Monika Renz

Hoffnung und Gnade

Erfahrung von Transzendenz in Leid und Krankheit – Spiritual Care

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Impressum

Das vorliegende Buch integriert Material des Buches »Grenzerfahrung Gott« (2003/2010), allerdings in neuer Zusammenstellung und Reflexion. Der Text wurde gestrafft und überarbeitet und durch Erkenntnisse und Erfahrungen weiterer zehn Jahre Arbeit mit Schwerkranken ergänzt.

© Kreuz Verlag

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (Buch) 978-3-451-61304-3

ISBN (E-Book) 978-3-451-80250-8

Inhalt

Einleitung

Zur Arbeitsweise und Forschungsmethode

1  Spiritualität ist Erfahrung

1.1 Ist Gott erfahrbar?

1.2 War das Transzendenzerfahrung? Beispiele

1.3 Ein Phänomen – verschiedene Namen

1.4 Merkmale spiritueller Erfahrung

1.5 Außerhalb von Angst und Körpersymptomen

2  Zwischen zwei Welten: Der Grenzbereich und seine Gesetzmäßigkeiten

2.1 Drei Erfahrungsberichte

2.2 Was kennzeichnet den Grenzbereich?

2.3 Umgeben von Musik und Schwingung

2.4 Im Grenzbereich scheiden sich die Geister

2.5 Der Grenzbereich als Ort geistiger Kämpfe

3  Hoffnung auf Gnade

3.1 Das gefährliche Wort Hoffnung

3.2 Die Sehnsucht nach Heilsein inmitten von Unheil

3.3 Die dunkle Nacht: Erfahrung heutiger Menschen, Erfahrung von Mystikern?

3.4 Stellvertretendes Hoffen

3.5 »Einer allein kann nie genug hoffen« (Metz)

4  Transzendenzerfahrung ist Realität und Gnade

4.1 Transzendenzerfahrung bewirkt – Beispiele

4.2 Sind Transzendenzerfahrungen abhängig von der religiösen Einstellung?

4.3 Realitätsprüfung: Wie weiß ich, dass es eine spirituelle Erfahrung war?

4.4 Gibt es Auslöser für Transzendenzerfahrungen?

4.5 ›Es‹ findet statt im Außergewöhnlichen, im Alltäglichen, im kognitiven oder kreativen Durchbruch

4.6 Kann man Erfahrungsinhalte kategorisieren?

5  Fünf Gotteserfahrungen – zwei Erfahrungen am Rande davon

5.1 Engel und heilige Atmosphäre

5.2 Verlorenheit, Dunkelerfahrungen, Kampf

5.3 Einheits- und Seinserfahrung

5.4 Gegenüber-Erfahrung

5.5 Der väterlich-mütterliche Gott

5.6 Der ›Gott inmitten‹ – Erfahrung von Präsenz, Christus

5.7 Geist-Erfahrung

6  Sein oder Beziehung: Wesens- oder Wahrheitsfrage?

6.1 Religionen sind existenzielle Antwort – doch worauf? Kriterium ›Prägung‹

6.2 Loslassen und Finden – Kriterium ›Beziehungsfähigkeit‹

6.3 Sein und Beziehung – Kriterium ›Sinnhaftigkeit‹

6.4 Reifungswege befreien – Verzeihung, Schuldfähigkeit, Heimfindung

6.5 Zum Weg gehört auch die Besinnung auf das kulturspezifische Potential

6.6 Transzendenzerfahrungen von Vollendung, Integration, Sinn, Ziel

7  Spiritual Care – Spirituelle Begleitung

7.1 Psychotherapie oder Seelsorge?

7.2 Begleitung als Liebe und Bund – zuviel verlangt?

7.3 ›Die Frage, die ich bin‹ (Karl Rahner) als Gebet

7.4 Umgang mit schwierigen Situationen – Ideenkartei

7.5 Wie Gott, wie Bibeltexte und religiöse Zeichensetzungen einbringen?

7.6 Wie umgehen mit Transzendenzerfahrungen?

Projektergebnisse

Literaturverzeichnis

Einleitung

Wo ist Gott im Leiden? Diese Frage wurde spätestens seit der Aufklärung zum Stein des Anstoßes und zum Fels des Atheismus. Wie kann Gott gut sein, wenn er die Menschen im Leiden im Stich lässt? So intervenierten kritische Stimmen zu Recht. Inzwischen ist das ›Konzept Gott‹ als Ganzes auf weiten Strecken infrage gestellt, immer mehr Menschen glauben nicht mehr an Gott, denken schon gar nicht mehr an ihn. Das vornehmste moderne Wort, um heute den Faktor ›Gott‹ oder ›das Göttliche‹ – als Wirkmacht wie auch als menschliche Erfahrungsrealität – einzubringen, heißt Gnade. Gibt es Gnade im Leiden? Und was hat sie mit Hoffnung zu tun?

