor (von meinen eigenen ganz zu schweigen), ich klaube keine entsprechende lehrreiche Erfahrung aus meinem Leben hervor. Ich umarme ihn noch nicht mal, weiß der Teufel, warum, denn erleichtert bin ich schon, und ich kann auch jedem ins Gesicht sagen, dass ich meinen Sohn liebe, ohne rot zu werden.

Ich sage: »Hey Kumpel.«

Worauf er sagt: »Hallo.«

Und mir nichts mehr zu sagen einfällt.

Beate
Am gleichen Abend

Meinen Kindern habe ich gesagt, ich müsse Anne am Bahnhof abholen, weil ihr Auto eine Panne habe. Sammy vergöttert Timo. Ich will nicht, dass er auf dumme Gedanken kommt. Einen Moment lang habe ich mit mir gerungen. Ich sähe gern Konrads Gesicht, wenn sie ihm erzählen, ich sei bei der Polizei gewesen. Die Noch-Ehefrau eines Juristen spätabends auf der Polizeiwache. Was würde er sich schämen! Aber abgesehen davon, dass ich sein Gesicht gar nicht würde sehen können, weil ich ja nicht dabei bin, wenn die Kinder übers Wochenende zu ihm gehen, wäre das ziemlich kindisch und obendrein ein zu kleines Vergnügen, als dass ich meinen Sohn deswegen in Gefahr bringen würde. Dass wir uns richtig verstehen. Ich würde meinen Sohn auch für ein großes Vergnügen nicht in Gefahr bringen. Und schließlich würde ja doch durchdringen, dass ich nichts ausgefressen, sondern einfach nur Taxidienst für meinen neuen Freund und dessen Sohn gespielt habe. Womöglich käme es Konrad auch noch wie ein Triumph vor, dass bei uns nicht alles rundläuft.

Mein Aufenthalt auf dem Polizeiposten ist denn auch nicht besonders spannend. Genauer gesagt, ich bin gar nicht da. Lars hat es für sinnvoller erachtet, alleine reinzugehen. Ich stehe also nur davor, warte, friere und trete von einem Fuß auf den anderen, weil ich dringend aufs Klo muss. Trotzdem habe ich das Gefühl, bei einer großen Sache dabei zu sein, und komme mir einigermaßen wichtig vor. Ich weiß, es ist nicht witzig, wenn ein 14-Jähriger von zu Hause abhaut, aber ich versuche nur, die Wahrheit zu sagen. Und die Wahrheit ist: Ich finde es spannend, nachts im dünnen Sommerkleidchen ein wenig fröstelnd vor einer Polizeiwache zu stehen, um jemanden abzuholen, der dort nicht freiwillig ist. Ich finde mich irgendwie edel. Timo hingegen scheint meine Meinung nicht zu teilen.

»Wo ist Mama?«, fragt er Lars, kaum dass er zur Tür heraustritt. Und ich höre seiner Stimme an, dass er nicht erfreut ist, mich zu sehen.

»Wir bringen dich jetzt zu ihr«, antwortet Lars. Ich versuche, freundlich zu lächeln, was mir nach Timos Bemerkung schwerfällt.

»Wieso ist sie dabei?«, fragt Timo weiter, mit einem kaum sichtbaren Schulterzucken auf mich deutend.

»Weil mein Auto in der Werkstatt ist. Beate war so nett, mitten in der Nacht Taxidienst zu spielen.«

»Ich hätte auch mit dem Bus nach Hause fahren können.«

Ich finde ihn ziemlich undankbar. Plötzlich interessiert es mich nicht mehr, ob ich mich gerade wie in einem Film fühle. Es interessiert mich nicht mehr, ob mich Lars durch meine Hilfsbereitschaft noch etwas mehr liebt. Und es interessiert mich schon gar nicht mehr, ob ich Konrad damit ärgern könnte, dass ich mich in der Nähe einer Polizeiwache aufhalte. Mir ist kalt, ich bin müde und ich muss dringend aufs Klo. War es das, was ich mir unter meinem neuen Leben vorgestellt hatte, als ich mich vor einem halben Jahr unter der Dusche entschied, mein Leben zu ändern?

Ehekrise

Beate
6 Monate früher, im Januar

Nachdem mir meine Mutter zu verstehen gegeben hat, dass ich geworden sei wie sie, steige ich unter die Dusche. Sie hat nicht gesagt: »Du bist wie ich«, im Gegenteil, sie würde vehement bestreiten, dass ich auch nur einen Hauch ihrer Weitsicht, ihrer Vernunft und ihrer Lebenstüchtigkeit besitze. Sie hat meine Überlegungen, unsere Tochter mit fünf Jahren einschulen zu lassen, mit dem Satz quittiert, ich wisse doch, dass Konrad dagegen sei. Und ich hörte mich antworten: »War ja nur so eine Idee.« Genau diese Resignation hatte ich in ihrer Stimme von klein auf gehasst. Kein schöner Einstieg in den Tag. Dabei wollte ich ihr nur zum Geburtstag gratulieren.

