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Ayya Khema – BUDDHA ohne Geheimnis | Die Lehre für den Alltag – Jhana Verlag

Inhalt

Vorwort

I. Die vier Wohnstätten der Götter

1. Liebende Güte (mettā)

Liebende-Güte-Meditation

2. Mitgefühl (karunā)

3. Mitfreude (muditā)

4. Gleichmut (upekkhā)

II. Karma und Wiedergeburt

III. Vier Arten von Glück

IV. Die drei Tore zur Befreiung

1. Die vorstellungslose Befreiung

2. Die wunschlose Befreiung

3. Die substanzlose Befreiung

V. Der überweltliche Weg

VI. Die Zehn Vollkommenheiten

VII. Die fünf Hindernisse

VIII. Achtsamkeit

IX. Die Vier Edlen Wahrheiten

X. Die vier Nährstoffe

XI. Wie Prinz Siddhārtha zum Buddha wurde

XII. Geschichten und Legenden

1. Ānanda

2. Saṅgharakkhita und sein Neffe

3. Ein alter Mönch, der sich für erleuchtet hielt

4. Nanda

5. Devadatta

6. Kisā Gotamī

7. Die Nonne Khemā

Vorwort

Dieses Buch ist aus Dhamma-Vorträgen entstanden, die ich in einem zehntägigen Meditationskurs in Dicken (Schweiz) 1983 gehalten habe. Dazu kamen noch einige Vorträge aus einem Meditationskurs 1984 im Haus der Stille, Roseburg. Alle wurden auf Tonband aufgenommen, und ohne die unermüdliche, mit viel Liebe verrichtete Arbeit von Margot Unterberg wäre dieses Buch nie erschienen. Sie hat die Tonbänder transkribiert und in ein druckreifes Manuskript verwandelt. Dank gebührt auch Frau Hedwig Lauckner für ihre Anregungen und Korrekturen.

Allen meinen Schülern in den deutschsprachigen Ländern danke ich für die Aufmerksamkeit und das Interesse, mit denen sie mir zugehört haben. Ihre Fragen und persönlichen Erlebnisse haben geholfen, die Lehre des Buddha noch tiefer und schlichter zu erklären, so dass vielleicht mehr und mehr Menschen Zugang zu ihr finden können.

Wenn dieses Buch den Zweck erfüllt, das innere Auge für die Wahrheiten und Herrlichkeiten des Herzens zu öffnen, und den Weg ein wenig zeigt zu Glück und Frieden inmitten des vielfältigen Alltags, dann war es jeder Mühe wert. Wenn es gar einige Leser dazu bewegen sollte, zu einem Meditationskurs zu kommen oder einen Meditationslehrer aufzusuchen, dann sind alle meine Hoffnungen erfüllt.

Von Herzen, Ayya Khema,
Kemmenau, im November 1985

I
Die vier Wohnstätten der Götter

Jeder von uns hat vier wahre innere Freunde: Gefühlsregungen, auf die wir uns verlassen können. Sie heißen in Pāli,der Sprache des Buddha, die Vier Brahmavihāra, wörtlich übersetzt »die Wohnstätten der Götter«; denn wenn wir keine anderen Gefühle als diese vier in uns hegen, können wir den Himmel auf Erden haben. Nicht Unruhe oder gar Tragödien herrschen dann in unserem Herzen, sondern Frieden. Jeder hat den Samen dieser vier höchsten Emotionen in sich; aber von selber wachsen sie nicht. Wir müssen uns ständig bemühen, uns selbst zu erkennen, damit wir merken, wenn wir mit unseren Gefühlen vom richtigen Weg abgekommen sind. Am meisten müssen wir uns davor hüten, anderen die Schuld dafür zuzuschieben, dass wir nicht glücklich und zufrieden sind. Es geht nicht um Schuld, es geht um unsere Reaktionen.

Wenn wir diese vier Gefühle vervollkommnen und alle anderen durch sie ersetzen, ändert sich unsere Bewusstseinsebene. Das ist es nämlich, was wir im spirituellen Leben erreichen können und, ohne es genau zu wissen, auch erreichen wollen. Das Streben eines Menschen, der sich keiner spirituellen Praxis unterzieht, ist auf Überleben und Habenwollen von materiellen und ideellen Gütern sowie angenehmen Gefühlsregungen ausgerichtet. Da wir mit diesen Dingen auch die ständige Angst um sie haben, ist auf dieser Ebene nie Frieden zu finden.

1. Liebende Güte (mettā)

Der erste unserer vier inneren Freunde ist jene Art Liebe, die sich nicht auf einen Einzelnen richtet, sondern eine umfassende, universelle Liebe ist. Sie heißt auf Pāli mettā; das ist schwer ins Deutsche zu übersetzen. »Liebende Güte« ist eine Formulierung ohne Stärke, ohne Kraft. Wir haben im Deutschen keine genaue Entsprechung zu dem Pāli-Wort. Unser Wort »Liebe« hat wenigstens Kraft, und jeder hat eine Vorstellung von seiner Bedeutung, aber leider im Allgemeinen eine falsche. Es kommt nun darauf an, sie in das umzuwandeln, was der Buddha unter mettā verstanden hat.