Nirgendwo klaffen die Worte Hoffnung und Gnade so weit auseinander wie in Leid und Krankheit. Der Sinn des gesamten Lebens wird jetzt auf den Prüfstand gestellt. Umgekehrt finden nirgendwo die beiden Worte so nahe zusammen wie genau hier, denn das Unfassbare einer Gotteserfahrung – hier auch spirituelle Erfahrung oder Transzendenzerfahrung genannt – bricht ein ins Dunkel von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung: Lang ersehnt und doch ganz anders; nach Wochen, Monaten bitterer Gottverlassenheit. Hoffnung und Gnade sind wie Mut und Gnade (Wilber, 1996) ein Wortpaar, das die Kluft zwischen Irdischem und Transzendentem überbrückt.

Über Jahrhunderte wurde in der abendländischen Kulturgeschichte gestritten, ob das menschliche Seelenheil mittels Leistung zu erlangen sei oder sich radikal der Gnade verdanke (vgl. Konflikt zwischen Pelagius und Augustinus). Der Reformator Martin Luther betonte dann ›sola gratia‹ (nur Gnade) und zog damit Bilanz gegenüber kirchlichen Fehlentwicklungen, die den Eindruck erweckten, das Seelenheil sei käuflich. Die Frage ist noch heute brisant: Ist Glücklich-Sein machbar, oder ist es verdanktes, zufallendes Geschenk – Gnade? Und was sagen Menschen inmitten von Leid? Ausgerechnet schwerkranke Menschen lehren uns, dass Wesentliches in ihnen geschieht, wo Offenheit und Gnade zusammenkommen, sich berühren. Offenheit aufzubringen – und sei es nur der Wille, offen zu sein für das Schöne des Tages –, ist für sie seelische Schwerarbeit. Ist Glücklich-Sein also doch ›Leistung‹? Können wir Glück erwirken?

Das vorliegende Buch setzt bei diesem Spannungsverhältnis an und spricht von Hoffnung und Gnade. Es zeigt auf, was in schwerkranken Menschen geschieht, wenn sie inmitten ihres Leides die ›Realität Gott‹ oder Transzendenz spüren. Wie werden Transzendenzerfahrungen von Menschen unserer Tage berichtet? Immer wieder beschreiben leidgeprüfte Menschen ein unbeschreibliches Glücklich-Sein. Das Buch erzählt solche Erfahrungen (vgl. Kap. 5) und auch, was ihnen vorausging, etwa ein Traum oder eine Segensspendung. Und es liefert Kategorien und Zahlen. Basierend auf einem Forschungsprojekt mit 251 schwer an Krebs erkrankten Menschen unter dem Titel ›Spirituelle Erfahrungen in Leid und Krankheit‹1 ›zählt‹ es die vielen Transzendenzerfahrungen unserer Patienten und Patientinnen (vgl. Anhang). Warum ist ausgerechnet ihnen das Unfassbare, auch Numinose widerfahren? Warum berührt das Mystische, Spirituelle genau jetzt, inmitten von Leid? Die Häufigkeit sich ereignender Transzendenzerfahrung in diesem Projekt war auch für uns Ärzte, Pflegende und Therapeuten überraschend. Das ist Aussage und Hoffnung für alle Leidtragenden: Das Spirituelle ereignet sich genau im Leid, wo das Ich mit seinen Konzepten und Bewältigungsstrategien am Ende ist. Genau da scheint sich Gnade zu verdichten und kommt neuartige Offenheit auf (vgl. Kap. 3; 4).

Nicht minder verheißungsvoll sind unserem Projekt zufolge die Wirkungen spiritueller Erfahrungen auf die innere Befindlichkeit, auf die Haltung dem Leben und Sterben gegenüber, auf Ängste und Schmerzen. Darf man daraus rückschließen, Glücklich-Sein sei also doch machbar, steuerbar? Lebt glücklicher, wer religiös ist oder meditiert?2 Sind spirituelle Erfahrungen – und damit ihre positiven Effekte – den religiösen Menschen vorbehalten? Sind sie abhängig von Religionszugehörigkeit oder spiritueller Praktik? Kommt es bei meditationsgewohnten Menschen häufiger zu spirituellen Erfahrungen als bei anderen? Gemäß den Ergebnissen unserer Studie sind all diese Fragen nicht zielführend, nicht richtig gestellt (vgl. Kap. 4.2). Nicht die religiöse/spirituelle Haltung scheint zu zählen (vgl. z.B. King et al., 2013), sondern die Tatsache ›Erfahrung‹. Damit es aber zu solcher Erfahrung von Transzendenz kommen kann, braucht es Offenheit und Gnade.