Es wirke reinigend auf die Seele, wenn man versuche, das Wasser auf der Haut bewusst zu spüren und sich vorzustellen, man stehe unter einem Wasserfall an einem wunderschönen Ort in der Natur. Steht in der aktuellen Chic. Ja, ja, ich weiß, in der Chic steht hauptsächlich Schund. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die meisten, die so denken, selbst ein paar Exemplare zu Hause herumliegen haben. Ich lese sie, weil Anne mir ein Abo aufgedrängt hat, damit sie ein Schminkset von Tresbelle bekommt. Aber die »10-Minuten-Wellness« funktioniert nicht. Jedenfalls haben die Tropfen, die auf meine Haut prasseln, nichts mit mir zu tun. Ich spüre sie so wenig, als stünde ich im Skianzug unter der Dusche. Der Dampf ist dicht, ich kann kaum atmen.

Immer wieder höre ich, wie meine Mutter sagt: »Du weißt doch, dass Konrad dagegen ist.« Wieso interessiert es sie, was Konrad meint? Ich bin ihre Tochter. Mich sollte sie unterstützen. »Kommt nicht infrage«, wird er antworten, wenn ich ihm von meinen Plänen für Clea erzähle. Kurz, knapp, abschließend, während sein Blick bereits weiterwandert. Weg von mir. Zum Essen, zur Zeitung, zum Modellhelikopter. Und ich werde wie immer so tun, als sei das »nur so eine Idee« gewesen. Mein Gott! Wie lange geht das schon so?

Blöde Frage. Ich weiß genau, dass das schon immer so ging. Mit meinen 31 Jahren habe ich noch keine einzige Entscheidung alleine getroffen. Ich hatte nie die Wahl. Meine Eltern haben mir das Gefühl gegeben, sie seien Regen und Erde und Sonne für mich. Und ich sei das Bäumchen, das ohne sie eingeht. Jetzt wird mir klar, dass sie tatsächlich Sonne und Regen und Erde waren, aber sie waren eben auch die Hand, die mich zu einem Bonsai gestutzt hat. Ich sehe aus wie ein Baum, bin aber kein richtiger. Und ich hatte tatsächlich gedacht, wenn ich noch während meiner Ausbildung ausziehe, um mit Konrad zusammenzuleben, könnte ich meiner Mutter beweisen, dass ich ihre klugen Ratschläge nicht mehr brauche. Das scheint gründlich in die Hose gegangen zu sein. Sie behandelt mich immer noch wie eine 12-Jährige.

Ich drehe den Hahn zu, ich ziehe den Vorhang zurück, ich steige auf den Badezimmerteppich, der sich anfühlt wie eine Wolke. Ein Gefühl wie den Boden unter den Füßen zu verlieren. Das hat meine Mutter geschafft, denke ich. Dass ich die Wassertropfen nicht mehr spüre und auch nicht den Boden. Ich erschrecke über ihre Macht, mir die Welt rauben zu können. Mit einem einzigen Satz: »Du weißt doch, dass Konrad das nicht erlaubt.« Ich schaue an mir herunter und sehe tausend Wassertropfen auf meiner Haut, glänzend und prall, als wäre meine Haut ein Regenmantel. Innerlich fühl ich mich vertrocknet.

Als ich später vor den Stellenanzeigen zweier frisch gekaufter Zeitungen zwischen den marmeladebeschmierten Frühstückstellern meiner Familie sitze, geht es mir bedeutend besser. Ich wollte Goldschmiedin werden und wurde stattdessen jene Floristin, die meine Mutter nicht werden konnte. Mit meinen zwei Kindern und einem viel beschäftigten Mann werde ich das jetzt zwar nicht mehr ändern können. Aber immerhin will ich meinen Beruf in einem Laden ausüben, der mir gefällt, ohne mäkelnde Chefin, die der Meinung ist, in jedes Gesteck gehöre ein kitschiger Drahtschmetterling oder eine biedere Gipsraupe. Ich erobere mir die Welt zurück. Und ich beginne damit, dass ich mir eine Stelle suche, bei der Aussicht auf eine Beförderung besteht. Ich werde mich nicht mehr darauf beschränken, einen Alibitag in der Woche zu arbeiten, damit Konrad sich irgendwie großzügig und modern fühlen kann, während er zu Hause ständig den angeblich schlecht geführten Haushalt beklagt.