Bei »Liebe« denken die meisten an zwei oder doch nur ganz wenige Menschen: Mann und Frau, Eltern/Kind(er), einander eng Nahestehende; in zweiter Linie vielleicht noch an die Liebe zu Gott oder zu einem Ideal oder an Vaterlands-, Heimatliebe. Diese Art Liebe ist freilich nicht das, was der Buddha mit mettā gemeint hat. Denn unsere Art zu lieben ist verbunden mit Angst. Angst, Furcht hat man aber nur vor dem, was man hasst, nicht vor dem, was man liebt. Und was hasst man dabei? Die Möglichkeit des Verlustes. Unterschwellig weiß jeder, dass nichts bestehen bleibt; leider nur unterschwellig. Da uns am Beginn unserer Meditationspraxis die aufsteigende Einsicht in den ständigen Wandel erst einmal Angst einflößt, versuchen wir, vor ihr davonzulaufen, statt uns in sie zu vertiefen. Menschen sind schon seltsame Wesen! Statt uns selber auf den Grund zu gehen, benutzen wir unsere Geistesgaben, von denen wir ja reichlich viele haben, entweder zum Erfinden von Dingen, die uns das Leben angenehmer machen sollen, was sie letztendlich nie tun, oder dazu, uns in philosophische Gedanken zu verwickeln, von denen aber auch kein Ausweg zu erwarten ist. Wir füllen uns sozusagen mit etwas an, das nie erfüllt. Und da Liebe, die mit Angst verbunden ist, keine reine Liebe sein kann, haben wir die entsprechenden Resultate in uns und um uns herum. Diese Art Liebe ist auch mit der Erwartung verknüpft, der andere habe liebenswert zu sein, und zwar rund um die Uhr. Was absurd ist! Das kann nur der Erleuchtete fertigbringen, und von denen gibt es nicht sehr viele. Wir haben also Erwartungen, die unerfüllbar sind, und leben demgemäß in ständiger Enttäuschung. Wenn wir lieben, wollen wir wiedergeliebt werden. Selbst dort, wo es nicht um die übliche Zweierbeziehung geht, sondern um Liebe zu Idealen, haben wir immer Ziele und wollen wir etwas zurückbekommen.

Nichts von alledem ist mettā. Mettā ist eine Qualität des Herzens, wie Intelligenz eine Qualität des Geistes ist. Mit »Herz« meine ich natürlich das spirituelle, nicht das anatomische Herz. Sein Sitz ist in der Mitte des Brustkorbs, man kann es deutlich spüren. Wenn die liebende Güte stark wird, fühlt man dort Druck und Wärme, und man kann auch fühlen, wenn es sich öffnet. Wir haben die Samen in uns. Wenn wir sorgsam mit ihnen umgehen, den richtigen Weg einschlagen und, um beim Bild vom Gärtnern zu bleiben, das Unkraut beizeiten zupfen, kann auch Liebe, die herrlichste aller Blumen, voll zur Blüte kommen. Das ist freilich nicht so einfach, wie es sich anhört, und wird leider zu wenig praktiziert. Daran krankt die Menschheit, weil jeder Einzelne daran krankt. Es sind ja nicht »die da draußen« und »wir hier drinnen«. Wir sind die Menschheit, sind ein Muster davon – hoffentlich keines ohne Wert! In diesem Sinne an uns zu arbeiten, ist das ertragreichste, was wir überhaupt tun können.

Wie weite Kreise ein positiver Einfluss ziehen kann, hängt nur von der Reinheit ab, die jeder in sich selber geschaffen hat. Es wäre schon viel gewonnen, wenn er die eigene Familie erreichte, die Kollegen, Nachbarn, Freunde und Bekannten. Und die Reinheit wiederum ist abhängig von einer Liebe, die nicht nur uneigennützig ist, sondern auch vollkommen bedingungslos. Dagegen wird dann oft, zu Recht, eingewendet, man müsse demnach auch Schufte und Verbrecher lieben. Die Antwort darauf ist ganz einfach: »Ja«. Das bedeutet nicht, ihre Taten gutzuheißen oder unsere Urteilskraft einzubüßen und nicht mehr zu wissen, was gut und böse ist. Das wäre schrecklich! Es fällt sowieso vielen Menschen schwer, Gut und Böse auseinanderzuhalten. Aber da auch Schufte und Verbrecher Lebewesen sind, die leiden, so wie wir alle leiden, gibt es gar keine andere Wahl als Liebe und Mitgefühl.

Die Qualität des Herzens, das lieben kann, ist eine Qualität, die einem Sicherheit gibt. Man fühlt, dass man sich auf sich selber verlassen kann, weil man genau weiß, wie man reagieren wird: nicht mit Wut, Ärger, Angst, Ablehnung, Aufregung, Widerstand, sondern mit Liebe – was auch geschehen mag. Dann hat man im eigenen Herzen die einzige Sicherheit gefunden, die es gibt. Alles Materielle ist ja durch und durch unsicher und einem ständigen Wandel unterworfen. Aber liebende Güte können wir so in uns stabilisieren, dass sie unwandelbar wird: Unser Verhalten ist dann ganz unabhängig davon, wer vor uns steht – ob er uns tadelt, droht, Böses antut –, weil wir eingesehen haben, dass jede andere Reaktion als die aus liebender Güte uns selber unglücklich macht. Wir wären ja Narren, wollten wir uns vorsätzlich unglücklich machen. »Wären«? Leider hat der Buddha erkannt: Wir alle sind Narren. Aber wir können uns ändern! Und das ist ja wohl auch der Grund, warum Sie zu einem Meditationskurs wie diesem gekommen sind.

