Vorwort

Mit dem vorliegenden Buch, das die Ergebnisse einer mehrjährigen Studie in Niedersachsen bündelt, sind zwei wichtige Ziele verbunden. Zum einen werden die Erfahrungen, Wünsche und Forderungen hochbetagter Patienten und ihrer Angehörigen an eine patientenorientierte Gesundheitsversorgung auf der Basis diverser Befragungen vorgestellt. Gleichzeitig werden die Möglichkeiten und Grenzen der Forschung mit hochbetagten Menschen erörtert.

Die Gestaltung der künftigen Gesundheitsversorgung für hochbetagte Menschen gewinnt angesichts der demografischen Entwicklung zunehmend an Bedeutung. Damit einher geht ein erheblich verändertes Morbiditätsspektrum mit einer weiteren Zunahme von chronischen Erkrankungen und Multimorbidität (img Kap. 1). Für die Gesundheits- und Sozialdienste (img Kap. 1.3.1–1.3.2) bedeutet diese Entwicklung, die Versorgung und Betreuung älterer Menschen unter Berücksichtigung ihrer spezifischen Ressourcen, Grenzen und persönlichen Wertvorstellungen zu gestalten. Dazu gehören vor allem der Ausbau präventiver und gesundheitsfördernder Ansätze, die Stärkung der Patientenautonomie (img Kap. 1.4) und eine Optimierung der Versorgungsabläufe.

Wie sich die Betroffenen selbst – hochaltrige Patienten und Angehörige der nächsten Generation – eine gute Versorgung vorstellen und welche Wünsche und Erwartungen sie haben, wurde in Kooperation mit drei geriatrischen Kliniken in Niedersachsen erhoben. Die Studie umfasste unterschiedliche Phasen (img Kap. 2). Zunächst wurden in einer qualitativen Vorphase leitfadengestützte, qualitative Interviews mit Hochaltrigen durchgeführt, um die Thematik aus Sicht der Betroffenen zu beleuchten und Erhebungsinstrumente für die Hauptphase zu entwickeln (img Kap. 3). Zudem wurden die organisatorischen Rahmenbedingungen analysiert unter der Frage, wie die wissenschaftliche Studie bestmöglich in den Klinikalltag der beteiligten Einrichtungen integriert werden konnte.

Die Hauptphase des Projekts bestand aus drei Teilen: Im ersten Teil wurden 152 Patienten (Durchschnittsalter 85 Jahre, 74 % Frauen) während ihres stationären Aufenthaltes in einer der beteiligten geriatrischen Kliniken persönlich mit Hilfe eines standardisierten Instruments zu den Themenfeldern gesundheitliche Versorgung, Versorgungsabläufe, Lebenssituation, Prävention und Gesundheitsförderung sowie Patientenautonomie interviewt (img Kap. 4). Um Veränderungen in den Lebensumständen, der Versorgungssituation und damit verbundene veränderte Anforderungen zu erfassen, wurden diese Patienten sechs Monate nach dem Klinikaufenthalt erneut, dieses Mal in ihrer häuslichen Umgebung, unter Verwendung eines modifizierten Instruments zu o. g. Themenfeldern befragt (img Kap. 5).

Schließlich wurden 31 qualitative Interviews mit Angehörigen von Hochbetagten der nachfolgenden Generation (50+) durchgeführt (img Kap. 6), um die Angehörigenperspektive zu Fragen der Versorgung im (hohen) Alter zu erforschen.

Im img Kapitel 7 werden die Ergebnisse zusammenfassend diskutiert und Schlussfolgerungen für eine patientenorientierte zukünftige Gesundheitsversorgung formuliert.

Der Einsatz von persönlichen Befragungen bei hochaltrigen Menschen wirft zahlreiche Fragen auf, zumal diese Personengruppe bislang selten in Befragungsstudien einbezogen war. Deshalb wurden in der vorgestellten Studie Prozessbeobachtungen und Falldokumentation im Hinblick auf den Befragungsprozess selbst durchgeführt. Aus diesen Dokumenten lassen sich Empfehlungen zur Erhöhung der Teilnahmebereitschaft dieser Zielgruppe, zur Interviewdurchführung, zur Interviewerhaltung sowie zur Fragebogenerstellung ableiten (img Kap. 8).

Vertiefende Ergebnisse der Studie können in einem Tabellen- und Grafikband auf der Internetseite des Instituts für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung der Medizinischen Hochschule Hannover abgerufen werden: https://www.mh-hannover.de/16208.html

Hannover, im Mai 2013

die Autoren

1 Hintergrund

Europa weist zurzeit weltweit den größten Anteil alter Menschen auf und wird diesbezüglich in den nächsten vier Jahrzehnten weiterhin Spitzenreiter bleiben (Schwartz und Walter 2003). Innerhalb der EU ist die demografische Entwicklung in Deutschland am meisten fortgeschritten: 2010 waren 20,7 % der Bevölkerung 65 Jahre und älter. Im Jahre 2030 wird dieser Anteil auf 29 % ansteigen, jeder zweite neugeborene Junge wird dann mindestens 87 Jahre, jedes zweite neugeborene Mädchen mindestens 91 Jahre alt werden (Statistisches Bundesamt 2011). Besonders erhöhen wird sich die Zahl der Hochbetagten von derzeit (2010) 4,3 Millionen (5 %) auf ein Maximum von 10 Millionen im Jahr 2050. Jeder siebte Einwohner wird dann 80 Jahre und älter sein (Bundesministerium des Innern 2011, Eisenmenger et al. 2003).

