1. Einleitung

Kein Zweifel: die Pädagogik ist eine Wachstumsindustrie. Die Nachfrage nach allgemeinen und speziellen Erziehungsleistungen nimmt zu, und entsprechend vermehren und verzweigen sich die Angebote der unterschiedlichsten Art. Sie reichen von der Betreuung kleiner Kinder über Schulen aller Grade bis zur Unterweisung und Beratung von Erwachsenen, sozusagen Erziehung von der Wiege bis zur Bahre, auch wenn vielfach der Ausdruck »Erziehung« vermieden und von »Bildung« oder »Coaching«, von Information, Lernangeboten und individuellen Trainingsprogrammen die Rede ist. Woran das liegt, ist nicht schwer zu erkennen. Der Lernbedarf ist geradezu explodiert als Folge dessen, was man zusammenfassend als die Modernisierung so gut wie aller Lebensverhältnisse bezeichnen kann. Sie ist ja auch kein einmaliger, eindeutig datierbarer Vorgang, sondern längst zu einem Dauerzustand geworden. Und das bedeutet: Wir lernen nicht mehr aus.

In der Tat ist das Lernen längst nicht mehr in das Belieben der Einzelnen gestellt. Es gibt weit reichende Lernpflichten und zunehmend unumgängliche Lernerfordernisse, ohne die die durchschnittliche Lebensführung nicht mehr vorstellbar ist. Das hat zur Folge, dass selbst die elementaren Aufgaben des Erziehens nicht mehr den Eltern überlassen bleiben. Vor allem eine Neuerung unterscheidet die alte, vormoderne Erziehung grundlegend von der neuen Erziehung: Alle müssen zur Schule, und es empfiehlt sich, die Schule ernst zu nehmen, um nicht die Anschlusschancen für geeignete und zufrieden stellende Positionen in der Erwachsenenwelt zu verpassen. Die Abnahme dessen, was wir gleichsam natürlich und en passant lernen, nimmt zu.

Also brauchen wir Kindergärtnerinnen und Lehrer, Trainer, Logopäden und Berater, Erwachsenenbildner und Sozialpädagogen, die das Erziehen in irgend einer ihrer Formen zu ihrem Berufsthema machen und dazu mehr wissen und können sollten, als ihnen die durchschnittliche Lebenserfahrung zuspielt. Wie von selbst ergibt sich daraus: auch die Erzieherinnen und Erzieher von Beruf müssen ausgebildet und vorsorglich geprüft werden. Sie brauchen ihrerseits Ausbilder und Fachleute, Lehr- und Studiengänge mit einführenden Anweisungen, Lernprogrammen und Lehrbüchern. Es bedarf keiner besonderen Einsicht, um sich von dem verzweigten Apparat von Ausbildungseinrichtungen zu überzeugen, und auch keines besonderen Scharfblicks, um zu erkennen, dass die Treppe des Lernens und Lehrens immer weiter in die Höhe geführt worden ist, so dass am Ende die Pädagogik sich darstellt wie eine alte Stadt mit traditionsgeprägten Bauwerken, auch mit mancherlei historisch anmutenden Fassaden, hinter denen inzwischen moderne Büros eingezogen sind, und vor allem: mit neuen Anbauten, Umbauten und gänzlich traditionslosen Neubauvierteln.

So unterschiedlich die Nachfrage nach pädagogischen Leistungen und Hilfen, so verschieden sind auch die Angebote und die Texte, die über die Einzelpraxen berichten: Programme und Ankündigungen, Übersichten und Analysen, für jeden Abnehmer etwas und natürlich auch die wissenschaftliche Literatur. Monopole oder Alleinvertretungsansprüche gibt es auf diesem Markt nicht. In den Regalen pädagogischer Fachliteratur findet sich die Handreichung für ratlose Eltern neben der Studie über die moderne Jugendkultur, der Unterrichtsleitfaden für Lehranfänger neben den Ergebnisberichten der Schulforschung, Erbauungs- und Erlebnisschriften ebenso wie die Katastrophenberichte von der Erziehungsfront neben gelehrten Studien zur Geschichte von Bildung und Unterricht. Das Stichwort für diesen Betrieb lautet: Professionalisierung der Erziehung, ein soziologisch matter Ausdruck für die Vielfalt und Lebendigkeit dessen, was sich dahinter alles verbirgt.

Damit nicht genug. Nachdem das Erziehen nun einmal seit gut 200 Jahren zum Beruf geworden ist, hat sich ein entsprechender Apparat zur Ausbildung, Betreuung und Verwaltung des pädagogischen Personals herausgebildet, mit dem Ergebnis, dass Pädagogik sich auch als akademische Disziplin im Wissenschaftsbetrieb etabliert hat. Dabei kann es nicht ausbleiben, dass eben diese neuen Verhältnisse selber wieder zum Thema gemacht und wissenschaftsgerecht untersucht werden. Welches Wissen soll den künftigen Berufserziehern vermittelt werden und wie kann man ihnen beibringen, wie man anderen etwas beibringt? Angesichts der Vielfalt und Verschiedenartigkeit der pädagogischen Praxen und der Ausbildungsgänge von Pädagogen erscheint es inzwischen vielen angebracht, von ihrer eigenen Tätigkeit nicht mehr als Pädagogik, sondern als Erziehungswissenschaft und neuerdings von den Erziehungswissenschaften im Plural zu sprechen. Erziehungswissenschaftler beobachten das Erziehen und teilen ihre Ergebnisse zu freier Nutzung mit, ohne sich selber als pädagogisch in dem Sinne zu verstehen, dass sie bestimmte Erziehungswirkungen erreichen wollen. Insofern ähneln die modernen Erziehungswissenschaftler den Generälen und Managern von heute: Sie ziehen nicht mehr selber in den Krieg und arbeiten auch nicht an der Werkbank, sondern sie dirigieren aus den Führungsetagen das, was andere zu tun haben oder tun sollten.

Vollends die Vertreter der Allgemeinen Pädagogik oder besser gleich: der Systematischen Erziehungswissenschaft sind vor den Unbilden der Erziehung gleich doppelt geschützt. Sie sind nicht nur nicht in pädagogische Handlungen verstrickt, sie beobachten mittlerweile und in vielen Fällen nicht einmal die Erziehung, das geschieht in der Schul- und Sozialpädagogik, in der Berufspädagogik und bei den Erwachsenenbildnern und wird aktuell von der expandierenden, so genannten Bildungsforschung übernommen. Stattdessen beobachten und untersuchen sie, wie diese ihr Erziehungsfeld beobachten. Ob das für die Pädagogik eine günstige Entwicklung ist, lasse ich hier dahingestellt. Auf jeden Fall kann man sehen, dass im Zuge der Modernisierung und Ausdifferenzierung des Erziehungsgeschehens auch ein Revier für wissenschaftstheoretische Exerzitien entstanden ist. Es gibt inzwischen einen eigenen Adressatenkreis für das Nachdenken über das Erziehungsdenken, nicht ohne Folgen für die Themenwahl und den Stil, in dem die Sache der Pädagogik heute artikuliert wird.

