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Impressum
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-85905-1)
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© 1993 Quadriga Verlag, Weinheim und Basel
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Alle Rechte vorbehalten
Neue Rechtschreibung
Umschlaggestaltung: Büro Hamburg
Umschlagabbildung: © Marcy Maloy/Getty Images
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-22567-2

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur 10. Auflage
I  Warum und für wen dieses Buch geschrieben wurde
II  Als Seelenarzt zu Gast bei Huckleberry Finn
III  Einmal James Dean sein!
IV  Vom gesunden Eigen-Sinn
V  Auf der Suche nach der verlorenen Identität
VI  Eine besondere Art von Aufsässigkeit
VII  Warum Gutenachtgeschichten
VIII  Die Befreiung der Bilder
IX  Sarah und die sprechenden Bilder
X  Phantastische Brandstiftungen
XI  Zeit zum Träumen – die Natur in Freiheit setzen
XII  Phantasien über ein Kinderzimmer
XIII  Bedrohte Freiräume – Wege aus der Enge
XIV  Schule – lässt sich die Verknotung von Dauerfrust und Sadismus lösen?
XV  Jagd auf die Mutter oder »Wer hat Schuld«?
Epilog und Danksagung
Anhang

Vorwort zur 10. Auflage

Wir nahmen noch ’n paar Fische von den Haken, die inzwischen angebissen hatten, und warfen die Angelschnüre wieder aus. Dann machten wir alles zum Mittagessen in unserer Höhle fertig … Sehr bald wurde es dunkel, und es fing an zu donnern und zu blitzen … Gleich hinterher fing es an zu regnen, und bald goss es wie mit Eimern. Und der Wind heulte, wie ich’s noch nie gehört hatte. Es war ein richtiges Sommergewitter. Es wurde so duster, dass draußen alles wie in Tinte getaucht aussah. Und dann tauchte ein Blitz alles in helles, goldenes Licht und man konnte für einen Moment Baumkronen erkennen, die ganz weit weg waren. »Jim, ist das nicht schön?«, fragte ich. »Ich möchte nirgendwo anders sein als hier. Gib mir noch mal ’n Stück Fisch und ’nen heißen Maiskuchen.«
  
