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Globale Solidarität – Schritte zu einer neuen Weltkultur

 

Veröffentlichungen

des Forschungs- und Studienprojekts der

Rottendorf-Stiftung

an der Hochschule für Philosophie

Philosophische Fakultät S.J., München

 

Herausgegeben von

 

Norbert Brieskorn, München

Georges Enderle, Notre Dame/USA

Franz Magnis-Suseno, Jakarta

Johannes Müller, München

Franz Nuscheler, Duisburg

 

Band 24

Michael Reder
Mara-Daria Cojocaru (Hrsg.)

Zukunft der Demokratie

Ende einer Illusion oder Aufbruch zu neuen Formen?

Mit Beiträgen von Andreas Gösele, Annette Jünemann, Georg Lohmann, Wolfgang Merkel, Ursula Münch, Elif Özmen, Gary S. Schaal, Jörg Siegmund, Julia Simon, Timm Teubner, Christof Weinhardt

Verlag W. Kohlhammer

1. Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-025350-6

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-025351-3

epub:   ISBN 978-3-17-025352-0

mobi:   ISBN 978-3-17-025353-7

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Inhalt

  1.         Michael Reder/Mara-Daria Cojocaru
    Zukunft der Demokratie. Ende einer Illusion oder Aufbruch zu neuen Formen? Eine Einführung
  2.         Wolfgang Merkel
    Ist die Krise der Demokratie eine Erfindung?
  3.         Andreas Gösele SJ
    Metamorphosen. Demokratie angesichts der Herausforderungen der Globalisierung
  4.         Georg Lohmann
    Menschenrechte und transnationale Demokratisierungen. Überforderungen oder Erweiterungen der Demokratie?
  5.         Annette Jünemann/Julia Simon
    Dilemmata der Europäischen Demokratisierungspolitik. Zur Wiederentdeckung der Zivilgesellschaft in der EU-Mittelmeerpolitik nach den Arabellions
  6.         Christof Weinhardt/Timm Teubner
    Neue Räume der Demokratie? Möglichkeiten und Grenzen politischer Partizipation im Internet
  7.         Gary S. Schaal
    Die Zukunft der Demokratie. Ein pessimistischer Ausblick
  8.         Elif Özmen
    Zwischen Konsens und Dissens. Zeitgenössische politikphilosophische Perspektiven auf die Demokratie
  9.         Ursula Münch/Jörg Siegmund
    Vielfalt der Demokratie und innergesellschaftlicher Zusammenhalt
  10.         Autor/-innen und Herausgeber/-innen

Zukunft der Demokratie: Ende einer Illusion oder Aufbruch zu neuen Formen? Eine Einführung

Michael Reder/Mara-Daria Cojocaru

Das Paradigma der Demokratie als die bestmögliche Form von politischer Herrschaft erschien im 20. Jahrhundert alternativlos. Aktuelle politische, ökonomische und kulturelle Phänomene fordern jedoch die Demokratie sowohl als theoretisches Konzept als auch als politische Organisationsform heraus. Diese Herausforderungen sind dabei ganz unterschiedlicher Natur. Einige Beispiele aus innen- wie außenpolitischer Sicht seien genannt: Die Komplexität gesellschaftlicher Entwicklungen im Bereich des Gesundheitswesens, auf welche die Politik seit vielen Jahren keine überzeugende Antwort findet; das Phänomen der Wutbürger, die ihrer Enttäuschung über eigenmächtige oder bürokratische Entscheidungen – wie im Falle von großen Bauprojekten – in wütenden Demonstrationen Ausdruck verleihen; oder die langwierigen Bemühungen der Europäischen Union zur Bekämpfung der Finanzkrise, in denen der Einfluss des demokratischen Staates scheinbar ökonomischen Sachzwängen unterliegt; und schließlich das zunehmend deutliche Auseinanderfallen von Entscheidungsbefugten und von den Entscheidungen Betroffenen im Lichte globaler Problemstellungen.

Die Herausforderungen für die Demokratie sind so vielfältig, dass es wichtig erscheint, erneut über die theoretischen Grundlagen und praktisch-politischen Formen der Demokratie nachzudenken – und zwar aus interdisziplinärer Perspektive auf eine klare, übergeordnete philosophische Frage: Muss sich das Ideal der Demokratie angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen und Problemlagen als Illusion erweisen oder sind neue Formen von Demokratie geeignete Antworten auf die Transformationen gegenwärtiger Gesellschaften? Diesem Erkenntnisinteresse widmet sich der folgende Band. Dabei liegt es in der Natur des Untersuchungsgegenstands, der Demokratie, zugleich als normatives Prinzip und als Bezeichnung empirischer Regierungssysteme zu fungieren. Deswegen seien an dieser Stelle zunächst normative Kennzeichen der Demokratie im Lichte aktueller Entwicklungen erläutert, ergänzt und problematisiert; dem folgt eine kurze Übersicht darüber, wie sich die einzelnen Beiträge zu diesem Problemaufriss aus ihren jeweiligen Perspektiven verhalten.