Worin liegt nun die Bedeutung des Titelwortes Hoffnung? Hoffnung hat mit Offenheit zu tun, ist aber darin bereits ausgerichtet: Hoffnung setzt letztlich auf Gnade und damit auf etwas Unverhofftes. Hoffnung umschreibt jene Befindlichkeit und Grundhaltung, in der sich der Mensch ein Offensein auf ein letztes Glücken des Lebens nicht nehmen lässt. Im Umgang mit Krebskranken ist Hoffnung ein missverständliches Wort. Viele Krebskranke und Angehörige hoffen auf ein Wunder. Sie müssen von einer unrealistischen zu einer geläuterten Hoffnung, die mehr und Anderes beinhaltet als einen geglückten Krankheitsverlauf, finden. Hoffnung konstelliert und orientiert sich immer wieder, in stets neu zu findender Offenheit. Hoffnung ist nicht ein Gut, das wir im Sinne eines Besitzes ›haben‹. In der Hoffnung können wir nur immer neu ankommen und ›sein‹. Zur Hoffnung finden ist ein Prozess. Er führt durch das Dunkel, ja den toten Punkt hindurch, hinein in eine Daseinsqualität, die das begrenzte Ich überschreitet (vgl. Kap. 3). Hoffnung ist genährt von der Energie der Vision. Hoffen ist etymologisch verwandt mit hüpfen, hoppeln (to hope). Hüpfenderweise traut sich der Mensch an Dimensionen heran, die ihm sonst nicht erschlossen sind.

Gnade ist von Gott her als Angebot stets da. Beide Begriffe, Gnade und Gott, werden hier nicht im Sinne eines dogmatischen Konzeptes, sondern schlicht als menschliche Erfahrungsrealität verstanden. Gnade ist ein anderer Begriff für das Göttliche. In ihr ist Gott, das Göttliche, Ganze, Unfassbare oder Spirituelle – nenne man es, wie man möchte3 – bereits präsent. Das Wort Gnade hebt den Geschenkcharakter hervor: Es geht um etwas, das der Mensch nicht selbst erwirken kann. Gnade ist Gegenqualität zu ›Ego‹. Die Verwendung des Begriffes ist Bekenntnis, aber ohne die Starre des Lehrgebäudes einer Religion. Gnade kann den Menschen genau dort berühren, wo etwas in ihm empfänglich ist. Sie wird zur Erfahrung oder sie bleibt Konstrukt. – Eine sich um ihre zurückbleibenden Kinder sorgende, sterbende Mutter beschrieb ihre spirituelle Erfahrung wie folgt: »Da war eine große Sorglosigkeit. … Lösungen waren wie gefunden, ohne dass ich gewusst hätte, welche. Aber es war nicht einfach ›nichts‹, sondern ein Alles.« – Gnade kommt dem Menschen entgegen, ist nicht vom Ich aus planbar. Sie ereignet sich stets anders als erwartet, in anderer Kategorie. – Ein Sterbender, der als Kriegskind Hunger litt, sah in einer Vision (s)ein Paradies. Er wusste nicht, wie sich ausdrücken, und begann: »drüben erhalte ich nicht nur ein Sandwich«. – Gnade wird erlebt als Hilfe von außen oder von zutiefst innen. Schon dass sich Hoffnung und ein Offen-Werden einstellen, hat mit Gnade zu tun.

Wie können wir Menschen in ihren spirituellen Prozessen, ihrem Warten und Ringen, ihrem Loslassen und Finden begleiten (vgl. Kap 3; 7)? Wie können wir Leidenden beistehen, wo sie nur mehr ins Leere hinaus aushalten? Oft kennen sie nur Gottes Abwesenheit und leiten daraus einen über allem Leben stehenden Hohn ab. Wie finden wir Begleiter zur nötigen Behutsamkeit? Wann ist trotz Scheu und gesellschaftlicher Fluchttendenz ein Insistieren in der religiösen Frage wichtig? Kompetente spirituelle Begleitung ist ferner gefragt, wenn das Transzendente ins Leben und in den Alltag tatsächlich einbricht: Wie können wir dann den Menschen helfen, das Unfassbare zu interpretieren? Patienten lehren mich, dass das Heilige als solches erkannt werden muss, um nicht einfach zu verblassen, und dass es sich für ihre Lebensqualität lohnt, eine spirituelle Erfahrung im Nachgang zu hüten (vgl. Kap. 7.6).