In der hier vorgelegten Reihe der Schlüsselwerke findet sich etwas von dem Weg, den das Thema der Erziehung in den letzten zwei Jahrhunderten genommen hat. Die Fragen der unmittelbaren Erziehung sind Zug um Zug hinter allgemeineren Gesichtspunkten zurückgetreten und das Bewusstsein für die disziplinspezifischen Probleme hat zugenommen. Es zeigt sich aber auch, dass bei allen Theorie- und Reflexionsgewinnen es zuletzt eben doch das Verständnis der bleibenden Probleme des Lernens und des Erziehens ist, wodurch ein Werk verdient, als Schlüsselwerk der Pädagogik angesehen zu werden. So schätzenswert ein elaboriertes Reflexionsniveau auch sein mag, was am Ende interessiert, sind die Antworten auf die Frage, welche Unterschiede und welche Gewinne sich daraus für das pädagogische Handeln ergeben. Das ist zumindest ein Gesichtspunkt für die Auswahl der Einzelwerke, die hier vorgestellt werden. Doch wird der kundige Leser manches vermissen, was zum etablierten Bücherschatz des fachbewussten Pädagogen gehört, und sich auch über einiges wundern, was inzwischen in der Brunnentiefe des Vergessens verschwunden schien. Vor allem dürfte als Mangel angesehen werden, dass es vornehmlich Autoren der deutschsprachigen Pädagogik sind, die berücksichtigt werden, und von den nichtdeutschen Autoren eben nur solche, die auch hierzulande rezipiert worden sind. Das passt nicht zur heute erwünschten Internationalität der pädagogischen Forschung, in der sich ja auch eine Tendenz zur globalen Planung und Steuerung von Erziehungsprozessen ausdrückt.

Dieser Mangel ist nicht zu leugnen. Zur Rechtfertigung fällt dem Verfasser, außer dem Eingeständnis seiner eigenen Grenzen, nur ein, dass er sich als Leser nicht die anonyme Schar der Pädagogikinteressenten weltweit vorstellt, auch nicht die international über Kongresse vernetzte scientific community; er denkt vielmehr an diejenigen, die sich mit den Erziehungsfragen in unseren Verhältnissen vertraut machen wollen. Er schreibt nicht für Leser in North Dakota oder New York City, nicht einmal für Kollegen in Italien, der Türkei oder Japan. So interessant und aufschlussreich es wäre, den Kontexten einer globalen Pädagogik nachzugehen, es bleibt daran zu erinnern, dass für die Erziehung gilt, was einmal von Tip O’Neill, dem langjährigen Präsidenten des amerikanischen Repräsentantenhauses, für die Politik treffend formuliert worden ist: All politics is local. Man sollte gewiss auch global denken und sich in der Welt umsehen und umhören, doch wie gelernt und erzogen wird, gehört zuerst und wesentlich zu den nächstliegenden Aufgaben, wie sie sich aus den besonderen kulturellen, sozialen und politischen Umständen ergeben. Auch bleibt zu bedenken, dass eine Erziehungswissenschaft, die das übergeht, was Justus Möser einmal die »Lokalvernunft« genannt hat, und sich rückhaltlos dem Geschäft der Standardisierung zur Verfügung stellt, als ob es lebenswichtig sei, dass die Kinder in Südkorea, auf den Malediven und in Mecklenburg-Vorpommern nach den selben Curricula unterrichtet werden – dass eine solche Erziehungswissenschaft die affektiven Grundlagen schwächt, ohne die die Erziehung selber noch schwieriger wird, als sie ohnehin schon ist.

Was die Gesichtspunkte angeht, unter denen die einzelnen Werke erörtert werden, so ist das Nötige in der Einleitung zum 1. Band gesagt worden und braucht hier nicht wiederholt zu werden. Mit einer Einschränkung vielleicht und einem Unterschied, der sich auf die Entstehungszeit und damit auf die historischen Kontexte bezieht, denen sich die jeweiligen Werke verdanken. In gewisser Weise kann man sagen, dass alle hier vorgestellten Autoren und Werke unserer Gegenwart angehören. Wir können sie wie Zeitgenossen lesen. Sie sprechen unsere Sprache, oder genauer: wir sprechen noch in den Umformulierungen und Neologismen die Sprache, die sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts für die Pädagogik eingebürgert hat. Ihre maßgebenden Themen sind auch unsere Themen, und die Unterschiede, die wir im Einzelnen feststellen, haben weniger mit dem Zeitablauf zu tun als mit den auch heute anzutreffenden Meinungs- und Auffassungsunterschieden, wie sie man bei jedem beliebigen Pädagogentreffen erleben kann. Gewiss, Fröbel und Diesterweg kannten noch keine Autos und nicht die Antibabypille, die industrielle Revolution zeichnete sich erst in Umrissen ab, das »Maschinenwesen«, das den alten Goethe täglich mehr ängstigte, stand erst am Anfang und vieles andere mehr, das heute zum täglichen Umgang und zu den Selbstverständlichkeiten der Lebensführung gehört, wurde noch am Ausgang des 19. Jahrhunderts nicht einmal geahnt. Dennoch: Die Menschen und Autoren des 19. und vollends des 20. Jahrhunderts sind intellektuell und moralisch unsere Zeitgenossen und gehören zu unserer Gegenwart, ungeachtet der Überlegenheitsgefühle, die viele der heute Lebenden gegenüber denen hegen, die sich eben jetzt nicht mehr zu Wort melden können.

Zugegeben, für Fragen der Hirnforschung, der Computertechnologie oder der Rentenfinanzierung dürfte das allerdings nicht zutreffen, wohl aber für Fragen der Erziehung. Da ist es vor allem ein Problem, das in vielen Variationen wiederkehrt und das pädagogische Denken und Handeln unablässig beschäftigt, nämlich die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, von Bürger und Staat, von Freiheit und sozialer Abhängigkeit, von selbstbestimmter Identität und verordneter Rolle oder schließlich: die Frage nach dem Verhältnis von personalen und sozialen Systemen. Zur Programmatik der Aufklärung gehört die Autonomie des Subjekts; aber die Erfahrung ihrer Realisierung scheint auch zu zeigen, dass es damit nicht weit her ist. Nicht etwa deshalb oder nur deshalb, weil diesem Autonomieanspruch ungünstige und widerstreitende Kräfte entgegenstehen, sondern weil er selbst in sich schon fragwürdig ist. Noch in den entschiedensten Behauptungen des Selbst lassen sich die Abhängigkeiten aufweisen, von denen es sich emanzipieren möchte.

