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Pflege fallorientiert lernen und lehren

Herausgegeben von Karin Reiber, Juliane Dieterich, Martina Hasseler und Ulrike Höhmann

Die geplanten Bände im Überblick

•  Ambulante Pflege

•  Ambulante und stationäre Palliativpflege

•  Chirurgie

•  Fallbasierte Unterrichtsgestaltung – Grundlagen und Konzepte

•  Geriatrie

•  Gynäkologie und Geburtshilfe

•  Innere Medizin

•  Pädiatrie

•  Psychiatrie

•  Rehabilitation

•  Stationäre Langzeitpflege

Marion Großklaus-Seidel
Margret Flieder
Karen Widemann

Ambulante und stationäre Palliativpflege

Verlag W. Kohlhammer

Pharmakologische Daten verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autor haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Eine Gewährleistung können Verlag und Autor hierfür jedoch nicht übernehmen. Daher ist jeder Benutzer angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Piktogramme

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ImagesFalldarstellung
ImagesEin Routinefall
ImagesEin Fall mit Schwierigkeiten
ImagesEin komplizierter Fall
ImagesInformation
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ImagesPflegehinweis

1. Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-022397-4

E-Book-Formate:

pdf:   ISBN 978-3-17-023861-9

epub: ISBN 978-3-17-026794-7

mobi: ISBN 978-3-17-026795-4

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Inhalt

  1. Geleitwort
  2. Vorwort
  3. I     Basics
  4. 1     »Die Lebenswelt des Patienten im Mittelpunkt« – Einleitung in die Strukturen von Palliative Care
  5. 1.1   Die Bedeutung der Lebenswelt von Patienten für den Versorgungsprozess
  6. 1.2   Handlungsfeld Krankenhaus
  7. 1.3   Palliative Care
  8. 1.4   Handlungsfeld ambulante pflegerische Versorgung
  9. 1.5   Handlungsfeld Hospiz
  10. 1.6   Das multiprofessionelle Team und die Rolle der Pflegefachkräfte
  11. II   Fälle
  12. 2    »Eine frustrierende Erfahrung« – Der Umgang mit Tod und Sterben
  13. 2.1   Sterben und Tod im Wandel der Zeit
  14. 2.2   Krankenhäuser und Altenpflegeheime als Orte des Sterbens
  15. 2.3   Rituale als wichtiger Bestandteil eines gelungenen Umgangs mit dem Tod
  16. 2.4   Die Rolle der Pflegefachkräfte
  17. 3    »Zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit« – Der lange Leidensweg einer Patientin
  18. 3.1   Das Trajectory-Work-Modell
  19. 3.2   Phasen der Verlaufskurven und Arten von Arbeit
  20. 3.3   Einflussfaktoren auf die Trajectory am Beispiel einer Patientin mit Krebserkrankung
  21. 3.4   Die Rolle der Pflegefachkräfte
  22. 4    »Die erzwungene Verlegung« – Sterben zwischen Wunschvorstellungen und praktischen Notwendigkeiten
  23. 4.1   Das Konzept der Biografiearbeit
  24. 4.2   Krankheit als lebensgeschichtlicher Einschnitt
  25. 4.3   Veränderung durch Pflegebedürftigkeit
  26. 4.4   Perspektivenabgleich in der Biografiearbeit
  27. 4.5   Die Rolle der Pflegefachkräfte
  28. 5    »Verkannte Realität und plötzlicher Tod« – Die Eingrenzung von Palliative Care im Krankheitsverlauf
  29. 5.1   Information, Interaktion und Kommunikation im Pflegealltag
  30. 5.2   Der schwierige Umgang mit der Wahrheit
  31. 5.3   Die Theorie der Bewusstheitskontexte nach Glaser und Strauss
  32. 5.4   Palliative Care oder kurative Behandlung?
  33. 5.5   Die Rolle der Pflegefachkräfte
  34. 6    »Widerstand ist zwecklos« – Zwischen Patientenwohl und Organisationsinteresse
  35. 6.1   Sterben im komplexen Organisationskontext Krankenhaus
  36. 6.2   Patientenbedürfnis und Organisationsinteresse
  37. 6.3   Sterbebegleitung in der Behandlungs- und Versorgungskette
  38. 6.4   Die Rolle der Pflegefachkräfte
  39. 7    »Eine schwierige Entscheidung« – Meinungsverschiedenheiten über die Behandlung im Hospiz
  40. 7.1   Vorstellungen vom »guten Tod«
  41. 7.2   Normativer Anspruch und Alltagsrealität
  42. 7.3   »Total Pain«
  43. 7.4   Palliative Sedierung
  44. 7.5   Beihilfe zur Selbsttötung oder palliative Behandlungsmaßnahme?
  45. 7.6   Die Rolle der Pflegefachkräfte
  46. Literatur
  47. Stichwortverzeichnis

Geleitwort

 

Die Ausübung des Pflegeberufs wird immer anspruchsvoller: Professionelles Pflegehandeln umfasst verantwortungsvolles Planen, Gestalten und Auswerten von Pflegesituationen. Die Settings, in denen diese berufliche Tätigkeit ausgeübt wird, haben sich zunehmend ausdifferenziert und die Aufgaben werden immer komplexer. Damit sind auch ganz neue Herausforderungen an die Pflegeausbildung gestellt. »Ambulante und stationäre Palliativpflege« ist ein Band der Buchreihe »Pflege fallorientiert lernen und lehren«, einem Kompendium für die Pflegeausbildung, das sowohl die verschiedenen Versorgungsbereiche, in denen Pflegekräfte tätig werden, als auch die unterschiedlichen Lebensalter und -situationen der Pflegeempfänger abbildet.

Die elf Bände der Reihe spiegeln die wesentlichen Institutionen wider, in denen pflegerische Versorgung stattfindet. Alle Bände folgen der gleichen Struktur und demselben Aufbau. In einem Einleitungsteil wird in die Besonderheiten des jeweiligen Settings eingeführt. Pflegewissenschaftliche Expertenstandards und neueste wissenschaftliche Erkenntnisse werden dabei ebenso berücksichtigt wie die Ausbildungsziele der Prüfungsordnungen. Die Präsentation der Inhalte erfolgt in Form von Musterfällen; dabei werden die unterschiedlichen Aspekte pflegeberuflichen Handelns aufzeigt und fallbezogene Besonderheiten und Schwerpunkte professioneller Pflege exemplarisch illustriert. Die fallorientierte Aufbereitung von Lerngegenständen greift den berufspädagogischen Trend der Kompetenz- und Handlungsorientierung auf und setzt ihn fachdidaktisch um.