Einer ins Rampenlicht der Medizin getretenen bedürfnisorientierten (needs-based) Spiritual Care4, die missverstanden werden kann als wellness-orientiert und welche rein anthropologisch (= ausgehend vom Menschen, dessen Bedürfnissen und Ressourcen) angegangen werden kann, setze ich hier einen anderen Ansatz gegenüber. Dieser orientiert sich am innerseelischen Prozess und an dem, was sich dabei an Transzendenzerfahrung ereignet. Spiritualität setzt dann auf die Kraft des ›gegen-wartenden‹ Hoffens und auf Gnade: auf die spirituelle Erfahrung (experience-based spiritual care, vgl. Renz et al., 2013d). Das widerspricht keineswegs dem therapeutischen und seelsorgerischen Fokus auf den Menschen in seinem Hier und Jetzt (etwa auf ein Symptom, einen Schmerz, ein zwischenmenschliches Problem). Doch deshalb möchte ich den hintergründigen, spirituellen Prozess des Menschen nicht aus den Augen verlieren: Was könnte die seelische Aussage eines körperlichen Symptomes sein? Welche tiefere Sehnsucht steht zur Bewusstwerdung an? Gibt es eine schlummernde Gotteserfahrung, die bewusst werden will? Insbesondere, wo es um das Sterben geht und Patienten sich nicht mehr immer äußern mögen, ist ein indikationsorientiertes Vorgehen und Arbeitsverständnis bedeutsam (hierzu vgl. Dying is a transition, Renz et al., 2013c).

Auf Seiten der Begleiter setzt dieses Verständnis von Spiritual Care mehr als ein entsprechendes Ausbildungsprofil voraus. Begleiter sollten überdies bereit sein, die Ohnmacht der ihnen Anvertrauten mit-auszuhalten und mitzukämpfen durch Leere und Gottferne hindurch. Sie selbst müssen dem seelisch-geistigen Prozess trauen und einer letzten Hoffnung verpflichtet sein. Gnade ist dann dasjenige, das alles therapeutische Bemühen nochmals unterfängt und übersteigt. Unsere Aufgabe als Begleiter besteht darin, Räume zu schaffen, dass ›es sich ereigne‹.

Dieses Buch richtet sich an Seelsorger, Therapeuten, Mediziner, Pflegende sowie an Angehörige und interessierte Laien. Sie finden hier einen Leitfaden vor für den Umgang mit Leidenden, auch mit dem ›vermissten und gefundenen Gott‹ (vgl. Kap. 7). Und sie erhalten einen Einblick, in welcher Bandbreite sich das Transzendente dem Menschen unseres Kulturkreises kundtut und was es zu bewirken vermag. Sie finden praktische Hinweise für eine spirituelle und psychologische Begleitung (vgl. Kap. 7.4). In seinem undogmatisch praxisbezogenen Ansatz gibt das Buch auch Antworten auf Fragen des Religionsdialogs und der Mystik: Muss, ja darf das Göttliche letztlich als Substanz oder Energie, als Seiendes oder als ein Du vorgestellt werden? Geht es um Sein oder um Beziehung? Ist Erfahrung mit dem Göttlichen monistisch oder dialogisch? Das Buch antwortet mit einem Sowohl-als-Auch und veranschaulicht mit Beispielen. Beides geschieht in einem. Im EINEN ereignet sich beides (vgl. Kap. 6).