Es ist sehr die Frage, ob das moderne Freiheitsbewusstsein sich maßgeblich dem bloßen Entschluss verdankt, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen, wie es Kant in seiner Aufklärungsschrift ausgeführt hat, oder ob nicht vielmehr die soziale Differenzierung oder wie es heute heißt: die Ausdifferenzierung der Gesellschaft dem Einzelnen gar keine andere Wahl lässt, als sich individuell zu organisieren, ob er will oder nicht. Es ist gar nicht ausgemacht, ob die feststellbare Ichbetonung der Grund oder die Folge oder eine Kombination von beidem das ist, womit es die Erziehung programmatisch und faktisch zu tun hat, und das heißt, ob sich die Pädagogik ausdrücklich als Individualpädagogik oder nicht besser als Sozialpädagogik (im Sinne von Otto Willmann und Paul Natorp) oder als eine Bemühung zu verstehen hat, die die sozial vermittelte Identität mit der von den Individuen zu verantwortenden Sozialität in ein Verhältnis zu bringen hat.

Vor diesem Hintergrund kann man die vorgestellten Werke und Autoren auch als Teilnehmer eines gemeinsamen Gesprächs vorstellen; jeder mit seinen besonderen Einsichten und Anliegen und alle bemüht, Begriff und Wirklichkeit der Erziehung richtig zu sehen und nach Möglichkeit auch zu fördern. Dass sie hier allerdings durch einen Moderator sprechen, der auch seine Befangenheiten und Vorlieben hat, ist ein Mangel, der sich nur beheben lässt, wenn der geneigte Leser selber sich die Werke ansieht, die hier vorgestellt werden.

2. Friedrich Fröbel:
Die Menschenerziehung

Nicht alles, was erst später in der Zeitreihe erscheint und auf den Markt gebracht wird, ist deshalb schon modern und auf der Höhe der aktuellen Diskussion. Es gibt wie in Familien Nachkömmlinge auch der intellektuellen Produktivität, die noch einmal Themen und Motive aufnehmen, von denen man schon glaubte, sie seien überholt, und dabei an etwas erinnern, was dann wieder Zukunft gewinnt und sich länger hält als die aktuelle Avantgarde. Ein solcher Fall scheint mir mit der zuerst im Jahre 1826 vorgelegten »Menschenerziehung« von Friedrich Fröbel gegeben, und deshalb steht er hier an erster Stelle. In der Tat bewegt er sich in einem Gedankenkreis, der eigentlich nach Kants Vernunftkritik und Herbarts Entwurf einer »Allgemeinen Pädagogik« als Wissenschaft nicht mehr zu erwarten war. Dennoch gehört seine Pädagogik zu den bedeutenden Zeugnissen des Nachdenkens über Erziehung und die »Menschenerziehung« unzweifelhaft zu den Schlüsselwerken der Pädagogik.

Allerdings: die Versuchung ist groß, Fröbel ganz und gar historisch-hermeneutisch zu erfassen, das heißt allein im Blick auf sein Leben und seine pädagogische Praxis, um von daher seine Gedanken zu verstehen und zu beurteilen. In der Tat kann man ihn nicht verstehen, ohne auf seine Praxis einzugehen, und das Werk nicht, ohne einige Aufmerksamkeit seiner Lebensgeschichte zu widmen. Aber in der Hauptsache muss es doch um seine Auffassung von Erziehung gehen. Für seinen Grundgedanken hat er einen griffigen, dann oft aufgegriffenen Titel gefunden: das sphärische Gesetz. Das wird zu erklären sein, so gut es geht. Vorgreifend will ich das sphärische Gesetz so kennzeichnen: Alles hängt mit allem in guter Ordnung zusammen; das Menschliche, die Welt als Inbegriff des Äußeren, das uns umgibt, und das Göttliche, das gleichfalls außer uns, aber auch in uns ist. Das mag genügen, den großen Bogen des Erziehungsdenkens Fröbels anzudeuten; er gehört ganz und gar nicht zu den akademischen Pädagogen, zu den Erziehungswissenschaftlern, wie sie im 19. Jahrhundert wirksam werden und wie sie heute da sind: kein simpler Empiriker, der prüft, ob Rechtshänder mit Plattfüßen genauso lernen wie Linkshänder aus zerrütteten Familien. Überhaupt ist er kein Theoretiker und Schreibtischpädagoge, der empirisches Wissen und Spekulation verbindet, sondern eine singuläre Gestalt mit einem pädagogischen Schicksal.

Ich fange mit dem an, was man so die »Fakten« nennt, das ist das, was man ungeachtet aller Interpretationen als sicher belegt ansehen und vernünftigerweise nicht bestreiten kann. Dazu stütze ich mich auf das »Lebensbild«, das Erika Hoffmann im ersten Band ihrer zusammen mit Helmut Heiland herausgegebenen dreibändigen Fröbelausgabe gegeben hat.

Fröbel ist Jahrgang 1782 und lebte bis 1852. Seine Jugend und ersten Mannesjahre fallen mit dem großen Umbruch in Deutschland zusammen, mit den napoleonischen Wirren, der preußischen Reformzeit, später dann Restauration, Vormärz, die Revolution oder der Versuch zur Revolution 1848. Es ist auch die Zeit, in der sich die Industrialisierung anbahnt – 1835 fährt die erste Eisenbahn mit der Wahnsinnsgeschwindigkeit von 40 km/h, so dass besonnene und besorgte Fachleute fürchteten, das würde die Menschen ruinieren. Das Maschinenzeitalter zieht herauf, das »Maschinenwesen«, von dem der alte Goethe bemerkt, es ängstige ihn täglich mehr. So viel oder besser so wenig zum zeitgeschichtlichen Horizont. Wichtiger dürfte für Fröbel das Milieu und die familiäre Konstellation gewesen sein: es ist das evangelische Pastorenmilieu, eine Brutstätte, wenn ich so sagen darf, für Genies und große Aspirationen. Unser Friedrich ist das vierte Kind einer Thüringer Pfarrersfamilie, einer Pfarrerssippe, denn auch Onkel und ältere Brüder sind oder werden Pastoren; die Frauen stammen ihrerseits aus Pastorenfamilien.

So weit, so typisch. Aber das entscheidende Datum dürfte der Tod der Mutter gewesen sein, da ist er noch nicht zwei Jahre alt. Die Interpreten sind sich einig: das ist die produktive Katastrophe seines Lebens. Der Vater heiratet noch einmal, als der Junge vier Jahre alt ist, aber da ist offenbar das Gefühl der Entfremdung, des Allein- und Verlassenseins schon so tief eingewurzelt, dass das Verhältnis zur Stiefmutter förmlich-kalt bleibt, das Verhältnis zum Vater ehrfurchtsvoll distanziert. Fröbel ist das verlassene Kind. Da liegt es nahe, seinen Lebensweg und seine Pädagogik als den Versuch der Kompensation eines elementaren Defizits zu lesen, des Vertrauensdefizits und der unauslöschlichen Erfahrung der Ungeborgenheit. Kein Wunder, so könnte man sagen, dass er sich auf Mütterlichkeit versteht, eben weil er ohne Mutter und anhaltende mütterliche Sorge aufgewachsen ist. Dies ist aber nicht mehr bloß das Faktische, sondern schon Interpretation, erst seine eigene, dann aber auch der Fröbel-Leser, die ihm darin gefolgt sind.

