Einleitung: Die Erziehungswissenschaft in dreißig Grundbegriffen

Auf Wissen über Erziehung, Bildung, Lehren und Lernen basiert nicht nur das professionelle Handeln in den verschiedenen institutionalisierten pädagogischen Feldern, wie der Schule, der Sozialpädagogik, der Sonderpädagogik und der Erwachsenenbildung. Auch das alltägliche, berufliche und politische Handeln rekurriert, bewusst oder unbewusst, auf pädagogisches Wissen. Die Erziehungswissenschaften sind der exponierte Ort der Aufzeichnung, Tradierung, Generierung und Kommunikation dieses Wissens. Erziehungswissenschaftliches Wissen ist die dominierende Ressource des in der Praxis verwendeten pädagogischen Wissens. Dennoch, und darauf weisen empirische Studien zu den verwendeten Wissensbereichen in den pädagogischen Handlungsfeldern und die Professionsforschung nachdrücklich hin, deckt sich das pädagogische Wissen nicht immer mit dem erziehungswissenschaftlich ausgewiesenen Wissen. In modernen, inzwischen vielfach als Wissensgesellschaften charakterisierten Gesellschaften ist eine Pluralisierung der Orte der Wissensproduktion zu beobachten, ohne dass ein Bedeutungsverlust der Erziehungswissenschaft folgte. Die neu entstehenden pluralen Formen pädagogischen Wissens sind nicht einfach wissenschaftsfern: Zum einen verdanken sie sich selbst zum Teil einer Veralltäglichung und Entgrenzung erziehungswissenschaftlicher Wissensbestände und wirken zum anderen auch auf diese zurück. Zudem sind unterschiedliche Perspektiven auf Wissen in den professionellen Praxisfeldern und in den wissenschaftlichen Diskursen zu erkennen: Orientieren sich die pädagogischen Praxen in den unterschiedlichen Handlungs- und Arbeitsfeldern, soweit sie an der Aktualisierung des Wissens zur Entfaltung ihrer Praxis interessiert sind, an den Handlungserfordernissen eben dieser Praxen selbst. So orientiert sich die wissenschaftliche Generierung und Weiterentwicklung des erziehungswissenschaftlichen Wissens an den wahrheitsbezogenen theoretischen und methodischen Standards des Wissenschaftssystems. Allerdings färben die mit der Qualifizierungsaufgabe verbundenen Anforderungen, die den Erziehungswissenschaften an den Hochschulen abverlangt werden und die wesentlich zu ihrem rasanten Ausbau seit den 1960er Jahren geführt haben, auch auf das erziehungswissenschaftliche Wissen im Bereich der Erziehungswissenschaft als Disziplin ab. Erziehungswissenschaftliches Wissen steht damit durchgehend im Spannungsverhältnis von Wissenschaft und Profession sowie von Theorie und Praxis.

Wie in allen anderen Wissenschaften so hat die Wissensgenerierung auch in den Erziehungswissenschaften immer zwei Gesichter. Mit der Beantwortung von Fragen entstehen zugleich immer neue Fragen. Der wissenschaftliche Erkenntnisprozess bleibt insofern ein in die Zukunft hin offener Prozess, auch wenn die Erfordernisse der Handlungspraxis abgeschlossenes, kanonisiertes Wissen verlangen. Mit der Erzeugung von Wissen wird unvermeidbar zugleich neues Nicht-Wissen hervorgebracht. Dieser Erkenntnisprozess führt indes nicht immer wieder auf einen imaginären Nullpunkt des Nicht-Wissens zurück. Man kommt vielmehr – um ein Bild aus der Sprache der Computerspiele zu verwenden – auf ein neues Level des Nicht-Wissen-Wissens. In dem Maße, in dem die Erziehungswissenschaften sich zu einer ‚normal science‘ entwickelt haben, haben diese ‚Levels‘ an Stabilität gewonnen, auch wenn ihr kanonischer Charakter prinzipiell immer einen Zeitindex hat. Aber diese grundsätzliche Zeitlichkeit auch des jeweils gegenwärtig akkumulierten erziehungswissenschaftlichen Wissens erstreckt sich auf größere Zeithorizonte.

Bei dem erziehungswissenschaftlichen Wissen, das dieser Einführungsband vor allem Studierenden und Professionellen zugänglich macht, handelt es sich insofern um das gegenwärtig vorliegende, gesicherte theoretische, historische und empirische erziehungswissenschaftliche Wissen, das eine Grundlage zur Beteiligung am erziehungswissenschaftlichen Diskurs eröffnet und die Nutzung der dort generierten Erkenntnisse für die Bewältigung von Aufgaben ermöglicht, die sich in je besonderen beruflichen Situationen stellen. Damit wird allerdings – um Missverständnissen vorzubeugen – nicht der Anspruch verbunden, dass das hier vorgestellte erziehungswissenschaftliche Wissen eine direkte Anleitung oder Anwendung in beruflichen Feldern finden kann. Vielmehr bietet es Erkenntnisse, liefert Reflexions- und Denkanstöße, um pädagogische Aufgaben, Kontexte, Orte und Praktiken auf der Höhe des gegenwärtigen Wissenstandes besser verstehen und befragen zu können.

In diesem Band wird das erziehungswissenschaftliche Wissen in fünf Abteilungen präsentiert, die insgesamt das Feld der Erziehungswissenschaft umfassend und systematisch abdecken. In der ersten Abteilung werden unter der Überschrift ‚Aufgaben‘ die Leistungen behandelt, die vom pädagogischen Feld erwartet werden. Es handelt sich hierbei um die erziehungswissenschaftliches Denken und pädagogisches Handeln leitenden Grundorientierungen. Im Einzelnen geht es um Bildung, um Erziehung, um Sozialisation, um Wissenskommunikation, um Prävention und Selektion. In der zweiten Abteilung werden unter der Überschrift ‚Bezüge‘ als wesentliche Kontexte der Realisierung dieser Aufgaben die Komplexe Generation, Geschlecht und Migration behandelt. In der dritten Abteilung sind unter der Überschrift ‚Orte‘ jene Beiträge versammelt, die einen Einblick in das breite Spektrum pädagogischer Felder geben, die organisationale Einbindung von Erziehung und Bildung darstellen, und neben dem Unterricht als einer zentralen pädagogischen Sozialform den zunehmend an Gewicht gewinnenden Bereich der Medien erörtern. In der vierten, der größten Abteilung, stehen unter der Überschrift ‚Praktiken‘ die Beiträge zum Lehren, Lernen, Helfen, Beraten, Üben, zur Evaluation, zur Didaktik und Methodik, zum Disziplinieren und zur Aufmerksamkeit. Die letzte, unter der Überschrift ‚Reflexionen‘ stehende Abteilung behandelt die Probleme eines pädagogischen Ethos, von pädagogischer Profession und erziehungswissenschaftlicher Disziplin, des Erziehungssystems, der Bildungspolitik, der erziehungswissenschaftlichen Forschung, der Praxisreflexion und des wissenschaftlichen Arbeitens.