Der Feind von Liebe ist Hass. Das sieht jeder ein und bedarf keiner Erklärung. Aber der nahe Feind von Liebe ist Zuneigung, und das ist schwer zu erkennen. »Nah« heißt er, weil er der Liebe zum Verwechseln ähnlich ist. Zuneigung ist aber mit Anhaften verwoben. Wir halten uns an dem, dem wir zugeneigt sind, fest, und dadurch halten wir auch das Objekt unserer Zuneigung fest. Aber jegliches Anhaften ist eine große Bürde!

Der Buddha sprach von elf Vorteilen, die der genießt, der mettā im Herzen hat:

Er geht glücklich schlafen, hat keine Alpträume, wacht glücklich wieder auf. Wer nämlich den ganzen Tag über niemals ein Gefühl von Hass, Ärger, Unsicherheit, Angst, Neid in sich gehabt hat, der kann nur glücklich einschlafen, denn sein Geist ist ruhig und glücklich. Woher sollten da Alpträume kommen? Was den Tag zuvor geprägt hat, ist auch der erste Gedanke beim Aufwachen.

Ferner wird einer, dem Liebe das Herz füllt, von Lebewesen aller Art geliebt.

Viele suchen seine Nähe – seien es Menschen oder Tiere oder andere Wesen.

Er wird von den Devas1 beschützt, hat sozusagen einen Schutzengel.

Da er nichts Schlechtes denkt, spricht, tut, wahrnimmt und fühlt, widerfährt ihm in der Regel auch nichts Böses. Unsere Gedanken geben uns die Richtung, und sie sind von unseren Gefühlen bestimmt. Wenn die Gefühle rein, warm und liebevoll sind, sind es die Gedanken auch.

Sein Geist ist schnell konzentriert, er kann also gut meditieren. Die Läuterung der Gefühle bringt die Klarheit des Geistes.

Wer mettā im Herzen hat, habe eine »gute Gesichtshaut« – eine merkwürdige Übersetzung, es ist wohl eher der Gesichtsausdruck gemeint; wer liebevolle Gefühle hegt, sieht natürlich viel schöner aus als einer, der voller Hass ist. Wir brauchen in unserer Wut nur in den Spiegel zu schauen. Unsere Gefühle stehen uns buchstäblich im Gesicht geschrieben.

Er stirbt einen unverwirrten Tod.

Das heißt, ein Mensch, der im Leben liebende Güte praktiziert hat, wehrt sich nicht voller Angst gegen das Sterben. Wer viel mit Sterbenden zu tun hat, weiß, dass für die meisten Menschen Sterben eine schwere Zeit ist. Wir sprechen ja auch vom »Todeskampf«, vom »Ringen« mit dem Tod. Nur wenige können ruhig sterben. Liebende Güte ist dabei der springende Punkt. Die kann man sich aber nicht noch rasch zulegen, wenn die letzte Stunde bereits geschlagen hat; wann das sein wird, weiß keiner – Grund genug, sich ab sofort in liebender Güte zu üben!

Wer es darin zur Vollendung gebracht hat, kann eine Wiedergeburt in den höchsten Brahma-Bereichen erwarten. Aber das ist Zukunftsmusik. Ich messe dem keine Bedeutung bei, denn die Hauptsache ist, was sich in diesem gegenwärtigen Leben abspielt. Natürlich hat alles Einfluss auf die Zukunft, aber da sich unsere Gedanken und Gefühle ja jede Sekunde ändern, ist nicht die Zukunft in Betracht zu ziehen, sondern der Moment des Praktizierens. Und der ist jetzt.

Liebende Güte wird auf zwei Wegen geübt: durch Meditation und durch unser Verhalten.

Ich habe in Australien einmal mit einer Frau gesprochen, die Kurse in Kommunikation gibt. Ist es nicht absurd, dass wir erst lernen müssen zu kommunizieren? Sie sagte mir, dass Worte nur 7% der Kommunikation ausmachen. Die restlichen 93% liegen in Tonfall, Lautstärke, Mimik, Gestik, Körpersprache. Wer Liebe empfindet, braucht also keine Worte, um sie mitzuteilen. Er muss nicht die Runde machen und jedem versichern: »Ich liebe dich« – das wäre lächerlich und unglaubwürdig. Glaubwürdig ist allein das liebevolle Verhalten, und das überträgt sich von Herz zu Herz. Einsamkeit, die große Not unserer Zeit, ist Ausdruck mangelnder Liebe unter den Menschen. Wer keine Liebe empfinden kann, sollte sich immer wieder selber einen Ruck geben; wohin man die Gedanken richtet, dorthin kommt mit der Zeit auch das Gefühl. Der Verstand, das bewusste Drandenken kommt einem dabei zu Hilfe. Wir sollen ja den Verstand weder ablegen noch gering schätzen, er ist notwendig, und er kann uns auch auf die richtige Bahn lenken. Das ist der Grund, weshalb der Buddha Lehrrede um Lehrrede gehalten hat. Die Wahrheit, die hinter den Worten steht, lässt sich fühlen. Genauso ist es, wenn wir aus puren Vernunftgründen handeln: Im rechten Tun liegt Wahrheit, und die können wir fühlen. So bekommen wir mit der Zeit auch ein Gefühl für liebende Güte.