Wenn von Hochbetagten die Rede ist, finden sich in der Literatur unterschiedliche Definitionen. In den Berichten des Statistischen Bundesamtes in Deutschland umfasst Hochaltrigkeit beispielsweise die Gruppe der 80-Jährigen und Älteren (Statistisches Bundesamt 2009b). Im Vierten Bericht zur Lage der älteren Generation in Deutschland wird von Hochaltrigkeit fließend ab dem 80. bis 85. Lebensjahr gesprochen. Aufgrund der steigenden Lebenserwartung der Bevölkerung wird inzwischen auch diskutiert, ob es sinnvoll ist, den definitorischen Beginn der Hochaltrigkeit weiter nach oben zu verschieben (BMFSFJ 2002, BMFS-FJ 2002). Schließlich ist die Bevölkerungsgruppe der Älteren infolge ihrer langen und sehr unterschiedlich verlaufenen biographischen Entwicklung besonders heterogen. Eine allein auf dem kalendarischen Alter basierende Einteilung wird ihrer Differenzierung deshalb nicht gerecht (Tesch-Römer und Wurm 2006). Auch bedeutet ein kalendarisches Alter jenseits des 80. Lebensjahres nicht zwangsläufig Krankheit, Abhängigkeit oder Isolation. Vielmehr beeinflussen Lebensstil, psychosoziale und sozioökonomische Parameter sowie das Gesundheitsverhalten im Lebenslauf Gesundheit und Krankheit im Alter (Saß et al. 2009a, 2009b).

Dennoch ist davon auszugehen, dass Hochaltrigkeit mit erhöhter Vulnerabilität und einer reduzierten Anpassungsfähigkeit des Organismus an gesundheitliche Störungen einhergeht (BMFSFJ 2002, Pohlmann 2001, Backes und Clemens 2008). Besonderheiten und Risiken zeigen sich in

Die Pflege und die Betreuung alter und sehr alter Menschen sowie die Behandlung und der Umgang mit chronischen Erkrankungen und Multimorbidität stellen herausragende Themen in der Gestaltung der zukünftigen Gesundheitsversorgung dar (Walter und Hager et al. 2008).

Zu berücksichtigen ist, dass Gesundheit im Alter nach Kruse und Wahl 2010 nicht mehr das vollständige Freisein von körperlichen, seelischen und sozialen Einschränkungen umfasst, sondern vielmehr Aktivität, Lebenszufriedenheit, subjektiv erlebte Gesundheit, Gesundheitsverhalten und einen gesunden Lebensstil.

Gesundheit im Alter ist »die Fähigkeit des Menschen, mit einer Krankheit zu leben und trotz dieser Krankheit ein selbstständiges und selbstverantwortliches Leben zu führen« (Kruse und Wahl 2010). Gesundheit verwirklicht sich also in dem Maße, wie Aktivität und soziale Teilhabe im täglichen Leben möglich sind oder/und gelebt werden.

Der Begriff »Funktionale Gesundheit« beschreibt das Vermögen des (älteren) Menschen, trotz auftretender gesundheitlicher Beschwerden Alltagsanforderungen zu bewältigen und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Gute funktionale Gesundheit wird als wesentlich für eine selbstständige Lebensführung und für Autonomie im Alter angesehen.

Als funktional gesund gelten nach der WHO (unter Berücksichtigung von Kontextfaktoren, z. B. Umwelt und persönliche Aspekte) jene Personen, deren

Der Gesundheitszustand lässt sich damit nicht nur in Symptomen und Krankheiten abbilden. Die Funktionalität und damit die Integration zentraler Lebensdimensionen wird als fundamentaler Paradigmenwechsel beschrieben (Menning und Hoffmann 2009, Greenfield und Nielson 1992).

1.1 Das Ungleichgewicht in der Geschlechterproportion im hohen Alter

In fast allen Ländern weisen Frauen eine höhere Lebenserwartung als Männer auf. So zeigt sich auch für Deutschland in der Bevölkerungsgruppe der sehr Alten ein deutlicher Überschuss der Frauen; bei den 80-Jährigen beträgt das Verhältnis 1 : 2; bei den 86-Jährigen sogar 1 : 3 (Backes und Clemens 2003, Hoffmann et al. 2009, Böhm et al. 2009, Tews 1993). In den nächsten Jahrzehnten wird sich das quantitative Übergewicht des Anteils der Frauen fortsetzen, allerdings werden sich die Proportionen nach der 12. Bevölkerungsvorausberechnung langsam annähern (Statistisches Bundesamt 2009a). Tews (1999) bezeichnete diese Entwicklung und die daraus resultierenden Besonderheiten bereits 1993 als »Feminisierung des Alters«. Diese ist eng mit einer Singularisierung verknüpft (Böhm et al. 2009).

Zahlreiche Veröffentlichungen liegen für den Zusammenhang von Geschlecht und Gesundheit vor (Kuhlmann und Annandale 2010, Rieder und Lohff 2008, Kuhlmann und Kolip 2005), die nicht nur darauf hinweisen, dass sich Frauen und Männer in der zweiten Lebenshälfte in ihrer gesundheitlichen Lage deutlich unterscheiden (Walter et al. 2008, Babitsch 2008), sondern auch, dass sie geschlechtsspezifischer Versorgungsangebote bedürfen (Babitsch et al. 2010).

Als Ursachen der Geschlechterdifferenz wirken, neben verhaltensbezogenen Faktoren, umweltspezifische Risiken, genetische und hormonelle Faktoren sowie Einflüsse der ökonomischen Modernisierung. Hinzu kommen ungleiche Selektionen infolge des Zweiten Weltkrieges (Walter et al. 2008). Unterschiede zwischen den Geschlechtern bestehen hinsichtlich des Erkrankungsspektrums, der Prävalenz einzelner Erkrankungen, aber auch in der Diagnostik, Therapie und in den Bewältigungsstrategien (Walter et al. 2008). In der Berliner Altersstudie wurden bei Frauen insgesamt mehr medizinische Diagnosen gestellt als bei den Männern. Bei 54 % der 85-jährigen und älteren Frauen wurden mindestens fünf Diagnosen gestellt, bei den gleichaltrigen Männern waren es nur 41 % (70–84 Jahre: 27 % vs. 19 %). Ebenso weist das Diagnosespektrum geschlechtsbezogene Unterschiede auf. Frauen sind Daten des Alterssurveys zur Folge besonders häufig von Einschränkungen des Bewegungsapparats betroffen und müssen in größerem Maße als die Männer Mobilitätsverluste akzeptieren. Geschlechtsspezifische Unterschiede bestehen auch hinsichtlich der Symptome und des Krankheitsverlaufs. So können bei Frauen z. B. die häufig unspezifischen Symptome eines Herzinfarkts die Diagnostik und eine angemessene medizinische Versorgung verzögern.