1          Partizipation und Repräsentation als zentrale Merkmale moderner Demokratien

Wahlen sind in Demokratien oftmals das typische Instrument, mit dem alle Bürger gleichermaßen in den politischen Prozess eingebunden und damit das Politische zur Sache aller Beteiligten gemacht werden soll. Dabei gilt formale Gleichheit: Alle Menschen haben das gleiche Recht sich zu äußern und ihre Stimme abzugeben. Die Entscheidung, wie politische Fragen zu lösen sind, fällt deshalb die Mehrheit. Durch Wahlen wird die politische Beteiligung der Bürger in Demokratien ermöglicht. Gleichzeitig wird gegenwärtig auf unterschiedlichsten Ebenen angesichts komplexer gesellschaftlicher Prozesse diskutiert, ob eine Beteiligung der Bürger durch Wahlen ausreicht oder ob neue Formen der Partizipation notwendig sind.

Partizipation ist seit ihrem Beginn ein zentrales Kennzeichen von Demokratien; sie zielt auf eine transparente und faire Beteiligung aller Bürger an demokratischen Prozessen ab. Partizipation bezieht sich in demokratischen Gesellschaften dabei auf zwei Ebenen: auf den Prozess der öffentlichen Deliberation und die Beteiligung an Institutionen. Besonders die Beteiligung an der öffentlichen Meinungsbildung spielt heute eine wichtige Rolle. Dabei richtet sich Partizipation immer auf das gesellschaftliche Ganze, wie Volker Gerhardt in seinen Überlegungen zur Partizipation herausstreicht: „Die ausdrückliche Anteilnahme an einem gesellschaftlichen Ganzen, das man – als dieses Ganze – zu schaffen, zu erhalten, zu lenken oder zu ändern sucht und das man zu vertreten hat, ist Partizipation.“ (Gerhardt 2007: 472)

Im Kontext der öffentlichen Meinungsbildung spielen viele neue Formen der Partizipation eine wichtige Rolle. Dies zeigen Protestbewegungen wie die Occupy-Bewegung genauso wie die Proteste im Kontext des arabischen Frühlings. In modernen Gesellschaften entstehen, nicht zuletzt aufgrund vielfältiger technischer Entwicklungen, neue demokratisch relevante Räume und Formen. Ein zentraler Raum ist das Internet, der die Demokratie auf unterschiedlichen Ebenen herausfordert. Zum einen fördert das Internet neue Formen der politischen Äußerung und Beteiligung. Bürger können sich leichter informieren und politisch organisieren. Social Media, interaktive TV-Formate und hybride Kommunikationsformen transformieren politische Kommunikation. Politische Auseinandersetzungen werden vervielfältigt und weniger sachbezogen geführt. Damit verändert sich auch die Rolle des Politikers in demokratischen Prozessen.

Gleichzeitig setzt die Beteiligung an diesen Entwicklungen ein bestimmtes Bildungsniveau und ökonomische Verhältnisse voraus, um Zugang zu den entsprechenden Medien zu bekommen. Zum anderen zeigen Wikileaks und Anonymous auch, dass sich das Internet demokratischen Prozessen weitgehend entzieht. Diese Bewegungen verstehen sich einerseits als Motor für Transparenz und Kontrolle bestehender demokratischer Institutionen. Andererseits benutzen diese Gruppen Strategien, die sich dezidiert an den demokratischen Grenzen bewegen. Gerade angesichts der neuen (digitalen) Räume in modernen Gesellschaften ist deshalb zu fragen, ob und inwieweit sie eine transparente, faire und demokratisch orientierte Partizipation ermöglichen.

Partizipation wird in vielen modernen Demokratien durch Repräsentation gewährleistet. Moderne Demokratien verstehen sich deshalb meist als repräsentative Demokratien, was bedeutet, dass nicht immer alle Bürger an allen politischen Prozessen beteiligt sein müssen, sondern dass dies stellvertretend (gewählte) Vertreter tun. Repräsentation ist ein notwendiges Kernprinzip für die Demokratien – sicherlich auch in der Zukunft. Denn mit diesem Prinzip wird gewährleistet, dass jeder Bürger mit seiner Meinung gleichermaßen im politischen System vertreten sein kann. Wahlen sind in Demokratien das zentrale Instrument, Repräsentation in institutioneller Hinsicht zu legitimieren. Darüber hinaus geht es aber auch um Repräsentation in politischen Ämtern oder Institutionen. Auch wenn Repräsentation als ein Kernprinzip der Demokratie gilt, sollten die Formen der Repräsentation jedoch immer wieder neu überprüft und weiter entwickelt werden. Dabei geht es vor allem um die Repräsentation bisher benachteiligter oder nicht vertretener Gruppen.

Ein Beispiel sind zukünftige Generationen, die im Kontext der Debatte über eine nachhaltige Klimapolitik eine wichtige Rolle spielen. Der Klimawandel gilt weithin als eine enorme Herausforderung für demokratische Gesellschaften, weil er nicht nur die lebenden Bürger betrifft, sondern eben vor allem auch die zukünftigen Generationen. In deliberativen Prozessen werden gegenwärtig deren Interessen immer häufiger stellvertretend artikuliert, beispielsweise wenn NGOs sich in die Debatte einschalten. Politisch betrachtet sind die Antworten auf die Herausforderungen des Klimawandels jedoch eher unbefriedigend, was sich an den nach wie vor steigenden CO2 Emissionen ablesen lässt. Dies liegt unter anderem daran, dass eine angemessene Repräsentation der zukünftigen Generationen im politischen System fehlt.