Die Beiträge versuchen einen breiten Überblick über den jeweiligen Problemstand zu geben. Sie erschließen den Studierenden als wissenschaftlichen Novizen bei Beginn und im Verlauf des Studiums einen kompetenten Zugang zur Erziehungswissenschaft und dienen auch Professionellen zur kontinuierlichen theoretischen Selbstvergewisserung und Selbstbeobachtung im Kontext ihrer beruflichen Arbeit. Alle Beiträge folgen, von individuellen, aus dem spezifischen Thema resultierenden Varianzen abgesehen, einem durchgehenden Schema: Ausgangspunkt ist die Frage, welches Thema mit dem jeweiligen Begriff angesprochen ist. Anschließend wird seine historische Dimension erhellt, es werden die mit dem Begriff verknüpften theoretischen Konzepte entfaltet und die wesentlichen empirischen Befunde zum jeweils angesprochenen Thema referiert. Ein Ausblick auf aktuelle Problemlagen schließt die Beiträge jeweils ab. Insgesamt bemühen sich die Beiträge dabei, den Stand des erziehungswissenschaftlichen Wissens zum jeweiligen Thema in knapper, aber ausreichend differenzierter und insofern wissenschaftlich durchaus anspruchsvoller Gestalt zu präsentieren. Die Literaturverweise haben die Aufgabe, für eine intensivere Beschäftigung die Spuren zu legen, die nach dem ersten Überblick, den die Beiträge geben, weiter zu verfolgen wären.

Dieser Fortführung dienen auch die Hinweise auf zentrale Forschungs- und Serviceeinrichtungen, auf Fachgesellschaften und auf weitere nützliche Internetadressen. Ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren schließt die Einführung ab.

Die Darstellung des erziehungswissenschaftlichen Grundwissens geschieht in der Weise, dass dreißig Begriffe ausgewählt wurden, in denen die zentralen Probleme erziehungswissenschaftlicher Reflexionen verdichtet dargestellt und erörtert werden. Mit dieser Auswahl sind der Umfang und die Tiefe des erziehungswissenschaftlichen Wissens indes keineswegs vollständig abgedeckt. So könnte etwa auf das Fehlen von Beiträgen unter den Stichworten Familie, Arbeit und Beruf, Biographie, Geschichte und Gesundheit verwiesen werden. Der Band ist – entsprechend der Offenheit des Wissens – nicht geschlossen, sondern offen. Er kann und wird sicher fortgeschrieben werden.

Für das zügige Zustandekommens dieses Bandes 5 in der Reihe „Grundriss Pädagogik/Erziehungswissenschaft“ ist zunächst den Autorinnen und Autoren zu danken, die in ihrem inzwischen ja äußerst eng gewordenen inner- und außeruniversitären wissenschaftlichen Berufsalltag noch genügend Zeit für die, zum Teil unerwartet aufwendige Arbeiten an den Beiträgen freimachen konnten. Insbesondere ist aber Herrn Dr. Klaus-Peter Burkarth im Lektorat des Kohlhammer Verlags zu danken, ohne dessen publikationserfahrenen Blick die Orientierung dieses Bandes an den Erwartungen der zukünftigen Leserinnen und Leser nicht die nun vorliegende Gestalt gewonnen hätte.

Jochen Kade

Werner Helsper

Christian Lüders

Birte Egloff

Frank-Olaf Radtke

Werner Thole

Frankfurt am Main/Halle/München/Kassel, im September 2010

Bildung

Jörg Zirfas

1 Was meint Bildung?

Obwohl Bildung als einer der zentralen Grundbegriffe der Pädagogik gilt, fällt seine genauere pädagogische Bestimmung schwer, da es keine allgemeingültige Definition von Bildung gibt. Bildung ist einerseits ein alltagssprachlicher Begriff mit einer Fülle von Konnotationen, andererseits eine in vielen (geistes- wie natur-)wissenschaftlichen Disziplinen gebräuchliche Kategorie mit je unterschiedlichen Traditionen und schließlich auch in der Pädagogik selbst ein Konzept, das je nach pädagogischer Richtung bzw. Schule verschiedene Bedeutungen aufweist. Das heißt, dass sich die Bedeutung von Bildung nur vor dem Hintergrund von spezifischen Bildungstheorien bestimmten lässt (vgl. Hansmann/Marotzki 1988/1989): So versteht etwa die geisteswissenschaftliche Pädagogik unter Bildung die wechselseitige Erschließung von Ich und Welt, die kritische Erziehungswissenschaft identifiziert Bildung mit Emanzipation, die empirische Erziehungswissenschaft übersetzt Bildung in messbare Kompetenzmodelle und eine phänomenologische Pädagogik setzt auf Bildung als Entfaltung von Sinnlichkeit.

Als pädagogischer Begriff ist Bildung seit der Aufklärung und dem Neuhumanismus ein Indikator für zentrale Fragestellungen und Problemhorizonte der Erziehungswissenschaft, wie die Debatten um selbstzweckhafte oder utilitaristische, klassische oder moderne, humanistische oder realistische, grundlegende oder weiterführende, allgemeine oder berufliche, individuelle oder kollektive, schulische oder außerschulische etc. Bildung bis heute beweisen. Vielfach wegen seiner semantischen Uneindeutigkeit und Unbestimmbarkeit kritisiert und nach der sozialwissenschaftliche Wende in den 1960er Jahren durch Begriffe wie Selbstorganisation, Lernen, Identität u. a. m. (die den Bildungsbegriff ersetzen sollten) scheinbar obsolet geworden, ist der Bildungsbegriff für die pädagogische Diskursbildung nach wie vor unverzichtbar. Denn in ihm bündeln sich pädagogische Fragestellungen und Dimensionen wie in einem Brennpunkt.

Im Fokus des Bildungsbegriffs steht eine spezifische Problemlage, die als – abstrakt formuliert – Subjektivierung objektiver Sachverhalte und als Objektivierung subjektiver Gegebenheiten verstanden werden kann. In diesem Sinne kann man formulieren, dass der Bildungsbegriff ein Wechselverhältnis zwischen einem Einzelnen und einem Allgemeinen enthält, das – im Unterschied zum Erziehungsbegriff – die Seite des Einzelnen betont. Bildung beschreibt die Auseinandersetzung des Einzelnen mit als allgemein oder universell geltenden Bestimmungen von Welt, Vernunft, Sittlichkeit oder Humanität. In der Regel wird mit Bildung daher die Verschränkung von Individualität und Kultur, von Eigenheit und Humanität, von Selbst und Welt verstanden, wobei Kultur, Humanität und Welt als objektive Seite, Individualität, Eigenheit und Selbst als subjektive Seite der Bildung gelten. Bildung meint einen differenzierten, intensiven und reflektierten Umgang mit sich und der Welt, der zur Ausformung eines selbstbestimmten kultivierten Lebensstils führt. Sie ereignet sich als Antwort des Subjekts auf Fremdheits- und Krisenerfahrungen.