Der hier vorliegende Band gibt einen sehr guten Überblick über die komplexen und anspruchsvollen pflegerischen Handlungsfelder im Fachgebiet Palliative Care. In diesem Versorgungsbereich sind die Handlungs- und Kompetenzanforderungen an die Pflegefachkräfte oftmals anders gelagert und gewichtet als in vielen anderen Fachgebieten. Dieses Lehr- und Lernbuch führt anhand anschaulicher Fallbeispiele in die typischen Besonderheiten dieses Versorgungs- und Betreuungsbereichs ein und reflektiert die verschiedenen Ebenen der Kompetenzanforderungen an professionelle Pflegende.

Dieser Band sowie die gesamte Reihe wenden sich an Lernende und Lehrende in den Pflegeausbildungen an Schulen, Hochschulen oder Praxisstätten sowie an Studierende der Pflegepädagogik. Neue Formen der Pflegeausbildung – wie z. B. primärqualifizierende Pflegestudiengänge – hatten die Herausgeberinnen bei der Konzeption der Reihe und der Betreuung der Bände sowie die Autorinnen und Autoren der einzelnen Bände ganz besonders im Blick.

Karin Reiber

Juliane Dieterich

Martina Hasseler

Ulrike Höhmann

Vorwort

 

Fortschritte der Medizin und gesellschaftliche Entwicklungen haben dazu geführt, dass Menschen heute zumeist in Krankenhäusern, Pflegeheimen oder in Hospizen versterben. Dort wie auch in ambulanten Bereichen der Versorgung und Begleitung von schwerkranken Menschen arbeiten Pflegefachkräfte. Von ihnen wird professionelle Handlungskompetenz und eine achtsame Haltung im Umgang mit den Sterbenden und ihren Angehörigen erwartet. Doch wie lassen sich entsprechende Inhalte in der Ausbildung, Weiterbildung oder im Studium vermitteln, wenn persönliche Vorerfahrungen in der Auseinandersetzung mit dem Tod oft fehlen? Professionelles Handeln angesichts des nahenden Todes eines Pflegebedürftigen hat zwar viel mit dem vorhandenen Allgemeinwissen und mit medizinischen/pflegerischen Fachkenntnissen zu tun, doch reicht die kognitive Erarbeitung von Themen aus diesem Bereich bei weitem nicht aus.

Methodisch-didaktische Gestaltungsformen zur Auseinandersetzung mit dem Thema »Tod und Sterben« beschäftigen uns als Autorinnenteam an der Evangelischen Hochschule in Darmstadt seit vielen Jahren. Seit Mitte der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts haben wir viel dazu ausprobiert, etliche Seminarversuche und Vorlesungskonzeptionen wieder verworfen, doch einige Unterrichtsformen systematisch weiterentwickelt. Heute besteht sowohl für die Studierenden an den Hochschulen als auch für die Auszubildenen in den Krankenpflegeschulen die Möglichkeit, sich über Präsenzveranstaltungen, geleitete Lektüre mit Studientexten, eigene Recherchen, durch Rollen- und Planspiele, durch gemeinsame Exkursionen und Diskussionen mit Expertinnen1 vor Ort, über die Betrachtung von themenspezifischer Kunst und eigene malerische Gestaltung, das Hören von Musik oder der Lektüre von Romanen zum Thema mit den folgenden Inhalten auseinander zu setzen:

•  Allgemeine Aspekte zur Hospizbewegung und Palliativversorgung, Versorgungsformen und deren gesetzliche, vertragliche und konzeptionelle Grundlagen, rechtliche und sozialrechtliche Fragestellungen;

•  somatische Aspekte der Pflege wie z. B. relevante Krankheitsbilder in der Terminal- und Finalphase, Schmerz- und Symptomtherapie, Medikamenten- und Nebenwirkungsmanagement, palliative Pflege und komplementäre Konzepte sowie Symptomlinderung und Pflegehandlungen gemäß ärztlicher Delegation;

•  psychosoziale Aspekte wie z. B. Bedürfnisse und Erwartungen von Menschen am Lebensende und deren Bezugspersonen, Kommunikation und Beratung, psychische Reaktionen und Copingstrategien, Selbstpflege der Pflegenden, Psychohygiene und Burnout-Prophylaxe;

•  ethische Aspekte wie Sterbehilfe, Wahrheit am Krankenbett, Umgang mit Sterbenden und deren Angehörigen sowie mit ethischen Problemsituationen;

•  spirituelle und kulturelle Aspekte der Pflege von schwerkranken und sterbenden Menschen, z. B. gesellschaftliche, kulturelle und spirituelle Aspekte zu Leid, Sterben und Tod, Trauer und Verlust, Religion und Spiritualität, Symbolsprache und Rituale;

•  organisationsbezogene Aspekte von Palliative Care, z. B. Case Management und palliative Netzwerkstruktur, Palliative Care-Teams und Qualitätssicherung.

Die Herausforderung für die Buchpublikation bestand darin, die Vielfalt der Themen und die Notwendigkeit eines mehrdimensionalen Lehr-/Lernzugangs miteinander zu verknüpfen. Aus diesem Grund kam dem Autorinnenteam die Leitidee der Buchreihe »Pflege fallorientiert lernen und lehren« sehr gelegen, in der die pflegerischen Arbeits-/Wissensbereiche – u. a. die von Palliative Care – durch Geschichten problemorientiert erarbeitet werden sollen. Alle Fallbeispiele des vorliegenden Buches entstammen der Pflegepraxis und entsprechen der konkreten Wirklichkeit, auch wenn sie für die Veröffentlichung leicht verfremdet wurden. Außerdem wurden die Namen in den Fallgeschichten verändert.