Das Geschirr steht noch immer auf dem Tisch, als er nach Hause kommt. Nicht dass ich zwischen meinen Bewerbungstelefonaten keine Zeit zum Aufräumen gehabt hätte. Doch er sollte sehen, dass sich etwas verändert hat, dass ich mich verändert habe. Ich lasse ihm keine Zeit, sich über die Unordnung aufzuregen. Stattdessen überfalle ich ihn mit meinem Entschluss, die Einladung zum Bewerbungsgespräch in einem Gartencenter anzunehmen, wo sie jemanden für den Vormittag suchen. Perfekt für mich. Konrad meint jedoch, mit einem kategorischen »Kommt gar nicht infrage« die Diskussion für beendet erklären zu können, bevor sie überhaupt angefangen hat. Natürlich bin ich gewappnet und sage kühl: »Entweder du unterstützt mich oder ich lasse mich scheiden.« Zugegeben, das ist eine extrem verkürzte Version unseres Gesprächs, aber sie gibt das Wesentliche wieder. Alles andere ist ein Streit, der verläuft, wie er bei uns immer verläuft. Erst als ich diesen Satz sage, kapiert Konrad, dass eine neue Beate vor ihm steht. Doch er weigert sich, das zu akzeptieren. Er stutzt ein wenig, lächelt dann herablassend und sagt: »Wenn du mehr Haushaltsgeld brauchst, dann veranstalte hier doch keinen Zirkus. Ab nächstem Monat überweise ich dir 100 Euro mehr.«

Erst als ich blitzschnell das Wasserglas vom Tisch hochhebe und es mit aller Kraft samt Inhalt an die Wand schmeiße, wacht er auf.

Konrad
Am nächsten Morgen

Dass Beate dann und wann ihre Krise hat, ist ja nichts Neues. Ich habe stets versucht, ihren Phasen mit Nachsicht zu begegnen. Aber jetzt hat sie den Bogen überspannt. Das muss man sich mal vorstellen: Man rackert sich Tag für Tag ab, damit es der Familie an nichts fehlt, muss dann zusehen, wie die Ehefrau das teuer erstandene Mobiliar zertrümmert, und ist am Ende auch noch der Böse. Klar bin ich sauer. Ich bin so wütend, dass ich noch vor dem Kaffee Lust habe, ein Bier zu leeren. Was ich natürlich nicht tue.

Ich habe diese Nacht auf dem Sofa geschlafen, obwohl ich der Meinung bin, dass das Bett mir zugestanden hätte. Schließlich war sie es, die mit dem albernen Blödsinn angefangen hat. Sie war es, die aus einer Laune heraus plötzlich das Gefühl hatte, eine Superemanze sein zu wollen. Und dann auch noch eine Grundsatzdebatte vom Zaun brach. Peinlich, ihre Drohung, sich scheiden zu lassen. Als wäre sie fähig, alleine für die Kinder zu sorgen. Sie kann noch nicht einmal eine Spinne selber vor die Tür setzen. Jedenfalls fühle ich mich beim Aufwachen so kaputt, dass ich mir einen Moment lang überlege, zu Hause zu bleiben. Auch das tue ich selbstverständlich nicht.

Während ich vorsichtig meine Beine über die Kante des Sofas schwinge, verfluche ich die Stahlfedern unter dem ausgesessenen Polster. Und ich verfluche Beate, die mich damals mit ihrem Rehblick dazu gebracht hat, das dämliche Sofa aus dem Nachlass ihrer Oma zu retten. Wahrscheinlich war das der Moment, an dem ich es verpasst habe, mich durchzusetzen. Um das gleich klarzustellen: Ich bin kein Antifeminist oder so. Wenn wir mal nicht der gleichen Meinung sind, rede ich mit ihr, bis wir eine Lösung finden. Ich räume morgens den Geschirrspüler aus, wenn sie ihn die Nacht über laufen lässt, und ich habe unseren Kindern oft die Windeln gewechselt. Ich habe noch nicht mal protestiert, als sie nach drei Jahren Babypause wieder einen Tag pro Woche arbeiten wollte.

Aber inzwischen hat meine Toleranz dazu geführt, dass sie sich einen regelmäßigen Weiberabend erzwungen hat, an dem ich jeweils auf die Kinder aufpassen darf, statt mich nach einem anstrengenden Arbeitstag wenigstens mal ein bisschen ausruhen zu können. Inzwischen hat sie außerdem ihr Yoga am Samstagmorgen, das eine Frechheit von 800 Euro im Jahr kostet, während ich aus Zeitmangel kaum noch zum Modellhelifliegen komme. Mir dämmert langsam, dass ich ein Vollidiot bin.

Man kann sich vorstellen, dass ich nicht den Triumphmarsch pfeife, während ich mir einen extrastarken Kaffee mache, um wenigstens einigermaßen über den Tag zu kommen. Sie wird heute ihr Vorstellungsgespräch haben. Wenn ich Glück habe, bekommt sie die Stelle nicht und der ganze Mist löst sich in Wohlgefallen auf. Es kann doch nicht sein, dass sie nicht da ist, wenn Clea vom Kindergarten und Sammy von der Schule nach Hause kommen. Und sie wirft mir Egoismus vor.