Generell wird der Bildungsbegriff dabei geprägt durch eine Dichotomie von Deskription, etwa in Bezug auf die Entwicklung von Reflexivität oder Sozialität, und von Normativität, der kontrafaktischen Unterstellung eben jener Entwicklungen. So wird der Begriff der Bildung sowohl deskriptiv als (Selbst-)Formungsprozess des Menschen als auch normativ als dessen Bestimmung, als Sinn und Zweck menschlichen Daseins verstanden.

Unter Bildung lassen sich sowohl die Prozesse selbst, darüber hinaus die Resultate dieser Prozesse, aber auch spezifische Bildungsstoffe (Bildungsinhalte, Bildungsgehalte) sowie bestimmte notwendige Voraussetzungen von Fähigkeiten und Vermögen verstehen. Bildungsresultate sind spezifische soziale bzw. individuelle habituelle Prägungen, die über Erfahrungen und mimetische Prozesse erworben worden sind. Bildungsprozesse kennzeichnen eine strukturelle transformatorische Differenz, die sowohl in zeitlicher, identifikatorischer, institutioneller oder sozialer Hinsicht bestehen kann. Die Frage nach den Bildungsstoffen (Bildungsinhalte und Bildungsgehalte) ist durch Curricula- und Kanondebatte geläufig. Als Bildungsvoraussetzungen werden kulturelle, ökonomische oder soziale Voraussetzungen bezeichnet, die wiederum die Bedingung der Möglichkeit für gelingende Bildungsprozesse und Bildungsresultate darstellen.

Oftmals differenziert man zwischen theoretischer, praktischer und ästhetischer Bildung: Während die theoretische Bildung auf die wissenschaftliche Betrachtung, definitorische Gliederung bzw. Klassifizierung und gesetzmäßige Erfassung der Dinge und ihrer Zusammenhänge abzielt, richtet sich die praktische Bildung auf die Zwecke und Mittel menschlichen Handelns, auf die moralische Betrachtung und Umsetzung von Regeln, Institutionen und Werken. Die ästhetische Bildung schließlich hebt auf Fragen der Wahrnehmung, des reflektierten Geschmacksurteils, der performativen Darstellung oder des Umgangs mit kunstförmigen Gegenständen ab.

Eine andere Gliederung des Bildungsbegriffs schlägt Langewand (1994) vor, wenn er sachliche, temporale, soziale, wissenschaftliche und autobiographische Dimensionen ausdifferenziert. Das heißt: Bildung braucht erstens Stoffe, d. h. Inhalte, mit denen sich der Mensch auseinandersetzt; diese Inhalte haben einen unterschiedlichen Bildungsgehalt.

Sie braucht zweitens Geschichte und zwar in individueller wie in sozialer oder politischer Perspektive, die je nach Interpretation als Fortschritts- oder Verfallsgeschichte gelesen werden kann. Bildung braucht drittens soziale Zustimmung, d. h. die Anerkennung von pädagogischen, sozialen, moralischen oder wissenschaftlichen Standards, die in jeder Generation neu ausgehandelt werden müssen. Sie braucht viertens wissenschaftliche Erforschung, was meint, dass differenziert werden muss zwischen der praktischen Bildungsreflexion und der theoretischen Analyse von Bildung, zwischen Bildung und Bildsamkeit. Und schließlich braucht Bildung fünftens individuelle Selbstbeschreibung, da die Differenz zwischen den kulturellen Mustern und den individuellen, autobiographischen Bearbeitungen für sie konstitutiv ist.

Unter strukturellen Gesichtspunkten werden mehrere Dimensionen zur Bildung gerechnet: erstens spezifische Fähigkeiten, Verfahren, Fertigkeiten, Kompetenzen, Schlüsselqualifikationen (formale Bildung), zweitens spezifische, oftmals kanonisierte oder als klassisch bezeichnete (Wissens-)Kenntnisse (materiale Bildung), drittens die Dialektik von Können und Wissen, Ich und Welt, Aneignung und Kritik (kategoriale Bildung), viertens ein lebenslanger, unabschließbarer, biographischer oder institutioneller Lernprozess (biographische oder institutionelle Bildung) und schließlich fünftens die Idee einer humanen, für alle lebenswerten Gesellschaft (utopische Bildung).

Sodann muss darauf hingewiesen werden, dass mit „Bildung“ im Kontext der sich etablierenden und saturierenden bürgerlichen Gesellschaft spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auch Statussignale und Distinktionssysteme verbunden sind. Die „Gebildeten“ verstehen sich als eigene, von anderen abgehobene und anderen überlegene Gruppe, die ihre eigenen Privilegien quasi von Natur aus mit dem Besitz von Bildung legitimiert. Bildung fungiert hier als soziale Abgrenzung. Und schließlich wird in den jüngeren Entwicklungen der Kommerzialisierung und Privatisierung der Bildungssysteme durch diverse Bildungsanbieter (Stichwort: Public Private Partnership) auch der Aspekt der Bildung als „Marke“ oder „Ware“ bedeutsam.

2 Historische Dimensionen

Das Wort Bildung, ahd. bildunga, mhd. bildunge, hat zunächst den Bedeutungsumfang von Bild, Ebenbild, Nachbild, Nachahmung; später kommen dann Gestalt, Gestaltung, Schöpfung und Verfertigung hinzu. Zunächst bezieht sich der Begriff auf die äußere Gestalt von Menschen, Tieren und Pflanzen; seit dem 18. Jahrhundert wird er in immer größer werdendem Umfang für deren innere Gestalt und die innere Formung verwendet. Bildung gilt als typisch deutsches Deutungsmuster, das in andere Sprachen nur unzureichend übersetzt werden kann (vgl. Bollenbeck 1996).

Während das Wort „Bildung“ seine pädagogische Karriere im 18. Jahrhundert beginnt, ist der Begriff wesentlich älter (vgl. Benner/Brüggen 2004). Historisch betrachtet hat der Begriff mehrere, mit der humanistischen Tradition des Abendlandes verbundene Wurzeln. Dabei steht in der Antike die Theorie und Reflexion von Bildung im Mittelpunkt, im Mittelalter die Wortgeschichte und in der Neuzeit die Modellgeschichte. Mit den jeweiligen Bildungsbegriffen gehen jeweils unterschiedliche anthropologische Bildungsideale und Leitbilder einher.