Das Buch richtet sich an Lehrende in Krankenpflegeschulen und an Auszubildende der Gesundheits- und Krankenpflege sowie der Kinderkranken- und Altenpflege. Dies wird insbesondere in der Fallgeschichte »Eine frustrierende Erfahrung …« (image Kap. 2) deutlich. Darüber hinaus ist das Buch auch geeignet für Kurse im Rahmen der Weiterbildung zur Palliative Care Fachkraft, z. B. mit Blick auf die Fallgeschichte »Eine schwierige Entscheidung« (image Kap. 7). Selbst an Hochschulen mit pflegewissenschaftlichen Studiengängen kann das Buch zur Verdeutlichung von schwierigen Behandlungs- und Versorgungszusammenhängen eingesetzt werden, z. B. anhand der Fallgeschichte »Widerstand ist zwecklos« (image Kap. 6).

Wie kann mit dem vorliegenden Buch in Unterrichtssituationen gearbeitet werden? »Ambulante und stationäre Palliativpflege« lässt sich wie ein Lehrbuch zur Wissenserweiterung und zum Kennenlernen von Praxiszusammenhängen in einem spezifischen Arbeitsbereich der Pflege lesen. Die einzelnen Kapitel sind so aufgebaut, dass sie die medizinischen, pflegerischen, sozialen sowie die ethischen und spirituellen Aspekte von Betreuungs- und Versorgungssituationen thematisieren und systematisch entfalten. Die Literaturhinweise sollen zur Weiterarbeit und Vertiefung anregen. Konzepte und Modelle wie z. B. das Konzept der Lebenswelten, Aspekte der Biografiearbeit, das Trajectory-Work-Modell, Kommunikationsmodelle u. a. werden in ihren Einsatzmöglichkeiten für Palliative Care beschrieben.

Sterbende und ihre Angehörigen haben ein Anrecht auf eine würdevolle Betreuung und Versorgung, denn nur so kann die Bejahung des Lebens und die des Todes als natürliche Begrenzung des Lebens zum Ausdruck gebracht werden. Pflegefachkräfte übernehmen in diesem Zusammenhang eine wichtige, wenn nicht sogar zentrale Rolle. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, brauchen sie nicht nur viel Engagement und Kraft, sondern auch eine gute Aus-, Fort- und Weiterbildung und den entsprechenden Handlungsspielraum in der praktischen Arbeit. Es ist an der Zeit, dass der Palliative Care Gedanke in allen Bereichen auf fruchtbaren Boden fällt, in denen Sterbende versorgt und begleitet werden. Wir hoffen, mit dem vorliegenden Buch einen Beitrag dazu leisten zu können.

Darmstadt, im Mai 2014

Marion Großklaus-Seidel, Margret Flieder und Karen Widemann

1     Für den besseren Lesefluss wird auf die geschlechtsspezifische Nennung verzichtet, wobei jedoch beide Geschlechter gleichermaßen gemeint sind.

I   Basics

1          »Die Lebenswelt des Patienten im Mittelpunkt« – Einleitung in die Strukturen von Palliative Care

»Palliative Care « « meint die »liebevoll-umhüllende Fürsorge für Menschen in der letzten Lebenskrise« (Student, Napiwotzky 2011, S. 7). Insbesondere schwere Krankheit und/oder das in naher Zeit bevorstehende Lebensende markieren gravierende Einschnitte in das bisherige Lebenskonzept der betroffenen Menschen. Ein bedeutsames Ereignis wie die Auseinandersetzung mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung und den damit verbundenen akuten und mittelfristigen Folgen stellt große Herausforderungen an die Bewältigungsarbeiten im Zusammenhang mit Krankheit, Therapie(n), Pflege und Abschied. Davon betroffen sind neben der erkrankten Person vor allem die Angehörigen, die Begleit- und Unterstützungsaufgaben übernehmen. Auch deren Alltag wird nun ebenfalls durch die Erkrankung des Familienmitglieds beeinflusst, oft mit nachhaltigen Folgen für die eigene Lebensgestaltung.

1.1       Die Bedeutung der Lebenswelt von Patienten für den Versorgungsprozess

Wenn Hilfe, Betreuung und Versorgung notwendig werden, ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgestaltung seitens der Betroffenen und das Verstehen zentraler Aspekte der Lebenswelt seitens der Helfenden eine gute Zugangsmöglichkeit (vgl. dazu grundlegend Thiersch, Grunwald, Köngeter 2005). Das Lebensweltkonzept setzt an den Bedürfnissen und Interessen der Adressaten in ihrer Lebenswelt an, stellt die Belange der Betroffenen in den Mittelpunkt und arbeitet damit. Dazu erforderlich ist von Seiten der professionellen Hilfesysteme ein verstehensbezogener Zugang zu den Betroffenen, zu ihren Chancen und Grenzen im Alltag. Es geht hierbei um einen individuellen Aushandlungsprozess der Versorgungslage in der letzten Lebensphase mit Blick auf das reale Bedingungsgefüge bei den Betroffenen und weniger um das Aufzeigen aller vorhandenen Möglichkeiten professioneller Hilfesysteme. Individuelle Problemlösungen finden Berücksichtigung. Dabei spielen die konkreten sozialen Verhältnisse, die offenen oder auch verdeckten bzw. verdrängten Aushandlungsprozesse zwischen den Generationen im alltäglichen Umgang mit Krankheit und pflegebezogenem Versorgungsbedarf eine zentrale Rolle.

Grundsätzlich wird von erwachsenen Menschen erwartet, ihr Leben zu gestalten und zu verantworten, nicht erst in der letzten Lebensphase. Auch in gesunden Zeiten gibt es zahlreiche Herausforderungen und notwendige Entscheidungen im beruflichen wie im privaten Bereich, die im Hinblick auf damit verbundene Folgen zu bedenken sind. Im Kontext von Palliative Care ist vor allem der Umgang mit und die Bewältigung von Unsicherheiten gemeint, die sich auf die folgenden Aspekte beziehen:

•  Zeit (z. B. die verbleibende Lebenszeit)

•  Raum (z. B. Verbleiben im sozialen Milieu, im Wohnumfeld, in der Wohnung/im Haus oder Übersiedlung in eine Pflegeeinrichtung oder ins Hospiz)

•  Soziale Beziehungen (z. B. in der Familie, mit weiteren Bezugspersonen, Klärung alter Konflikte)