Als ich am Abend meine Wohnungstür öffne, schlägt mir der Duft von Hackbraten und Rosmarinkartoffeln entgegen. Beate steht summend am Herd. Sie sieht hinreißend aus mit dieser Kochschürze, ihren roten Wangen und diesem Lächeln auf dem Gesicht. So unglaublich es klingt, in diesem Moment denke ich nicht darüber nach, woher diese gute Laune kommen könnte. Deshalb erschrecke ich ehrlich, als sie mit einem Satz die Illusion eines gemütlichen Zuhause zunichtemacht: »Ich hab die Stelle«, jauchzt sie theatralisch und schmeißt sich mir an den Hals. Ich erstarre und sie lässt von mir ab.

»Du freust dich nicht«, stellt sie fest.

»Ganz richtig, ich freue mich nicht«, antworte ich und versuche, meine Stimme klingen zu lassen wie einen Eiszapfen, an dem die Zunge kleben bleibt, wenn man es wagt, daran zu lecken.

Und was eben noch meine Traumbeate war, verwandelt sich in eine zornige Furie, die einer hübschen Reihe von Flüchen eine noch viel längere von Vorwürfen folgen lässt. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie je die Beherrschung verloren hat, und jetzt passiert es bereits zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen. Ich frage mich, ob das ein Anzeichen einer beginnenden psychischen Krankheit ist, und ich weiß nicht, ob mich dieser Gedanke beruhigt oder entsetzt. Ich nehme mir vor, beim nächsten Heli-Treffen Bernhard zur Seite zu nehmen und mit ihm zu reden. Als leitender Krankenpfleger in einer Psychiatrie wird er wohl einen Tipp für mich haben und möglicherweise sogar ein Medikament kennen, das in solchen Fällen hilft. Vorerst verlege ich meine helfende Aktivität auf ein beruhigendes Tätscheln ihrer Schulter, was sie aber überhaupt nicht zu goutieren scheint.

»Vergiss es«, brüllt sie. »Dieses Mal ist es mit ein bisschen Tätscheln nicht getan.«

»Gut«, sage ich. »Reden wir.«

Ich hab keine Lust auf Beziehungsgespräche. Aber mir ist klar, dass ich eine Menge Stress vermeiden kann, wenn ich ihr geduldig zuhöre und sie, wenn ich Glück habe, mit vernünftigen Argumenten von meiner Meinung überzeuge. Weit gefehlt.

»Das kannst du dir auch sparen«, zischt sie. »Man weiß ja, worauf das hinausläuft. Wir diskutieren stundenlang und am Ende machen wir trotzdem, was du willst. Dieses Mal nicht, mein Lieber. Meine Entscheidung steht fest. Denk mal darüber nach, warum du dich nicht darüber freuen kannst, wenn deine Frau erfolgreich ist.«

Sie knallt das liebevoll gekochte Essen lieblos auf meinen Teller, um dann mit zuckersüßer Stimme die Kinder an den Tisch zu rufen. Sie will mir unter die Nase reiben, dass die im Zweifelsfall auf ihrer Seite stehen.

»Na, hattet ihr einen schönen Tag?«, fragt sie in penetrant fröhlichem Kasperletheatertonfall. Was erwartet sie? Dass die Kinder zu johlen beginnen und ihr im Chor ein »Jaaa« entgegenschmettern?

»Doof«, antwortet Sammy prompt.

»Was doof?«

»Schule doof.«

»Mach doch einen ganzen Satz.«

»Deiner war auch nicht ganz.«

Ich zitiere dieses Gespräch nur, um zu zeigen, dass mein 9-Jähriger zu klug ist, um sich von der eigenen Mutter heile Welt vorspielen zu lassen. Andererseits interessiert er sich einen Dreck darum, ob wir Stress haben oder nicht. Jedenfalls schaufelt er selbst dann noch ungerührt in einem Affentempo seine Kartoffeln in sich hinein, als Clea geradeheraus fragt, warum wir gestritten hätten. Auch sie, ein kluges Kind.

»Nichts Weltbewegendes«, sagt Beate noch immer süß lächelnd und tätschelt Cleas Hand. »Nur Kleinigkeiten.«

Kleinigkeiten, sagt sie. Das hat vorhin noch anders geklungen.

Als wir am Abend, dieses Mal wieder beide, im Bett liegen, weiß ich die Antwort auf Beates Frage, warum ich mich nicht mit ihr freuen kann. Ich weiß viele Antworten. Ich sage ihr, dass sie mir immer nur Aufmerksamkeit schenkt, wenn sie etwas von mir will. Dass sie hingegen mit den Kindern ein dermaßen eingespieltes Team ist, dass ich mir immer wie das fünfte Rad am Wagen vorkomme. Dass sie es außerdem noch nicht mal fertig bringt, das Haus ordentlich aufzuräumen. Und ich frage sie, wie das erst sein wird, wenn sie noch mehr arbeitet.