Mark Twain
»Unser Verhalten ist heutzutage umfassend süchtig. Es gibt viele Motive dafür. Es gibt aber auch viele Motive dagegen. Von denen soll in diesem Buch die Rede sein.«
Mehr als zwanzig Jahre später, nachdem ich diese Sätze in das Manuskript von »Huckleberry Finn« geschrieben habe, hat sich das dahinterstehende Konzept weltweit in vielen Ländern durchgesetzt. Gemeint ist das Salutogenesekonzept von Aaron Antonovsky, wörtlich übersetzt, das Konzept von der Gesundheitsentstehung. Das Salutogenesekonzept fragt nicht danach, was krank macht – das überlässt es dem Pathogenesekonzept –, sondern was Gesundheit entstehen lässt und erhält beziehungsweise bei Krankheit die Genesung fördert. Für die Gesundheit bedeutsame Kräfte können gleichzeitig neben krank machenden Momenten und dauerhafter Behinderung bestehen. Das ist für das Salutogenesekonzept kein logischer Widerspruch.
Dieses Konzept war mir zu der Zeit, als ich das Manuskript vom Huckleberry Finn schrieb, dem Namen nach nicht bekannt. Aber »es lag irgendwie in der Luft«. Schon auf der Konferenz der Weltgesundheitsorganisation 1986 in Ottawa ging es darum, dass eine erfolgreiche Vorbeugung nicht nur aus Warnhinweisen und Präventivschlägen gegen pathogene Faktoren bestehen kann, sondern aktiv Gesundheit fördern muss. Daraus entstand dann das Konzept der Gesundheitsförderung, das inhaltlich durchaus Überschneidungen mit dem der Salutogenese aufweist – bei der literarischen Figur des Huckleberry Finn aber vermutlich versagt hätte. Es war ja gerade das Talent von Huckleberry Finn, sich allen wohlgemeinten Einflüssen der Erwachsenen entziehen zu können. Dennoch war ihm das zu eigen, was Antonovsky in seinem Salutogenesekonzept mit Kohärenzgefühl beschreibt. Hierfür ein Beispiel: Auf der Flucht vor seinem gewalttätigen Vater kann er sich’s dennoch bei einem weltuntergangsnahen Gewitter zusammen mit seinem Freund Jim in einer Höhle wohl ergehen zu lassen, einen prächtigen Appetit entwickeln und sich an den Naturphänomenen erfreuen.
Der Begriff des Kohärenzgefühles ist aus dem Lateinischen abgeleitet und meint so viel wie einen inneren Halt und sinnvollen Lebenszusammenhang zu spüren, sich auch äußerlich gehalten, getragen fühlen und Halt verschaffen können. Ein starkes Kohärenzgefühl ermöglicht, dass ich mich in meiner Welt wohl fühle und mit mir in Selbstübereinstimmung bin. Daher bedarf ich nicht zwingend der Rauschmittel oder Rauschhandlungen, um mich selber besser aushalten zu können, mich weniger schlecht zu fühlen. Der Rausch ist dann nicht mit einer Differenzerfahrung verbunden, die im nüchternen Zustand nach immer neuen Rauschzuständen schreit.
Das Kohärenzgefühl entsteht vom ersten Lebenstag an aus sozialen Beziehungen heraus. Vornehmlich auch solchen, in denen wir uns spielerisch-dialogisch entfalten können und wohlwollend wahrgenommen wissen. Für Huck Finn, als literarisches Vorbild, ereignete sich dies in der Freundschaft mit Jim und den Beziehungen in seiner Peergroup.
Verblüffend war für mich bei der neuerlichen Lektüre des Textes für eine überarbeitete Fassung, wie das Salutogenesekonzept implizit, d. h. eher beiläufig, mitschwingt. Nur an wenigen Stellen bin ich dann beim Bearbeiten des Textes der Versuchung erlegen, dies auch explizit zu verdeutlichen. Die Grundkonstruktion wurde jedoch beibehalten. Sozialpsychologisch bedeutsame Ereignisse, die heute schon länger zurückliegen, wurden jetzt als solche historisch in ihren Kontext eingeordnet. Zugleich wurde ein Bezug zu der darauf folgenden Entwicklung hergestellt. Oder sie wurden gegen zeitnähere Beispiele eingetauscht. Berücksichtigt wurden ebenfalls einige Ergebnisse der Gedächtnisforschung und der Neurobiologie.
Der Text sollte aber auch weiterhin aus sich heraus verständlich sein und zum Lesen motivieren. Und wenn Sie, liebe Leserin und lieber Leser, nach der Lektüre neugierig darauf geworden sind, was Sie selber mit einfachen Mitteln alles anstellen können, damit es in dieser Welt etwas weniger süchtig zugeht, dann wäre das ganz fabelhaft!
Eckhard Schiffer
Januar 2010

· I ·  
Warum und für wen dieses Buch geschrieben wurde

»In ’nem Haus zu wohnen und in ’nem Bett zu schlafen, das gibt ’nen hübschen Sinn für Sauberkeit. Aber bevor die kalte Jahreszeit kam, brannt’ ich manchmal durch und schlief im Wald, und das war für mich immer ’ne Erholung. Die alte Art war mir nun mal die liebste, aber schließlich gewöhnte ich mich auch an die neue ’n kleines bisschen. Die Witwe sagte, ich ›mache mich‹ langsam, aber sicher, und würde mich ganz gut betragen. Sie sagte, sie brauchte sich wegen mir nicht mehr zu schämen.«
  