In einigen Ländern wie Ungarn, Israel oder Neuseeland gab bzw. gibt es mittlerweile Ombudsmänner, die diese Repräsentation zukünftiger Generationen im politischen System übernehmen. Auch in der UNO wird gegenwärtig über ähnliche Institutionen nachgedacht. Dies kann auch ein Impuls für die politische Debatte in Deutschland sein. Dabei könnte auch schon eine neue Rhetorik die Perspektive wechseln, wenn beispielsweise nicht mehr vom Umweltministerium, sondern vom Ministerium für Umwelt und zukünftige Generationen gesprochen werden würde. Auch dies sind Formen einer zwar schwachen, aber doch symbolträchtigen Repräsentation im politischen System. Ein weiteres, zunehmend prominent diskutiertes Problemfeld zeitgemäßer politischer Repräsentation im Zusammenhang mit neuen normativen Sensibilitäten erwächst aus der Debatte um die Beziehungen und Verhältnisse von Menschen und Tieren (vgl. Kymlicka/Donaldson 2013). Neben den schon etliche Zeit kontrovers diskutierten tierethischen und -philosophischen Problemen – wie der Frage nach (generellen) Tierrechten oder nach der Übertragbarkeit des Personenstatus auf (bestimmte) Tiere – ist noch längst nicht abzusehen, wie sich diese und weitere Probleme auf unser Verständnis des Politischen auswirken werden und ob, beispielsweise vor dem Hintergrund analoger Konzepte von Bürgerschaft aus den Disability Studies, Repräsentation auf eine deutlich komplexere Art zu verstehen ist.

Natürlich sind mit entsprechenden Forderung nach weiterer Repräsentation im politischen System auch einige demokratietheoretische Probleme verbunden. Wie können Menschen, die noch nicht leben, oder Lebewesen, deren Interessen sich gleichfalls nur schwer bestimmen lassen, Teil politischer Institutionen und damit auch gegenwärtiger politischer Entscheidungen sein? Wer soll diese Gruppen repräsentieren und würde eine solche Institution oder Person nicht wieder ihre Eigeninteressen vertreten? Dies sind berechtigte Einwände, die aber nicht darüber hinwegtäuschen sollten, dass neue Formen von Repräsentation notwendig sind, um angemessene und demokratisch strukturierte Antworten auf die komplexen und drängenden Probleme der Zeit zu finden – und das heißt auch, Demokratie nicht als bloßes Spiel von Eigeninteressen misszuverstehen, sondern als eine Praxis, die auf ein Gut ausgerichtet ist.

Auf ein letztes Problem im Kontext repräsentativer Demokratien sei hingewiesen und dieses betrifft das Verhältnis von Wissenschaft und Politik. Die Demokratie wurde oft auch als diejenige Regierungsform aufgefasst, in der es gelingen kann zu den auch aus wissenschaftlicher Perspektive besten Lösungen für gesellschaftliche Probleme zu finden (vgl. Misak 2000; Anderson 2006).

Politische Probleme sind heute allerdings oftmals hoch komplex, weswegen die Politik zur Expertokratie neigt. Dies wird in ganz unterschiedlichen Politikfeldern deutlich – angefangen von der Gesundheits- über die Finanz- bis hin zur Außenpolitik. Es besteht gegenwärtig die Gefahr einer Expertokratie, weil politische Entscheidungen scheinbar nur noch als Expertenentscheidungen getroffen werden können. Das für politische Entscheidungen notwendige Wissen wird immer komplexer und entzieht sich dem Verständnis des Bürgers, so dass man von einer Aushöhlung des Partizipationsprozesses sprechen kann und nicht klar ist, wie Selbstbestimmung unter diesen Bedingungen gehaltvoll möglich ist.

Gleichzeitig gibt es auch Politikfelder, in denen bereits differenziertes Fachwissen zur Verfügung steht, das gerade aus Sicht der Zivilgesellschaft eine sinnvolle Orientierung für Politik sein könnte. So ist es richtig und wünschenswert, dass beispielsweise Klimapolitik nicht ohne entsprechende wissenschaftliche Expertise gemacht wird; alles andere erscheint kurzsichtig und wenig effektiv. Der Weltklimarat (IPCC) als ein Zusammenschluss der weltweit führenden Wissenschaftlerinnen in diesem Gebiet ist ein gutes Beispiel hierfür. Faktisch werden in der Politik diese Erkenntnisse allerdings aufgrund von jedenfalls aus der Perspektive weiter Teile der Bevölkerung falsch verstandenen politischen Eigeninteressen (wie der Sorge um die Wiederwahl) zu wenig umgesetzt. Die Politik sollte dort, wo sie selbst nicht genügend Fachwissen hat, die Wissenschaft an politischen Prozessen beteiligen.

Klar ist bei alledem, dass Expertenwissen nicht identisch mit Politik ist. Wissenschaft kann nur Hintergründe aufdecken, Reflexionsräume eröffnen und verschiedene Handlungsoptionen darstellen. Die Entscheidungsmacht sollte bei der Politik bleiben, auch wenn dies manchmal mit langen Klärungs- und Entscheidungsprozessen verbunden ist. Für die Politik sollten Wissenschaftler nur eine Art honest broker – wie Roger Pielke (2011) sagt – sein, die Reflexionen über die Implikationen politischer Strategien der öffentlichen Deliberation zur Verfügung stellen.