Das Gleiche gilt für die Mettā-Meditation auf der Grundlage der Liebende-Güte-Betrachtungen:

Möge ich frei sein von Feindseligkeit,

möge ich keinem Wesen Leid zufügen,

möge ich frei sein von Schmerzen in Geist und Körper,

möge ich fähig sein, mein eigenes Glück zu behüten.

Mögen alle Wesen frei sein von Feindseligkeit,

mögen alle Wesen einander kein Leid zufügen,

mögen alle Wesen frei sein von Schmerzen in Geist und Körper,

mögen alle Wesen fähig sein, ihr eigenes Glück zu behüten.

Manche sagen, ganz zu Recht, sie fühlten nichts: »Ich denke es nur«. Wenn man trotzdem weiterübt und immer wieder den Wahrheitsgehalt erkennt, kommt auch das Gefühl auf. Wenn man dagegen nur oberflächlich dahinplappert und gar nicht sieht, dass es wahr ist, wünschenswert und der Weg zum Glück, kommt es natürlich nicht.

Wenn wir bedingungslos lieben, verkleinert sich unser Ich – und um nichts anderes dreht sich die Lehre des Buddha –, bis es eines Tages so klein geworden ist, dass wir es als Gespinst, als Illusion, als gar nicht existent erkennen. Und wenn das »Ich« etwas kleiner wird, verschiebt sich auch der Punkt, wo es steht: nicht mehr genau im Mittelpunkt; es rutscht ein bisschen zur Seite, und andere Menschen rücken ins Zentrum.

Zur Zeit des Buddha gab es einen Mönch, der bei seiner täglichen Almosenrunde immer diese liebende Güte übte. Er stand ganz ruhig vor einem Haus, wie es üblich ist, ohne etwas zu sagen, schaute die Leute nicht einmal an, was gleichfalls der Tradition entspricht, und wartete, ob etwas in seine Almosenschale gegeben werde. Wenn das geschah, strahlte er von seinem Herzen Dankbarkeit und Liebe zu dem Geber aus, von dem er gar nicht wusste, wie er aussah, ob Mann oder Frau, jung oder alt; es ging nur um das Lebewesen, das etwas Gutes getan hatte. Auf diese Weise wurde er erleuchtet. Die Läuterung des Herzens ist der Weg zur Erleuchtung, ohne sie geht es nicht. Der Verstand ist zwar hilfreich und notwendig, aber das Herz fühlt. Und Erleuchtung, vor allem der Moment der Erleuchtung, wird erst gefühlt und dann verstanden. Es ist erkanntes Erleben.

Der Buddha hat drei Arten zu lieben unterschieden. Der erste Schritt ist, für die Menschen um einen herum Wohlwollen und Freundschaft zu empfinden. Anders ist ein Miteinander gar nicht denkbar. Der zweite, ein Gefühl von Hilfsbereitschaft in sich aufkommen zu lassen und seine Mitmenschen als Teil seiner selbst zu betrachten. Die höchste Form aber ist, alle Menschen zu lieben, als wären sie die eigenen Kinder. Man weiß zwar, dass Menschen Dummheiten und Schlechtigkeiten begehen, aber keine Mutter, die den Namen verdient, hört auf, ihr Kind zu lieben, bloß weil es sich schlecht benimmt. Dann würde niemand mehr geliebt, denn jeder benimmt sich hier und da schlecht. Wir alle sind ja nichts anderes als ausgewachsene Kinder. Erwachsen werden heißt innerlich wachsen. Wir können unser Herz als Garten ansehen: Unkraut gedeiht allemal besser als Blumen. Wenn man im Herzensgarten nicht täglich jätet, überwuchert allmählich das Unkraut die Blumen und erstickt sie schließlich; allenfalls ihre Wurzeln und ein paar verstreute Samen bleiben übrig. Jeder muss sein eigener Gärtner sein. Es gibt nichts Besseres zu tun! Dazu braucht man weder Beruf noch Familie aufzugeben, im Gegenteil, jede Konfrontation mit anderen Menschen ist eine Chance. Am dankbarsten müssen wir demjenigen sein, der ganz besonders scheußlich zu uns ist: Er gibt uns nicht nur eine erstklassige Gelegenheit, uns in mettā zu üben, sondern lässt uns auch gewahr werden, wie weit wir noch vom Ideal, jedem als Mutter zu begegnen, entfernt sind. Am Ideal, an der Richtlinie, scheint es den meisten Menschen auf der Welt zu fehlen; sie wissen gar nicht genau, was das Gute ist. Unser Geist kann mit einem Zauberkünstler verglichen werden. Vermutlich haben Sie es in der Meditation schon selber gemerkt: Er kann hervorzaubern, was er will. Wir können Gut und Böse ununterbrochen durcheinander bringen, wie ein Zauberkünstler, der, statt sich den Hut auf den Kopf zu setzen, Kaninchen aus ihm hervorzieht. Daher sind die Richtlinien, die uns der Buddha gegeben hat, so wertvoll; sie zeigen uns, wohin wir zu gehen haben, und geben uns praktische Hilfsmittel an die Hand, dort auch hinzugelangen.