Die Geschlechterdifferenz zeigt sich auch darin, dass mehr ältere Frauen als Männer mehr Jahre in Inaktivität mit mehr Beeinträchtigungen mit zugleich höherem Schweregrad verbringen. Ältere Männer weisen dagegen mehr chronische Erkrankungen auf als Frauen, insbesondere bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Bei der Alzheimer Demenz und Osteoporose dagegen haben ältere Frauen im Vergleich zu Männern ein höheres Risiko zu erkranken (Walter et al. 2008). Erst in den letzten Jahren untersuchen Studien explizit den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit im Alter (Mittag und Meyer 2011, von dem Knesebeck und Mielck 2009).

1.2 Gesundheit, Altern und Krankheiten

Altern kann als Prozess aufgefasst werden, der die Adaptationsfähigkeit des Organismus herabsetzt und dadurch Risiken entstehen lässt, die das Auftreten bestimmter Beeinträchtigungen und Erkrankungen wahrscheinlicher macht (Saß et al. 2009b, Backes und Clemens 2008, Ding-Greiner und Lang 2004).

Im Alter vorliegende Erkrankungen sind häufig chronisch und irreversibel. Weitere wichtige Merkmale sind die veränderte, häufig unspezifische Symptomatik, ein längerer Krankheitsverlauf, eine verzögerte Genesung und eine veränderte Reaktion auf Medikamente. Zudem bestehen insbesondere bei Hochaltrigen komplexe Gesundheitsprobleme, die selten nur auf körperliche Beeinträchtigungen beschränkt sind, sondern auch soziale und funktionelle Auswirkungen haben. Hierzu zählen neben den funktionellen Einbußen, welche als Folge bestimmter Erkrankungen auftreten, auch Funktionseinbußen einzelner Organsysteme, die noch keine eigenständige Erkrankung darstellen. Aus der Komplexität der gesundheitlichen Situation kann die Gefahr eines Mobilitätsverlustes sowie psychosozialer Symptome resultieren, die ein Risiko für die Aufrechterhaltung einer selbstständigen Lebensführung darstellen (Saß et al. 2009b).

Unterschieden wird zwischen alternden Krankheiten, primären Alterskrankheiten und Krankheiten im Alter, welche unabhängig voneinander, aber auch gleichzeitig auftreten können. Mitalternde Erkrankungen können auf Grund ihres langen Bestehens zu Folgeerkrankungen führen (Saß et al. 2009b, Backes und Clemens 2008, BMFSFJ 1993). Hinsichtlich der Genese von Erkrankungen und dem Krankheitswert unterscheidet man:

Zur Analyse vorliegender Beeinträchtigungen und Krankheiten in der älteren Bevölkerung stehen unterschiedliche Datenquellen (Surveys, Routinedaten, Primärstudien) zur Verfügung. Die Angaben unterscheiden sich vor allem hinsichtlich des quantitativen Auftretens einzelner Krankheiten bzw. einzelner Funktionseinbußen sowie der Rangordnung ihres Auftretens. Diese Unterschiede sind unter anderem auf besondere Spezifika der Datenerhebung sowie auf die Auswahl der einbezogenen Altersgruppen zurückzuführen. So werden z. B. in der Berliner Altersstudie Daten aus ärztlichen Untersuchungen herangezogen, während die Daten aus dem Alterssurvey auf Selbstangaben älterer Menschen basieren. Weiterhin werden Daten aus anderen Kontexten berücksichtigt, z. B. Abrechnungsdaten (ADT-Panel, Abrechnungsdatenträger-Panel) oder Daten der Krankenhausdiagnosenstatistik (Saß et al. 2009b).

Häufige Erkrankungen

Das Krankheitsspektrum im höheren Lebensalter umfasst folgende, am häufigsten diagnostizierte Erkrankungen (Saß et al. 2009b, Backes und Clemens 2008, Lang 1994, Steinhagen-Thiessen et al. 1999):

In die Gruppe mit der höchsten Prävalenz fallen neben einigen Herz-Kreislauf-Krankheiten auch zwei muskuloskelettale Erkrankungen (Arthrose und Dorsopathie). Weitere häufige Erkrankungen bei über 70-Jährigen sind arterielle Verschlusskrankheit, koronare Herzkrankheit sowie COPD und Diabetes mellitus Typ II (Saß et al. 2009b, Steinhagen-Thiessen et al. 1994, Mayer und Baltes 1996, Gerste 2012). Zu den häufigsten Behandlungsdiagnosen bei Hochbetagten zählen neben Herzinsuffizienz, Harninkontinenz, Femurfrakturen und Hör- und Sehverlusten auch die Dekubitalgeschwüre (Böhm et al. 2009). Die häufigsten Krankenhausentlassungsdiagnosen bei den über 85-Jährigen sind mit absteigender Häufigkeit: Krankheiten des Kreislaufsystems, Verletzungen, Vergiftungen und Folgen äußerer Ursachen, Krankheiten des Verdauungssystems sowie Krankheiten der Atmungsorgane gefolgt von Neubildungen (Statistisches Bundesamt 2011c).

Bei der Erhebung des Mikrozensus im Jahr 2005 gaben 28 % der 75-Jährigen und Älteren an, in den letzten vier Wochen krank oder unfallverletzt gewesen zu sein, Frauen waren durchschnittlich etwas häufiger betroffen. Damit war in dieser Altersgruppe die höchste Anzahl an Erkrankten zu finden (Saß et al. 2009b).