Mark Twain
Sucht hat viele Gesichter und auch viele Begründungen. Mit Sucht ist in diesem Buch ein Handeln gemeint, über das ein innerer Zustand des Unglücklichseins, der Spannung und der Unruhe oder der qualvollen Leere verändert werden soll. Selbsthass und innere Friedlosigkeit sollen beendet werden. Angestrebt wird also Befriedigung. Jedoch führt dieser Weg über kurzfristigen Scheinfrieden in die Selbstzerstörung. Und der Weg wird meist weiter beschritten, obgleich die Folgen bekannt sind – trotz »Aufklärung«.
»Weitermachen trotz Selbstzerstörung«, diese Devise gilt sowohl für die Alkohol- und Drogensucht als auch für die Fress- und Magersucht, gleichfalls aber auch für das Auffressen unseres Planeten. Wir machen weiter, obgleich wir wissen, was wir anrichten. Unser Verhalten ist heutzutage umfassend süchtig. Es gibt viele Motive dafür.
Es gibt aber auch viele Motive dagegen. Von denen soll in diesem Buch vorwiegend die Rede sein. Im Wesentlichen geht es also um die Förderung gesunder Kräfte in jedem Menschen als Vorbeugung im weitesten Sinne des Wortes. Vorbeugung gegen die Sucht in ihren verschiedensten Erscheinungsformen – gegen die akute Erkrankung wie auch gegen den Rückfall.

Was hat das alles mit Huckleberry Finn zu tun?