Sie dreht das Licht aus und bleibt mir die Antwort schuldig.

Beate
Einen Monat später

Es fehlt nicht viel und ich knalle meiner 5-jährigen Tochter an den Kopf, dass die ganze Welt gegen mich ist, dass ich kurz vor dem Nervenzusammenbruch stehe und dass sie mich gefälligst in Ruhe lassen soll, wenn sie nicht schuld am frühen Herztod ihrer Mutter sein will. Ich kann mich gerade noch zusammenreißen. Freundlich klingt es trotzdem nicht, als ich ihr unmissverständlich klarmache, dass sie sich um alles in der Welt selbst eine Beschäftigung ausdenken solle und ich nicht ewig der Pausenclown in ihrem Leben sein könne.

Natürlich fängt sie an zu weinen. Ich weiß, sie ist die Letzte, die es verdient hat, dass ich meine Wut an ihr auslasse. Aber es gibt nun mal diese Momente, in denen man trotz aller Vorsätze, es besser zu machen als die eigenen Eltern, nichts gebacken kriegt. Das ist ein solcher Moment. Als ich soeben das Fenster in unserem Schlafzimmer schließen wollte, weil der Wind meinen Papierkram auf dem Küchentisch durcheinandergewirbelt hatte, bin ich über einen von Konrads halb gepackten Umzugskartons gestolpert, die wie überdimensionale Zündholzschachteln neben dem Bett herumliegen. Noch während ich mir fluchend den großen Zeh rieb, hörte ich, wie sich Clea näherte, um zu gucken, ob ich vielleicht klammheimlich doch noch ein spannendes Spiel spiele, das ihre Langweile vertreiben könnte. Im letzten Moment ist es mir gelungen, die Kartons unter das Bett zu schieben, bevor die Kleine den Raum betrat und meine Schimpftirade über sie hereinbrach.

Ich nehme sie in den Arm und entschuldige mich. »Weißt du«, sage ich, »die Mama hat heute wahnsinnig viel zu tun und kann sich nicht ständig um dich kümmern. Magst du nicht ein Bild malen?«

Clea willigt ein, was mir ermöglicht: a) mir nochmals heimlich den Zeh zu reiben, b) Nudeln fürs Mittagessen in die Pfanne zu hauen, c) im Gartencenter anzurufen, um einen Probetag zu vereinbaren, d) mich über Konrads Unordnung aufzuregen, die er täglich veranstaltet, seit sich abzeichnet, dass er wahrscheinlich in die Einliegerwohnung im Haus seiner Eltern ziehen kann. Tagtäglich räumt er seinen Kram demonstrativ von einer Ecke in die andere, um zu zeigen, wie ernst er es meint. Wie ist es nur möglich, dass er das Offensichtliche nicht erkennt: dass er der Sturkopf von uns beiden ist und jegliche Lösungsfindung boykottiert. Ein paar Beispiele gefällig? Er hat mich nie gefragt, warum ich mehr arbeiten möchte. Er hat mir nie einen Kompromiss angeboten. Er hat nie …

»Mama, warum hast du Papa nicht mehr lieb?«, reißt mich Clea erneut aus meinen Gedanken. Sie schaut mich mit traurigen Augen an, den grünen Filzstift in der Hand, den Inhalt des blauen auf ihrem T-Shirt verteilt. Und ich hab erst heute Morgen eine Waschmaschine gefüllt.

»Aber, Clea, Kleines, natürlich habe ich ihn lieb.«

»Wieso will er dann weg von uns?«

Um Himmels willen. Wie kommt sie darauf? Wir haben uns Mühe gegeben, uns vor den Kindern nichts anmerken zu lassen. Ich jedenfalls. Dabei hätte ich es ihnen doch längst gesagt, wenn Konrad nicht absolut dagegen wäre, die Kinder mit reinzuziehen, wie er es nennt. Was denkt er sich nur? Dass sein Umzug unbemerkt bleiben wird? Ich muss es ihnen sagen. Ich muss es ihnen bei der nächstbesten Gelegenheit sagen. Konrad hin oder her. Doch jetzt ist nicht die Gelegenheit. Deshalb lächle ich Clea schief an und sage:

»Möchtest du nicht dein Bild fertig malen, bevor das Mittagessen fertig ist?« Ja, ja, ich weiß, nicht die ideale Reaktion. Aber, mein Gott, was soll ich denn antworten? Soll ich ihr sagen, dass ihr Vater ein sturer, unfreundlicher, egoistischer Trottel mit altmodischen Vorstellungen einer Ehe ist? Eben.