Multimorbidität

Mit fortschreitendem Alter ist eine Ausweitung von gesundheitlichen Problemen erkennbar, sowohl hinsichtlich der Anzahl Erkrankter als auch bezüglich der Komplexität der auftretenden Beeinträchtigungen. Die Prävalenz von Erkrankungen und funktionellen Beeinträchtigungen steigt im höheren Lebensalter deutlich an (Ding-Greiner und Lang 2004). Dabei nimmt der Anteil derer, die an mehreren Krankheiten gleichzeitig leiden, zu. Nach den Daten des Alterssurveys 2008 leiden rund drei von vier Personen im Alter zwischen 70 und 81 Jahren an mindestens zwei Erkrankungen, jeder fünfte Erkrankte sogar an fünf und mehr Krankheiten (BMFSFJ 2008). Die Multimorbidität und Polypharmazie stellt die medizinische Versorgung vor große Herausforderungen, zumal es bisher keine Leitlinien für die Behandlung multimorbider Patienten gibt und die Medikation bei hochbetagten Patienten häufig überdosiert verordnet oder verabreicht wird (SVR 2010, BMFSFJ 2010).

Funktionsverlust und Frailty

Zahlreiche Gesundheitsstörungen und Krankheiten treten bei Älteren häufiger auf als bei Jüngeren (Saß et al. 2009a, Gerste 2012). Im Alter besteht häufig eine verringerte Anpassungsfähigkeit des Organismus und eine oftmals verlängerte Rekonvaleszenzdauer nach Erkrankungen. Ein großes Problem stellt der Verlust an Muskelmasse während der Immobilität dar. So verlieren bereits gesunde Ältere 10 % ihrer Beinmuskelmasse nach 10-tägiger Immobilität, bei älteren Patienten wird dieser Abbau bereits nach drei Tagen erreicht, während junge Gesunde nach 28-tägiger Immobilität nur 2 % ihrer Beinmuskelmasse einbüßen (Kortebein et al. 2007). Krankenhausaufenthalte bergen damit bei älteren Patienten ein hohes Risiko für Stürze.

Besondere Beachtung erfordern deshalb Krankheiten, die einen Risikofaktor für Funktionseinbußen darstellen und Hilfebedürftigkeit nach sich ziehen können; aber auch Behinderungen, die zu Funktionseinschränkungen führen können, sowie Gebrechlichkeit oder Instabilität (Frailty), die Indikatoren für drohenden oder weiteren Funktionsverlust sind. Frailty entsteht durch Beeinträchtigungen der muskoskelettalen bzw. neurologischen Funktionen und des Ernährungszustandes infolge von Krankheiten oder altersbedingter Veränderungen bei gleichzeitig eingeschränkten Kompensationsmechanismen bzw. funktionellen Reserven. Allerdings führen körperliche Veränderungen nicht zwangsläufig zu weiteren Einschränkungen. Vielmehr bestimmen sozioökonomische und interpersonale Faktoren sowie Faktoren der sozialen und räumlichen Umwelt, aber auch die Qualität der Versorgung, die Entwicklung erheblich mit (Böck et al. 2011, Walter und Patzelt 2012, Günster et al. 2012, von Renteln Kruse 2004). Bedeutsam ist zum Beispiel, dass Krankheiten und Gebrechlichkeit bei älteren Menschen mit geringeren sozialen, kulturellen und ökonomischen Ressourcen (Schüz et al. 2011) im Vergleich zu Menschen mit besseren Lebensbedingungen nicht nur die Lebensqualität stärker beeinträchtigen können (Meyer 2011, Heidelberg et al. 2011), sondern zu einer erhöhten Sterblichkeit beitragen (von dem Knesebeck und Mielck 2009). Die damit einhergehenden steigenden Anforderungen an das Gesundheits- und Sozialwesen führen in der Politik und Wissenschaft zu intensiven Auseinandersetzungen mit Gesundheit im Alter. Deshalb wurde unter anderem 2006 der Förderschwerpunkt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung »Gesundheit und Alter« etabliert. Die dort verorteten Forschungsprojekte und -verbünde beschäftigen sich mit Ko- und Multimorbidität bei älteren Menschen und der Stärkung von Ressourcen und Autonomie im Alter (Schüz et al. 2011).

Kognitive Leistungsfähigkeit und psychische Gesundheit

Der physiologische Alterungsprozess geht mit einer Veränderung der kognitiven Leistungsfähigkeit einher. Epidemiologische Studien belegen, dass bei etwa 25 % der über 65-Jährigen psychische Erkrankungen bzw. Störungen im weitesten Sinne vorliegen (Saß et al. 2009b, Backes und Clemens 2008, Gerste 2012, Radebold 1994). Demenzen führen bei Älteren häufig zu erheblichen Beeinträchtigungen der Aktivitäten des täglichen Lebens, so dass in der Regel eine selbstständige Lebensführung nicht mehr möglich ist und der Eintritt in ein (Pflege-)Heim notwendig werden kann.

Zu unterscheiden sind alt gewordene psychisch Kranke und psychisch Alterskranke, welche erstmals nach dem 60. bzw. 65. Lebensjahr erkranken. Vom Erscheinungsbild stehen bei Älteren depressive und demenzielle Syndrome im Vordergrund (Stoppe 2006). Prinzipiell tritt bei den über 65-Jährigen dasselbe Spektrum an psychiatrischen Erkrankungen auf wie bei Menschen im mittleren Lebensalter, auch werden die gleichen Ursachen beziehungsweise Erscheinungsbilder beobachtet. Jedoch gehen psychiatrische Erkrankungen bei Älteren häufiger mit körperlichen Beeinträchtigungen einher und neigen in stärkerem Maße zu Chronifizierung. Der quantitative Anteil der psychisch Erkrankten ist insgesamt mit dem Anteil psychisch Kranker im mittleren Lebensalter zu vergleichen (Saß et al. 2009b, Backes und Clemens 2008, Bruder 1999). Jedoch steigt z. B. in Folge von depressiven Symptomen und subsyndromalen Depressionen die Suizidrate bei älteren Menschen an, besonders Männer sind hier betroffen, sie erleiden viermal häufiger einen Suizid als Frauen (Stoppe 2006).