Der Leitgedanke ist: wir gewinnen unsere Grundeinstellungen, sozusagen das Lebensgefühl sehr früh; je früher desto bestimmender die Eindrücke. Ein Defizit an dieser Stelle hat lebenslange Folgen; wir werden das Kind nicht los, das wir waren, »the inner child of the past«, so der Titel des Buches von W. Missildine; zu deutsch: »In dir lebt das Kind, das du warst« (1963). Das gilt auch und vielleicht sogar in besonderer Weise für diejenigen, die die Erziehung zu ihrer Lebensaufgabe machen. Darauf hat auch Siegfried Bernfeld in seinem einflussreichen Buch: »Sisyphos, oder die Grenzen der Erziehung« von 1925 aufmerksam gemacht. Bernfeld sagt da: »Wer immer über Kindheit und Jugend denkt, steht unter einer psychischen Konstellation, die das reine Denkergebnis affektiv gefährden will. Ein Kind kennt er mit unvermeidlicher Aufdringlichkeit: sich selbst als Kind« (Bernfeld 1973). Ich übersetze das wie folgt: in unser Verständnis von Kindern und ihrer Erziehung spielt immer auch das Kind hinein, das wir gewesen sind, das innere Kind im großen Kind, das wir lebenslang bleiben.

Wie sicher diese Auffassung ist, lasse ich dahingestellt. Zurück zu unserem Problemkind: Fröbel ist nicht nur das verlassene, sondern auch das zurückgesetzte Kind. Außer dem ältesten, 14 Jahre älteren Bruder kümmert sich keiner richtig um ihn. Mit 10 Jahren wird er zu einem Onkel abgeschoben, und es beginnt die Odyssee seines Lebens. Er kommt nicht zur Ruhe. Studieren soll er nicht, anders als einige der Brüder und Halbbrüder; er scheint nicht gut zu lernen, ist eigensinnig, kein schlechter Junge; aber verschlossen, in sich verschlossen. Die Ausbildung bleibt unregelmäßig, ohne Abschlüsse und Zertifikate als Karrierevoraussetzung. Er soll Feldmesser werden, lernt bei einem Förster, verdingt sich als Hauslehrer, erst bei einer adeligen Familie in Mecklenburg, dann in Frankfurt, mit deren Kindern er nach Ifferten zieht und dort mit Pestalozzi bekannt und vertraut wird. Was den äußeren Lebensgang betrifft, sieht das alles recht zufällig aus; auch zur Pädagogik kommt er per Zufall, aber die innere Entwicklung ist ganz anders: Fröbel ist der Autodidakt par excellence, vorübergehend ist er in Jena Student – das ging damals noch ohne Abitur –, aber auch das Studium ist unregelmäßig, seine Lektüre indes weitreichend, intensiv, ungeregelt. Er liest, was ihn fördert oder was zu ihm passt. Er studiert nicht systematisch, sondern gewissermaßen biographisch. Dabei findet er aber immer wieder Unterstützung und Freunde, auch Geldgeber. Er gründet schließlich eine Erziehungsanstalt, »Keilhau« in Thüringen, da ist er gut zehn Jahre, von 1817/20 bis 1831, dann wieder unterwegs, neue Gründungen folgen; er ist inzwischen bekannt, auch umstritten, gerät in den Geruch des Revoluzzertums, auch durch seinen Neffen Julius Fröbel, einen der später führenden Liberalen nach 1850.

Ich will nicht den ganzen Roman seines Lebens erzählen, sondern nur die sich wiederholende Figur seines Lebens verdeutlichen: permanente Unstetigkeit und zugleich Konsequenz und Ausprägung seiner Grundidee des »sphärischen Gesetzes«. Wir gewinnen dieses Bild: eine schwierige Kindheit, mit der Folge, dass er zum Selbstversorger in Sachen des Lernens wird, unregelmäßige Ausbildungen, dann pädagogische Einzelversuche, als Hauslehrer und in Privatschulen, schließlich Gründung von Keilhau 1817; Kinderheim, Internat und Schule zusammen, dann neue Gründungen in der Schweiz, schließlich Organisation der pädagogischen Idee unter dem Titel »Kindergarten« und Auswirkung auf Lehrerschaft und erziehungsbewusste Frauen, die ihm immer die treuesten Anhängerinnen geblieben sind. Ungefähr in der Mitte dieses Lebensbogens steht das Hauptwerk »Menschenerziehung«, auf das ich jetzt eingehe.

Der volle Titel lautet: »Die Menschenerziehung. Die Erziehungs-, Unterrichts- und Lehrkunst angestrebt in der allgemeinen deutschen Erziehungsanstalt zu Keilhau; dargestellt von dem Stifter, Begründer und Vorsteher der selben«; schließlich noch: »Erster Band: Bis zum begonnenen Knabenalter«. Mehr als dieser erste Band ist nicht erschienen; das Werk ist insofern ein Fragment, die ursprüngliche Konzeption und die Ankündigung reichen weiter. Ähnlich wie Hegels »Phänomenologie« und Heideggers »Sein und Zeit«, da sind auch nur der erste Teil erschienen. Heute aber werden diese Bücher als Ganzes genommen, als ob die Autoren nur das gewollt hätten, was vorliegt. Das heißt in unserem Fall: als ob Fröbel nur etwas über Kindererziehung hätte sagen wollen. Der volle Titel zeigt aber viel mehr: er wollte die ganze Erziehung umfassen. Ausgeführt ist die Kindererziehung, sicher ihr wichtigster Teil, aber dieser Teil gehört zu einem vorgestellten Ganzen, hat einen größeren Rahmen, und der ist bei Fröbel gemäß der Zeittendenz auch die Nationalerziehung. Das hatte Fichte vorbereitet, vor allem in den »Reden an die deutsche Nation«: das eigene Volk ist der epochale Rahmen der Selbstfindung und Selbstbestimmung. Wenn wir das heute hören, haben viele den Nationalsozialismus vor Augen; aber das ist spätere historische Erfahrung. Damals standen »Nation« und »Volk« für politische Selbstbestimmung, gegen die Dynastien und volksfremden Herrschaften. Es gab den Gedanken: wenn jedes Volk sich selbst bestimmt, wird Friede sein unter den Staaten als Organisation ihrer Völker. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Grundlage ihrer Verständigung. Deshalb also Keilhau als Nationale Erziehungsanstalt, und damit stand Fröbel in der Zeit eben auch unter Demokratieverdacht.