»Wenn du nicht mehr mit ihm schimpfst, dann bleibt er vielleicht hier.«

Wie macht Konrad das nur? Warum kapiert kein Mensch, dass meine Reaktionen nur Notwehr sind? Ich habe geschlagene 13 Jahre lang zurückgesteckt. Ist es so schwer, zu verstehen, dass ich auch ein bisschen was vom Leben will? Und damit das klar ist: Ich beschwere mich hier nicht über die Meinung meiner kleinen Tochter. Es fing ja schon mit Konrads Vater an, der mir eindringlich zu erklären versuchte, dass es normal sei, mal eine Krise zu haben, aber dass es nun Zeit sei, Ruhe einkehren zu lassen. Ich müsse doch sehen, wie schlecht es Konrad gehe.

Ich stecke mir eine Nudel in den Mund. Sie ist labberweich und komplett ungesalzen. In diesem Moment klingelt es an der Tür.

»Mama, zeichnest du mir einen Schmetterling zum Ausmalen?«

Aaaaaargh!!!!!

Entnervt lasse ich den Kochlöffel in die Pfanne mit der Sauce fallen, wobei sich die ganze Wand hinter dem Herd mit roten Sprenkeln überzieht. Als ich die Tür öffne, gucke ich meiner Mutter ins Gesicht. Das hat mir gerade noch gefehlt. Lächelnd reicht sie mir eine Gratinform, die bis oben gefüllt ist mit buntem knackigem Gemüse, kleinen Butterflocken und frisch geriebenem Käse. Das Ding könnte glatt in einem Kochbuch abgebildet werden, ohne dass man Photoshop bemühen müsste.

»Für euch«, sagt sie und blickt demonstrativ über meine Schulter zum gesprenkelten Herd, auf den gerade zischend das überlaufende Nudelwasser fließt. So was macht sie ständig. Ich könnte sie ohrfeigen. Doch ich zwinge mich zu einem Lächeln und nehme den Auflauf dankend entgegen. Ich habe keine Nerven, ihr zu sagen, ich sei durchaus imstande, selber für meine Familie zu sorgen, sie solle nicht hier auftauchen wie ein Blitzer hinter der nächsten Kurve, um meine Fähigkeiten als Hausfrau zu überprüfen. Ich lächle bloß und hasse mich.

Kommentar

Beate stellt fest, dass sie bisher kaum selbst über ihr Leben bestimmt hat. Als sie diesen Zustand ändern will und von ihrem Mann keine Unterstützung erfährt, sieht sie keine Zukunft mehr mit ihm. Doch noch bevor sie die Trennung durchgezogen hat, fühlt sie sich schon überfordert. Die Situation ist für Beate bezeichnend: Sie handelt meist impulsiv und denkt erst dann über die Konsequenzen nach, wenn sie eintreffen. So droht sie Konrad mit der Scheidung, obwohl sie bis zu diesem Moment noch gar nicht ausführlich über diese Möglichkeit nachgedacht hat.

Neben dem Konflikt mit Konrad hat sie noch eine zweite Beziehungsbaustelle: einen seit Jahren schwelenden Konflikt mit ihrer Mutter, der bisher aber nie ausgebrochen ist, weil Beate den Aufstand nicht gewagt hat. Sie kann kaum noch unterscheiden, welcher Konflikt ihr mehr zu schaffen macht, und verwechselt die beiden Baustellen: Sie streitet mit Konrad über ihren Wunsch nach Unabhängigkeit, ein Thema, das sie in erster Linie mit ihren Eltern klären müsste. Wenn sie ihre Probleme auf diese Weise zu lösen versucht, kommt sie weder mit Konrad noch mit ihrer Mutter weiter.

Beate hätte bisher auch andere Möglichkeiten gehabt, mit ihren Problemen umzugehen. In der folgenden Alternative beginnt sie, ihr Leben aufzuräumen, indem sie sich dem Konflikt mit ihrer Mutter stellt.

Alternative 1

Beate

Als ich die Tür öffne, gucke ich meiner Mutter ins Gesicht. Das hat mir gerade noch gefehlt. Lächelnd reicht sie mir eine Gratinform, die bis oben gefüllt ist mit buntem, knackigem Gemüse, kleinen Butterflocken und frisch geriebenem Käse. Das Ding könnte glatt in einem Kochbuch abgebildet werden, ohne dass man Photoshop bemühen müsste.