In der griechisch-hellenischen Antike wird unter dem Wort „plattein“ die Möglichkeit verstanden, die Seele analog dem Körper zu bilden. Der Ausdruck „paideia“, der nicht nur die Bedeutungsdimensionen von Bildung, Erziehung, Unterricht, Lehre und Züchtigung, sondern auch diejenigen von Wissenschaft, Geschmack, Kindheit und Jugend umfasst, verweist zum einen auf ein bestimmtes Wissen, einen Bildungskanon, zum anderen auf die Frage nach der Vermittlung und Lehrbarkeit und drittens auf die Frage nach den Anlagen bzw. der Bildsamkeit des Zöglings, kurz: auf den sog. Pädagogischen Ternar von Anlage, Übung und Belehrung. Der Begriff der „cultura animi“ stellt in der römischen Antike den Kernaspekt der Bildung dar. In Anlehnung an die agrarische Tätigkeit der Bodenkultivierung, der „cultura agri“, wird hier das Bild der Kultivierung des Geistes bzw. der Seele gebraucht. Der Inbegriff des Gebildeten wird für die Griechen durch den Begriff kalokagathia und für die Römer durch den des vir bonus benannt, die jeweils in einem engen Zusammenhang mit den Begriffen arete bzw. virtus stehen. Als Ziel menschlichen Lebens bezeichnen sie die vollkommene Übereinstimmung von Schönheit und Güte, die bestmögliche Verfassung des Menschen. In ihnen gehen das Soziale, das Ethische und das Ästhetische eine enge Verbindung ein.

Aus der jüdisch-christlichen Tradition stammt der an vielen Stellen des Alten wie des Neuen Testaments belegbare Zusammenhang der göttlichen mit der menschlichen Welt durch den Bildbegriff, etwa in der Vorstellung, dass Gott den Menschen „nach seinem Bild geschaffen habe“ (1 Mose 1, 26–27). Das hiermit verbundene Bildungsideal besteht darin, zum Ebenbild Gottes (imago dei) zu werden. Das bedeutete im spätmittelalterlich-mystischen Denken, sich von Menschlichem zu „entbilden“, damit man sich das Göttliche „ein-“ und „überbilden“ konnte. Bis ins 17. Jahrhundert hinein war Bildung als Versuch, Gottähnlichkeit durch die Wiederherstellung der einst als unschuldig geltenden menschlichen Natur zu erreichen, für die christliche Pädagogik das vorrangige Bildungsideal.

Mit dem Humanismus und der Renaissance setzte sich bereits ein neues, elitär-aristokratisches Bildungsideal durch, das den uomo universale, später den honnête homme oder den Gentleman in den Mittelpunkt rückte. Dieses Ideal zielte weniger auf eine moralische, politische oder religiöse, sondern vielmehr auf eine dezidiert kulturelle Bildung durch die Beschäftigung mit den Künsten. Dadurch wird der Gedanke des Individualismus gestärkt.

Im 17. Jahrhundert wird von Comenius eine Bildung (eruditio) eingefordert, die alle, alles, allumfassend belehrt: Alle Menschen sind Adressaten von Bildung, die wiederum alles menschliche Wissen in einer allumfassenden (= strukturierten) Form betrifft. Andererseits wird mit Leibniz und seiner Monadenlehre der Gedanke der Individualität endgültig im Bildungsdenken verankert.

Mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts wird dann mit den Philanthropen einerseits der bis heute gebräuchliche Kompetenz-Begriff von Bildung wichtig, der auf bestimmte, für die Gesellschaft bedeutsame utilitaristische Qualifikationen abhebt; andererseits wird, z. B. von Kant, der Mündigkeitsaspekt von Bildung betont, die die Menschen zur Vernunft und zur Moral führen soll. Während in ersterem (philanthropischen) Bildungsmodell betont wird, dass der Mensch sich zum Bürger zu bilden habe, so wird im zweiten darauf abgezielt, dass der Bürger sich zum Menschen bilden soll. Und wird im ersten Modell der Gedanke betont, dass das Leben bildet, so im zweiten, dass die Selbstbildung die entscheidende Grundlage für Bildungsprozesse darstellt.

In der Klassik und im Neuhumanismus wird bei Herder, Schiller und Humboldt, und literarisiert im klassischen Bildungsroman z. B. bei Goethe oder Moritz, das Wechselverhältnis von Ich und Welt zum zentralen Thema der Bildung. Bildung wird hier mit sprachlicher, kultureller, ästhetischer und philosophischer Bildung in Verbindung gebracht und gegen die praktische und technische Ausbildung abgegrenzt. Der Gebildete zeichnet sich vor allem durch seine sprachliche, historische und kosmopolitische Kultiviertheit aus.

In der Romantik dominiert – etwa bei Rousseau oder Fröbel – das Modell der Bildung als organische Entfaltung von natürlichen Anlagen. Bildung ist dabei stark kindzentriert, gegenwartsbezogen und gesteht jeder Entwicklungsstufe einen Eigenwert zu.

Bildungsmedien sind vor allem Spiele und künstlerische Betätigungen, die die unverwechselbaren Eigenheiten und die individuellen Entwicklungsprozesse am ehesten zur Geltung bringen können. Durch diese Form der Bildung sollen das Paradies der Kindheit erhalten und kindliche Potentiale gefördert werden.

Seit der Aufklärung ist Bildung schließlich auch mit einem Emanzipationsversprechen versehen, das einerseits darauf zielt, das (Bildungs-)Bürgertum als neue Klasse gegenüber den feudalen und klerikalen Kräften aus dem traditionellen Ständedenken freizusetzen und das andererseits in seiner marxistischen Variante auf die Bildung einer humanen Gesellschaft zielt, in der die Verhältnisse überwunden werden sollen, die die Menschen entmündigen und entwürdigen. Dafür steht als Bildungsideal auf der einen Seite der durch Kunst, Kultur und Wissenschaft gebildete Bildungsbürger, auf der anderen Seite die durch die polytechnische Bildung allseitig gebildete sozialistische Persönlichkeit.

Eine eindeutige Akzentuierung des Bildungsbegriffs im 20. Jahrhundert erscheint schwierig, auch wenn sich grosso modo im reformpädagogischen Diskurs starke Anklänge an die romantische Tradition der Bildung als Entfaltung, in der geisteswissenschaftlichen und kritischen Pädagogik die Traditionen der Aufklärung und des Neuhumanismus mit Bildung als Mündigkeit bzw. als Wechselwirkung von Ich und Welt und in der empirischen Erziehungswissenschaft die aufklärerisch-utilitaristische Akzentuierung von Bildung als Qualifikation wieder finden lassen.

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass das Ziel der älteren Modelle von Bildung darin bestand, den Menschen zu einem Bild von etwas Vorgegebenen zu machen (affirmative Theorie), während das der modernen Theorien darin zu sehen ist, den Menschen zu seinem Bild werden zu lassen (nicht affirmative Theorie).

3 Theoretische Konzepte

Im Folgenden sollen drei Modelle von Bildung vorgestellt werden, die für das moderne Bildungsdenken in der Pädagogik eine große Relevanz besitzen.