2          Demokratie im globalen Kontext: Die Frage nach dem Selbstverständnis demokratischer Staatlichkeit

Besonders deutlich werden die Herausforderungen für die Demokratie mit Blick auf die zunehmende globale Verflechtung demokratischer Staaten. Dies führt insbesondere zu einer Transformation der inneren und äußeren Souveränität (vgl. Reder 2006). Bezüglich der inneren Souveränität scheint die Volkssouveränität oftmals unter Berufung auf ökonomische Notwendigkeit eingeschränkt. Ökonomische Verflechtungen erzeugen Druck auf innerstaatliche demokratische Entscheidungen, der oft nur wenige politische Wege offen lässt. Die Ökonomisierung droht damit die demokratische Souveränität einzuschränken. Gleichzeitig ist im Entstehen neuer Protestbewegungen auch eine gegenläufige Entwicklung zu sehen, die durch ein vehementes Einfordern von Partizipation gekennzeichnet ist.

Die zunehmende Supranationalisiserung und wirtschaftliche wie politische Interdependenz der Staaten hat weitere Konsequenzen für das Verständnis von Demokratie, v.a. was ihre äußere Souveränität betrifft. Eine Kernfrage ist hierbei, inwiefern der Nationalstaat weiter als Grundlage für die Organisation von politischer Herrschaft geeignet ist. So zeigte sich etwa in der jüngsten Griechenlandkrise, dass der Nationalstaat inzwischen teilweise damit überfordert ist, Probleme zu bewältigen, die sich aus der komplexen globalen Interdependenz ergeben. Andere globale Herausforderungen, wie z.B. die Klimafolgen, sind Anzeichen dafür, dass globale Formen der Kooperation notwendig sind.

All diese Phänomene diagnostizieren Politikwissenschaftler heute als einen mehr oder weniger schleichenden Formwandel des Staates. Der demokratisch legitimierte, souveräne Staat ist nach wie vor einer der zentralen Akteure im globalen Geschehen, aber er ist mehr und mehr eingebunden in ein komplexes Geflecht wechselseitiger Interaktionen und Verpflichtungen. Globale Probleme können deshalb heute

„nur noch in verflochtenen Mehrebenensystemen bearbeitet werden, in denen Nationalstaaten zwar eine wichtige Scharnierrolle übernehmen, jedoch Handlungskapazitäten und Aufgaben ‚nach oben‘ (inter- und supranationale Ebene) und ‚nach unten‘ (lokale und regionale Politik innerhalb der Gesellschaften) abgegeben werden“ (Messner 2002: 9).

Durch diese Abgabe von Handlungskapazitäten muss auch das Verständnis moderner demokratischer Staatlichkeit neu bestimmt werden. In diesem Zusammenhang wird in den vergangenen Jahren immer wieder betont, dass der demokratisch legitimierte Staat nach wie vor eine legale Souveränität (im Sinn von Gesetzgebungskompetenz) besitzt, globale Dynamik allerdings operationale Souveränität (im Sinn von operativer Politikgestaltung) in interner wie externer Hinsicht verändert hat. Hinsichtlich der externen Souveränität ist dabei insbesondere die Anerkennung der Staaten durch andere Staaten bzw. andere globale Akteure heute nicht mehr automatisch gegeben (vgl. Zürn 1998: 329ff.). Staaten werden immer stärker rechenschaftspflichtig und damit deren externe Souveränität vor dem Hintergrund ihres internationalen Handelns von unterschiedlichen Akteuren je neu zugestanden. Diese internationale Anerkennung wird teils durch politische Institutionen (wie z.B. IWF, UN-Sicherheitsrat usw.), teils durch nicht-staatliche Akteure (wie z.B. NGOs oder Rating-Agenturen) geleistet. Durch diesen, sich ständig neu vollziehenden Anerkennungsprozess

„unterliegen die Nationalstaaten externen Legitimationskontrollen und Prozessen der Anerkennung und Aberkennung von Legitimation, welche das klassische Konzept der Souveränität der Nationalstaaten unterlaufen“ (Messner 2002: 13).

Aber auch intern transformiert sich staatliche Souveränität, v.a. haben die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten fünfzig Jahre zu einer Einschränkung hierarchischer Steuerungsmöglichkeiten geführt und stattdessen netzwerkartige Formen politischer Steuerung entstehen lassen. Mit der Entwicklung einer an die netzwerkartigen Strukturen angepassten politischen Steuerung transformiert sich auch das Verständnis des demokratisch legitimierten Staates. Ein Staat erweist sich als souverän, indem er seine neuen Aufgaben als „Interdependenz- und Schnittstellenmanager“, als „Systemintegrator“ oder Moderator komplexer „Interessenkonstellationen“ (Messner 1998: 28) erfüllt.