Ich danke allen, die mir in meiner Arbeit, Forschung, Publikation und Verbreitung im deutsch- wie im englischsprachigen Raum zur Seite standen. Namentlich nennen möchte ich: Prof. Dr. Thomas Cerny, Dr. Daniel Büche, PD. Dr. Florian Strasser, Dr. Aurelius Omlin, Dr. Urs Hess, Mona Mettler, Oliver Reichmuth, Prof. Dr. Keith Anderson, USA und Spitaldirektor Dr. Daniel Germann. Ganz besonders danke ich meiner Forschungsassistentin Dr. phil. Miriam Schütt Mao, meinen beiden Kollegen Michael Peus, Dr.med. Christian Lenggenhager und meiner Supervisorin Dr. med. Gisela Leyting für ihr außerordentliches Engagement. Auf der Seite der Theologie danke ich Dr. Gotthard Fuchs, Mainz, Prof. Dr. Roman Siebenrock, Innsbruck, den Spitalseelsorgern Kläus Dörig, Niklaus Lippuner, Peter Gutknecht und all jenen Seelsorgern, die mit mir seit Jahren zusammenarbeiten. Für die tatkräftige oder stille Unterstützung danke ich der ganzen onkologischen Ärzteschaft und Pflege, meinen Geschwistern, meinen Freunden, meinem Vater und in besonderer Weise meiner Mutter Helen, welche nicht müde wurde, mir beim Schreiben mit Kritik und Ermutigung beizustehen. Ihrer Liebe und Resonanz, in der sie bis heute ganz Mutter und zugleich Gegenüber und sie selbst ist, verdanke ich die Ahnung jener Liebe, derer diese Welt und die Patienten so sehr bedürfen. Mit Hochachtung danke ich den vielen Patienten und Kursteilnehmern, die bereit waren, ihre intimen Erfahrungen mit dem Heiligen preiszugeben; selbstverständlich wurden alle Namen verändert. Ein spezieller Dank geht an Dr. Rudolf Walter, den langjährigen Cheflektor des Verlages Herder für das außergewöhnliche, aktive Mitdenken. Mein persönlichster Dank geht an meinen Mann Jürg.

St. Gallen, Januar 2014

Zur Arbeitsweise und Forschungsmethode

Zur therapeutisch-spirituellen Begleitung: Die in dieses Buch eingeflossenen Erfahrungen erwuchsen aus der persönlichen Betreuung von Krebskranken und deren Angehörigen in der Onkologie des Kantonsspitals St. Gallen, einem der größten onkologischen und palliativen Zentren der Schweiz. Unter den teils hospitalisierten, teils ambulant begleiteten Patienten befanden sich – bis Ende 2013 gerechnet – über 1000 Sterbende und ähnlich viele, die wieder ins Leben zurückkehrten. Dieser Arbeit zugrunde liegt ein mehrdimensionaler therapeutischer Ansatz, der psychotherapeutische Gespräche zur Krankheitsverarbeitung, Trauminterpretation, Traumaverarbeitung, aber auch Entspannungen und entsprechende Techniken sowie spirituelle Begleitung anbietet. Diese solchermaßen entstandene therapeutisch-spirituelle Begleitung wurde genau mit Blick auf diese Patienten entwickelt, um deren Bedürfnissen nach konstanter Beziehung bei gleichzeitig rasch wechselnder somatischer/psychischer Situation gerecht zu werden. Persönlicher Schwerpunkt ist die Musiktherapie, speziell in Form von Klangreisen (= körperliche Entspannung, kombiniert mit Imagination, die übergehen in eine nur mehr musikalische Vorgabe; vgl. Kap. 2.3). In wöchentlichen Rapporten mit Ärzten und Pflegenden wird besprochen, welchen Patienten eine solche Unterstützung vorzuschlagen sei. Patienten dürfen zustimmen oder ablehnen. In kurzen Rückmeldungen werden Ärzte und Pflegende jeweils über Wichtiges dieser Unterstützung informiert. Vertrauliches bleibt zwischen Patient und Therapeutin.

Zu den religiös-spirituellen Vorgaben der Patienten: Unter all den Patienten befinden sich sowohl religiöse wie nichtreligiöse Menschen, meist gläubige oder säkularisierte Christen, einige davon sind heute konfessionslos oder Atheisten. Darunter waren aber auch vereinzelte Muslime, Juden, Buddhisten, Hindus und Anhänger von Naturreligionen, welche diese Begleitung wünschten. Die religiöse Haltung eines Menschen sowie vertraute spirituelle Praktiken sind im Vorfeld meist nicht bekannt. Für den Einstieg in die therapeutische Beziehung sind vielmehr Befinden und aktuelle Sorgen, etwa rund um die Krankheit, die Familie oder den Lebensrückblick, entscheidend. Die spirituelle Dimension kann wichtig werden oder auch nicht. Spirituelle Erfahrungen sind dabei eine häufige und doch stets unvermittelt einbrechende Realität. Die herkömmliche religiöse Haltung sowie Vorerfahrungen im Spirituellen (bspw. über Meditation) spielen manchmal eine Rolle, öfters aber nicht.