Der zentrale Gedanke von Wilhelm von Humboldt (1767–1835) zielt auf die Grundsätzlichkeit von Bildung: Bildung ist, so könnte man überspitzt formulieren, der Ursprung des Menschen. Nicht die spätere Berufstätigkeit, nicht das Sozialwerden, nicht die Enkulturation oder die Qualifizierung, nicht Erziehung oder Moralisierung, sondern Bildung ist konstitutiv wie regulativ für den Menschen. Diese grundlegende Menschenbildung ist die Basis seiner Schulpläne für Königsberg und Litauen. Bildung bedeutet (formal) die eigenen Kräfte möglichst weitreichend und harmonisch zu entfalten, damit der in der Menschheit angelegte innere Reichtum bei einer möglichst großen Zahl von Individuen so weit wie möglich realisiert wird. Die mit dieser Realisierung verbundene humanistische Würde lässt sich dadurch erlangen, dass man sich (materiell) am Vorbild des klassischen Griechentums orientiert, das sich nach Humboldt für alle Lebens- und Kulturbereiche geöffnet hatte. Für Bildung braucht es Freiheit und Mannigfaltigkeit der Eindrücke, die für Humboldt vor allem sprachlicher, kultureller und geselliger Natur sind. Bildung ist ein lebenslanger, nicht abschließbarer Prozess, der im Kontakt mit dem Anderen (Kultur, Sprache etc.) und in der Rückkehr zu sich selbst gewonnen wird: Der Mensch wird im Bildungsprozess gebildeter, weil er sich für die Welt aufgeschlossen hat, und auch die Welt wird gebildeter, weil sie für den Menschen aufgeschlossen wurde.

Wolfgang Klafki (geb. 1927) hat in seiner Rekonstruktion der Pädagogik der Aufklärung und des Neuhumanismus den Bildungsbegriff als Antwort auf die und als Chance für die mit der Moderne verbundenen Probleme konzipiert (Klafki 1996). In seiner Zusammenfassung des klassischen Bildungsgedankens, der humanistische, aufklärerische und kritische Potentiale enthält, werden folgende Grundelemente von Bildung identifiziert: Erstens die Befähigung des Individuums zu vernünftiger Selbstbestimmung in Lebensbeziehungen und Sinndimensionen, zweitens die Befähigung des Individuums zur vernünftigen Mitbestimmung, Partizipation und Verantwortung und drittens die Befähigung zur Solidarität, zum Eintreten für andere Menschen. Unter dem Blickwinkel der Allgemeinbildung erscheinen bei Klafki wiederum drei Aspekte, die schon von Comenius in ähnlicher Form bekannt sind: Erstens Bildung für alle als demokratisches Bürgerrecht der Selbstbestimmung, zweitens Bildung in allen Grunddimensionen menschlicher Fähigkeiten (kognitive, technische, emotionale etc.) im Sinne der freien Interessen- und Persönlichkeitsentfaltung und schließlich drittens Bildung im Medium des Allgemeinen als Aneignung von Frage- und Problemhorizonten, die als epochaltypische Schlüsselprobleme Gegenwart und Zukunft der Menschen zentral beeinflussen (Krieg, Frieden, Ökologie, Ökonomie etc.).

Hartmut von Hentig (geb. 1925) schließlich hat ein sehr eigenwilliges Konzept von Bildung vorgelegt, das er nicht – wie Klafki – in rekonstruktiver Manier erarbeitet hat, sondern das in reformpädagogischer Tradition der Kritik an Schulbildung der Frage nachgeht, welche Form von Bildung die Schule den Kindern und Jugendlichen heute vermitteln soll (vgl. Hentig 1999). Hentig benennt diesbezüglich sechs Maßstäbe: Erstens Abscheu und Abwehr von Unmenschlichkeit, zweitens die Wahrnehmung von Glück, drittens die Fähigkeit und den Willen, sich zu verständigen, viertens ein Bewusstsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz, fünftens Wachheit für letzte Fragen und sechstens die Bereitschaft zur Selbstverantwortung und zur Verantwortung in der res publica. Diese Bildungsmaßstäbe sollen Anlässe für Einsicht und Freude sein, die als Bildungsmedien die Selbstbildung der einzelnen Schüler ermöglichen sollen.

Ingesamt wird in dieser knappen Darstellung deutlich, dass der Bildungsbegriff immer auch eine kritische Funktion hat, die vielen seiner Ersatzbegriffe fehlt. Gleichwohl wird es in der Moderne aufgrund der Pluralität von Bildungsmodellen und ihren Begründungen zunehmend schwieriger, (formale und inhaltliche) Kriterien eines allgemeingültigen Bildungsbegriffs angeben zu können.

4 Empirische Befunde

Je mehr Bildung, wie in der Moderne, als politischer und sozialer Anspruch an den Einzelnen herangetragen wird, desto weniger wird Bildung als radikal individuelle, normative oder ideologische Figur verstanden werden können. Bildung als soziale Forderung muss dann durch (vor allem empirische) Bildungsforschung operationalisierbar und überprüfbar gemacht werden, damit das Bildungsminimum garantiert und die Lernfähigkeit kultiviert werden kann (vgl. Tenorth 1994). Hierbei spielen Bildungsstandards als Minimal-, Regel- oder Idealstandards eine entscheidende Rolle. Diese in Deutschland als Regelstandards konzipierten Normen können dann zu spezifischen Zeitpunkten im Bildungsgang (etwa nach der 4. und 9. Jahrgangsstufe der Schule) gemessen werden.

Die PISA-Studie stellt eine solche Überprüfung von Bildungsstandards im 9. Schuljahr dar (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001). Zwei für Deutschland wenig erfreuliche Ergebnisse bestanden darin, dass ein Viertel aller 15- oder 16-Jährigen mit sehr dürftigen Kompetenzen in Lesen und Mathematik die Schule verlässt und dass die soziale Schicht in hohem Maße mit dem Bildungserfolg korreliert. Zusammengefasst lautet der Befund, dass das deutsche Bildungssystem wenig integrierend und fördernd, dafür aber äußerst selektiv funktioniert.

Ungeachtet dieser ernüchternden Ergebnisse lässt sich eine Konzentration auf Bildung als einen Qualifizierungsbegriff feststellen, dessen Erhebung sich vor allem im Rahmen quantitativer Lernforschung mit standardisierten Leistungsmessungen vollzieht. Der hierin deutlich werdenden theoretischen Auffassung eines funktionalen, kompetenzorientierten Bildungsbegriffs korrespondiert eine Hinwendung der Forschung zu Output orientierten Bildungsauffassungen. Bildung wird in diesen Diskussionen häufig mit literacy gleichgesetzt. Mit Literalität wird vor allem auf die Fähigkeiten der Informationsgewinnung und -nutzung, die Teilhabe an schriftbasierten Kulturen, soziale, mediale und wissenschaftliche Lese- und Schriftpraxen, Möglichkeiten eines erfolgreichen persönlichen, ökonomischen und gesellschaftlichen Lebens, die Fähigkeiten zu logischem Denken, historischem Bewusstsein und kritischer Einschätzung sowie auf Voraussetzungen zur Weiterbildung und Entwicklung abgehoben.