Die genannten Transformationen von interner und externer Souveränität sind dabei insgesamt nicht eindeutig voneinander zu trennen, denn globale Interdependenzen führen dazu, „dass nationale und ‚externe‘ Strukturen sich überkreuzen, ineinanderschieben, vermischen und damit die klare Trennung zwischen Innen und Außen erodiert“ (Messner 2002: 16). Sowohl das Gewaltmonopol als auch das Monopol auf Steuer- und Abgabenerhebung ist beispielsweise nicht mehr aus dem globalen Kontext herauszulösen. Sowohl durch die Veränderungen der externen als auch der internen Souveränität muss also das, was den demokratischen Staat heute ausmacht, neu gefasst werden. Postnationale Staatlichkeit „ist in diesem Sinne ausfransende Staatlichkeit. Staatlichkeit zerfasert.“ (Zürn 2001: 17)

Demokratien verändern sich also im Zeitalter der Globalisierung massiv. Sie stehen vor der Herausforderung, sich den veränderten Souveränitätsbedingungen zu stellen und einen Diskurs über ihr Verständnis demokratischer Souveränität zu beginnen. Dabei muss auch eine offene Diskussion über Souveränitätsverzichte geführt werden, was an den Kernbestand von Demokratien führt. Der Druck zu Kooperation angesichts drängender globaler Probleme

„verlangt Souveränitätsverzichte, die Globalisierungseffekte längst schon erzwungen haben. Auch die Großmächte müssen sich, um kooperationsfähig zu werden, mit ‚geteilten Souveränitäten‘ abfinden, die aber […] keinen Verlust, sondern einen Zugewinn an Handlungs- und Problemlösungsfähigkeit und weltpolitischem Gewicht bewirken können.“ (Messner/Nuscheler 2000: 176)

Solche neuen Kooperationen aufzubauen, ist eine immense Herausforderung für Demokratien, denn sie bedeuten eine Neuorientierung der Handlungsmacht des demokratischen Staates. Das, was unter demokratischer Macht verstanden wird, gilt es in diesem Kontext neu zu definieren, denn

„Macht basiert im 21. Jahrhundert nicht mehr auf der Beherrschung großer Territorien und nur sekundär auf Gewaltandrohung oder der Höhe des Rüstungsetats, sondern primär auf der strategischen, organisatorischen, wissensbasierten und auf gemeinsame Problemlösung ausgerichteten Kompetenz, komplexe Interaktionen zu steuern, Kooperationen zu organisieren und durch Strukturbildung die Richtung des Wandels aktiv und zielorientiert (mit) zu gestalten.“ (Messner 2001: 29)

Reallokation von Macht bedeutet, dass die politische Macht in Demokratien teilweise auf andere Ebenen delegiert, mit anderen Akteuren geteilt und aufgrund der komplexen Vernetzungen neu organisiert werden muss. Damit sind in erster Linie organisatorische Probleme angesprochen, die einen Einfluss darauf haben mögen, wie wir, empirisch, Formen politischer Praxis (noch) als demokratisch klassifizieren. Prekär an dieser Situation ist allerdings, dass diesem globalen Staatsversagen eine Art globales Sprachversagen korrespondiert, da es nicht mehr problemlos möglich erscheint, die Idee der Demokratie zu verteidigen und auf einen Begriff zu bringen.

3          Menschenrechte und Demokratiebewegungen

Insbesondere die globale Dimension der gegenwärtigen Frage nach Demokratie ist in normativer Hinsicht eng mit der Frage nach Menschentrechten verbunden. Denn diese spielen im gegenwärtigen Diskurs über eine (demokratisch orientierte) Gestaltung der Weltgesellschaft eine zentrale Rolle. Sie sind sowohl in politischer als auch juristischer und ethischer Hinsicht ein bedeutender Rahmen, innerhalb dem versucht wird, globale Herausforderungen zu bearbeiten (vgl. exemplarisch Pollmann/Lohmann 2012.). Menschenrechte haben deshalb nicht nur bei massiven Menschenrechtsverletzungen durch Unrechtsregime eine wichtige politische und völkerrechtliche Funktion, sondern auch in vielen anderen Kontexten. Im gegenwärtigen Post-Millennium-Development-Goal-Prozess wird beispielsweise genauso auf Menschenrechte Bezug genommen wie in der Debatte über die Folgen des Klimawandels bzw. hinsichtlich einer Verknüpfung von Klima- und Entwicklungspolitik (vgl. Reder 2012) oder in der Frage nach einer Verantwortung transnationaler Unternehmen für ihr globales Handeln (vgl. Reder 2013).

In dieser Perspektive erscheinen die Menschenrechte einerseits als eine Fortführung des Ideals der Demokratie auf globaler Ebene, das die Würde jedes einzelnen Bürgers und eine faire politische Ordnung anvisiert. Die vielfältigen globalen Konflikte zeigen jedoch deutlich die Kehrseite der Menschenrechte: Wenn Menschenrechte mit militärischer Gewalt durchgesetzt oder mit ökonomischen Druck erzwungen werden, spricht dies im Kern gegen die Idee der Menschenrechte – und damit auch gegen das Selbstverständnis der Demokratie. Dieses Verhältnis von Menschenrechte und Demokratie intensiver zu diskutieren und je neu in politischen Prozessen zu justieren ist deshalb ein wichtiges Element der gegenwärtigen Demokratiedebatte.