Die Lehrrede von der liebenden Güte (Karanīya-Mettā-Sutta2)

Die vermutlich bekannteste Lehrrede des Buddha ist das Satipatthāna-Sutta, die Lehrrede von den Grundlagen der Achtsamkeit. Beinahe genauso bekannt ist das Karanīya-Mettā-Sutta, die Lehrrede von der liebenden Güte. Sie hat eine ganz interessante Entstehungsgeschichte. Diese Lehrrede ist im Suttanipāta enthalten, der ältesten Überlieferung der Worte des Buddha. Die Lehrrede von der liebenden Güte kam so zustande: Eine Gruppe von Mönchen hatte den Buddha um Rat gefragt, wie sie mit ihrer Meditation vorwärts kommen könnten. Es war eine Gruppe, mit der der Buddha ganz und gar nicht zufrieden war: laut, übermütig, von schlechtem Benehmen. Er schickte sie in den Wald; dort sollten sie sich einen Platz zum Meditieren suchen und die ganze Regenzeit über (drei Monate) bleiben und sich danach wieder bei ihm melden. Die Mönche zogen los und fanden einen Platz, der ihnen zusagte, unter schönen großen Bäumen der Art, die in Asien häufig vorkommt: Ihre Wurzeln liegen über der Erde und sehen aus wie Wände, oft bilden sie auch einen Kreis. Wenn man sich in ihre Mitte setzt, hat man eine kleine »Hütte« mit einem Dach aus Blättern und Zweigen um sich. An einer solchen Stelle ließen sie sich nieder. Aber Tag und Nacht wurden sie gestört. Früchte und Zweige prasselten auf sie nieder, statt der erwarteten Waldesstille war ringsum Getöse, und ständig passierten kleine Missgeschicke, ging etwas verloren oder entzwei, sie konnten also nicht in Ruhe meditieren. Nach einer Woche machten sie kehrt und schilderten dem Buddha die merkwürdigen Vorkommnisse. Er erklärte sie ihnen: Sie hätten sich an einem Platz niedergelassen, wo viele Devas in den Bäumen leben, und diese mit ihrem Lärm und rücksichtslosen Betragen gestört, so dass die Devas sie verjagen wollten. Aber wenn sie jetzt bei ihm das Karanīya-Mettā-Sutta lernten und oft für die Devas rezitierten, würden die besänftigt sein und sie in Ruhe lassen. Aber sie dürften das Sutta nicht bloß auswendig lernen und runterbeten, sondern müssten es beherzigen. So taten sie es, die Devas beruhigten sich und ließen sie ungestört im Wald meditieren.

Dieses Sutta hat in allen buddhistischen Ländern großen Anklang gefunden und wird in den meisten Tempeln und Klöstern mindestens einmal, sehr oft zweimal täglich rezitiert. In Sri Lanka zum Beispiel kann es wohl jeder Buddhist auswendig. Die Sutten sollen rezitiert werden, aber man soll sie auch Wort für Wort verstehen und in die Tat umzusetzen suchen. Leider begnügen sich viele damit, sie zu kennen, ohne sie zu praktizieren. Hierzulande haben wir dieses Problem nicht – wir kennen sie gar nicht erst. Dem möchte ich abhelfen.3

Mettā-Sutta

Wem klar geworden,

dass der Frieden des Geistes

das Ziel seines Lebens ist,

der bemühe sich um folgende Gesinnung:

Er sei stark, aufrecht und gewissenhaft,

freundlich, sanft und ohne Stolz.

Genügsam sei er, leicht befriedigt,

nicht viel geschäftig und bedürfnislos.

Die Sinne still, klar der Verstand,

nicht dreist, nicht gierig sei sein Verhalten.

Auch nicht im Kleinsten soll er sich vergehen,

wofür ihn Verständige tadeln könnten.

Mögen alle Wesen glücklich sein

und Frieden finden!

Was es auch an lebenden Wesen gibt:

ob stark oder schwach,

ob groß oder klein,

ob sichtbar oder unsichtbar,

fern oder nah,

ob geworden oder werdend –

mögen sie alle glücklich sein!

Niemand betrüge

oder verachte einen anderen.

Aus Ärger oder Übelwollen

wünsche man keinem irgendwelches Unglück.

Wie eine Mutter mit ihrem Leben

ihr einzig Kind beschützt und behütet,

so möge man für alle Wesen und die ganze Welt

ein unbegrenzt gütiges Gemüt erwecken:

ohne Hass, ohne Feindschaft,

ohne Beschränkung nach oben, nach unten

und nach allen Seiten.

Im Gehen oder Stehen, im Sitzen oder Liegen

entfalte man eifrig diese Gesinnung:

dies nennt man Weilen im Heiligen.

Wer sich nicht an Ansichten verliert,

Tugend und Einsicht gewinnt,

dem Sinnengenuss nicht verhaftet ist –

für den gibt es keine Geburt mehr.