Tatsächlich ist diese Gesamtanlage aber in der »Menschenerziehung« nicht zur Ausführung gekommen. Es geht um Kindererziehung, und so ganz Zufall ist es ja nicht, dass dieser Teil ausgeführt und gelungen ist. Am Ende des Buches, wo man in der Regel eine Zusammenfassung und vielleicht noch einen Ausblick gibt, da sagt Fröbel, er habe nun gezeigt, wie das Kind zum Knaben geworden sei, wie er »zur Ahnung seines selbständigen geistigen Wesens und Selbst gekommen ist – er fühlt und kennt sich als ein geistiges Ganzes«. Als Beleg dienen ihm die Kinder und Knaben, die während des Schreibens unter seiner Obhut und Anleitung herangewachsen seien, die ihn »während seinem Schreiben unmittelbar spielend, nie müde werdend, immer neue Befriedigung und Nahrung ihres Tätigkeits- und Lebenstriebes zu fordern, und so ihr Wesen frei aus sich zu gestalten, umgaben« – und »wenn es einer äußeren Bürgschaft bedürfte«, dann sind diese Verhältnisse »auch Bürge, dass er Wahrheit schreiben wird«. Die eigene Praxis als Wahrheitsbeweis und Gewissheit, auch die weiteren Teile der Erziehungslehre wahrheitsgemäß auszuführen. Die Adressaten der Erziehung werden zu Wahrheitszeugen: das ist die Idee der Sache.

Ich komme zurück zu dem Gesamtplan. Es mag der Eindruck entstanden sein, Fröbel habe seiner Erziehungslehre eine politische Begründung gegeben. Das wäre ein falscher Eindruck. Die Begründung ist vielmehr metaphysisch. Er nennt es nicht so, aber so ist es. Deshalb will ich erklären, was mit dem Ausdruck »metaphysisch« gemeint ist; auch in der Absicht, dem Wort den Anklang des Versponnenen und Abwegigen zu nehmen, der heute weit verbreitet ist. Bis weit ins 18. Jahrhundert war Metaphysik überhaupt der Inbegriff vernünftiger Begründungen, ein Ehren- und Würdetitel, sozusagen der Gipfel der menschlich erreichbaren Einsicht. Man kann vielerlei erkennen, und man kann auch das Erkennen erkennen. Und dann sieht man nicht nur Einzelheiten und so genannte Fakten, sondern erkennt die Bereiche, auf die die menschliche Erfahrung sich bezieht. Diese Bereiche oder Zielpunkte des Erkennens sind erstens Gott, zweitens die Welt und drittens der Mensch. Mit dem ersten befasst sich die Theologie, mit dem zweiten die Physik und die Wissenschaften überhaupt, mit dem dritten die Psychologie oder Anthropologie. Was ist das Wesen Gottes, was das Wesen der Welt, das heißt alles dessen, was wir uns gegenüber haben, und was sind wir selbst, unsere Seele. Zusammen nannte man diese Themen »metaphysica specialis«, spezielle Metaphysik; darüber gab es noch die »metaphysica generalis« oder Ontologie, die Lehre vom Sein überhaupt, egal, ob es das Sein Gottes, der Welt oder der Seele ist.

Das sieht im Schema so aus:

Allgemeine Metaphysik/Ontologie

Spezielle Metaphysik: Gott – Mensch – Welt

Der Stand der theoretischen Diskussion war nach 1800: die Frage nach dem Wesen Gottes, des Menschen, der Welt war als metaphysische Frage erledigt. Das hatte Kant besorgt; deswegen war er der Alleszermalmer genannt worden. Es gibt keine Gottesbeweise, es gibt kein absolutes Wissen vom Menschen, es gibt kein absolutes, letztes Wissen von der Welt im Ganzen, sondern empirische Fragen nach dem Menschen und nach der Welt. Aber das ist nicht der Standpunkt des Autodidakten Fröbel. Er bewegt sich in der alten Metaphysik und benutzt sie wie selbstverständlich. Zwischen Gott und die Welt ist der Mensch gestellt. Als physisches Wesen gehört er zur Welt, aber zuinnerst gehört er und stammt er aus Gott. Aber auch die Welt, als Inbegriff dessen, was außer uns ist, ist aus Gott, so dass alles, was uns begegnet, auf Gott zurückweist, so wie wir im Innersten eine Gottesgewissheit in uns tragen als seine Geschöpfe. Fröbel sagt: »Alles ist hervorgegangen aus dem Göttlichen, aus Gott, und durch das Göttliche, durch Gott einzig bedingt; in Gott ist der einzige Grund aller Dinge. (…) Das in jedem Dinge wirkende Göttliche ist das Wesen jedes Dinges.«

Man pflegt diese Auffassung »pantheistisch« zu nennen, und weil nach der Aufklärung und nach Kant diese Auffassung nach rückwärts auf ältere Weltdeutungen verweist, nennt man das auch »romantisch«. Diese Titel sagen für sich nicht viel; nur dies, dass Fröbel noch aus und in einer Tradition denkt, die sonst oder für die meisten vergangen ist. Er denkt und er bewegt sich in der alten Metaphysik, die Gott, Mensch und Welt als Ganzheit und geordnete Einheit auffasst. In der geschaffenen Welt, in Pflanze, Tier und im Menschen, soweit er physisch ist, spiegelt sich der Schöpfer; so wie er, der Schöpfer, sich im denkenden Menschen und für den denkenden Menschen offenbart. Daraus ergibt sich unmittelbar, wie die Erziehung zu verstehen und zu handhaben ist: »Das Anregen, die Behandlung des Menschen als eines sich bewusst werdenden, denkenden vernehmenden Wesens zur reinen unverletzten Darstellung des innern Gesetzes, des Göttlichen mit Bewusstsein und Selbstbestimmung, und die Vorführung von Weg und Mittel dazu ist Erziehung des Menschen.« Das innere Gesetz, von dem hier die Rede ist, ist das vorher erwähnte sphärische Gesetz, wie Fröbel andernorts sagt. Sphären sind Bereiche, die von einander unterschieden sind, aber hier so, dass jede Sphäre, nämlich die des Göttlichen, des Menschlichen, des Physischen, jeweils auf die beiden anderen verweist. Man könnte sagen, alles ist mit allem verbunden und verwandt, ist Einheit in der Vielfalt. Aus diesem Einheitsgedanken ergibt sich die Erziehungskunst, die Form, wie man erzieht oder besser: erziehen sollte. »Lebenseinigung« ist Fröbels Wort dafür: sie ist nicht einfach gegeben und wird auch nicht irgendwie von außen bewirkt, sondern sie ist Aufhellung und Freigabe dessen, was innen schon angelegt ist. Das ist nun die moderne, neuzeitliche Pointe dieses inneren Gesetzes: es wirkt nicht blind, sondern durch die Menschen. Fröbel sagt: »Die freitätige Anwendung des Gesetzes dieser Erkenntnis und Einsicht, dieses Wissens für unmittelbare Entwickelung und Ausbildung vernünftiger Wesen zur Erreichung ihrer Bestimmung ist Erziehungskunst.«