Schließlich werfen auch die Umbrüche in der arabischen Welt neue Fragen für unser Verständnis von Demokratie auf. Beriefen sich die Proteste zwar stets auf Konzepte wie Freiheit und Selbstbestimmung, so ist unklar, ob die sich formierenden Systeme noch dem entsprechen, was als Demokratie westlicher Prägung gilt. Insbesondere das Verhältnis von Religion und Demokratie, das sich in unterschiedlichen kulturellen Kontexten je neu darstellt, gilt es dabei zu reflektieren. Welche Rolle soll Religion zukünftig in Demokratien zukommen und welche demokratischen Formen sind hierfür philosophisch denkbar? In diesem Zusammenhang geht es um die Pluralität von demokratischen Praktiken. Denn nur allzu schnell wird gerade in globalen Diskursen heute ein bestimmtes westliches Modell von Demokratie verabsolutiert, wie man beispielsweise mit Blick auf Ägypten sehen kann. Damit wird aber der Demokratie ihr eigener Boden entzogen. Denn die Demokratie ist immer auf die spezifische Vielfalt der religiösen und kulturellen Praktiken der jeweiligen Gesellschaften verwiesen. Diese gilt es ernst zu nehmen, sie philosophisch zu artikulieren und zur Diskussion zu stellen und auf dieser Basis eine je spezifische Form menschlichen Zusammenlebens zu entwickeln. Daran schließt sich demokratietheoretisch auch die Frage an, ob es eine Art Kernbestand der Demokratie gibt und wieweit kulturelle Umsetzungen von Demokratie (wie beispielsweise in der Einbindung religiöser Überzeugungen in demokratische Prozesse) von diesem Kernbestand abweichen dürfen.

4          Über die Zukunft der Demokratie

Schon dieser beileibe nicht vollständige Überblick über klassische Kennzeichen der Demokratie im Lichte zeitgenössischer Herausforderungen und Entwicklungen zeigt, dass eine Klärung des Demokratiebegriffs heute auf eine Vielzahl verschiedener Disziplinen zurückgreifen sollte, gerade auch um die ihm inhärente Spannung zwischen seinem normativen Gehalt und seiner Funktion in der Praxis besser reflektieren zu können. Dabei bietet es sich an, diese Reflexion an weit verbreiteten Meinungen und Zuspitzungen von politischen Urteilen ansetzen zu lassen, die beispielsweise die genannten Phänomene primär als Ausdruck einer Krise der westlichen Kultur als Ganzer sehen. Die Frage nach einer solchen Krise auch der Demokratie verweist notwendig auf die Reflexion dessen, was sich in der Krise befindet, und damit realiter gleichermaßen auf die Idealvorstellungen von Demokratie wie auf die Praktiken, innerhalb derer jene wiederum bestehen und entstehen. Ein solch dialektisches Vorgehen erlaubt es, weitere Bereiche, über die oftmals atemberaubend schnell globale Urteile im politischen Diskurs gefällt werden, konstruktiv zu erörtern: sei es, was die Chancen globalen Regierens, sei es, was das rechte Verständnis von Menschenrechten, was die Möglichkeit des Demokratie-Exports, oder die Verheißungen des Internets anbelangt; dabei wird es auf der Metaebene auch notwendig, die Frage nach Idealen und Transformationsmöglichkeiten, und nach dem Politischen hinsichtlich seines Modus und seines Verhältnisses zu gesellschaftlicher Vielfalt zu stellen. Vielleicht kann sich ja Demokratie als eine gehaltvolle politische Praxis nur dann bewähren, wenn sie ihr normatives Profil immer wieder in der Auseinandersetzung mit Herausforderungen wie den benannten bewährt. Die Ergebnisse des Rottendorf-Symposions 2013 und die in diesem Band versammelten Beiträge dazu legen dies jedenfalls nahe.