Zur Forschungstätigkeit: Vom Kantonsspital St. Gallen gefördert, wurde die eben beschriebene therapeutisch-spirituelle Begleitung auch zur Grundlage mehrerer Forschungsprojekte, darunter auch das bereits genannte (Spiritual experiences of transcendence in patients with advanced cancer, Renz et al., 2013d).

Zur Datensammlung: Während eines Jahres wurden alle palliativen Patienten und Patientinnen, die kürzer oder länger auf der Palliativstation und/oder der Onkologiestation lagen, prospektiv erfasst (N = 251). Methode der Erfassung war ›Teilnehmende Beobachtung‹. Diese Methode wird in der Anthropologie (Steinhauser & Barroso, 2009) und ethnologischen Feldforschung zur Untersuchung menschlicher Verhaltensmuster und Stammesmentalitäten, aber auch im Bereich Gesundheit (z.B. Bluebond-Langer et al., 2007) eingesetzt. Bei dieser Methode ist es möglich, dass der Forscher zugleich an-teilnehmend mitgeht, als auch unter Wahrung der nötigen professionellen Distanz und des unterschiedlichen Sprachbewusstseins beobachtet und protokolliert. Unausgesprochenes oder Selbstverständliches findet oft überhaupt erst ins Wort. Dieselbe Hürde gilt es auch in den Blick zu nehmen im Umgang mit den Transzendenzerfahrungen heutiger Menschen. Denn diese sprechen vom Unaussprechlichen schlechthin. Die Methode der Beobachtung lässt Patienten frei, zu tun oder zu lassen, was sie möchten, sich über ihre Erfahrung zu äußern oder auch nicht, zu stammeln, zu schreien, zu weinen oder – berührt vom Unfassbaren – einfach zu schweigen. Patienten haben grundsätzlich die Freiheit, ihre Lebensvorgaben preiszugeben oder nicht, Prozesse der Bewusstwerdung zu wagen oder zu verdrängen. Auch eindeutige nonverbale Signale (ein Nicken) werden notiert. Im genannten Projekt wurden sämtliche spirituellen Erfahrungen, die sich im Rahmen der zuvor erläuterten therapeutisch-spirituellen Begleitung ereigneten, resp. berichtet wurden, sowie all das, was vor und nach der spirituellen Erfahrung geschah oder nicht geschah, festgehalten. Notiert wurde grundsätzlich nach den Therapien und Begegnungen. Meist wurden die Erfahrungen spontan erzählt. Manchmal, wo im Erzählten die transzendente Dimension unerkannt mitschwang (etwa die heilige Atmosphäre eines Traumes), wurde dies meinerseits vorsichtig angesprochen: Mein Staunen und Empfinden dienten dann als Leihgabe. Ist das aber nicht Suggestion? Diese Frage zu stellen, ist wichtig, umso mehr, als die Patienten ihrerseits schwerkrank sind. Die Frage der Manipulation bleibt offen und wird zur Anfrage an die Prozessbereitschaft und Behutsamkeit der Begleiter. Von welcher Art ist die Atmosphäre, in der über solch intime Erfahrungen überhaupt gesprochen wird? Selbstverständlich dürfen Patienten jegliche Interpretationsvorschläge von Seiten der Begleiter ablehnen. Nur wo Patienten ihrerseits im Anschluss an eine Leihgabe ins Staunen kamen, wurden diese – nicht spontan erzählten – Erfahrungen miterfasst. Etliche Patienten äußerten begreifenderweise: »Das war Gnade!« 68, darunter auch neun Atheisten, fanden zum Begriff ›Gott‹ und zum Aha-Erlebnis, dass ›ER‹ im Spiel gewesen sei.

Zur Datenanalyse: Die Protokolle wurden von zwei unabhängigen Personen mittels der Interpretativen Phänomenologischen Analyse meditiert, studiert, ausgewertet und diskutiert; im Falle von Uneinigkeit wurde eine dritte Person beigezogen. Um die Erfahrungen und Protokolle einschließlich der unbewussten Signale der Patienten möglichst adäquat interpretieren zu können, wurde als theoretischer Bezugsrahmen die Literatur zu den Bereichen Nahtoderfahrung und Mystik sowie aus der Symbolik und den Archetypen nach Carl Gustav Jung und Stanislav Grof aufgearbeitet.