Die Lehrrede beginnt damit, dass der Buddha sagt: Wer zum Frieden gelangen will, muss das Heilsame üben. Dieser Ausspruch ist insofern bemerkenswert, als er bedeutet, dass man sich im Heilsamen üben und eine Geschicklichkeit darin erwerben kann und muss. Man ist also nicht entweder ein guter oder ein böser Mensch und muss nicht notwendigerweise heilsam oder unheilsam handeln, weil man einen so beschaffenen Charakter hat oder die Umstände es von einem verlangen. Dann nennt er fünfzehn Eigenschaften, die man kultivieren muss, um Frieden zu finden. Sie beginnen auf einer weltlichen Ebene, führen dann aber über sie hinaus. Das ist das Interessante an dieser Lehrrede wie an so vielen anderen. Sie fangen an mit weltlichen Dingen – wie wir die Welt erleben, in ihr reagieren, etwas besser machen können – und zeigen den ganzen Weg zum Nibbāna. Auch das Mettā-Sutta erklärt ihn ganz genau. Was kann man mehr verlangen? Weiter nichts, als ihm dann auch zu folgen, indem man sich nämlich die fünfzehn Fähigkeiten zu Eigen macht. Wer Frieden in seinem Herzen finden will, der sei:

Erstens stark, kraftvoll:

körperlich gesund und willensstark.

Zweitens aufrecht, aufrichtig:

»Aufrichtig« heißt, man sagt die Wahrheit, ist offen und ehrlich sich selber und anderen gegenüber; »aufrecht«, man hat den Mut zur eigenen Überzeugung und steht für sie – ohne Ereiferung und ohne Groll – gerade, eine seltene und sehr wertvolle Eigenschaft. Die meisten fürchten, sie können mit ihrer Umgebung nur dann in Harmonie leben, wenn sie deren Meinung teilen. Wer aufrecht ist, ist auch zuverlässig, man kann in jeder Situation auf ihn bauen, nicht nur, wenn sowieso alles glatt geht. Wer zuverlässig für andere ist, ist es natürlich auch für sich selber. Er kennt seinen Weg und wird nie zum Opportunisten.

Drittens gewissenhaft und gerade:

geradeaus, geradezu. Das bedeutet nicht, man solle andere mit seiner Meinung traktieren, sondern sich von seinem Weg nicht abbringen lassen, unbeirrbar geradeaus gehen, nicht auf Ab- und Umwegen. Ein Mensch von geradem Wesen beschönigt und rechtfertigt sich nicht, er zeigt sich, wie er ist. Er ist liebevoll, aber legt es nicht darauf an, liebenswert zu sein.

Viertens nicht stolz:

Stolz hat eine Qualität von Härte. Man ist zum Beispiel stolz auf sein Besitztum, Wissen und Können, auf seine gesellschaftliche Position, mit einem Wort: auf sein »Ich«. Ein stolzer Mensch ist unbelehrbar.

Zur Zeit des Buddha gab es einen Brahmanen mit dem Spitznamen »Steifstolz«. Er war verrufen für seinen Stolz, und er war steinreich. Niemals hat er sich vor jemandem oder etwas verbeugt, was in Asien sehr seltsam ist. Er ist nie vor den Göttern in die Knie gegangen, hat nie einem Lehrer oder anderen Menschen Achtung oder Höflichkeit bezeugt. Zur allgemeinen Verblüffung erschien er eines Tages, um dem Buddha bei einer seiner Lehrreden zuzuhören. Kaum hatte der Buddha geendet, ging »Steifstolz« auf ihn zu und verbeugte sich. Der Zuhörerschaft blieb der Mund offen vor Staunen. »Steifstolz« erklärte dem Buddha, er akzeptiere ihn ab sofort als Lehrer, aber schließlich habe er einen Ruf zu verlieren. Ob der Buddha, wenn er ihn künftig auf der Straße treffe, als Gruß auch gelten lasse, wenn er statt einer Verbeugung den Hut lüfte. Der Buddha war einverstanden. »Steifstolz« behielt seinen Spitznamen bis an sein Lebensende.

Innere Steifheit ist auch ein Merkmal von Stolz. Ein solcher Mensch lässt nichts an sich heran und in sich herein, das sein mächtiges Ego gefährden könnte. Je größer das Ego ist, desto leichter stößt es an, desto weiter ist man vom inneren Frieden entfernt.

Fünftens jemand, mit dem man leicht sprechen kann:

der freundlich und zugänglich ist, nicht aufbraust, nicht gleich Rechtfertigungen und Entschuldigungen zur Hand hat, nicht rechthaberisch auf seiner Meinung herumreitet und mit jedem Wort sein Ego zur Schau stellen will, sondern jemand, der gut und voller Mitgefühl zuhören kann, der beseelt ist von innerem Frieden. Innerer Unfrieden nämlich sucht ein Ventil, er plagt einen ja, man will ihn loswerden, und so entlädt er sich unter anderem in Wortgefechten und führt zu Zank und Streit. Einer, mit dem leicht zu sprechen ist, wird sich auch weder besser noch geringer als andere dünken.

Eine Gruppe Mönche wurde auf einem Waldspaziergang von Räubern überfallen. Sie wollten einen von ihnen als Geisel nehmen, um ein hohes Lösegeld zu erpressen, und der Mönchsälteste sollte ihn bestimmen. Der aber schwieg. Das brachte den Anführer der Räuberbande in Rage, und er herrschte ihn an: »Antworte! Wen willst du mitschicken? Wenn du nicht antwortest, nehmen wir dich!« Der Mönch erwiderte: »Wenn ich einen nenne, hieße das, ihn geringer als die anderen zu bewerten. Wenn ich mich selber wähle, bewerte ich mich geringer. Ich kann keinen bewerten.« Dem Räuberhauptmann verschlug diese Antwort die Sprache, und schließlich nahm er keinen als Geisel.