Aus politikwissenschaftlicher Perspektive (vgl. Merkel in diesem Band) scheint es beispielsweise angezeigt, klarzustellen, dass eine latente Krisenwahrnehmung schon seit über 2000 Jahren in vielfältiger Weise die Demokratie begleitet. Damit ist jede seriöse Politikwissenschaft angesichts des gesellschaftlichen Wunsches, „die Demokratie an und für sich“ angesichts von Krisenbefunden bewertet und eingeordnet zu sehen, vor eine gewisse Herausforderung gestellt. Wollte man im Kontext der reiferen Demokratien der OECD-Welt drei Arten von Demokratiebegriffen unterscheiden – nämlich die minimalistischen, denen es im Kern um allgemeine, freie und gleiche Wahlen geht, die maximalistischen, die auf Narrativen der sozialen Gerechtigkeit, der Bürgerschaft, der Verfahren, und der Institutionen aufbauen, und die moderaten Synthesen – so ergibt sich, dass Krisenbefunde umso häufiger sind, je maximalistischer der zugrundeliegende Begriff ist. Für die normative Politische Philosophie mag dies unbefriedigend bleiben, aber es gilt, dass Krisen, die noch nicht die Wahlen selbst infrage stellen, die Vertreter von auf Input orientierten, elektoralen Demokratiebegriffen unberührt ließen. Der Krisenbegriff selbst sei darüber hinaus nicht festgelegt darin, ob er auf akute, lebensbedrohliche Phänomene verweist oder auf ein diffuses Unbehagen darüber, dass gewisse Versprechungen schlicht nicht erfüllt worden sind. Bemüht man sich dennoch um eine empirische Messung der Demokratie-Qualität, sowohl mittels objektiver Einschätzungen seitens Experten wie subjektiver seitens der Bürger demokratischer Staaten selbst, so würden die – einem, bei näherem Hinsehen zweifelhaften, Goldenen Zeitalter nachtrauernden – Krisenbefunde eher in Zweifel gezogen; jedenfalls gelte dies für Europa über die letzten 40 Jahre. In der differenzierteren Analyse empirischer Entwicklungen muss allerdings beunruhigen, dass das Vertrauen in Verwaltung, Polizei, Justiz oder auch Zentralbanken beispielsweise größer zu sein scheint, als in Kerninstitutionen der repräsentativen Demokratie, wie Parteien. Diese Legitimitätsverschiebung, zusammen mit einem merklichen Rückgang der Wahlbeteiligung, hin zu einer Exekutivorientierung, ist deswegen als ein durchaus erhebliches Problem zu verstehen, da sie eine generelle innere Aushöhlung und zudem eine soziale Selektivität zu Ungunsten der Unterschichten anzuzeigen scheint. Darüber hinaus sei, gegeben die konzeptuelle Unterbestimmtheit von Demokratie im Kontext Europas, die zunehmende Transnationalisierung sicherlich nicht als Krisenphänomen zu werten – es ist, in Ermangelung tragfähiger Formen demokratischen Regierens im Mehrebenensystem, allerdings nicht zu erwarten, dass sich Probleme, die nicht mehr in die Zuständigkeit eines Staates alleine fallen, auf einfache Weise „demokratischer“ lösen lassen.

Wenn es nun seit längster Zeit die Prärogative der Philosophie gewesen ist, auch angesichts drastischer Problemlagen oder mutmaßlich zwingender Systemlogiken, die Tür zum Raum der Möglichkeiten aufzuhalten, so lässt sich der genannten Skepsis gegenüber maximalistisch operierenden, das heißt normativ anspruchsvollen Demokratiebegriffen aus dieser Warte etwas entgegnen (vgl. Gösele in diesem Band). Dabei ist es nicht nur möglich, den globalen Herausforderungen der Demokratie, aufbauend auf den Arbeiten von John Rawls, eine dezidiert idealistische internationale Perspektive zum Schutz demokratischer Ordnungen entgegenzuhalten, sondern auch nach ihren Verwirklichungsbedingungen zu fragen. Globalisierung und Demokratie würden typischerweise zwar nicht als sich harmonisch zueinander verhaltende Ordnungssysteme begriffen: Das Auseinanderfallen von Entscheidenden und von den Entscheidungen Betroffenen, insbesondere mit Blick auf externe Effekte wie der globale Klimawandel, die erhöhte Regelungsdichte auch durch die Zunahme von internationalen Organisationen (die überwiegend selbst nicht demokratisch verfasst oder legitimiert sind), sowie das Auftreten genuin neuer Akteure, wie insbesondere transnationale Unternehmen (deren Wirtschaftskraft bisweilen die kleiner Staaten übertrifft), werden zunehmend als konfliktträchtig interpretiert. Was die internationalen Organisationen anbelangt, so sei aber nicht deren interne demokratische Verfasstheit wichtig, sondern, ob sie zur Förderung von Demokratie in den Mitgliedstaaten beitrügen – was je nach Organisationsgenese allerdings fraglich sei. Auch ist zu fragen, ob sie ihre anderen Zwecke erfüllen, was beispielsweise im Falle der Klimarahmenkonvention in Zweifel zu ziehen ist. Auf die entsprechenden Probleme könne nun, anstelle der weithin gescheuten Vorstellung einer Weltregierung, die so genannte global governance nur reagieren, wenn klar wird, weshalb ein Geflecht von Akteursgruppen – welches ja auch innerstaatlich gegeben aber nicht zur vollen politischen Verantwortungsübernahme in der Lage ist – international eben dies leisten können sollte. Gerade der Trend zur Forderung nach Marktkonformität parlamentarischer Gestaltung aufgrund des zunehmenden Standortwettbewerbs muss dabei bedenklich stimmen. Man mag prima facie skeptisch sein, dass utopisch anmutende Träume vom demokratisch föderalen Weltstaat für die Zukunft der Demokratie wegweisend sein sollten. Da jedoch, realistisch besehen, das Netz der externen Effekte ebenso dicht wie weltumspannend geworden ist, müsste die Lösung der damit verbundenen Probleme in einem die ganze Welt vereinenden demokratischen Staat durchaus zu sehen sein. Der Angst vor dem potentiell despotischen und fragilen Charakter eines solchen Systems ließe sich beispielsweise mit Verweis auf die ja schon existierenden, zum Teil technisch bedingten Möglichkeiten begegnen, sowohl über gravierende Unterschiede hinweg ein Gefühl globaler Zusammengehörigkeit zu entwickeln, als auch Gesellschaft rechtlich zu organisieren. Gegeben, dass die Bevölkerungszahlen von Staaten wie Indien oder den USA weltbevölkerungsrelevante Größen zu Zeiten der kantischen Skepsis gewesen wären, sei der mit Kant klassisch gewordene, a priori Einwand gegen die in jeder Hinsicht unmögliche Figur des Weltstaats jedenfalls zu überdenken – vorausgesetzt man denkt Demokratie konsequent im liberalen Paradigma von Freiheit und Gleichheit.