Nach den Daten der Berliner Altersstudie (BASE), die in den Jahren 1990 bis 1993 durchgeführt wurde, sind die häufigsten psychischen Krankheiten der Menschen über 70 Jahre Demenzen mit 14 %. Die zweithäufigste Gruppe bilden Depressionen mit 9 % (Helmchen et al. 1996).

Neuere Daten der AOK (2008, 25,4 Mio. Versicherte) zeigen, dass die Diagnose Vaskuläre Demenz im Alter erheblich zunimmt (Behandlungsprävalenz 2008: 85- bis 89-Jährige 5,4 %, 90- bis 94-Jährige 7,6 %, über 95-Jährige 9,2 %). Starke Zunahmen zeigen sich auch bei der nicht näher bezeichneten Demenz (Behandlungsprävalenz 2008: 85- bis 89-Jährige 14,6 %, 90- bis 94-Jährige 21,9 %, über 95-Jährige 27,3 %), Alzheimer (Behandlungsprävalenz 2008: 85- bis 89-Jährige 4,4 %, 90- bis 94-Jährige 5,4 %, über 95-Jährige 5,7 %) und anderen psychischen Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer körperlichen Krankheit (Behandlungsprävalenz 2008: 85- bis 89-Jährige 5,2 %, 90- bis 94-Jährige 7,5 %, über 95-Jährige 9,4 %) (Gerste 2012).

Bei den Neuerkrankungen an Demenz sind die älteren Frauen überdurchschnittlich betroffen: Auf sie entfallen 70 % aller Neuerkrankungen (Saß et al. 2009b).

Bei Pflegeheimbewohnern wird von einer Prävalenz depressiver Symptome von bis zu 50 % und von schwerer Depression zwischen 15 % und 20 % ausgegangen (Stoppe 2008).

Trotz des vermehrten Auftretens psychischer Symptome im Alter werden bei diesen Patienten seltener eindeutige Diagnosen formuliert. Eine mögliche Ursache liegt in der Komorbidität mit somatischen Erkrankungen. Zu vermuten ist auch, dass hier der Einfluss von Altersstereotypen spürbar wird – so z. B. die Akzeptanz der Bürger, aber auch der Professionellen im Gesundheitswesen, dass es normal sei, im Alter schlechter zu schlafen oder dass es normal sei, wenn sich Ältere aus dem sozialen Kontext zurückziehen und Desinteresse am Leben zeigen (Stoppe 2006).

Es kann zudem schwierig sein, alterstypische und altersphysiologische Veränderungen der kognitiven Leistungsfähigkeit von frühen Demenzstadien abzugrenzen. Unklar ist, wie hoch die tatsächliche Anzahl Älterer mit subdiagnostischen Ausprägungen psychischer Erkrankungen ist, bei denen zwar Einschränkungen der Lebensqualität und eine erhöhte Inanspruchnahme von medizinischer Versorgung vorhanden sind, die aber in derzeit verwendeten Klassifikationssystemen nicht erkannt werden (Saß et al. 2009b).

Auch über die Möglichkeit der Betroffenen, fachärztliche Hilfe zu erlangen, liegen wenige Angaben vor. So ist nicht bekannt, wie viele Psychotherapeuten und Psychiater gerontopsychiatrisch qualifiziert bzw. tätig sind. In die Betreuung älterer psychisch Kranker sind in regional unterschiedlichem Maße sozialpsychiatrische Dienste einbezogen (List et al. 2009). Ambulante Psychotherapien bei älteren Menschen werden jedoch im Gegensatz zu Menschen jüngerer Altersgruppen selten durchgeführt, wie die Daten der GEK der von 2000–2006 genehmigten Psychotherapien verdeutlichen: Genehmigte Psychotherapien bei 75 bis 79 Jahre alten GEK-Versicherten: 0,1 % Männer, 0,3 % Frauen vs. 25–30 Jahre alten GEK-Versicherten: knapp 1,0 % Männer, 2,3 % Frauen (ISEG 2007). Diese Unterschiede sind unter anderem auf Vorbehalte bei den älteren Betroffenen, aber auch bei den Professionellen und der Wissenschaft zurückzuführen. Negativ orientierte Altersbilder und unzutreffende Krankheitskonzepte führten in der Vergangenheit zu einer geringen Nutzung von Psychotherapien im Alter. Im sechsten Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland werden die Möglichkeiten einer Psychotherapie im Alter positiv konnotiert, so dass davon ausgegangen werden kann, dass Psychotherapeuten zukünftig die Therapien immer mehr an die Potentiale des Alters anpassen werden und so die psychischen Probleme, die in Verbindung mit Einschränkungen und Verlusterleben im Alter eintreten können, mit den Klienten bearbeiten können (BMFSFJ 2010).