»Für euch«, sagt sie und blickt demonstrativ über meine Schulter zum gesprenkelten Herd, auf den gerade zischend das überlaufende Nudelwasser fließt. So was macht sie ständig. Ich könnte sie ohrfeigen. Doch schon merke ich, wie sich mein Gesicht zum Brave-Tochter-Lächeln verzieht und meine Hand sich in einer dankbar anmutenden Bewegung ausstrecken will, um ein Abendessen in Empfang zu nehmen, das ich nicht geplant hatte und worauf ich keine Lust habe. Heute Abend ist – wie jeden Dienstag – Pizza an der Reihe, und das weiß Mama genau. Nur hält sie Pizza für ungesunden Italienerfraß. »Deshalb sind die alle klein und dick«, pflegt sie zu sagen. Ich frage mich, was die Körpergröße mit der Ernährung zu tun hat. Aber selbst diesen Schwachsinn habe ich stets unwidersprochen gelassen. Ganz zu schweigen von ihren Vorwürfen, ich sei für das Scheitern meiner Ehe allein verantwortlich. Mein Verhalten Konrad gegenüber sei unsäglich, hat sie erst kürzlich gesagt, er habe es doch immer gut mit mir gemeint. Und als wäre das noch nicht genug, unterstellte sie mir doch tatsächlich, ich würde bei meinem Egotrip kein einziges Mal an die Kinder denken. Wo ich mich seit Sammys Geburt um nichts anderes als unseren Nachwuchs kümmere.

Als ich an dieses Telefongespräch vor ein paar Tagen denke, werde ich so wütend, dass ich plötzlich die Kraft finde, zu sagen: »Genug.«

»Was genug?«, fragt sie und beobachtet verblüfft, wie ich meine bereits ausgestreckte Hand wieder zurückziehe.

»Genug, dass du hier unangemeldet aufkreuzt, um zu überwachen, ob ich meinen Haushalt richtig führe. Genug, dass du mir vorschreiben willst, was ich meiner Familie zum Abendessen serviere. Genug, dass du dich in meine Eheprobleme einmischst. Genug, dass du dich in mein Leben einmischst!« Den letzten Satz hätte ich geschrien, wenn ich nicht im letzten Moment noch an Clea gedacht hätte, die hinter mir am Malen ist.

Ich gucke meine Mutter herausfordernd an. Sie guckt erschrocken zurück. Sie kapiert es nicht, denke ich. Seufzend trete ich einen Schritt zur Seite und lasse sie herein. Mir wird klar, dass ich die Sache, die ich angefangen habe, nun auch zu Ende bringen muss.

Nachdem ich die verkochten Nudeln weggekippt und das Gratin in den Ofen geschoben habe, bitte ich Clea fernzusehen, bis das Gratin gar ist. Das muss ich ihr nicht zweimal sagen.

Ich setze mich zu meiner Mutter an den Küchentisch und drehe gedankenverloren die Zeichnung zu mir, die Clea ihrer Großmutter geschenkt hat.

»Blume auf Hügel«, sagt meine Mutter erklärend. Ein hilfloser Versuch, ein Gespräch in Gang zu bringen.

»Blume auf Scheißhaufen«, antworte ich halb grimmig, halb belustigt und weiß, dass sie gleich verschämt lachen wird. Meine Mutter hat schmutzige Wörter immer heimlich gemocht, doch ihre Erziehung hat ihr verboten, sie zu benutzen. Ich blinzle ihr zu und sie lässt ihr leises, hohes Kichern hören.

Leider währt der Frieden nicht lange. Noch während ich mit dem Zeigefinger die Konturen der Blume nachzeichne, die auf dem Hügel steht, der farblich und der Form nach tatsächlich eher einem Scheißhaufen gleicht, sagt sie: »Schätzchen, ich wünsche mir doch nur, dass es dir gut geht.«

»Es geht mir nicht gut, wenn ich mit Konrad zusammenbleibe«, antworte ich.

»Aber warum denn nicht? Er tut doch alles für euch, bringt genug Geld nach Hause, ermöglicht euch …«

»Mama!«, unterbreche ich sie laut und vorwurfsvoll. »Willst du mir jetzt schon wieder sagen, dass ich alleine schuld an dieser Misere bin?«

Erschrocken hält sie inne und schaut mich an.

»Aber … was tut er denn so Schreckliches?«, fragt sie fast schüchtern.

»Verstehst du denn nicht? Ich möchte endlich das Gefühl haben, selber entscheiden zu können, wo mein Leben hinführt, wie ich es lebe und was ich für richtig halte.

Auch für die Kinder. Ich bin zum Beispiel nach wie vor davon überzeugt, dass Clea eingeschult werden sollte. Aber du wolltest es mir ausreden, genau wie früher. Nur weil du vermeiden wolltest, dass ich mit Konrad streite. Warum unterstützt du mich nie in meinen Entscheidungen?«

Mama schaut mich betroffen an.

»Ach, ich habe alles falsch gemacht«, sagt sie weinerlich.

Ich möchte die Augen verdrehen. Es ist so typisch. Wenn sie mir mal keine Vorwürfe macht, dann versinkt sie im Selbstmitleid.

Sie holt tief Luft und fährt leise fort: »Dabei wollte ich bei dir alles anders machen.«

»Was wolltest du anders machen?«, frage ich und kann die Gereiztheit in meiner Stimme kaum verbergen. Was will sie mir erzählen, was ich nicht schon wüsste?