Eine Folgestudie läuft zurzeit mit den Teams der beiden Palliativstationen St. Gallen und Münsterlingen (Kanton Thurgau). Ganze Teams (vorab Pflegende, manchmal auch Ärzte, Therapeuten, Seelsorger) – und nicht mehr nur eine Einzelperson – beobachten Sterbende und deren Signale und Prozesse, auch und speziell deren spirituelle Erfahrungen oder Äußerungen in diese Richtung. All dies wird mehrmals täglich beobachtet und in entsprechenden Formularen festgehalten. Internationale Experten aus dem Bereich Nahtoderfahrung (Pim van Lommel), aus Theologie, Mystik und Philosophie stehen den Verantwortlichen aus Psychoonkologie und Palliativmedizin beratend bei.

1  Spiritualität ist Erfahrung

1.1 Ist Gott erfahrbar?

Ob es Gott gibt oder nicht, diese Frage erhitzt die Gemüter nicht mehr. Die Meinungen sind weitgehend gemacht, zumindest in Westeuropa. Gott ist weder beweisbar noch widerlegbar. Unter den Nägeln brennt die Frage nach Spiritualität und der Erfahrung: Ist Gott, ist das Göttliche erfahrbar? Kann man solchen Erfahrungen Glauben schenken? Haben sie einen Einfluss auf unser Leben? Und an wen können wir uns damit wenden inmitten einer Kultur und Religion, die dafür kaum Gehör hat? Im Folgenden achte ich auf das, was Menschen unserer Tage – vorab Kranke und Leidgeprüfte – mit Gott oder als ein Göttliches vermissen und erfahren. Und ich begreife die Erfahrungen mit dem Unbegreiflichen als Spiritualität. Spiritualität hat grundsätzlich mit Erfahrung zu tun.

1.2 War das Transzendenzerfahrung? Beispiele

Ein Erlebnis wurde mir persönlich zum Initialzünder im Thema Spiritualität. Es begann mit folgendem Traum: »Ich sitze in einem kleinen Auto. Es ist mein Wagen und doch sieht er anders aus. Plötzlich steht daneben ein riesiger Bär, zehn Meter groß. Er ist im Begriff, mich mitsamt dem Auto zu verschlingen. Es gelingt ihm nicht. Dreimal dasselbe Geschehen, derselbe Schreck. Haarscharf am Tod vorbei, bin ich schlussendlich gerettet. Neben mir steht das zerstörte, glänzend gewordene Auto. Ich sage resolut: »Jetzt ergreife ich das Steuer.«

Tags darauf fliege ich zu einem Kongress, Thema: Spiritualität. Im Anschluss an meinen Vortrag werde ich, wie nie zuvor, mit Fragen bestürmt: Ob ich persönlich an die Möglichkeit von Gotteserfahrung glaube? Ob das, was Menschen dann erleben, wirklich Gott sei? Nach dem Kongress werde ich in einem kleinen Auto auf der dreispurigen Autobahn im Abendverkehr zum Wiener Flughafen chauffiert. Plötzlich fährt bei Höchstgeschwindigkeit haarscharf rechts neben uns ein anderes Auto auf uns zu. Schleudern – nach links, nach rechts, nach links … dann ist nur noch Licht, blendendes Licht da. Endlich kommt das Auto zum Stehen, halbwegs quer zur Fahrbahn. Ein Bus donnert auf uns zu und vermag gerade noch zu bremsen. Unser Auto ist noch fahrtauglich. Ich steige vom Rücksitz aus und sage: »Jetzt fahre ich.« Wie ich mich am Flughafen verabschiede, schaue ich nochmals zum Auto zurück und erschrecke: So ähnlich hatte das Auto im Traum ausgesehen.

War das eine Erfahrung mit einem Transzendenten, mit Gott? Was soll ich damit anfangen? Wie kann ich meinen Traum im Vorfeld dieses Ereignisses verstehen? Mich schauderte über Tage. Eines weiß ich seither: Spiritualität hat mit einem in menschlichen Kategorien nicht fassbar »Großen« (Traumbild riesiger Bär) zu tun. Und der Umgang damit setzt von Seiten des Menschen Autonomie (Traumbild Auto) und ein steuerungstüchtiges Ich voraus. Und ich überlege: Ich wäre töricht oder eine verbissene Atheistin, würde ich nicht glauben. Umgekehrt wäre ich sektiererisch, würde ich mir nicht auch meine Zweifel und eine nüchterne Distanz erlauben.