•  Elemente des Alltags und alltägliche Bewältigungsaufgaben (z. B. Versorgung, Einkäufe, Freizeit oder selbsthilfebezogene Aktivitäten wie z. B. Besuchsdienste)

arrow Praktizierte Lebensweltorientierung arrow

Praktizierte Lebensweltorientierung durch Pflegefachkräfte will Alltagsnähe und Aufmerksamkeit vermitteln, will benachteiligten Menschen und Gruppen Teilhabe ermöglichen, sie beim Umsetzen von Ansprüchen an das Versorgungssystem in Kliniken, Heimen und in der ambulanten Versorgung i. S. einer Reduzierung sozialer Ungleichheit unterstützen, ihre Ressourcen aktivieren und ihnen die Nutzung von Hilfen bewusster zugänglich machen. Hilfestellungen sind demnach situationsangemessen im Bemühen um soziale Teilhabe ausgerichtet. Im Folgenden soll an der Geschichte von Frau Faber die Bedeutung der Lebensweltorientierung für den Versorgungs- und Betreuungsprozess im Rahmen von Palliative Care verdeutlicht werden.

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Am Fallbeispiel

Frau Faber ist 58 Jahre alt und verheiratet. Sie hat drei erwachsene Kinder. Die Kinder sind verheiratet und gut situiert. Eine Tochter lebt mit ihrem Ehemann in Norddeutschland, eine weitere Tochter und der Sohn wohnen mit ihren Familien in ihrer unmittelbaren Nähe. Mittlerweile sind auch schon zwei Enkelkinder dazugekommen. Zwischen den Familien herrscht ein herzliches Einvernehmen.

    Von Beruf ist Frau Faber Verwaltungsangestellte. In ihrer Freizeit geht sie mit ihrem Mann, 60 Jahre und Postbeamter, in den Kegelverein »Alle Neune« und ist aktiv in der kirchlichen Gemeindearbeit. Sie ist etwas übergewichtig und seit vielen Jahren starke Raucherin, was ihrem Ehemann nicht gefällt. Auch ihre Kinder versuchen schon seit langem, sie vom Rauchen abzubringen. Arztbesuche sind ihr verhasst, deswegen ist sie auch höchst selten zu Vorsorgeuntersuchungen erschienen. Ihr letzter Gesundheitscheck liegt bereits etliche Jahre zurück.

arrow Gesundheitsaspekte in der Lebenswelt arrow

Frau Faber kennt das Gesundheitssystem und hat über ihre Krankenversicherung ungehinderten Zugang zu den Leistungen. Das ist nicht immer der Regelfall. Menschen mit Migrationshintergrund z. B. wissen häufig nur unzureichend über die medizinischen und pflegerischen Versorgungsmöglichkeiten in Deutschland Bescheid. Personen, die sich illegal in Deutschland aufhalten, sind formalrechtlich nicht anspruchsberechtigt.

Ein zentrales Manko im Verhalten von Frau Faber stellt das mangelnde Problembewusstsein für gesundheitliche Belange dar: Sie raucht stark und nimmt trotz erhöhter Risikofaktoren nicht an den sinnvollen Vorsorgemaßnahmen teil. Ihre große Ressource ist ihre Familie, die auf sie achtet und der soziale Zusammenhalt, in den sie eingebettet ist.

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Am Fallbeispiel

Seit einigen Wochen fühlt Frau Faber sich nicht mehr wohl, sie hustet kräftiger als sonst und hat Schmerzen im Brustkorb. Die zwei Treppen zu ihrer Mietwohnung in einem Mehrfamilienhaus fallen ihr schwer, sie ist zunehmend kurzatmig. Auch die Abende in der Pizzeria mit Freunden aus dem Kegelverein machen ihr keine Freude mehr, sie hat keinen Appetit. Auf Drängen ihres Ehemannes sucht sie endlich den Hausarzt Dr. Winter auf. Dort finden routinemäßig folgende Standarduntersuchungen statt: großes Blutbild, Blutsenkung (BKS) und Elektrokardiogramm (EKG). Die Lunge wird abgehört.

    Dem Hausarzt fallen sowohl im Blutbild als auch in der Lungenfunktion Unregelmäßigkeiten auf. Außerdem macht ihm der Husten Sorge. Deshalb überweist er Frau Faber zur Abklärung des unklaren Lungenbefunds in das örtliche Krankenhaus.

1.2       Handlungsfeld Krankenhaus

Aufgabe des Gesundheitssystems ist es, Krankheiten vorzubeugen und zu heilen. Dies geschieht durch Prävention, Kuration und Rehabilitation. Das Krankenhaus ist ein Teil des kurativen Versorgungssystems neben anderen Elementen wie z. B. der ambulanten Versorgung durch die niedergelassenen Ärzte, der Arzneimittelversorgung, der Versorgung an Heil-und Hilfsmitteln und dem Krankentransport- und Rettungswesen. Leistungsschwerpunkt des Krankenhauses ist somit die stationäre, teilstationäre, z. T. auch ambulante bzw. vor- und nachstationäre kurative Behandlung (vgl. Eichhorn 1998).

»Krankenhäuser nehmen in Deutschland eine zentrale Funktion für die Krankenversorgung wahr, nicht nur weil sie an einem Ort gebündelt sachliche und personelle Kapazitäten für die Diagnostik und Therapie schwerer Erkrankungen und Verletzungen vorhalten, sondern auch weil sie eine wesentliche Rolle bei der Ausbildung der Gesundheitsberufe spielen« (Simon 2008, S. 245).