Subjektive Gesundheit

Der Begriff »subjektive Gesundheit« beschreibt das individuelle Erleben der Gesundheitssituation durch die Person selbst. Nach einer Metaanalyse decken sich die subjektiv empfundene und die objektive Gesundheit zwar nur in 5 bis 30 % der Fälle (Wurm et al. 2009), dennoch ist das subjektive Erleben verglichen mit der medizinisch diagnostizierbaren, objektiven Gesundheit ein bedeutenderer Prädiktor für die vorzeitige Sterblichkeit bzw. die Langlebigkeit von (älteren) Personen. Dies gilt insbesondere für das höhere Lebensalter. Über die Ursachen dieser Diskrepanz gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze. Angeführt werden Grenzen der medizinischen Messbarkeit von Krankheiten, unerkannte (nicht diagnostizierte) Erkrankungen und besonders psychosoziale Ressourcen, die bei optimistischer Lebenseinstellung protektiv auf die Gesundheit wirken und bei negativen Haltungen zu emotionalen Belastungen oder psychischen Erkrankungen führen können. Verschiedene Studien fanden einen Zusammenhang zwischen subjektiver Gesundheit und der Entwicklung von funktionalen Einschränkungen bzw. dem Verlust von funktionalen Fähigkeiten sowie kognitiver Gesundheit: Personen, die ihren Gesundheitszustand subjektiv schlecht bewerten, leiden scheinbar unter größeren funktionalen Beeinträchtigungen und kognitiven Einschränkungen als Personen, die ihren Gesundheitszustand positiv bewerten, unabhängig von ihrem objektiven Gesundheitszustand. Hohe subjektive Gesundheit geht also mit besserer Funktionsfähigkeit und besserer kognitiver Gesundheit einher. Im Verlauf des Alterns verschlechtert sich die subjektiv wahrgenommene Gesundheit in geringerem Maße als die objektiv diagnostizierbare Gesundheit, die Differenz zwischen objektiver und subjektiver Gesundheit nimmt zu. Ältere beurteilen ihre gesundheitliche Situation vor allem im Hinblick auf vorliegende Krankheiten, körperliche Einschränkungen und das Fehlen von quälenden Beschwerden. Als Maßstab gilt weniger die eigene frühere Gesundheit als vielmehr die Konstitution von (schlechter gestellten) Gleichaltrigen (Wurm et al. 2009).

Im höheren Lebensalter ist demnach das subjektive Gesundheitsempfinden besser als es der objektive Zustand erwarten lassen würde. Daher gilt besonders im höheren Lebensalter die subjektive Gesundheit als relevante Gesundheitsinformation (Wurm und Tesch-Römer 2008).

Daten zum subjektiven Gesundheitszustand von Älteren

Daten des telefonischen Gesundheitssurveys von 2003 verdeutlichen, dass Menschen mit steigendem Lebensalter ihren Gesundheitszustand als weniger gut einschätzen. In der Altersgruppe der 75- bis 84-Jährigen bewerten weniger als die Hälfte der Befragten ihren Gesundheitszustand als sehr gut oder gut (Frauen 41 % vs. Männer 46 %). Eine schlechte oder sehr schlechte Einschätzung des Gesundheitszustandes nimmt dagegen mit steigendem Lebensalter zu und beträgt bei den 75- bis 84-Jährigen etwa 18 %. Der Großteil der Älteren berichtet zusammenfassend über eine mindestens mittelmäßige allgemeine Gesundheit. Beide Geschlechter schätzen ihre Gesundheit im Altersverlauf schlechter ein, jedoch bewerten Frauen ihren Gesundheitszustand etwas kritischer als gleich alte Männer. Bei der Einschätzung des psychischen Wohlbefindens ist kein Altersgradient zu verzeichnen, jede vierte Frau und jeder fünfte Mann in der jeweiligen Altersgruppe gibt an, ziemlich stark oder sehr stark im psychischen Wohlbefinden eingeschränkt zu sein (Wurm et al. 2009).

Nachlassende körperliche Belastbarkeit, physische Beschwerden, eine dauerhafte Einnahme von Medikamenten und häufigere Arztkontakte verdeutlichen älteren Betroffenen, dass eine gute gesundheitliche Konstitution weniger selbstverständlich ist als in jüngeren Jahren. Gesundheit gewinnt damit mit steigendem Alter auch im täglichen Leben an Bedeutung. So geben in der Basisstichprobe des Alterssurveys 2002 Frauen und Männer in der höchsten Altersgruppe (75–84 Jahre) die Gesundheit als wichtigstes Thema an, gefolgt von Sicherheit der Familie, Sorge um die Angehörigen, geistiger Leistungsfähigkeit und Einfühlungsvermögen sowie mitfühlendem Verständnis. In den jüngeren Altersgruppen wird Gesundheit in der Rangfolge weiter hinten platziert.

1.3 Strukturen der ambulanten gesundheitlichen Versorgung älterer Menschen

1.3.1 Ambulante ärztliche Versorgung

Die meisten gesundheitsbezogenen Anliegen und Probleme älterer Menschen können im Rahmen der gesundheitlichen Grundversorgung gelöst werden. Diese umfasst, im Sinne des primary health care Konzepts der Weltgesundheitsorganisation, neben der ärztlichen Primärversorgung die niedrigschwellige Betreuung auch durch andere Gesundheitsberufe sowie innerhalb von Familien und kommunalen Strukturen (WHR 2008).

Ältere Menschen stellen die größte Patientengruppe in den Hausarztpraxen dar, für Patienten und Angehörige ist der Hausarzt in vielen Fällen der erste Ansprechpartner im Gesundheitssystem. Über 90 % der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland hat einen festen Hausarzt, bei Menschen über 65 Jahren steigt der Anteil auf 96 %. Über 65-Jährige suchen ihren Hausarzt im Mittel sechsmal pro Jahr auf, multimorbide Patienten haben im Durchschnitt doppelt so viele Hausarztkontakte wie nicht mehrfach Erkrankte (12 vs. 6 Konsultationen pro Jahr). Zu den besonderen Merkmalen der hausärztlichen Tätigkeit gehört die kontinuierliche Betreuung von Patienten mit einem breiten Spektrum gesundheitlicher Probleme und Beeinträchtigungen. Hausärzte behandeln Patienten mit uncharakteristischen Befindlichkeitsstörungen, mit chronischen Erkrankungen in unterschiedlichen Stadien, schwer kranke und sterbende Menschen, Erkrankte, die altersbedingte physiologische, sensorische oder psychische Einschränkungen aufweisen, oder auch Patienten, die mit individuellen Mischungen aus allen diesen Formen zu ihnen kommen (img Kap. 1.2).

Die Patienten und ihr unmittelbares Lebensumfeld nehmen einen wesentlichen Einfluss auf die diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen und sollten in diesen berücksichtigt werden. Für die Rationalität hausärztlichen Handelns sind monodiagnostische klinische Begriffe und Standards nur von relativer Bedeutung; dies gilt insbesondere für die Versorgung älterer und hochaltriger Patienten, bei denen oftmals chronische Mehrfacherkrankungen dominieren (SVR 2010).