Norbert Noth, ein Sterbender Mitte 50, weiß nicht, ob er sich selbst als Christ oder als Buddhist verstehen soll. Er hat sich von allen verabschiedet und stirbt doch nicht. Zwei Wochen ist er da, einfach um da zu sein, wie er einmal sagt. Monochordklänge berühren ihn. Er begreife nicht, was ihm da geschehe. Eigentlich sei da ja nichts als Ton. Aber dieser Ton habe ihn erschüttert wie Meereswogen. Er habe Musik sonst nie so sinnlich einfach gehört. Es war die Musik und doch viel mehr: »Mit der Musik war etwas da. Wie wenn ich die Atmosphäre schwingen höre.« »War eine Präsenz spürbar?« frage ich vorsichtig. Tage studiert er dieser Frage nach und versinkt immer mehr in einen anderen Bewusstseinszustand, ist manchmal kaum erreichbar. Ein zweites Mal berührt ihn diese Musik. Kommentar: »Die Töne mit den Obertönen sind wie ein Himmelszelt, in welches ich hineinfalle oder -fliege. Ob fallen oder fliegen, spielt keine Rolle mehr, ist dasselbe. Ob Christ oder Buddhist auch nicht. Nur eines ist wichtig: Präsenz! Etwas ist da, und ich bin da, aber bald nicht mehr.« Immer schweigsamer wird Herr Noth, immer dichter die Atmosphäre um ihn herum, in die er schließlich still hineinstirbt, das Geheimnis um seine letzte Identität mitnehmend.

Karin Kaufmann, einer kinderlosen, kirchenfernen Akademikerin, geht es von Tag zu Tag schlechter. Unsere ersten Gespräche handeln von Beziehungsproblemen und ihrer Schwierigkeit, sich berühren zu lassen. Jetzt liegt sie mit aufgesperrten Augen, Schmerzen, Atemnot und panischer Angst vor der Intensivstation da. Ich rege sie in einer Klangreise dazu an, imaginativ ein Licht durch ihren Körper führen zu lassen. Sie solle sich zuschauen, wo das Licht aufgenommen werde, wo weniger, wo es angenehm sei, wo nicht. Religiöse Worte fallen keine. Die Erfahrung beschreibt sie als dicht: »Das war Engelnähe. Das Licht wurde größer, kam von außen und war wie Jesus, der mir sagte: Du überlebst es, lass es zu.« Nach einem weiteren Eingriff sagt sie: »Das Licht war auch auf der Intensivstation da, wie eine Nahtoderfahrung.«

Die Gespräche mit Alain Fauré sind intensiv. Von Gott und Religion ist nie die Rede, bis er eines Tages hört, ich sei auch Theologin. Er habe keinen Zugang zu Gott und Religion, da sei zu viel Moral, zu viele Glaubenskriege. Er sei aus Leidenschaft Organist, aber mit Gott könne er nichts anfangen. Irgendwann fragt er, was mir Gott bedeute. Ich antworte spontan und frage zurück: Was er erlebe, wenn er Orgel spiele? »Ohhh, das kann man nicht sagen.« Ich erzähle ihm vom Gott am Sinai, wie Mose diesen Gott erfahren habe: so gewaltig und numinos, dass es keine Worte, keine Bilder dafür gegeben habe. Vielleicht ähnlich unbeschreibbar. Herr Fauré unterbricht: »Sie meinen, dass das, was ich beim Orgeln fühle, Gotteserfahrung sei?« »Das kann ich mir vorstellen.« Stille. Bewegt sagt er: »Es ist wirklich unaussprechbar.« Nun insistiere ich, meinerseits bewegt: »Ergriffenheit gehört zur großen Erfahrung, weil in uns etwas geschieht, das uns übersteigt.« In den kommenden Wochen verdichten sich unsere Gespräche. Immer mehr will Herr Fauré hören und sogar beten. Und er wächst hinein in ein neues Vertrauen wider alle Angst.

1.3 Ein Phänomen – verschiedene Namen

Transzendenz-Erfahrung, Spirituelle Erfahrung, Gotteserfahrung sind dreierlei Begriffe, die Ähnliches meinen und doch in je eigener Nuance.

Transzendenzerfahrung, vom lateinischen Begriff transcendentia (= das Übersteigen) kommend, verweist auf das, was durch die Erfahrung ausgelöst wird und zugleich über sie hinausweist. Die eben genannten Beispiele reden von einem Erschüttert- oder Durchströmt-Werden, vom Einbrechen eines Lichtes ins innere Dunkel, von einer Aha-Erfahrung im Glauben, die auf die andere – göttliche – Dimension hin öffnet. Der Begriff Transzendenzerfahrung wird in der Palliative Care vor allem für spirituelle Erfahrungen von Atheisten (McGrath, 2005) verwendet. Dieser eingeschränkte Fokus wird im Folgenden nicht übernommen.

Vor dem Ausdruck GotteserfahrungGotteserfahrung