Ich erläutere das noch einmal in anderer Sprache. Man könnte ja denken, wenn alles sich in allem anderen wiederholt, dann kann man darauf vertrauen und annehmen, dass auch die Entwicklung des Menschen sich von allein fügt. Wozu also eingreifen und Kinder erziehen? Das meint Fröbel nicht: man kann es falsch machen, und es wird vielleicht auch schlecht oder falsch gemacht; es gibt Herausfallen aus der wunderbaren Ordnung, Verstöße gegen das innere Gesetz, das hatte Fröbel ja selber zur Genüge erlebt; es gibt, so sagt er das in dem Idiom der Romantiker, »tote« Menschen, die von Gott und der göttlich geschaffenen Welt nichts wissen, die sich verloren und verhärtet haben, später wird es heißen: die sich ihrer wahren Bestimmung entfremdet haben, und die werden auch ihren Kindern nichts geben und sie zum Bewusstsein der göttlichen Einrichtung der Welt führen können, sondern ihre eigene Selbstentfremdung weiterreichen. Also bedarf es der Erinnerung und Erziehung aus dem Geist der Lebenseinigung, in der Hoffnung, dass die richtige Erziehung der Kinder nicht nur für die Zukunft segensreich ist, sondern zur Selbsterziehung der Erzieher wird. »Sich selbst und andere erziehen, ist mit Bewußtsein, Freiheit und Selbstbestimmung erziehen, ist Doppeltat der Weisheit.« Sie begründet die »Doppelendigkeit der Erziehung«: Wer erzieht, wird erzogen, erzieht zugleich auch sich selbst. Das Erziehen ist »gebend und nehmend, vorschreibend und nachgehend, handelnd und duldend, bestimmend und freigebend, fest und beweglich, und eben so muß der Schüler, Zögling, gesetzt werden«.

Das findet sich auf den ersten Seiten der »Menschenerziehung«, die mit großen Buchstaben gesetzt sind; an späterer Stelle kehrt dieser Gedanke wieder, wo es mehr um Einzelheiten geht, die in etwas kleinerer Schrift gesetzt sind. Da werden die Väter und Eltern direkt angesprochen: »Väter, Eltern! Was uns mangelt, auf, lasst es uns unsern Kindern geben, verschaffen; was wir nicht mehr besitzen, die alles belebende, alles gestaltende Kraft des Kinderlebens, lassen wir sie von ihnen wieder in unser Leben übergehen! Laßt uns von unsern Kindern lernen; lasst uns den leisen Mahnungen ihres Lebens, den stillen Forderungen ihres Gemüts Gehör geben! Laßt uns unsern Kindern leben: so wird uns unserer Kinder Leben Friede und Freude bringen, so werden wir anfangen, weise zu werden, weise zu sein!«

Lasst uns unsern Kindern leben! Das ist zu einem wiederkehrenden Motto für Fröbel geworden; es ist auch der Leitspruch für die von ihm ins Leben gerufene Frauen- und Mutterbewegung des Kindergartens geworden. Das Kind lehrt uns wahre Menschlichkeit. Indem wir es erziehen, erinnern wir uns der in uns verschütteten Kindheit: Fremderziehung und Selbsterziehung gehen zusammen. Im Hintergrund steht ein alter Topos aus dem NT: »Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht ins Himmelreich eingehen« (Matth. 18,3). Kindlichkeit als eigener Wert und Spiegel unserer Gotteskindschaft: so scheint das gemeint zu sein. Etwas abstrakter und neutraler gesprochen: Was Fröbel in Angriff nimmt, hatte schon Rousseau ins Auge gefasst; aber hier ist die Begründung nicht psychologisch oder ethisch, sondern eben metaphysisch. Das Kind ist noch ganz bei sich, ganz Innerlichkeit, und dieser Innerlichkeit können wir Winke und Hinweise entnehmen, wie wir es mit der Welt bekannt machen. Mit dieser Doppelformel operiert Fröbel. Das Innere nach außen, das Äußere nach innen. Indem wir als Erziehende diese Doppelbewegung mitvollziehen, verjüngen und erneuern wir zugleich uns selbst.

Im letzten Teil wird dieser Weg näher beschrieben. Das ist die Didaktik Fröbels, die ihn berühmt gemacht und seinen Namen bis heute bewahrt hat. Dieser Teil ist ganz klein geschrieben, nicht mehr groß wie der Anfang und mittelgroß in der Mitte. Das ist eine Merkwürdigkeit des Buches, das sonst keine Gliederung, keine Abschnitte und Artikel mit Zwischenüberschriften kennt. Die Paragraphen, die sich in den heutigen Ausgaben befinden, sind von späteren Herausgebern eingefügt worden. Fröbel selber hat gewissermaßen einen Fließtext vorgelegt, wo eines in das andere übergeht, stetig, ohne scharfe Grenzen, so wie Gott, Mensch und Welt ineinander spielen. Auch da sieht man, wie für ihn das Äußere und Innere ineinander greifen. Didaktik ist etwas Äußeres; ein Verfahren zur Vermittlung von Kenntnissen, Fertigkeiten und Einstellungen; aber sie betrifft Inneres, das Lernen, das Gemüt des Kindes. Wie kann das zusammenkommen? Zum Beispiel im Spielzeug, wie wir heute sagen, in der »Spielgabe«, wie Fröbel sagt. Kinder sind, das zeigt sich uns, von Bällen angetan; sie umgreifen sie, sie halten sie und sie werfen sich Bälle zu; das sagen wir ihnen nicht, das sehen wir und das können wir dann mitvollziehen. Der Ball ist ein Bild des Kosmos, der uns umfängt und insofern umfangen wir das Umfangende, wenn wir den Ball in Händen halten; wohlgemerkt in den Händen und nicht mit den Füßen, um ihn zu treten und zu stoßen. An diesem Beispiel kann man sehen, wie Fröbel die Doppelendigkeit der Erziehung versteht und was er daraus macht: die Formen des Erziehens finden wir in dem Verhalten des Kindes vorgebildet, in der Bewegung, im Ergreifen und Gehen, im Spiel und bei der freien Tätigkeit.

Auch hier nimmt Fröbel altes Gedankengut auf: Der Kreis in der Ebene und die Kugel im Raum sind seit eh und je als Symbole des Vollkommenen gedeutet und benutzt worden; und Symbol heißt hier nicht: willkürliches Zeichen für etwas, was man auch anders sagen könnte, sondern Darstellung der großen Welt im Kleinen; eine aktuelle Wirklichkeit und zugleich Hinweis auf mehr als diese Wirklichkeit. Die Struktur des Ganzen ist zirkulär, rund, geschlossen: die Erziehung der Kinder ist Selbsterziehung der Erzieher. Sie kommen auf ihre Kindheit zurück, auf das Innere, das noch unentfaltet war, und dieses Innere ist der göttliche Funke, der mit jedem Kind geboren wird. Wenn dann gelernt und die Welt erschlossen wird, zeigt sich die Welt, das, was uns begegnet, wieder als Ordnung, die wir in uns tragen. Dass das so ist, muss nicht bewiesen werden, sondern es zeigt sich, wenn man hinsieht und das Kind ansieht, das uns ansieht.