In diesem Sinne wird insgesamt eine mit den PISA-Diskussionen verbundene Fixierung auf einen (angelsächsischen) qualifikationsrelevanten, wissenschaftsorientierten, funktionalistischen und produktorientierten Bildungsbegriff deutlich. Anders formuliert: Die PISA-Tests messen nur die Qualifikationsmerkmale von Bildung, die sie überprüfen können; allerdings lässt sich stark bezweifeln, ob mit den verwendeten überwiegend quantitativ-empirischen Verfahren spezifische, außerordentliche, reflexive oder konjunktive Bildungsprozesse in den Blick genommen werden können. Dienen doch die Bildungsstandards nicht primär der individuellen Leistungsmessung, sondern der Überprüfung der jeweiligen Bildungssysteme. Zudem bleibt die Unterstellung fraglich, ob die in diesen Tests in den Blick geratenden Bildungskompetenzen sowohl dem Umfang als auch der Nachhaltigkeit nach auf ein Leben in modernen Gesellschaften vorbereiten.

5 Aktuelle Problemlagen

Die sich an diese empirischen Studien (vor allem an TIMSS und PISA) anschließenden Debatten standen u.a. im Kontext der Frage nach struktureller Chancengleichheit bzw. nach Bildungsbenachteiligung im Bildungssystem. So ist nicht nur von Gutachtern der OECD, sondern auch von der EU und einer ganzen Reihe von deutschen Erziehungswissenschaftlern hervorgehoben worden, dass es für die Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung in Europa und speziell in Deutschland nicht nur bedeutsam sei, dass sie effektiv und effizient zu funktionieren hätten, sondern auch, dass sie die Chancengleichheit gewährleisten müssen, damit sich die sozialen Benachteiligungen im Bildungssystem nicht noch vergrößern. Damit die allgemeinen und beruflichen Systeme der Bildung die erforderliche Qualität erreichen, die zur Schaffung von mehr Wachstum, mehr Beschäftigung und mehr sozialer Kohäsion beiträgt, gelte es daher, diese Systeme u. a. auch gerechter zu gestalten (vgl. Liebau/Zirfas 2008).

War es in den 1960er Jahren das sprichwörtlich gewordene „katholische Arbeiter-Mädchen vom Lande“, das aufgrund seiner Konfession, seiner Schicht, seines Geschlechts und seiner Wohnlage zu den Bildungsbenachteiligten gehörte, so muss man heute von einer anderen negativen Bildungsfigur ausgehen: dem „Migrantensohn aus der bildungsfernen Familie in der Stadt“. Die Bildungsbenachteiligungen in sozialer, ökonomischer und kultureller Hinsicht gelten als Begrenzungen von Chancengleichheit. Über die Idee der Bildungschancengleichheit in Form von Startchancen, aber vor allem in Form von Aufstiegs- und Wettbewerbsmöglichkeiten wird wiederum das Selektionsrisiko erhöht und zugleich legitimiert. In einem gerechten Bildungssystem müssen aber alle gleich und alle ungleich behandelt werden, so dass Durchlässigkeit im System im umfassenden Sinne gewährleistet sein sollte.

Literatur

Benner, D./Brüggen, F. (2004): Bildsamkeit/Bildung. In: Benner, D./Oelkers, J. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim/Basel, 174–215

Bollenbeck, G. (1996): Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a. M.

Deutsches PISA-Konsortium (2001): PISA. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen

Hansmann, O./Marotzki, W. (Hrsg.) (1988/1989): Diskurs Bildungstheorie I: Systematische Markierungen; II: Problemgeschichtliche Orientierungen. Weinheim

Hentig, H. v. (1999): Bildung. Ein Essay. Weinheim/Basel

Humboldt, W. v. (41985): Bildung und Sprache. Hrsg. v. C. Menze. Paderborn

Klafki, W. (51996): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik. Weinheim/Basel

Langewand, A. (1994): Bildung. In: Lenzen, D. (Hrsg.): Erziehungswissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg, 69–98

Liebau, E./Zirfas, J. (Hrsg.) (2008): Ungerechtigkeit der Bildung – Bildung der Ungerechtigkeit. Opladen

Tenorth, H.-E. (1994): „Alle alles zu lehren“. Möglichkeiten und Perspektiven allgemeiner Bildung. Darmstadt

Erziehung

Roland Reichenbach

1 Reden über Erziehung

„Erziehung“ ist sicher der Kern- oder Grundbegriff der Erziehungswissenschaft, würde man meinen. Aber ist es überhaupt möglich, Erziehung wissenschaftlich zu untersuchen? Und ist das, was Erziehungswissenschaftler/innen vornehmlich tun, tatsächlich die wissenschaftliche Erforschung von Erziehung, d. h. die Erforschung von Erziehungsprozessen, Erziehungsmitteln und -zielen, Diskursen über Erziehung, Wirkungen von und Grenzen der Erziehung? Diese Fragen können kaum sinnvoll beantwortet werden, solange nicht geklärt ist, was denn „Erziehung“ sei. Sucht man aber nach konkreten Bestimmungen, welche menschlichen Tätigkeiten als erzieherisches Handeln auszuweisen wären, so zeigt sich, dass „Erziehung“ kein Beobachtungsbegriff darstellt. Dies bedeutet erstens, dass (pädagogisch einschlägiges oder interessierendes) soziales Handeln immer nur als Erziehung interpretiert oder rekonstruiert werden kann, und zweitens, dass die Rede über Erziehung im Grunde immer nur eine Rede über die Rede der Erziehung darstellt – und vielleicht „schlimmer“ noch –, dass nicht-metaphorisches Reden über Erziehung gar nicht möglich zu sein scheint. Israel Scheffler (1971/1960) vertrat noch die Ansicht, das Reden über Erziehung könne in drei Gruppen aufgeteilt werden, namentlich in Definitionen, Metaphern und Slogans, so dass nichtmetaphorisches Reden über Erziehung zwar unwahrscheinlich, aber doch nicht unmöglich sei. Aus sprachanalytischer Perspektive würde diese Möglichkeit heute noch kritischer eingeschätzt werden. In den Sozialwissenschaften wird gerne formuliert, es handele sich wie bei anderen Begriffen auch bei der „Erziehung“ um ein „Konstrukt“, d. h. Erziehung sei nicht direkt beobachtbar, wohl aber gäbe es beobachtbare, konkrete Verhaltensweisen, die als „Erziehung“ (= Konstrukt) betrachten werden können. Dazu müssten allerdings kognitive Konzepte beansprucht werden, die nicht aus der vorliegenden Wahrnehmung bzw. Situationsbeurteilung folgen („Das ist – gute, schlechte, eigenartige – Erziehung!“), sondern denselben vielmehr vorausgehen, sie strukturieren und ermöglichen helfen.