Die Aufgabe der Ärzte ist es, den Zustand des labilen Gleichgewichts der gesundheitlichen Situation möglichst stabil zu gestalten, indem sie durch Prävention, Therapie und Rehabilitation versuchen, das individuelle Maximum an Stabilität für die jeweiligen Patienten zu erreichen. Die im Alter häufig angestrebte, lange Erhaltung einer selbstständigen und -bestimmten Lebensführung in der gewünschten häuslichen und sozialen Umgebung ist ein wesentliches Ziel umfassender Betreuung älterer Menschen und entscheidend für deren Lebensqualität. Zur Gewährleistung dieser Betreuung müssen unterschiedliche Bedingungen erfüllt sein (Meier-Baumgartner 1991):

Die regelmäßige Erfassung alltagsrelevanter Funktionalität bei geriatrischen Patienten ist von zentraler Bedeutung, da die Spannbreite möglicher Einschränkungen durch Erkrankungen einer großen Variabilität unterliegt (Pientka et al. 1995). Mit dem einheitlichen Bewertungsmaßstab, der die Abrechnung ambulanter Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung regelt (»EBM 2000plus«), wurde erstmals ein hausärztlich-geriatrisches Basis-Assessment eingeführt, das z. B. den Mini Mental Status Test und die Geriatric Depression Scale umfasst.

Ein geeigneter Einsatzort für das geriatrische Assessment ist die Hausarztpraxis, die für die allermeisten Patienten als erste und besonders wichtige Anlaufstelle bei der gesundheitlichen Versorgung eine zentrale Position einnimmt. Im Bedarfsfall können die Patienten zur weiterführenden Diagnostik und gegebenenfalls Behandlung an geriatrische Facheinrichtungen überwiesen werden, z. B. geriatrische Tageskliniken, Kliniken oder Ambulanzen.

Es fehlen zurzeit noch belastbare Daten zur konkreten Durchführung des Assessments in Hausarztpraxen. Ebenso liegen nur wenige Daten vor, die Auskunft darüber geben, inwieweit die Ergebnisse der Assessments die Grundlage einer sich anschließenden weiteren Diagnostik und Therapie darstellen (Walter et al. im Druck).

In Deutschland wird die hausärztliche Versorgung älterer Menschen durch Fachärzte für Allgemeinmedizin, hausärztlich tätige Fachärzte für Innere Medizin und – mit zahlenmäßig abnehmender Bedeutung auf Grund fehlender Berechtigung zur Niederlassung – praktischen Ärzten sichergestellt. Die Verfügbarkeit von Hausärzten variiert regional stark, zudem ist die Altersstruktur der derzeit niedergelassenen Hausärzte relativ ungünstig. Vor allem, aber nicht nur, in ländlichen Gebieten Ost- und Norddeutschlands nimmt die Hausarztdichte weiter ab, wovon besonders Gegenden mit schwacher Infrastruktur und einem eher überdurchschnittlichen Anteil älterer Menschen betroffen sind (SVR 2010).

Der drohende und in Teilen bereits bestehende Mangel an Hausärzten steht im Gegensatz zur oben skizzierten Bedeutung der Hausärzte für die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung insgesamt und im Besonderen für ältere und hochaltrige Menschen: Eine starke Primärversorgung (primary health care) gilt als Schlüssel für ein modernes, patientenzentriertes Gesundheitssystem, um eine qualitativ gute, kosteneffektive und verteilungsgerechte Versorgung zu gewährleisten. Insbesondere vor dem Hintergrund der Herausforderungen durch eine alternde Bevölkerung hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrem World Health Report von 2008 zur Stärkung der Primärversorgung aufgerufen (WHR 2008).

Ein wichtiges Bindeglied zwischen der Primärversorgung und der spezialisierten stationären Behandlung von Patienten bilden die niedergelassenen Fachärzte. Ältere Menschen konsultieren von diesen am häufigsten Ärzte für Augen-, Zahn- und Frauenheilkunde sowie Urologen und fachärztlich tätige Internisten; dabei sinkt die Frequenz der Konsultationen von Zahn- und Frauenärzten mit zunehmendem Alter der Patienten, während sie bei den anderen Ärztegruppen ansteigt.

Das deutsche Gesundheitswesen kennt, im Gegensatz zu einigen anderen Ländern (z. B. Großbritannien) keinen allgemeinen »Hausarztzwang«, so dass Patienten teilweise direkt Leistungen der spezialärztlichen ambulanten Versorgung in Anspruch nehmen können (primäre Nachfrage). Sekundäre Nachfrage wird durch ärztliche Überweisung von Patienten innerhalb des Versorgungssystems zu Spezialärzten oder Spezialeinrichtungen ausgelöst. Der ärztlichen (v. a. hausärztlichen) Primärversorgung kommt im Idealfall eine zentrale Steuerungsfunktion (»Lotse«) im Felde der ärztlichen Spezialisierungen zu, die der Gesetzgeber mit der hausarztzentrierten Versorgung (§ 73b SGB V) gestärkt hat.

In diesem Zusammenhang stellt eine qualifizierte Versorgung multimorbider geriatrischer Patienten eine Herausforderung für das Gesundheitswesen dar. Entsprechend ist mit Änderung der Approbationsordnung im Jahr 2002 das Fach Geriatrie als zweijährige Zusatzweiterbildung für Fachärzte integriert. Nach Erhebungen der kassenärztlichen Bundesvereinigung arbeiten deutschlandweit von ungefähr 2.100 geriatrisch qualifizierten Ärzten 377 im ambulanten Bereich: In Niedersachsen arbeiten weniger als 100 Ärzte mit einer geriatrischen Zusatzqualifikation im stationären oder ambulanten Bereich (Nds. MSFFGI 2011, Lübke et al. 2008).