Sie schaut mich an, als hätte sie meine Gedanken gelesen und sagt: »Macht es dir nichts aus, wenn ich dir erzähle, wie es früher bei mir war?«

Ich schüttle ergeben den Kopf.

»Meine Eltern führten damals ein Hotel. Sie waren tolle Gastgeber, charmant, freundlich, immer zu Späßen aufgelegt. Für mich hatten sie aber nie Zeit. Zum Beispiel erwarteten sie schon früh von mir, dass ich mich alleine bettfertig machte und schlafen ging. Ich wollte Floristin werden. Doch wann immer ich das meinen Eltern klarmachen wollte, wurde mein Vater wütend: ›Ich habe mich doch nicht mein ganzes Leben lang im Hotel abgeschuftet, damit meine Tochter ihre Chance mit Füßen tritt‹, sagte er immer. Ich gab nach und begann als Serviertochter im Betrieb zu arbeiten – unter den wachsamen Augen meiner Eltern, denen ich nie gut genug war, finanziell abhängig, ohne Perspektive auf ein anderes Leben. Dann tauchte dein Vater auf. Und ich stürzte mich in die Ehe, als wäre diese ein angemessener Ersatz für die Floristinnenlehre, die ich mir so ersehnt hatte.«

Meine Mutter seufzt, als sie nichts mehr zu erzählen weiß. Und ich bin verblüfft. Mir war nicht klar gewesen, wie einsam sie als Kind gewesen war. Für mich hatten meine Großeltern Unmengen Zeit gehabt. Mir haben sie Gutenachtgeschichten vorgelesen. Zwar wusste ich bereits, dass sie gerne Floristin geworden wäre, jedoch nicht, dass ihr Vater sie dermaßen vehement davon abhielt.

»Ich verstehe bloß nicht, warum hast du nach allem, was du erlebt hast, mich genauso wenig in meinen eigenen Entscheidungen unterstützt?«, sage ich leise. »Immer wolltest du, dass ich auf Nummer sicher gehe. Ich hätte so gern mal etwas Mutiges gemacht. Mein Traum war, Goldschmiedin zu werden. Und deinetwegen wurde ich Floristin.«

Meine Mutter wischt sich eine Träne weg. »Und ich hab mir geschworen, es mit meinem Kind besser zu machen, immer für dich da zu sein, dich nicht so allein zu lassen«, erklärt sie mit dünner Stimme. »Das wird in Zukunft alles anders. Ich verspreche dir, deine Bedürfnisse ernst zu nehmen, auch dann, wenn ich nicht auf den ersten Blick damit einverstanden bin.«

Als sie sich nach dem Mittagessen verabschiedet, weiß ich, dass ich jetzt eine Verbündete habe.

Kommentar

Beate beginnt, die nie stattgefundene Ablösung von ihren Eltern zu vollziehen. Sie kann der Mutter klarmachen, dass sie unabhängig von ihr leben kann und wichtige Entscheidungen eigenständig treffen will. Die Mutter erkennt daraufhin die tiefer liegenden Gründe für Beates Wunsch, sich von Konrad zu trennen, und nimmt sich vor, sie in Zukunft zu unterstützen. Gleichzeitig gibt sie es auf, die Ehe ihrer Tochter retten zu wollen, ein Bemühen, das Beate sowieso nur als Parteinahme für Konrad verstanden hat.

Natürlich ist diese erste Annäherung nur der Anfang eines längeren Prozesses, der aber letztlich dazu führen wird, dass die Mutter ihrer Tochter zutraut, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Ein solcher Prozess kann Wochen oder Monate dauern, wird aber gelingen, weil nun endlich ernsthafte Auseinandersetzungen ohne Angst vor einem Beziehungsabbruch möglich sind.

Wenn es Beate gelungen ist, sich von ihrer Mutter auf gute Art und Weise abzulösen, und wenn sie gelernt hat, unabhängige Entscheidungen zu treffen, wird es ihr auch besser gelingen, sich mit Konrad konstruktiv auseinanderzusetzen. Auch in dieser Beziehung wird sie aufhören, sich ihm trotz verborgenen Grolls anzupassen und unterzuordnen.

Da sie bisher kaum je um ihre Anliegen gekämpft hat, fällt Konrad aus allen Wolken, als Beate nun plötzlich ihren Wunsch nach einer neuen Arbeitsstelle klar äußert. Dank des klärenden Gesprächs mit ihrer Mutter, hat Beate jetzt bessere Voraussetzungen: Erstens hat sie gerade im Gespräch mit ihrer Mutter erfahren, dass Auseinandersetzungen konstruktiv verlaufen und die Beziehung festigen können. Zweitens hat sie nun deren Rückhalt und kann so selbstsicherer für ihre Anliegen einstehen.

Falls Sie mehr über Trennungen und Ablösung erfahren möchten, lesen Sie darüber das Kapitel »3. Bindungen und Trennungen« (S. 241 ff.).