Die wie schon angesprochen nicht unproblematische Rolle von Menschenrechten im Zuge von transnationalen Demokratisierungsbewegungen erfordert eine philosophische Perspektive wiederum gerade insofern, als die Menschenrechte oft als normativer Konsens der Weltgemeinschaft verstanden werden (vgl. Lohmann in diesem Band). Vor dem Hintergrund des Universalismus der Menschenrechte – welcher fordert, dass Menschen weltweit nicht nur Träger von Menschenrechten, sondern auch Autoren ihrer Rechte sind – ist die Demokratie als politische Ordnung impliziert. Um der Dynamik gesellschaftlicher Entwicklungen gerecht zu werden, sei es wichtig, Menschenrechte als historische Erfindungen zu verstehen, nicht etwa als Entdeckungen; dies erlaube, die Absolutheit der Menschenrechtsforderung im Kontext der entstehenden Spannungen neu auszuleuchten. Auch wenn Menschenrechte den Anspruch erheben, moralisch begründbar zu sein, müssen sie von einem dafür legitimierten Gesetzgeber gesetzt werden. Moralische Begründungen und politische Entscheidungen sind insofern nicht analog zu verstehen. Der qualitative Universalismus gerate also in Spannung mit dem notwendigen Partikularismus der Rechtsetzung, welcher daraus erwachse, dass zum Zwecke der Selbstregierung ein Wir, das gerade nicht die Bürger qua Menschen meint, vorausgesetzt werden muss. Insbesondere mit der Situation nach dem Zweiten Weltkrieg verändere sich die Funktionslogik der Menschenrechtsforderungen, insofern sie 1948, in der AEMR, nicht mehr zugleich konstitutiv für staatliche Ordnungen sind, sondern über diese – wie auch immer wirkungsvoll – hinausweisen. Ein diese Dynamik begrifflich begleitendes echtes Novum ist im Begriff der ‚Menschenwürde‘ zu sehen, der beispielsweise im deutschen Grundgesetz die Menschenrechte überhaupt erst begründet. Die klassischen, moralischen Würdebegriffe implizieren Pflichten: gegen andere, gegen sich; sie sind vielleicht mit Privilegien verbunden, nicht aber mit dem Haben von Rechten. Der neue Begriff der Menschenwürde ist dagegen mit einem Rechtsbegriff verbunden, der auf politische Ordnungen zugreift. Deswegen muss die Frage, ob es das, was es aus der Sicht eines moralischen Verständnisses der Menschenrechte geben sollte – nämlich die Demokratisierung transnationaler Prozesse – auch wirklich geben soll, als eine politische, rechtliche und vor allem ethische begriffen werden. Denn aus der Perspektive des Rechts müsse spezifiziert werden, was die Mitgliedschaft in der Rechtsgemeinschaft ausmacht, beispielsweise mit Blick auf politische Partizipationsmöglichkeiten. Die Diskussion dieser Spezifizierungen im Lichte der Forderungen der Menschenrechte ist dabei auf eine konstruktive Meinungs- und Willensbildung angewiesen – gleichwohl sind die Möglichkeiten entsprechend auf der globalen Ebene zu agieren noch nicht hinreichend gegeben; insofern gilt es, neue Formen der Demokratie durchaus im Rahmen eines globalen Mehrebenensystems zu denken, in dem der Mensch als Staats- und als Weltbürger das Recht auf politische Selbstbestimmung hat, und für welches der Begriff der Menschenwürde eine ethische, nicht moralische, Perspektive darstelle, deren genaue Ausbuchstabierung in Werten Gegenstand des Politischen ist. In dieser Perspektive müssen Menschenrechte damit immer auch als erkämpfte Rechte verstanden werden.

Von dem Spannungsfeld zwischen politischen Akteuren, universalen Geltungsansprüchen und normativer Selbstbestimmung lässt sich damit in philosophischer Absicht produktiv abstrahieren; es lässt sich aber auch aus historischen Einzelbetrachtungen lernen: am Beispiel der ambivalenten Demokratisierungsrhetorik und des Scheiterns europäischer Regionalpolitik in der jüngsten Vergangenheit (vgl. Jünemann/Simon in diesem Band). Trotz der langen und engen Beziehungen der europäischen Staaten muss aus politikwissenschaftlicher Perspektive festgestellt werden, dass die europäischen Akteure von den Entwicklungen des Arabischen Frühlings vollkommen überrascht worden sind, und man sich das normative und realpolitische Versagen bei der Demokratieförderung habe eingestehen müssen. Noch ohne die realen Fähigkeiten der EU (oder auch anderer Akteure), „Demokratie zu fördern“, zu problematisieren, lautet der Befund genau besehen, dass diese Förderung vor allem an einem ebenso profunden wie paradoxen Unwillen gekrankt, Demokratie tatsächlich zu fördern. Die Haltung der EU zu diesem Ziel kann offenbar