1.2.1      Aufgabe des Krankenhauses

Auf Initiative der niedergelassenen Ärzte oder in Notfällen gelangen die Patienten ins Krankenhaus. Über ärztliche und pflegerische Leistungen sollen wie bei Frau Faber Krankheiten, Leiden und Körperschäden diagnostiziert, geheilt oder zumindest gelindert werden. Zu diesem Zweck werden die Patienten in der Einrichtung Krankenhaus stationär untergebracht und dort auch verpflegt. Bei der Aufnahme ins Krankenhaus werden erste Weichenstellungen vorgenommen, welche diagnostischen, therapeutischen und pflegerischen Leistungen eine konkrete Patientin wie Frau Faber benötigt. Das Patientenanliegen und die Krankenhausleistungen müssen zu einem adäquaten Behandlungs- und Versorgungsprozess verbunden werden. Dabei werden Leistungen aus betriebswirtschaftlichen Gründen auf ein zweckmäßiges und ausreichendes Maß begrenzt, z. B. durch eine kurze Verweildauer oder durch einen knappen Einsatz von personellen und sachlichen Ressourcen. Für Krankenhäuser sind die organisatorisch-betriebswirtschaftlichen Aspekte von großer Bedeutung, da selbst kleinere Krankenhäuser mittelständischen Betrieben gleichkommen. Ein durchschnittliches allgemeines Krankenhaus umfasst 200–300 Betten, verfügt über mehrere medizinische Fachabteilung mit ca. 500 Mitarbeitenden, davon ca. 50 Ärzte und 200 Pflegefachkräfte. Versorgt werden mit diesen Kapazitäten ca. 8.000 vollstationäre Fälle (vgl. Simon 2008, S. 246).

arrow DRG-Fallpauschalen arrow

Das Abrechnungssystem wurde in den letzten Jahren auf die sogenannten DRG-Fallpauschalen (= diagnosis related groups) umgestellt (vgl. Lauterbach, Stock, Brunner 2006). Abgegrenzte Fallgruppen werden nach der Hauptdiagnose, den Nebendiagnosen, Komplikationen, Prozeduren und Operation nach möglichst homogenen Maßstäben klassifiziert und abgerechnet. Dadurch soll u. a. die interdisziplinäre Zusammenarbeit bei einem Patienten gefördert werden (vgl. Simon 2008). Der Patient einer gesetzlichen Krankenkasse bekommt in der Regel wenig von diesen Abrechnungsmodalitäten mit, da diese direkt über die Krankenkassen abgerechnet werden. Versicherte haben Anspruch auf Krankenhausbehandlung als vollstationäre, teilstationäre, vor- und nachstationäre oder ambulante Versorgung.

1.2.2      Patientensicht

Aus Patientensicht ist die Einweisung in ein Krankenhaus in anderer Weise von hoher Relevanz. Eine Patientin wie Frau Faber, die erkrankt und erkennen muss, dass sie sich selbst mit alltäglichen Mitteln nicht mehr helfen kann und professionelle Hilfe braucht, befindet sich in einer existentiellen Grenzsituation. Das kann bereits der Fall beim Gang zum Hausarzt sein, wenn regelmäßige Arztbesuche nicht als Routinehandlungen gedeutet werden. Bei der Einweisung in ein Krankenhaus schließlich gerät das körperliche, seelische und soziale Gleichgewicht aus der Balance. Gleichwohl hat der Patient Schwierigkeiten, seine Empfindungen und Beschwerden in Worte zu kleiden und sich dementsprechend in der Organisation Krankenhaus zu verhalten. Die betriebswirtschaftliche Logik des Krankenhauses, den Patienten als Objekt medizinischer und pflegerischer Dienstleistungen zu betrachten, und die Sprachlosigkeit der Patienten angesichts einer für sie schwierigen Lebenssituation greifen hierbei ineinander und verstärken sich gegenseitig.

arrow Umgang mit Patienten arrow

Der Umgang mit Patienten in akuten Lebensnöten kann manchmal ein »blinder Fleck« im Handlungsfeld Krankenhaus sein, dem nicht die nötige Aufmerksamkeit zukommt. Gerade für die Versorgung und Begleitung von schwerkranken und sterbenden Patienten im Sinne des Palliative Care Gedankens ist das Krankenhaus oft nur unzureichend vorbereitet. Doch Sterben und Tod sind wichtige Themen für das Krankenhaus, denn schwerkranke und sterbende Patienten haben vielfältige Berührungspunkte zum Krankenhaus und die meisten Todesfälle in der BRD (ca. 50 %) finden im Krankenhaus statt (vgl. Faktencheck Gesundheit 2013). Dies führt in einer kurativ ausgerichteten Organisation zu einer paradoxen Situation, die Borasio folgendermaßen beschreibt:

»Tatsache ist, dass in deutschen Krankenhäusern ein sterbender Mensch immer noch häufig als eine Art ›Betriebsstörung‹ gesehen wird, derer man sich am liebsten möglichst bald entledigen möchte. Im schlimmsten Fall steht der Sterbende als ›negativer Kostenfaktor‹ da, und der Druck, ihn woandershin zu verlegen, um Kosten zu sparen, ist mitunter gewaltig« (Borasio 2012, S. 33).

Das Handlungsfeld Krankenhaus bedarf im Kontext von Palliative Care deshalb einer sorgfältigen Betrachtung. Vieles hat sich allerdings in den letzten Jahren im Blick auf die Patientenorientierung verbessert. Dies ist auch im Fall von Frau Faber so.

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Am Fallbeispiel

Das Aufnahmegespräch im Krankenhaus erfolgt durch die Pflegefachkraft Frau Fischer. Diese kümmert sich aufmerksam um Frau Faber und ihren Ehemann. Beide sind sehr beunruhigt. Frau Faber ist nach der Geburt ihrer Kinder zum ersten Mal als Patientin im Krankenhaus. Die lebenslustige Frau war ihr Leben lang nie ernsthaft krank und kommt deshalb mit der Situation nur schlecht zurecht. Sie hält sich an ihrem Taschentuch fest, das sie heftig zerknüllt, und kann kaum verhindern, dass ihr Tränen über die Wangen fließen. Die Krankenpflegerin begleitet das Ehepaar in das Zweibettzimmer und stellt dort Frau Faber der Mitpatientin vor.

arrow Kommunikation in einer existentiellen Krisensituation arrow

Die Pflegefachkraft Frau Fischer hat die Aufgabe, die Pflegeanamnese mit der Patientin bei der Aufnahme zu erheben. Diese Aufgabe trägt dazu bei, diese grundlegend wichtigen Informationen für den weiteren Behandlungsablauf sicherzustellen. Viele Krankenhäuser haben zu diesem Zweck Formblätter vorbereitet, die bei der Aufnahme mit den Patienten durchgearbeitet werden. Die Patientin Frau Faber befindet sich aber in einer existentiellen Krisensituation. Schon der Umstand, dass sie in ein Krankenhaus eingewiesen werden musste, macht ihr Angst. Frau Faber befindet sich in einem Ausnahmezustand und das Gespräch der Pflegefachkraft mit der Patientin sollte dies berücksichtigen.