Huckleberry ist in Mark Twains Geschichten um Tom Sawyer der Bürgerschreck – faul, verwahrlost, ohne festen Wohnsitz; der Vater ein gewalttätiger Säufer, von der Mutter ist schon gar nicht mehr die Rede. Nach unseren heutigen Vorstellungen wäre demnach Huckleberry Finn hochgradig gefährdet. Offensichtlich kommt der Huck jedoch gut über die Runden. Der Leser sympathisiert mit ihm, die Geschichten laden ein, sich mit Huck zu identifizieren.
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Es ist dabei für unsere Überlegungen ziemlich einerlei, ob Huck nun tatsächlich gelebt hat oder als Phantasiegestalt Mark Twains möglicherweise auch autobiographische Züge aufweist. Wesentlich ist, was der Schelm Huck in seinem aufsässig-schöpferischen Denken und Handeln vermittelt.
Ein Beispiel: Mit den Schablonen des kindlichen Denkens und Sprechens reproduziert er zunächst den Rassismus seiner Zeit. In seinen gemüthaften Reaktionen auf den »Nigger« Jim und in seinem eigenen Handeln überwindet Huck aber allen Rassismus und stellt sich quer zu seiner Zeit.
Gewiss, idealisiert wird sein Widerspruch zur neurotisierenden amerikanischen Provinzgesellschaft schon, aber auch das ist nicht entscheidend. Wichtiger ist das, was bei dem Leser und der Leserin sich innerlich rührt, wenn Huck von seinem Leben erzählt: Sympathie, Lachen, Wehmut. Huck verdeutlicht die zumeist verdrängte Sehnsucht nach einer Welt ohne krank machende Normen, Regeln und Gesetze, einer eigenen, nicht vorfabrizierten Welt, die mit allen Sinnen erfahren und so in ihrer scheinbaren Banalität zum Abenteuer wird – und zum Abenteuer in der Phantasie einlädt.
Thema dieses Buches ist, wie sich eine solche Rebellion in unserer Gegenwart umsetzen lässt, ohne allzu sehr Außenseiter wie Huckleberry Finn werden zu müssen.
Dieses Buch wendet sich an Eltern und Verwandte, an Erzieherinnen und Erzieher, an Lehrer und Lehrerinnen, Stadtväter und -mütter, kurz an alle, die (noch) mit Kindern zu tun haben. Kinder gehen letztlich uns alle etwas an. Aber sie passen nicht mehr in unsere auf Reibungslosigkeit und kontrollierbare Leistung bedachte Gesellschaft. Von »der Straße« als wichtigem Ort geselliger Selbstentfaltung sind Kinder schon lange wegrationalisiert. Und in den Kindergärten und Grundschulen werden Kinder wie auch Erzieherinnen und Lehrkräfte immer mehr als programmierbare Objekte missverstanden. Letzteres insbesondere im Zusammenhang mit der deutschen Erregung um die PISA-Testergebnisse. Dass aber erfolgreiches Lernen einschließlich Lebenstüchtigkeit etwas mit lebendiger Begegnung zwischen allen an dem Lernprozess Beteiligten und mit schöpferischer Entfaltung zu tun hat, ist offensichtlich aus dem Blickfeld geraten.1
1 s. a. Schiffer, E. u. H.: LernGesundheit. Weinheim und Basel: Beltz 2004.
In diesem Buch wird die These vertreten, dass Sucht in ihren verschiedensten Formen oft vermeidbar ist, wenn die Welt unserer Kinder vor Zerstörung bewahrt wird und unsere Kinder ihre schöpferischen Kräfte darin entfalten können. Öde und Langeweile als Vorstadien der Sucht entstehen nur da, wo die poietische2 Aufsässigkeit unserer Kinder diszipliniert und abgewürgt wird. Die herkömmliche Suchtberatung und -therapie sind teuer und ineffektiv, wenn erst einmal eine Sucht besteht. Sucht ist die Krebserkrankung der Seele.
2 (griechisch) poieo: mache, schaffe, hier im Sinne von gestalten, vergl. auch Poesie. (In Abgrenzung gegen das heute bereits kommerziell besetzte »kreativ«) poietisch, Sprechweise: peu-e-tisch; poietische Aufsässigkeit, hier als schöpferischer Eigen-Sinn gegen eine übergestülpte Programmatik (siehe auch Anhang)
Auch »Aufklärung« bringt wenig, Polizeieinsatz noch weniger. Die Hilflosigkeit angesichts der menschlichen Tragödien, die oft im Suizid enden, fordert zu neuen Überlegungen hinsichtlich einer wirksamen Vorbeugung, das heißt Immunisierung, gegen die Sucht heraus.
Und noch eine weitere – gutbürgerliche – Überlegung: Der volkswirtschaftliche Verlust durch Krankheit und Siechtum, vergebliche Ausbildung und Umschulung geht in die Milliarden.
Grund genug, um das Augenmerk auf etwas anderes zu richten als auf immer weitere Forderungen nach immer mehr Therapie, das heißt »Folgereparaturen«, deren Notwendigkeit aus einer zerstörten Welt der Kindheit resultiert. Eben diese Welt gilt es zu beeinflussen, damit nicht immer wieder die Zerstörung in einem Kreislauf der Verinnerlichung weitergegeben wird und zu neuer Zerstörung der Innen- und Außenwelt führt.
Solche Kreisläufe sollen an Fallgeschichten von Patientinnen und Patienten verdeutlicht werden. Schwerpunktmäßig sollen jedoch die Möglichkeiten aufgezeigt werden, diese Kreisläufe zu unterbrechen bzw. gar nicht erst entstehen zu lassen.3
3 Die angeführten Krankengeschichten beziehen sich auf Therapien, die bereits abgeschlossen sind. Die Namen und Daten sowie andere situative Gegebenheiten wurden so weit als möglich verändert, um die Anonymität der Betreffenden zu wahren. Dieses Bemühen kollidierte gelegentlich mit dem Anspruch auf Plausibilität und Authentizität. Im Zweifelsfalle hatte jedoch stets die Schutzbedürftigkeit des Patienten Vorrang.
Dieses Buch will auch etwas provozieren. Es ist eine Einladung zur Aufsässigkeit, zum Abenteuern, zum Tagträumen – mit Rückfahrkarte zur Realität und ihren so genannten Sachzwängen. Realität bleibt dann kein Betonklotz, sondern erweist sich als veränderbar. Sucht meint ein Flüchten in eine Scheinwelt, wodurch der Betonklotz Realität nur noch größer und grässlicher wird.
Dies ist zugleich auch eine Einladung an die Eltern, zusammen mit ihren Kindern die eigenen schöpferischen Kräfte (neu) zu entdecken. Dabei kommt es aber nicht auf ein zensierbares Ergebnis an, sondern auf das Tun selbst: miteinander singen, malen, tanzen, toben, Geschichten erzählen – und zuhören können. Darüber kann sich ein starkes Selbstwertgefühl entfalten. Und dann bedürfen die Kinder späterhin auch nicht des Alkohols, um darin ihr schlechtes, mit Selbstverachtung und Scham einhergehendes Selbst(un)wertgefühl aufzulösen.
»Warum trinkst du?«, fragte der Kleine Prinz den Säufer. »Weil ich mich schäme.« »Und warum schämst du dich?« »Weil ich saufe.«