Betrachtet man diese zirkuläre Struktur der Fröbelpädagogik von außen und von heute her, dann versteht man, warum es bei einer Pädagogik der Kindheit geblieben ist, bis zum Schulanfang, aber der große, das ganze Leben umspannende Wurf, den Fröbel wollte, daraus ist nichts geworden, die »Menschenerziehung« ist Fragment geblieben. Auch in anderen Hinsichten zeigt sich diese Rückbindung der Erziehung an die Selbsterziehung der Erzieher. Zuerst hat Fröbel in Keilhau mit den Kindern seiner älteren Brüder zusammengelebt, dann denen der Freunde und Bekannten: sozusagen eine erweiterte, große Familie. So ist auch seine Vorstellung von den richtigen Sozialverhältnissen: er wünscht sich einfache, überschaubare und durchsichtige Sozialverhältnisse, in denen man lernt, was man sieht, und genug sieht und mitmacht, um zu lernen. Das ist nicht die wirkliche moderne Welt, bestenfalls die geordnet-bürgerliche Familie und dann eben ein Internat wie Keilhau. Das ist aber nicht nur die richtige, umschlossene Umgebung für die Kinder, sondern auch für die Erzieher und für Fröbel, eine Welt des Zutrauens, der Freitätigkeit und der Mäßigung.

Doch was soll aus den Kindern werden? Am besten wieder Erzieher; und tatsächlich sind die Keilhauer Kinder dann vielfach auch wieder Keilhauer Erzieher geworden; der geschlossene Kreis bleibt erhalten. Man kann das oft bei so total angelegten Erziehungskonzepten und überhaupt in der Erziehung beobachten: sie tendiert zur Selbstbestätigung, beweist sich zirkulär und argumentiert mit hoher Selbstreferenz, so dass diese Erziehung zur Erziehung erzieht. Ob das ein Einwand ist, lasse ich dahingestellt. Auf jeden Fall bedarf die Erziehung auch ihrer Aufhebung und der Herausführung aus der Kindheit. Es ist wohl unvermeidbar, dass man dann zu ganz anderen Auffassungen und Modellen kommt; vor allem: dann kommt man zur Schule, in der sich der Anspruch einer Gesellschaft meldet, die mit Kindlichkeit und Kindern allein nichts anzufangen weiß.

Lit.: F. Fröbel: Die Menschenerziehung (1826). In: Ausgewählte Schriften, Bd. 2, hrsg. v. E. Hoffmann, Stuttgart 1982. – E Hoffmann: Lebensbild. In: Ausgewählte Schriften, Bd. 1, a. a. O., S. 147ff.; H. Heiland: Friedrich Fröbel in Selbstzeugnissen und Dokumenten, Reinbek 1999 (3. Aufl.); W. H. Missildine: In dir lebt das Kind, das du warst (zuerst engl.: Your inner Child of the Past, 1963). Stuttgart 1990; S. Bernfeld: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung (zuerst 1925). Frankfurt 1973

3. Johann Friedrich Herbart: Allgemeine Pädagogik aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet

Es scheint mir nicht übertrieben zu behaupten: mit Herbart beginnt die Epoche der wissenschaftlichen Pädagogik. Nicht zufällig ist er einer der ersten, wenn nicht überhaupt der erste, der den Ausdruck »allgemein-pädagogisch« verwendet, und zwar zur Kennzeichnung der Frühschrift über die »ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung« (1804). Sein Thema ist nicht diese und jene Erziehung, sondern Erziehung überhaupt. Das mag heute selbstverständlich erscheinen, aber der darin enthaltene Theorieanspruch musste erst eigens herausgearbeitet und formuliert werden. Das ist Herbarts Verdienst. Dadurch ist er zum Gründervater der Erziehungswissenschaft geworden, nicht durch diesen oder jenen Gedanken allein, diesen und jenen Vorschlag, sondern darin, dass er die Aufgabe gesehen und aufgenommen hat, das Erziehungsdenken und die Erziehungserfahrung zu systematisieren. Darauf will ich besonders abheben, weil wir da immer noch zu unserem Vorteil etwas von ihm lernen. Wir finden dieses Theorieprogramm in der Schrift mit dem anspruchsvollen Titel »Allgemeine Pädagogik aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet« aus dem Jahre 1806. Eigentlich noch eine Jugendschrift; Herbart war gerade 30 Jahre alt und Dozent für Philosophie in Göttingen, der neben Jena fortschrittlichsten Universität der Zeit.

Diese »Allgemeine Pädagogik«, früh in der wissenschaftlichen Laufbahn entstanden, ist die Grundschrift für die Pädagogik Herbarts, und sie ist eine Grundschrift für die Pädagogik überhaupt. Man sieht es heute dem Titel nicht mehr an, dass er neuartig war und einen Gedanken enthält, der in dieser Weise noch nicht ausgesprochen und durchgeführt war. In der Flut der pädagogischen Literatur, die schon damals Ausmaße hatte, die auch das gutwilligste Lesevermögen reichlich strapazieren, setzte Herbart einen eigenen, neuen Akzent; denn was er sich da vorgenommen hat, ist nicht weniger als die wissenschaftliche Begründung der Erziehung. Erziehungslehren gab es die Fülle, am berühmtesten war die »Erziehungslehre« von August Herrmann Niemeyer aus dem Jahre 1796. Da war alles aufgeführt, was an pädagogischen Erfahrungen den Eltern und Hauslehrern mitgeteilt wurde; ein Kompendium, wie man unterrichtet und erzieht, wie man richtig lobt oder straft. Ferner gab es die vielfältigen Erziehungsromane nach dem Vorbild von Rousseaus »Emile« und Pestalozzis »Lienhard und Gertrud«; es gab den »Wilhelm Meister« von Goethe, wenigstens den ersten Teil, »die Lehrjahre«; es gab auch schon Grundlegungen der Erziehungswissenschaft wie die von Poelitz, von Hause aus Jurist und Ökonom; sie hieß: »Die Erziehungswissenschaft, aus dem Zwecke der Menschheit und des Staates dargestellt«, gleichfalls 1806 erschienen. Pädagogik aus dem Zwecke des Staates – das war herkömmlich und Usus, das wurde auch erwartet, und wenn man allein diesen Titel mit dem Herbarts vergleicht, sieht man, was eigentlich neu war: Herbart will eine Erziehungswissenschaft aus dem Zwecke der Erziehung, also nicht aus einem anderen Zweck, dem des Staates oder der kirchlichen Gemeinschaften, der Ökonomie oder sonst einer Zwecksetzung, sondern Erziehung selber soll das Maß der wissenschaftlichen Behandlung der Erziehung sein. Zugespitzt gesagt: der Zweck der Erziehung ist aus der Erziehung selber zu gewinnen, nicht aus anderen, vorgesetzten Zwecken, wie sie in der Wirtschaft, im Staat, in dem kirchlich verfassten Glauben anzutreffen sind. Erst dadurch wird Erziehung ein selbstständiges Thema, das man auch für sich behandeln kann und wo man nicht erst nach anderen Disziplinen sehen muss, um zu sagen, wie und wozu erzogen wird. Das ist das Neue bei Herbart schon im Ansatz: Herbart ist der Form nach der Begründer einer systematischen Pädagogik, deshalb nennt er seine Pädagogik auch »Allgemeine Pädagogik«, nicht Pädagogik des Hauses und für die Hauserziehung, auch nicht Pädagogik der Schule und für die Schulerziehung, sondern Pädagogik generell und allgemein.