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Am Fallbeispiel

Frau Faber richtet sich in ihrem Krankenzimmer ein und versucht, das Beste aus der Situation zu machen. Mit ihrer Zimmernachbarin Frau Keller, die chronisch krank ist und einen künstlichen Darmausgang hat, führt sie am Abend ein langes Gespräch.

    Am nächsten Morgen während der Visite werden verschiedene Untersuchungen festgelegt. Begonnen wird zunächst mit einer Computertomografie des Brustkorbes und mit einem Röntgen des Thorax.

1.2.3      Diagnostikverfahren und die Auswirkung auf Patienten

Für Fachkräfte in der Diagnostik gehören die Diagnoseverfahren zu ihrer täglichen Arbeit, sie sind damit vertraut. Für Frau Faber hingegen, die seit vielen Jahren das erste Mal als Patientin in einem Krankenhaus ist, sind diese unbekannt. Von daher wäre es nicht verwunderlich, wenn sie angespannt und ängstlich zu diesen Untersuchungen gehen würde, zumal sie sich auch die Frage stellen wird, welche Resultate sich aus den Untersuchungen ergeben könnten. Beim Warten, vor allem dem langen Warten vor dem Untersuchungsbereich, können Unsicherheit, Ängstlichkeit, Anspannung und innere Unruhe entstehen.

Frau Faber ist von ihrem behandelnden Arzt über den Ablauf einer Computertomografie informiert. Beim Betreten des Untersuchungsraums kann ihre Anspannung zunehmen. Wenn Frau Faber auf der Liege langsam in die ringförmige Öffnung von ca. 60–70 cm Weite bewegt wird, könnte ein Engegefühl oder auch Platzangst entstehen. Über die Wechselsprechanlage kann darauf vom Arzt oder der Röntgenassistentin in beruhigender Weise Einfluss genommen werden. Eine umfassende, informative Vorbereitung und eine empathische Begleitung während der Untersuchung sind sinnvoll.

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Am Fallbeispiel

Am folgenden Tag nach der Untersuchung wird der Befund vom leitenden Oberarzt Dr. Mäurer mit Frau Faber und ihrem Ehemann besprochen. Das Ergebnis zeigt ein fortgeschrittenes Lungenkarzinom. Dr. Mäurer ist ein erfahrener Arzt, der im Laufe seiner Berufsjahre schon zahlreiche Gespräche über eine infauste Prognose geführt hat. Ihm ist bewusst, dass die Mitteilung einer solchen Diagnose einen Schock für die Betroffenen darstellt.

arrow Umgang mit der Wahrheit bei einer schwerwiegender Diagnose arrow

Frau Faber ist schwer erkrankt und es ist die Aufgabe des Arztes, die Patientin über diesen Befund aufzuklären. Gerade bei schwerwiegenden Diagnosen stellt sich die Frage: Soll der Patientin die ganze Wahrheit gesagt werden mit der Gefahr, dass sie in allen Aktivitäten des Lebens nachlässt und die Hoffnung aufgibt? Oder soll ihr besser nur ein Teil der Wahrheit mitgeteilt werden mit der möglichen Folge, dass sich Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Fachkräfte und an der eigenen Wahrnehmung des körperlichen Zustandes entwickeln?

Das ärztliche Aufklärungsgespräch ist seit vielen Jahrhunderten Gegenstand medizinethischer Überlegungen. Die Aufklärungspflicht ergibt sich aus dem Behandlungsvertrag der zuständigen Einrichtung und aus der berufsethischen Pflicht des Arztes, d. h. der Patient muss wissen, wie es medizinisch um ihn steht und mit welchen Mitteln, Risiken und Folgen er behandelt werden soll. Früher stand das Wohl des Patienten im Vordergrund. Es wurde davon ausgegangen, dass der Arzt mit seiner Sach- und Menschenkenntnis situationsabhängig entscheidet, wie viel der Patient von einer ungünstigen Diagnose erfahren soll. Dieser Standpunkt hat sich heute grundlegend verändert. Das ethische Prinzip der Patientenautonomie und damit verbunden der Patientenwille sind gewichtiger geworden. Mit dem Inkrafttreten des Patientenrechtegesetzes im Februar 2013 ist die Aufklärungspflicht unter § 630e BGB und § 630c BGB ins Gesetzbuch eingegangen (vgl. Landesärztekammer Baden-Württemberg 2013). Die Patientin Frau Faber soll über den weiteren Behandlungsprozess entscheiden und muss deshalb ihre Diagnose kennen. Sie hat ein Recht darauf zu erfahren, wie es um sie steht und der Arzt hat die Pflicht, es ihr in einer für einen Laien adäquater Weise mitzuteilen.

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Eine schwerwiegende Diagnose sollte einfühlsam und den Umständen angemessen kommuniziert werden. Günstig sind:

•  ein störungsfreier Raum für das Gespräch (keine Aufklärungsgespräche auf Krankenhausfluren oder in belegten Mehrbettzimmern, keine Unterbrechung durch Telefongespräche oder Nachfragen von Mitarbeitenden etc.);

•  ein angemessener Zeitrahmen, der Möglichkeit für Nachfragen seitens des Patienten zulässt;

•  die Reduktion der Komplexität eines Befundes auf zunächst zentrale Aspekte (z. B.: Um welche Erkrankung handelt es sich konkret? Muss sofort operiert werden? Welche Behandlungsmöglichkeiten bieten sich an? Steht ein langer Krankenhausaufenthalt bevor? Welche Konsequenzen hat die Behandlung für das weitere Leben?);

•  die Ernsthaftigkeit des Befundes nicht zu verschweigen, aber trotzdem Hoffnung zu vermitteln;

•  die Kommunikation auf einer Sprachebene, die für einen medizinischen Laien im Allgemeinen und für die konkrete Person im Besonderen verständlich ist;

•  die Mitteilung einer ernsthaften bzw. infausten Diagnose an der Aufnahmefähigkeit der betroffenen Person zu orientieren und gegebenenfalls weitere Gespräche anzubieten.