Sechstens sanft und milde allen Lebewesen gegenüber:

das heißt, nicht aggressiv. Seit wir nicht mehr in Höhlen leben und mit Keulen aufeinander losgehen, toben wir unsere Aggressivität eher in Worten als in Tätlichkeiten aus, vor allem aber in Gedanken. Folglich muss sich Milde erst einmal in den Gedanken einnisten, um sich dann im Sprechen und Handeln kundzutun. Der Geist muss milde sein, und das heißt: keinem Wesen Harm zufügen, ob Mensch oder Tier oder Pflanze – auch sich selber nicht. Man fügt sich selber nämlich sehr viel Harm zu, wenn man Negatives in sich hereinlässt, wenn man stolz ist, in irgendeiner Weise aggressiv, voller Ablehnung, Widerstand und Unfrieden. Und das ist zu spüren.

Siebtens leicht befriedigt:

Zufrieden sein, das deutsche Wort macht es sinnfällig, führt zum Frieden. Es gibt kaum einen Menschen, der restlos zufrieden ist, jeder trägt sein Päckchen dukkha4 mit sich und hält auch noch daran fest, ist irgendwie mit seinem dukkha verhakt. Es gibt ihm Ich-Bestätigung: »Das ist mein Problem, mit dem bin ich wenigstens etwas interessanter, ohne Problem bin ich zu unscheinbar!«

Dazu eine nicht buddhistische Anekdote: Bei einem Erdbeben kamen viele Menschen ums Leben und erschienen nun vor den himmlischen Toren. Petrus ließ sie ein und forderte sie auf, es sich recht gemütlich zu machen, jeder solle sein Sorgenpäckchen vor sich hinstellen und sich wohlfühlen. Sorgen brauche man hier oben nicht mit sich herumzutragen. Er komme gleich wieder und werde dann jedem seinen Platz zuweisen. Er holte das große Buch, in dem ein jeder drinsteht, warf einen Blick hinein – und fing an, Entschuldigungen zu stottern: Sie alle seien aus Versehen in den Himmel gekommen, es sei noch gar nicht ihre Zeit, er müsse sie leider, leider wieder auf die Erde schicken. Aber da sie nun diese Ungelegenheiten gehabt hätten, stelle er ihnen frei, einfach irgendeines dieser Sorgenpäckchen mitzunehmen, es brauche nicht das eigene zu sein. Aber alle nahmen ihr eigenes wieder mit. »Gehört mir! Ist meines!«

Zum Zufriedensein gehört, dass man versteht loszulassen. So wie es ist, ist es, und schwierige Situationen treten nur auf, weil wir sie als Prüfung brauchen; hätten wir unsere Lektion schon gelernt, wären wir gar nicht in sie hineingeraten. »Leicht zufrieden zu stellen« bedeutet das innere Gefühl von Zufriedenheit und die Anspruchslosigkeit gegenüber äußeren Umständen. Wir müssen zum Beispiel nicht unbedingt und überall so wohnen, essen, arbeiten, reisen, wie wir es gewohnt sind. Sehr viele Menschen sind von äußeren Umständen bis zur Unbeweglichkeit abhängig; sie gehen gar nicht erst dorthin, wo sie ihren gewohnten Komfort nicht vorfinden würden.

Es bezieht sich ferner auf den Umgang mit Menschen; je weniger Vorurteile, Wünsche, Erwartungen einer hat, desto leichter ist er zufrieden zu stellen – einschließlich der Erwartungen an sich selber; am engsten muss ich schließlich mit mir zusammenleben. Und wenn wir mit diesem einen, den wir »Ich« nennen, keinen Frieden halten können – woher soll dann Frieden kommen? Das Wort »Frieden« wird ja für alle möglichen, sogar reaktionäre Demonstrationen benutzt und oft missbraucht. Wer will denn den Frieden? Der friedlose Mensch will den Frieden! Wenn er dem Dhamma5 folgt, dann wird er Frieden finden. Und je mehr Frieden einer im eigenen Herzen hat, desto mehr Menschen um ihn herum kann er erreichen, desto weiter kann dieser Frieden ausstrahlen.

Eng zusammen mit leicht zufrieden zu stellen hängt achtens bedürfnislos sowie neuntens genügsam:

Wer leicht zufrieden zu stellen ist, begehrt weder neue Sachen noch neue Sinnesbefriedigungen, solange das, was er hat, seinen Zweck erfüllt. Er muss also auch nicht Zeit, Geld und Gedanken darauf verwenden, sich Neues zu beschaffen. Der Genügsame hat Achtung vor der Arbeit, die in einen Gegenstand hineingesteckt worden ist, und behandelt ihn respektvoll, bis er endgültig ausgedient hat.