Was das nun wirklich bedeutet und was daraus folgt, sagt Herbart in der Einleitung zur »Allgemeinen Pädagogik«, auf die ich näher eingehen will. Er fängt mit einer Selbstverständlichkeit an, oder einer scheinbaren Selbstverständlichkeit: »Was man wolle, indem man erzieht und Erziehung fordert, das richtet sich nach dem Gesichtskreise, den man zur Sache mitbringt.« Hier haben wir in nuce die ganze Pädagogik Herbarts und die moderne Pointe. Erziehen ist eine gewollte, geplante, organisierte Veranstaltung; sie ist nicht natürlich und ereignet sich bloß, ist nicht nur Sozialisation, die gleichsam naturwüchsig geschieht, sondern eine rationale Handlung, die nach bewussten Zwecken verfährt. Das ist der erste Punkt; der zweite ist, dass sich das Wollen nach der Einsicht richtet, nach dem Gesichtskreise, »den man zur Sache mitbringt«, wie Herbart sagt. Wenn wir etwas wollen, so müssen wir das erkennen oder erkannt haben, was den Inhalt unseres Wollens ausmacht. Wir können nicht einfach wollen, sondern immer nur »etwas« wollen. Dieses »Etwas« ergibt sich aus dem Gesichtskreis oder, wie Herbart dann auch sagt, aus dem Gedankenkreis.

Was folgt daraus? Indem man in den Gedanken- und Vorstellungskreis eingreift und ihn dadurch verändert, zum Beispiel durch Belehrung und Unterricht, aber auch durch Vorenthaltung und Verbergen, wirkt man indirekt auch auf den Willen. Er hängt an dem, was wir vorstellen. Deshalb geht es in der Erziehung darum, das Vorstellen und über das Vorstellen die Gedanken, den Gesichtskreis und schließlich auch den Willen zu formen. Aus diesen drei Komponenten: dem zweckgerichteten Wollen der Erzieher, der Lenkung des Vorstellens durch Darstellung der Welt und damit der Ausbildung von Interessen der Lernenden setzt sich die Erziehung zusammen. Demgemäß hat die »Allgemeine Pädagogik« drei große Kapitel: das erste behandelt den »Zweck der Erziehung überhaupt«, das zweite die durch den Unterricht ermöglichte »Vielseitigkeit des Interesse«, und im dritten geht es um die »Charakterstärke der Sittlichkeit«.

Noch einmal zurück zur Einleitung, in der die begrifflichen Voraussetzungen für die Theorie der Erziehung geklärt werden. Die erste Voraussetzung ist: Das Erziehen ist eine zweckgerichtete Handlung, bei der wir Entscheidungen treffen, dieses unterlassen, jenes betonen, und deshalb bedarf es einer Reflexion darauf, was wir wollen. Wir müssen unseren Gesichtskreis klären und untersuchen, was wir »zur Erziehung mitbringen«. Man bezeichnet diese Position in der Tradition als »rationalistisch«. Das soll sagen: unsere Motive und Handlungsimpulse sind nicht spontan, sondern sie sind vermittelt durch unsere Kenntnisse und unser Denken. Doch das ist keineswegs eine selbstverständliche Ansicht; im Gegenteil findet man ebenso nachdrücklich die Gegenposition, dass sich nämlich unsere Gedanken nach unseren Motiven richten, nach unseren Bedürfnissen und Interessen; Freud würde sagen, nach unseren Triebdispositionen, die sich die passenden Gedanken erst suchen und nicht gefallen lassen, von bloßen Gedanken bestimmt zu werden. Man sieht also, wie voraussetzungsvoll schon dieser Einstieg bei Herbart ist. Er argumentiert von dem Standort der inhaltlichen Reflexion, unter der Annahme, dass es über Reflexion möglich ist, das Handeln und hier das erzieherisch planvolle Handeln zu bestimmen. Und von dieser Position aus nimmt er sich nun die Erziehungspraktiken vor. Denn das weiß er natürlich auch, dass in der Regel und im Durchschnitt die Menschen nicht nach Plan und klarer Gedankenführung handeln, sondern nach Ungefähr, Gewohnheit, Sitte und Brauch. Herbart sagt: »Die meisten haben es unterlassen, sich für das Geschäft (der Erziehung) einen eigenen Gesichtskreis zu bilden; er entsteht ihnen während der Arbeit allmählich; er setzt sich ihnen zusammen aus ihrer Eigentümlichkeit und aus der Individualität und den Umgebungen des Zöglings.«

So ist es ja auch wirklich, damals zu Herbarts Zeiten und heute nicht anders. Gelegentlich hat man auch von Instinktpädagogik gesprochen. Das ist ein etwas unglücklicher Ausdruck, weil er nur auf das Resultat sieht, nicht auf die Art und Weise, wie man erziehen lernt. Die Eltern, die ihr Kind versorgen und betreuen, die es beaufsichtigen und mit ihm spielen, machen ja nicht vorher eine Erziehungslehre durch, nach der sie dann verfahren, sondern der Umgang mit dem Kind ist selber erzieherisch, und es bilden sich in diesem Umgang dann Maßnahmen je nach den Umständen, Bräuchen, Gelegenheiten aus. Die Erfahrungen, die die Eltern mit dem Kind machen, und ihre richtigen oder fragwürdigen Beobachtungen führen dann zu dem besonderen Erziehungsverhalten, das abgestimmt ist auf dieses Kind und seine Lage, seine Individualität einerseits und die Eigentümlichkeit der Erziehenden andererseits. In der neueren Wissenschaftstheorie wird dieses Wissen, das wir in solche Lagen einbringen und anwenden, auch als nichtpropositionales, implizites Wissen bezeichnet; es ist ein Wissen, wie man es macht, ohne Definition und Begrifflichkeit; ich will auch von Umgangserfahrung sprechen. Sie versetzt uns in die Lage, vor Ort und im Moment etwas zu tun, ohne langes Überlegen, schon deshalb, weil wir gar nicht immer lange überlegen können, sondern handeln müssen. Diese Erfahrung oder Erfahrenheit, sagt nun Herbart, ist nicht genug; sie ist blind, ohne Reflexion, kein richtiges Wissen; und wenn gemäß seiner Voraussetzung das Handeln auf richtiges Wissen gegründet sein soll, dann ist diese pädagogische Umgangserfahrung, wie sie Eltern mit ihren Kindern haben, unzureichend, vorrational. Vor allem ist diese Erfahrung an die Person gebunden; der eine hat diese Regel, der andere wieder andere, weil, so sagt Herbart, »jeder nur das erfährt, was er versucht!«