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Am Fallbeispiel

Von Dr. Mäurer werden weitere Untersuchungen vorgeschlagen: eine Bronchoskopie zur Gewinnung von Gewebeproben zur histologischen Beurteilung des Tumors, eine Knochenszintigrafie (Untersuchung zur Beurteilung des Knochenstoffwechsels), eine weitere Computertomografie (CT des Schädels) und eine Sonografie des Abdomens sowie eine Magnetresonanztomografie des Kopfes. Auf diese Weise soll festgestellt werden, ob sich bereits Metastasen an anderer Stelle gebildet haben.

    Das Ehepaar braucht Bedenkzeit und will das weitere Vorgehen miteinander besprechen. Für die Fachkräfte im Krankenhaus sind die vorgeschlagenen Untersuchungen Alltagsroutine, doch betroffene Patienten erleben die Begegnung mit der Medizintechnik oftmals als beunruhigend. Herr und Frau Faber wenden sich deshalb an die freundliche und zugewandte Pflegefachkraft Frau Fischer und bitten sie um Rat.

1.2.4      Begleitung durch die Pflegefachkraft

arrow Aufklärung arrow

Arbeits- und haftungsrechtlich ist es Aufgabe des Arztes, die Patientin Frau Faber aufzuklären und mit ihr die weiteren Untersuchungsmöglichkeiten zu besprechen. Häufig ist es aber so, dass Betroffene große Mühe haben, die Ausführungen des Arztes zu verstehen oder dass wichtige Informationen sie nicht erreichen, weil sie in der Situation unsicher und aufgeregt sind. Herr Faber, der seine Ehefrau bei dem Gespräch begleitet, ist eine wichtige Unterstützung, doch auch er ist medizinischer Laie und zudem voller Sorge um seine Frau. Pflegefachkräfte sind in solchen Situationen bevorzugte Ansprechpersonen, vor allem wenn das ärztliche Aufklärungsgespräch unter Zeitdruck stand oder die Betroffenen mit der deutschen Sprache nicht sicher vertraut sind.

arrow Aufklärungsgespräch arrow

Es ist sinnvoll, dass die zuständige Pflegefachkraft bei schwerwiegenden Diagnosegesprächen anwesend ist, wenn die Patientin dies nicht ablehnt. Der Informationsstand, den der Arzt im Aufklärungsgespräch vermittelt, ist so sichergestellt und der Aufklärungspflicht des Arztes Genüge getan. Bei Nachfragen sind Pflegefachkräfte durch ihre patientennahen Arbeitsbereiche i. d. R. schneller erreichbar als der Arzt.

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Am Fallbeispiel

Nach dem Gespräch mit der Pflegefachkraft Frau Fischer willigt Frau Faber in die empfohlenen Untersuchungen ein. Wenige Tage später, nachdem alle Ergebnisse dieser Untersuchungen vorliegen, bespricht der Oberarzt Dr. Mäurer diese mit Herrn und Frau Faber. Es wurde ein kleinzelliges Bronchialkarzinom diagnostiziert. Das Karzinom ist weit fortgeschritten und dadurch inoperabel. Die frühe lymphogene und hämatogene Metastasierung, die für dieses Krankheitsbild typisch ist, hat auch bei Frau Faber zu Metastasen in der Brustwirbelsäule geführt. Der Oberarzt zeigt auf, welche Möglichkeiten der Behandlung bestehen. Er empfiehlt eine Chemotherapie, die das Zellwachstum begrenzen soll und bei der die Lungenfunktion weitgehend erhalten bleibt. Als Beispiel nennt der Oberarzt folgende Medikamente: Adriamycin® (vgl. Roller, Hofmann-Wackersreuther 2010, S. 281) und Cisplatin® oder Carboplatin® in Kombination mit Etoposid®. Weitere Zytostatika mit nachgewiesener Wirksamkeit sind z. B. Teniposid®, Ifosfamid® und Topotecan® (vgl. Krebsinformationsdienst 2013). Im Anschluss führt er mögliche Nebenwirkungen der Therapie aus.

    Kurativ kann in diesem Stadium der Erkrankung nichts mehr gemacht werden. In einem weiteren Beratungsgespräch wird mit Frau Faber erörtert, welche Möglichkeiten zur weitgehenden Erhaltung der Lungenfunktion zur Verfügung stehen. So wird die Empfehlung für eine Chemotherapie ausgesprochen, die das Wachstum der Tumore begrenzen soll.

    Es handelt sich bei der vorgeschlagenen Behandlung um eine palliative Therapie. Der Oberarzt erläutert Frau Faber: »Wir gehen jetzt in Ihrem Fall von einer palliativen Therapie und nicht mehr von einer kurativen Therapie aus. ›Palliativ‹ leitet sich aus dem lateinischen Wort pallium ab, was so viel wie ›Mantel‹ bedeutet. ›Palliare‹ meint das schützende Bedecken und Einhüllen in einen Mantel. Genau das wollen wir gemeinsam versuchen, damit Sie so lange wie möglich eine gute Lebensqualität haben.«

1.3       Palliative Care

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»Palliative Care ist ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Familien, die mit Problemen konfrontiert sind, welche mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einher gehen. Dies geschieht durch Vorbeugung und Linderung von Leiden durch frühzeitige Erkennung, sorgfältige Einschätzung und Behandlung von Schmerzen und anderen Problemen körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art« (WHO 2002).

    Palliative Care beinhaltet eine »umfassende, ganzheitliche Begleitung von Schwerkranken, Sterbenden und ihren Angehörigen durch ein multiprofessionelles Team« (Bausewein, Roller, Voltz 2010, S. 13). »Sterbebegleitung und Therapie am Lebensende bedeutet: Jeder unheilbar kranke und sterbende Mensch hat Anspruch darauf, unter menschenwürdigen Bedingungen behandelt, gepflegt und begleitet zu werden« (a. a. O., S. 7).

In der palliativen Therapie steht nicht die Verlängerung der Lebenszeit im Vordergrund, sondern die Verbesserung der Lebensqualität der Betroffenen. Ziel der Behandlung bei Frau Faber ist nicht die Bekämpfung der Tumore und die Heilung ihrer Erkrankung, sondern die Linderung der tumorbedingten Krankheitssymptome wie Schmerzen und Luftnot.