Die Anzahl der praktizierenden Geriater ist mit Blick auf die Zunahme der geriatrischen Patienten als ungenügend einzuschätzen, ein erheblicher Nachholbedarf in der Weiter- und Fortbildung der Fachärzte ist notwendig. Auch muss konstatiert werden, dass die universitäre Repräsentation des Faches Geriatrie noch unzureichend ist, es existieren lediglich vier Lehrstühle für Geriatrie in Deutschland.

1.3.2 Ambulante pflegerische Versorgung

Als pflegebedürftig im Sinne der gesetzlichen Pflegeversicherung (SGB XI, § 14), gilt, wer auf Grund von Krankheit oder Behinderung bei gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens voraussichtlich für mindestens sechs Monate in erheblichem oder höherem Maße Hilfe benötigt. Die Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung werden nach drei Pflegestufen bemessen. Seit Juli 2008 können zusätzlich Personen mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf, deren Hilfebedarf jedoch nicht das Ausmaß der Pflegestufe I erreicht hat und bei denen Demenzen, geistige Behinderungen oder psychische Erkrankungen vorliegen, Pflegeleistungen erhalten.

Laut der Pflegestatistik des Statistischen Bundesamtes waren 2009 rund 2,3 Millionen Menschen in Deutschland, vorwiegend Frauen (63 %), pflegebedürftig im Sinne der gesetzlichen Pflegeversicherung (SGB XI). Dies sind 16 % mehr als noch ein Jahrzehnt zuvor. Die Pflegebedürftigkeit nimmt besonders bei den Hochbetagten zu: 65- bis unter 70-Jährige 2,7 %, 70- bis unter 75-Jährige 4,7 %, 75- bis unter 80-Jährige 9,9 %, 80- bis unter 85-Jährige 19,9 %, 85- bis unter 90-Jährige 38 %, 90-Jährige und Ältere 59,1 % (Statistisches Bundesamt 2011c, Statistisches Bundesamt 2011b). Frauen sind etwa ab dem 80. Lebensjahr eher pflegebedürftig als Männer. So beträgt bei den 85- bis unter 90-jährigen Frauen die Pflegequote 42 %, bei den Männern gleichen Alters 28 %. Die Mehrzahl der Pflegebedürftigen wird zu Hause versorgt (69 %).

Sowohl der Anteil der Pflegebedürftigen (Pflegequote) als auch die Art der Versorgung ambulant/stationär, nur durch Angehörige/mit oder durch den Pflegedienst, variiert zwischen den einzelnen Bundesländern. So weist bei den 85- bis 90-Jährigen das Land Baden-Württemberg mit 32 % die niedrigste Pflegequote auf, während Mecklenburg-Vorpommern (51 %) und Brandenburg (50 %) deutlich über dem Bundesdurchschnitt (38 %) liegen. In Hessen werden 54 % aller Pflegebedürftigen zu Hause allein durch Angehörige gepflegt, in Schleswig-Holstein 38 % (Statistisches Bundesamt 2011a).

Gesundheitliche, familiäre, kulturelle und ökonomische Faktoren beeinflussen die Beantragung von Pflegeleistungen und erklären den Unterschied zwischen den Bundesländern mit. Zudem (Statistisches Bundesamt 2011a, Engels und Pfeuffer 2008) spielen die Ausprägung der lokalen Versorgungsstrukturen und die soziale Infrastruktur eine bedeutende Rolle (Engels und Pfeuffer 2008). In diesem Kontext ist auch der »graue Markt« an Haushalts- und Pflegehilfen in irregulären Beschäftigungsverhältnissen zu berücksichtigen. Die Zahl dieser Pflegekräfte, die vor allem aus östlichen EU-Ländern angeworben werden, wurde 2005 auf etwa 50.000 Personen geschätzt (Meyer 2006).

Erwartete Entwicklung

Für das Jahr 2050 geht der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen von 4,35 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland aus (SVR 2010).

Der Anteil der Pflegebedürftigen über 85 Jahre wird in Deutschland im Jahr 2020 rund 41 % und 2030 circa 48 % betragen. Die Gruppe der unter 60-Jährigen verliert hingegen an Bedeutung: Lag der Anteil an Pflegebedürftigen in dieser Altersgruppe im Jahr 2007 noch bei 14 %, so wird er im Jahr 2020 auf 10 % und im Jahr 2030 auf gut 7 % absinken (Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2010).

Zwar ist Alter nicht zwangsläufig mit Pflegebedürftigkeit verbunden, ebenso wenig wie es zwingend mit Krankheit einhergeht, dennoch ist ein großer Teil der Bevölkerung, besonders im höheren Alter, auf Hilfe, Unterstützung und Pflege angewiesen (Kruse et al. 2002).

Häusliche Pflege kann als Sachleistung (Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung) von ambulanten Pflegediensten erbracht werden. Die Zahl der ambulanten Pflegedienste hat sich seit den 1990er Jahren fast verdreifacht; gegenwärtig gibt es rund 12.000 ambulante Pflegedienste. Diese befinden sich zu 62 % in privater Trägerschaft und zu 37 % in freigemeinnütziger Trägerschaft. Lediglich 2 % der ambulanten Pflegedienste werden öffentlich getragen (Statistisches Bundesamt 2011b, Kuhlmey 2012).

Alternativ zur Sachleistung in Form ambulanter Pflegedienste – oder in Kombination – kann Pflegegeld in Anspruch genommen werden, mit der die Grundpflege durch nicht-professionelle Kräfte, z. B. Angehörige, sichergestellt wird. Teilstationäre Pflege (Tages- oder Nachtpflege) ist – beispielsweise zur Überbrückung von Krisen mit zeitweise erhöhtem Pflegebedarf – möglich. Anrecht auf vollstationäre Pflege in Pflegeheimen besteht, wenn häusliche und teilstationäre Pflege nicht möglich sind; dies betrifft derzeit rund 32 % der Pflegebedürftigen (Kuhlmey 2012, Klemperer 2010).