Wir schneiden zum Beispiel aus unseren aufgetragenen Mönchs- und Nonnenroben noch verschiedene Tücher heraus, so auch eins zum Daraufsetzen. Wenn es dafür dann nicht mehr taugt, tut es noch als Fußlappen seinen Dienst. Man versucht in buddhistischen Klöstern alles bis zum Letzten zu verwenden.6

Zehntens nicht in zu viel Aktivitäten verwickelt:

Sonst hat man keine Zeit für sich selber, keine Zeit für Meditation und Kontemplation und kann unmöglich Liebe im Herzen entwickeln und in sich selber Frieden finden. Aber viele haben Angst davor, mit sich allein zu sein, sich einmal wirklich kennen zu lernen. Ihre Ruhelosigkeit ist ein Zeichen dafür, dass sie keinen Frieden in sich gefunden haben, und müsste eigentlich ein Anstoß sein, ihn umso nachdrücklicher zu suchen, statt der Ruhelosigkeit nachzugeben. Sie kann sich auch als Kummer und Leid äußern, als Aggression und Widerstand. Für die Flucht in Aktivitäten gibt es im Eng- lischen ein treffendes Wort: »workaholic«. Wir nennen es »Arbeitssucht«.

Elftens jemand, dessen Sinne beruhigt sind:

Man will, was man mit den Sinnen wahrnimmt, nicht gleich besitzen, braucht nicht zu vergleichen, ob das, was man hat, minderwertiger ist als das, was man sieht, braucht sich nicht zu erregen, wie schön/gut oder wie scheußlich etwas aussieht, klingt, riecht, schmeckt, sich anfühlt. Die Sinne sind beruhigt, und Ruhe bedeutet Frieden, und Frieden bedeutet Glück.

Sehen ist übrigens die stärkste Sinnesfunktion; was wir sehen, macht uns am meisten zu schaffen. Das steckt auch hinter dem Anschauungsunterricht: Der Text dringt viel stärker ein, wenn er bebildert ist.

Zwölftens klug, von klarem Verstand:

Wir sind ja nicht von Natur aus klug oder dumm. Intelligenz kann man kultivieren. Ohne ein verstandesmäßiges Erfassen der Lehre wird sich keiner der Mühsal unterziehen, sie zu praktizieren. Intelligenz hilft uns, Dinge zu durchschauen. Und wenn wir verstehen, was mit uns los ist, haben wir schon den ersten Schritt zur Änderung getan.

Dreizehntens nicht dreist, nicht angriffslustig:

Auch Angriffslust hat ihren Ursprung in eines jeden Menschen Herz. Weil wir im eigenen Herzen unsicher sind, fühlen wir uns in Gefahr – in Ego-Gefahr. Das Ego fühlt sich so unsicher, weil es nichts anderes ist als eine Illusion und ständig Hilfen braucht, um sich auf den Beinen zu halten und Bestätigung zu finden. Bleibt das aus, fühlen wir uns gefährdet und reagieren zunächst mit Selbstverteidigung, und wenn das nichts nützt, mit Angriff. Diese Angriffslust, die unseren eigenen Frieden zunichte macht, kann nur durch Weisheit ausgemerzt werden. Bis dahin können wir sie wenigstens kontrollieren und vermindern, indem wir achtsam sind und immer wieder sehen, wie wenig sie uns hilft, im Gegenteil, wie sie uns jedesmal in eine noch gefährlichere Position hineindrängt. Denn wer angreift, muss damit rechnen, selber angegriffen zu werden. So geht es bei jedem Krieg. Und solange der Krieg im eigenen Herzen nicht ausgefochten und endlich der Frieden besiegelt ist, ist Frieden in der Welt eine wahnwitzige Illusion. Der Friede im Herzen ist jedem Individuum möglich und auch von vielen erreicht worden. Frieden in der Menschheit ist noch nie erreicht worden. Dass wir da etwas Neues schaffen könnten, ist unwahrscheinlich. Man darf nicht sagen »unmöglich«, das wäre zu stark, aber »unwahrscheinlich« kann man wohl sagen.

Der Buddha hat Angriffslust mit einer Krähe verglichen. In Asien sind Krähen sehr dreist. Wir haben auf unserer Insel in Sri Lanka Krähen, die den Katzen nicht nur das Futter stehlen, sondern gleich mitsamt dem Napf wegschleppen, und die Katze steht wehrlos daneben. – »Die Männer sind wie Krähen«, heißt es in diesem Gleichnis des Buddha, »sie schauen immer auf ihren eigenen Vorteil. Und die Frauen sind wie Schlingpflanzen, die suchen einen starken Baum, um den sie sich winden können, um Halt zu finden.« Beide müssen ihre Gepflogenheiten ablegen, um wachsen und eines Tages dem Leid entrinnen zu können.

Die vorletzte der fünfzehn Eigenschaften, die uns zum Herzensfrieden und damit zum Glück führen, ist, die Gier zu bezähmen, die, von den Sinnen geschürt, instinktiv hochkommt, und zu erkennen, dass alles Wollen Leiden bedeutet. Das Wollen kommt aus dem Gefühl der Unzufriedenheit. Nicht die Erfüllung unserer Wünsche und momentane Beruhigung der unruhigen Sinne bringt uns zum Frieden, sondern die Herzensläuterung und das Fallenlassen aller Wünsche, die unser Herz in Aufruhr halten.

Und die letzte ist schließlich, sein Handeln an den fünf Tugendregeln auszurichten.7