· II ·  
Als Seelenarzt zu Gast bei Huckleberry Finn

»Denn, um es endlich einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.«
  
Friedrich Schiller
Als Siebenjähriger fand ich die Geschichten um Tom Sawyer und Huckleberry Finn mitunter reichlich gruselig. Später waren die Geschichten sehr anregend: Sommerferien mit einem Floß auf der Hunte und der Weser als großes Abenteuer in den Tagträumen – so wie der Huck auf dem Mississippi ungezwungen und ungebunden leben können …
Nun, bis zu einem improvisierten Floß aus einer alten Badewanne, die mit Kanistern seitlich stabilisiert wurde, haben meine Freunde und ich es immerhin gebracht. Damit sind wir im Frühjahr auf den großen Entwässerungsgräben im Moor geschippert. Das war genauso gut und aufregend. Mindestens einer ist dann ja auch zur Freude aller in das aromatische Moorwasser geplumpst. Hinterher hockten wir mit tränenden Augen um ein Feuerchen in einer selbst gebauten, windschiefen Bude und freuten uns über unsere Heldentaten. Das soeben Erlebte, Früheres und Zukünftiges kamen in einer Geschichte zusammen, das Erzählen wurde zur Erinnerung an Möglichkeiten. Natürlich spielte das »große Floß« auch eine Rolle dabei. Bretter, Balken und Kanister wurden »besorgt«, gestapelt. Spannend war das und aufregend, konnte aber dennoch vergessen werden, zwischendurch über Schularbeiten, Streitereien und neuen Abenteuern. Aber es blieb immer noch: als Erinnerung an die Möglichkeit.
Gut dreißig Jahre später entwickelten wir4 im Mitarbeiterkreis unserer Abteilung ein Therapiekonzept für Patienten mit Spielsüchten, »Null-Bock-Syndromen« und Ess-BrechKrankheiten.
4 Unter Federführung von Dipl.-Päd. Ulrich Eberth.
»Inter-Aktionsgruppe« haben wir diese Unternehmung genannt, als »Erlebnistherapie« wird dasselbe an anderen Stellen, zum Beispiel in der Jugendpsychiatrie, bezeichnet.
Hierzu gehören bei uns Fahrten auf einem selbst gebauten Floß, nächtliche Gruselwanderungen durchs Moor, Laubschlachten und vieles mehr.
Die Stimmung, aus der heraus alles geschieht, ist schwer zu beschreiben und lässt sich nicht »organisieren«. Alles kann nur »im Geist der Neugierde, nicht aus dem Geist des Gehorsams heraus« geschehen. Es ist kein Abenteuerurlaub, kein Robinson-Club und kein organisierter Ferienspaß. Ja, was ist es denn eigentlich? Vielleicht am ehesten eine Einladung, Phantasie zu wagen.
Das Problem unserer Patienten mit den eben genannten Krankheiten ist eine leere, öde innere Welt ohne lebendige Phantasie. Deswegen mussten bislang Suchtmittel herhalten, um diese innere Öde aufzubessern.
Die Phantasie des Huckleberry Finn ist alles andere als öde und schlaff. Sein inneres Erleben ist für ihn immer wieder Grund, auf seine äußere Welt zuzugehen, diese auszuprobieren, so wie es ihm selbst gerade in den Sinn kommt. Er kann mit seiner Welt etwas anfangen. Fabelhaft: Schwimmen, Tauchen, Rudern, Klettern, Schnitzen, Fluchtburgenbauen, Zündeln, Raufen, Rennen, Springen – Huck erfährt seine Welt mit all seinen Sinnen und nach seinen Bedürfnissen. Er geht an die Welt heran, wie es ihm Spaß macht. Auf diese Weise kann er dann auch ohne Suchtmittel überleben, wenn er viele Dinge aushalten muss, die ihm ganz und gar nicht Freude bereiten.