2 Was ist eine Erziehungssituation?

Man betrachte folgende sechs minimale Situationsbeschreibungen und frage sich, ob es sich hier jeweils um eine pädagogische Situation bzw. Erziehungssituation handele. Woran lässt sich dies erkennen? Welche Zusatzinformationen würden die Beantwortung dieser Frage aus welchen Gründen in der einen oder anderen Richtung erleichtern oder eindeutig machen?

  1. Die Lehrerin bittet Johann in der Pause, das Arbeitsblatt vom Boden aufzuheben.
  2. Die Mutter tröstet den kleinen Janusz, nachdem er sich beim Raufen mit anderen verletzt hat.
  3. Maria streitet mit ihren Eltern, welche darauf beharren, dass ihre Tochter noch vor Mitternacht wieder zu Hause sein müsse.
  4. In der Lehrerkonferenz wird beraten, ob Peter für die Versetzung zur nächst höheren Schule empfohlen werden soll.
  5. Der Vater streicht Johns Taschengeld für zwei Wochen, weil dieser wiederum sein Zimmer nicht aufgeräumt hat.
  6. Alice fragt sich, welchen Beruf sie ergreifen soll; sie merkt, dass Sängerin zu werden wohl „bloß“ ein „Mädchentraum“ ist.

Vielleicht ist es nicht unpassend, die relevanten Tätigkeiten in diesen Situationen in der (1) Aufforderung bzw. dem Bitten oder Appellieren, (2) der Fürsorge bzw. dem fürsorglichen Verhalten (Trösten), (3) dem Ver- oder Aushandeln, (4) der Beratung, (5) der Bestrafung und (6) der Selbstvergewisserung bzw. Selbsterkenntnis zu sehen. Nur, um das erste Beispiel aufzugreifen, wann oder inwiefern ist die Aufforderung, dieses Blatt vom Boden aufzuheben, pädagogisch bedeutungsvoll bzw. eine erzieherischere Handlung? Worauf kommt es an? Was ist, wenn Johann nicht sechs, sondern beispielsweise 18 Jahre alt ist? Ergibt sich dadurch eine Veränderung der Beurteilung? Macht es einen Unterschied, ob das Blatt Johann gehört oder jemandem anders? Ob es sich um eine schöne Zeichnung, ein wichtiges Arbeitsblatt handelt oder bloß um beschädigtes Notizpapier? Ob die Lehrerin will, dass dieses Blatt nicht auf dem Boden herum liegt, weil es beschädigt werden könnte oder einfach weil es stört? Ob sie meint, Johann mit ihrer Aufforderung beim Aufbau seines Sinnes für Ordnung zu helfen? Und wenn dies so wäre: muss sie diesen Glauben artikulieren, ihre Erwartung für Johann wahrnehmbar machen? Und muss Johann diese Intention verstehen? Und wenn er sie nicht verstehen würde, wäre es dann keine Erziehung? Und was wäre, wenn Johann kein Kind, sondern ein Mitarbeiter in einer Firma wäre, und sein Vorgesetzter die Bitte formulierte: „Johann, darf ich Sie bitten, dieses Blatt aufzuheben?“ Wäre dies auch Erziehung?

Wie jeder gesellschaftlich zentrale Begriff (z.B. Identität, Gerechtigkeit, Liebe) ist auch der Begriff der Erziehung strittig. „Strittig“ heißt nicht „schwammig“, sondern eben „strittig“ (!), d.h. man kann durchaus auf kohärente Weise über Fragen der Erziehung diskutieren, wiewohl man sich schließlich vielleicht dennoch nicht darüber einig wird, was nun Erziehung „wirklich“ und welches jetzt günstiges oder das richtige Erziehungshandeln sei. Zwar wird eine Definition von Hans Bokelmann zu Recht immer wieder neu zitiert. Danach ist Erziehung „dasjenige Handeln, in dem die Älteren (Erzieher) den Jüngeren (Edukanden) im Rahmen gewisser Lebensvorstellungen (Erziehungsnormen) und unter konkreten Umständen (Erziehungsbedingungen) sowie mit bestimmten Aufgaben (Erziehungsgehalten) und Maßnahmen (Erziehungsmethoden) in der Absicht einer Veränderung (Erziehungswirkungen) zur eigenen Lebensführung verhelfen, und zwar so, dass die Jüngeren das Handeln der Älteren als notwendigen Beistand für ihr eigenes Dasein erfahren, kritisch zu beurteilen und selbst fortzuführen lernen“ (Bokelmann 1970, 185). Nur, über nahezu jedes dieser Merkmale lässt es sich auf begründete Weise streiten. In demokratischen Gesellschaften hat auch die Wissenschaft nicht das letzte Wort bei der Bestimmung von Begriffen, aber die Wissenschaft hat die Aufgabe, Begriffe zu erhellen, vorzuschlagen und zu kritisieren. Dabei sind Unterscheidungen von fundamentaler Bedeutung. Eine traditions- und folgenreiche Unterscheidung ist in der deutschsprachigen Pädagogik jene zwischen intentionaler und funktionaler Erziehung.

3 Intentionale und funktionale Erziehung

Formal betrachtet kann Erziehung als soziales Handeln von Erwachsenen bestimmt werden, welches sich auf das Lernen im Allgemeinen bzw. auf dauerhafte Verhaltensveränderungen (Auf- und Abbau von Verhaltensdispositionen) und die Förderung von Handlungs- und Urteilsfähigkeit der heranwachsenden Generation im Besonderen richtet. Während der Handlungsbegriff intentionales und bewusstes menschliches Tun impliziert und Erziehung demzufolge meist als „intentionale“ Tätigkeit verstanden wird, bezieht sich die so genannte „funktionale“ Erziehung auf andere sozialisatorische Einflüsse, welche das Lernen und die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen in fast jeder Hinsicht (moralisch, politisch, religiös, ästhetisch …) prägen. Die Begrifflichkeit der „funktionalen Erziehung“ wurde von Ernst Krieck in „Philosophie der Erziehung“ (1930) eingeführt. Krieck mauserte sich später zu einem der zentralen pädagogischen Ideologen des nationalsozialistischen Regimes. Allerdings erörterte Krieck die Differenzierung zwischen funktionalen und intentionalen Aspekten der Erziehung noch in einem Werk, das sich grundlegenden pädagogischen Fragen stellte. Darin wird die erzieherische Wirkung auch der Gleichaltrigen und der sozialen Gemeinschaft, der Gruppen und Generationen hervorgehoben. Nicht allein die ältere Generation erziehe die jüngere, sondern die Tatsache, dass Menschen – unvermeidbar – Mitglieder von Generationen, Gruppen und Gemeinschaften sind, habe erzieherische Implikationen. Diese meist unbeabsichtigten Einflüsse auf das Lernen und die Entwicklung der Menschen werden heute vornehmlich sozialisationstheoretisch analysiert, wobei der Fokus eben nicht auf die intentionalen, präskriptiven, reflexiv begründeten und normativ legitimierten, sondern auf mehr oder weniger unbeabsichtigte Einwirkungen gerichtet wird. Mit der begrifflichen Differenz von intentionaler und funktionaler Erziehung bahnte sich an, was später die „realistische Wende“ in der pädagogischen Forschung heißen sollte (Roth 1962). So untersucht Sozialisationsforschung heute im pädagogischen Bereich kaum noch die konkreten Formen und Tätigkeiten des Erziehungsprozesses, sondern – wohl weil wissenschaftlich leichter, wenn auch immer noch nicht leicht zugänglich – familiäre, schulische und außerschulische Sozialisationsbedingungen, insbesondere auch in ihrem Wandel.