1.3.1      Belastende Symptome im Verlauf einer Krebserkrankung

Schmerzen

Die medikamentöse Therapie orientiert sich an der Stärke der Schmerzen und wird stufenweise angepasst. Eine Einstufung erfolgt nach dem WHO-Stufenschema (vgl. Borasio 2012, S. 69; Busch, Bardenheuer 2008, S. 625).

Fatigue

Das Fatigue-Syndrom ist ein Symptomkomplex mit dem Hauptsymptom von Müdigkeit. Oftmals tritt diese Müdigkeit im Zusammenhang mit der anstrengenden Krebstherapie auf und kann sich nach deren Abschluss wieder zurückbilden. Bleibt die Müdigkeit über die Behandlung hinaus Wochen oder Monate bestehen, so handelt es sich um ein chronisches Fatigue-Syndrom. Hierbei werden als Hauptbestandteile die physische und die mentale Erschöpfung unterschieden. Fatigue schränkt die Lebensqualität Betroffener stark ein (vgl. Deutsche Fatigue-Gesellschaft 2013).

Haarausfall (Alopezie)

Haarausfall kann entstehen durch einige Formen der Chemotherapie. Die Haarwurzelzellen werden durch diese geschädigt. Der Haarausfall ist i. d. R. vorübergehend und die Haarwurzeln erholen sich meist wieder (vgl. Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums 2013a).

Übelkeit und Erbrechen

Bei einigen Formen der Chemotherapie können u. a. die Schleimhäute im Verdauungstrakt in Mitleidenschaft gezogen werden. Die daraus resultierenden Nebenwirkungen werden von Betroffenen besonders gefürchtet. Die Gabe von entsprechender Arznei gegen Übelkeit und Erbrechen wird während der Chemotherapie oder prophylaktisch eingesetzt (vgl. Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums 2013a).

Blutbild-Veränderungen

Die weißen Blutkörperchen (Leukozyten) sind für die Immunfunktion verantwortlich. Während einer Chemotherapie finden entsprechende Untersuchungen engmaschig statt. Bei einer zu kleinen Anzahl an Leukozyten steigt die Infektionsgefahr. Unter Umständen wird die Chemotherapie unterbrochen (vgl. Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums 2013a).

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Am Fallbeispiel

Nachdem die Untersuchungen abgeschlossen sind, wird Frau Faber mit einem Entlassungsschreiben an ihren Hausarzt Dr. Winter zurücküberwiesen. Dieser führt ein ausführliches Gespräch mit ihr, ist zugewandt und informiert sie noch einmal über Wirkung und Nebenwirkung einer Chemotherapie. Dem Ehepaar Faber wird jetzt erst der Ernst der Situation deutlich: Frau Faber ist unheilbar krank und wird in absehbarer Zeit sterben. Beide sind tief erschüttert, ebenso die gesamte Familie. Der Hausarzt versichert ihnen, dass sie jederzeit Kontakt zu ihm aufnehmen können. Er wird sie auch weiterhin begleiten.

1.3.2      Sterben und Konsequenzen für die Begleitung

  »Der Mensch ist ein Sterbender, wenn

 

1.  konkrete und objektiv nachweisbare Voraussetzungen dafür gegeben sind, dass sein Tod in einem eingrenzbaren Zeitraum eintreten wird, und wenn er

2.  seine Situation unbewusst oder bewusst soweit wahrgenommen hat, dass diese spezifische Wahrnehmung in seinem Erleben und Verhalten wirksam ist« (Wittkowski, Schröder 2008, S. 11).

Es gibt unterschiedliche Wege, wie ein Mensch von seinem bevorstehenden Tod erfährt. Häufig geschieht dies durch direkte und indirekte Mitteilung eines Angehörigen der Gesundheitsberufe oder anderer Personen. Es kann jedoch auch vorkommen, dass sich das Verhalten in der Umgebung des Betroffenen auffällig verändert und dass eine andere medizinische Betreuung erfolgt. Nicht ungewöhnlich ist auch, dass die Betroffenen aufgrund wahrgenommener Symptome selbst merken, wie es um sie steht.

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Sterben ist nicht nur ein körperliches Geschehen vor dem Hintergrund einer tödlichen Erkrankung, sondern ist mit zahlreichen sozialen Aspekten verknüpft. Der Sterbeprozess geht einher mit Statusübergängen vom Gesunden zum Kranken und vom Kranken zum Sterbenden. Glaser und Strauss (1994) sprechen von »Bewusstheitskontexten«. Manchmal erfolgt der Übergang sogar abrupt und ohne Zwischenstufe. Daran orientiert sich die Sterbebegleitung im Rahmen von Palliative Care.

»Psychosoziale Sterbebegleitung besteht in der Gesamtheit jener plan- und absichtsvoll durchgeführter Maßnahmen, Verhaltensweisen und Interaktionen, die von professionellen Betreuungspersonen und Begleitern, ehrenamtlich Helfenden und Angehörigen vorgenommen werden, damit Sterbende jeden Alters und Krankheitsbildes während ihres letzten Lebensabschnitts so leben können, wie es ihren individuellen Bedürfnissen und ihrer spezifischen Art der Auseinandersetzung mit der Aussicht ihres bevorstehenden Todes entspricht« (Wittkowski, Schröder 2008, S. 19).

1.3.3      Psychosoziale Bedürfnisse und Erwartungen

Sterben stellt eine schwerwiegende Krise der Identität der betroffenen Menschen und ihrer Familien dar. Der Mensch ist eine Einheit aus Körper, Seele und Geist und in ein soziales Netz eingebunden. Seine Identität gewinnt der Mensch durch die Interaktion mit seinem Umfeld. Jeder Mensch ist einzigartig. Dies findet u. a. Ausdruck in Begegnungen und Gesprächen. Sterben als Zu-Ende-Gehen eines Lebensprozesses ist wie der Anfang des Lebens ein differenziertes Kommunikationsgeschehen mit Verhaltensanteilen und verbalem/nichtverbalem Geschehen mit körperlichen, seelischen und geistigen Dimensionen.

Fünf Säulen der Identität sind im Sterbeprozess gefährdet.

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1.  Leiblichkeit: Der Körper verändert sich durch die tödliche Krankheit. Der Betroffene wird schwächer. Tumore, Therapien und Medikamente verursachen tiefgreifende Veränderungen im Aussehen, sodass sich die Patienten kaum wiedererkennen.