Meine Patientin Wiebke hatte mit sechs Jahren ihre erste Käthe-Kruse-Puppe bekommen. Mit der durfte sie aber nur am Sonntag spielen, weil die ja echte Haare hatte. Als sie das mit den »echten Haaren« ausprobieren wollte und sie der Puppe einen prächtigen Bubikopf verpasste, gab es, wie sie sich selber ausdrückte, »Stress«. Die Puppe war weg und lag erst sieben Jahre später mit einer anderen Puppe zusammen auf dem Gabentisch zum 13. Geburtstag – als sie nach Meinung der Eltern vernünftig genug war, damit zu spielen. Statt der Puppe gab es dann schon im Grundschulalter zweimal Klavierunterricht die Woche, einmal Ballett und dreimal Flötenunterricht. Bald spielte sie so gut Flöte, dass sie an Wettbewerben teilnehmen konnte. Zur Freude der Eltern siegte (!) sie bei diesen Wettbewerben wiederholt. Mit ihrer einzigen Freundin, die gleichfalls mit der Flöte meisterhaft umzugehen wusste, spielte sie zusammen – Flöte. Das Problem begann, als die Freundin ebenfalls an den Wettbewerben teilnahm, worüber es zum Krach und zum Bruch der Freundschaft kam. Wenig später legte Wiebke die Flöte beiseite, um sie bis heute nicht wieder anzurühren, nachdem sie bei Bewerbungen an den Hochschulen Beurteilungen bekommen hatte, die ihren Erwartungen an sich selbst nicht entsprachen. Das sei zu kränkend für sie gewesen. »Alles oder nichts« war ihre Devise. Später erkrankte sie an einer Magersucht.
Als Wiebke mit 25 Jahren zu uns in die Klinik kam, fragte ich sie nach ihren Phantasien und Tagträumen und worauf sie sich denn freuen könne. Sie sah mich zunächst sehr erstaunt an, dann schwieg sie lange und sagte: »In meinem Beruf erfolgreich sein.«
Huckleberry Finn hatte Glück, dass er keine Eltern hatte, die aus Sorge um die Zukunft ihrer Kinder diese zu Sklaven machen, diesen – in unserer Zeit, die Leistung vergötzt – Wettbewerb und Leistung aufnötigen, wo Raum für spontanes Spielen, Ausprobieren, Sinnenlust und Spaß erforderlich wäre. Spiel ist alles das, so Schiller, was »weder äußerlich noch innerlich nötigt«. Und in Donald Winnicotts genialem Buch »Vom Spiel zur Kreativität« ist das Ideal vom »wahren Selbst« da angesiedelt, wo Kinder nicht genötigt werden, Fremdinteressen zu bedienen. Wie gegenwärtig zum Beispiel die durch Medien verbreiteten Normen zum Schlankheitsideal oder die an wirtschaftlichen Interessen orientierten Empfehlungen der PISA-Erfinderin OECD. Zu nennen wären auch unreflektierte familiäre Ängste im Hinblick auf Ansehen, Karriere und wirtschaftliche Sicherheit.
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Wettbewerbe für Kinder unter dem Motto »Jugend malt, musiziert, turnt, singt, tanzt, reitet …« oder was auch immer sind Ausdruck der Verbissenheit, mit der immer mehr kindlicher Freiraum gegen programmierte Nachmittage und Wochenenden eingetauscht wird. Dazu gibt’s noch, das versteht sich von selbst, die Schulaufgaben und gegebenenfalls Nachhilfe, damit in unserem Schulsystem der Sprung in die »weiterführende Schule« oder das gewünschte Studienfach gelingt.
Zumindest gilt dies sehr oft für karriere- und kulturbeflissene Familien. Hier wird eine andauernde innere Friedlosigkeit erzeugt, denn die Leistung der eigenen Kinder steht im Vergleich zu der der jeweils anderen. Die Szene wird von Konkurrenz und Wettbewerb beherrscht. Was ist mein Marktwert? Wie steche ich meinen Konkurrenten aus? Vor solch einem Hintergrund entsteht, Winnicott folgend, das »falsche Selbst«. Und das ist wegen der inneren Friedlosigkeit sucht- oder dopinggefährdet.
Kinder werden aber – das können wir den Eltern, die sich um die Lebenstüchtigkeit ihres Kindes sorgen, vorab schon zusichern – mit Entdeckerlust und Interesse an erkenn- und beeinflussbaren Funktionszusammenhängen bereits geboren.
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