Interessant und bedeutsam ist nun die Frage, welche Wirkungsunterschiede wissenschaftlich belegt werden können: Ist die Wirkung von intentionalem Erziehungshandeln gegenüber den vielfältigen, Lebensphasen und Lebensbereiche übergreifenden Sozialisationseinflüssen nicht letztlich zu vernachlässigen? Oder sollte man davon ausgehen, dass das pädagogische Handeln sich gerade um die Verbesserung der Sozialisationsbedingungen bemühen sollte? Die Erwartung der Wirkung von intentionaler Erziehung mag von Ohnmachtsphantasien (Erziehung bewirkt letztlich nichts oder ihre Wirkungen sind sowieso nicht voraussagbar…) bis hin zu Allmachtsphantasien (der „neue“ und bessere Mensch kann willentlich geformt werden, die Menschheit kann als ganze durch Erziehung verbessert werden…) geprägt sein. Die Annahmen und Hoffnungen der Wirkung erzieherischen Handelns können sicher auch teilweise als Reaktionen auf die gesellschaftliche und politische Situation und wahrgenommenen Interventionsnotwendigkeiten und -möglichkeiten interpretiert werden. Als solche stehen sie mit der Erziehungswirklichkeit u. U. nicht in engem Kontakt. Giesecke hat in seinem Pamphlet „Das Ende der Erziehung“ (1985) beispielsweise die Thesen vertreten, dass man sich in der Erziehung nicht mehr um die Zukunft des Kindes kümmere, sondern zunehmend nur noch um seine gegenwärtigen Bedürfnisse, dass das Generationenverhältnis diffundieren bzw. verschwimmen würde, die dominanten Sozialisationserfahrungen vor allem gegenwartszentriert seien, d.h. sich vorwiegend auf Konsum und Freizeit bezögen, und die Erziehungswissenschaft schließlich nicht mehr Erziehungsprozesse, sondern allein noch Sozialisationsprozesse beschreiben bzw. untersuchen würde. Ein Vierteljahrhundert später bestätigen sich nicht alle, aber doch zentrale Aspekte der genannten Thesen. Dies wird u. a. im Diskurs über Kindheit und Jugend im Wandel deutlich (vgl. 6).

4 Erziehung im Kontext der sozio-kulturellen Entwicklung

Treml (1987) hat die Unterscheidung von funktionaler und intentionaler Erziehung in den Kontext der sozio-kulturellen Evolution gestellt und grob zwischen drei Phasen der Menschheitsgeschichte unterschieden: archaische Gesellschaften, Hochkulturen (seit ca. 5000 Jahren) und Moderne (seit 400–200 Jahren). Treml zufolge ist Erziehung in archaischen Gesellschaften primär als Imitation (Nachahmung/Sozialisation), also funktional zu verstehen. Die damalige Familienerziehung sei als Imitation und die Stammeserziehung als Initiation zu begreifen. Erziehung diente vorwiegend der Traditionsbewahrung. In Hochkulturen tritt zur funktionalen auch die intentionale Erziehung hinzu, d.h. die Erziehungskultur differenziert sich. So gibt es für kleine Minderheiten absichtvolles erzieherisches Handeln und auch planvollen Unterricht (beispielsweise für die Elite im alten Ägypten). Im Unterschied zu den segmentären Ordnungen archaischer Gesellschaften – in denen eine Vielfalt von gleichrangigen und gleichartigen „Segmenten“ (z. B. „Stämmen“, „Clans“) vorkommen, die aber als Gesamtgefüge nicht zentral organisiert sind – sind Gesellschaften in den Hochkulturen stärker stratifikatorisch geprägt, also von sozialen Schichtungen; die Erziehungspraxis zeigt sich dort für die obersten sozialen Schichten wesentlich differenzierter, bewusst und geplant, während nun das Lernen entsprechend nicht nur als mimetisch zu deuten ist. Mit der Moderne entsteht, um Treml in seiner groben Unterscheidung weiter zu folgen, das Ideal der intentionalen Erziehung für alle. Kulturelle Voraussetzung dazu ist u.a. die Entmoralisierung und Desakralisierung der Natur bzw. der „natürlichen Ordnung“ (der sozialen Unterschiede). Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch funktionale Differenzierungen aus; einerseits müssen und können nicht alle Gesellschaftsmitglieder alles lernen, andererseits macht die Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Systeme sowie die damit einhergehende Arbeitsteilung differenziertes schulisches Lernen nötig (a. a. O., 120). Das heißt aber natürlich nicht, dass der Einfluss der funktionalen Erziehung und anderer sozialisatorischer Einflüsse nun insgesamt geringer geworden wären.

Unabhängig von der Unterscheidung zwischen funktionalen und intentionalen Aspekten der Erziehung und ihren menschheitsgeschichtlichen Ausprägungsformen muss festgehalten werden, dass die Geschichte der Kindheit und Erziehung vor allem eindrücklich und erschütternd ist (vgl. Ariès 1977; de-Mause 1992; Tenorth 1988). Bei der Bewertung der – aus heutiger Sichtweise – dramatischen Behandlung und teilweise leider auch Misshandlung der Kinder muss aus menschheitsgeschichtlicher Perspektive mitbedacht werden, dass es bis vor wenigen Jahrhunderten die Ausnahme war, als Neugeborenes oder Kleinkind überhaupt einmal das Erwachsenenalter zu erreichen: die Großzahl der Menschen ist in den meisten bisherigen Epochen als Kind gestorben (vgl. Dekkers 2001). Die starke emotionale Bindung der Eltern an das Neugeborene und das aufwachsende Kind, die wir heute als normal und notwendig betrachten, ist insofern auch in der Funktion bestimmter kultureller Bedingungen zu sehen, und keineswegs bloss „natürlich“. Damit deutet sich an, dass wer über das „Wesen“ oder „Phänomen“ der Erziehung nachdenkt, womöglich besser bedient ist, von der Kultur der Erziehung statt von der Natur der Erziehung zu sprechen.

Der Anspruch einer universellen – d.h. kulturunabhängigen bzw.bzw.