Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

die Inklusion von Menschen mit Körperbehinderung verstehe ich als ein selbstverständliches Einbeziehen behinderter Menschen in die Gesellschaft – und zwar von Beginn an. Spätestens mit Inkrafttreten des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung ist klar: Für alle Menschen mit Behinderung, selbstverständlich auch für körperbehinderte Menschen, muss die Möglichkeit geschaffen werden, eine allgemeine Schule zu besuchen oder auf dem ersten Arbeitsmarkt beschäftigt zu sein. Wir müssen eine inklusive Gesellschaft für alle Menschen gestalten. Dafür müssen die individuellen Voraussetzungen – so wie sie der Einzelne benötigt – in den einzelnen gesellschaftlichen Bereichen, der Bildung und Ausbildung, dem Arbeitsmarkt, dem Wohn- und Arbeitsumfeld und in der Freizeit, geschaffen werden. Denn Barrieren sind gerade für Menschen mit Körperbehinderung ein wesentlicher Grund dafür, dass sie sich ausgeschlossen fühlen und in ihrem täglichen Leben beeinträchtigt werden. Diese Barrieren reichen von nicht abgesenkten Bordsteinkanten und fehlenden Aufzügen an Bahnhöfen für gehbehinderte Menschen bis zu fehlenden Licht- beziehungsweise Lautsignalen für Menschen mit Hör- bzw. Sehbehinderung. Neben diesen baulichen Barrieren beeinträchtigen aber vor allem die Barrieren in den Köpfen vieler Menschen. Der selbstverständliche Kontakt zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen ist in Deutschland immer noch die Ausnahme. Dies fängt in der Schule an, wo nur etwa 15 % der Kinder mit einem sogenannten „sonderpädagogischen Förderbedarf“ allgemeine Schulen besuchen, und setzt sich fort in vielen Sondereinrichtungen im Ausbildungs- und Berufsleben. Die Barrieren in den Köpfen können nur beseitigt werden, wenn Menschen mit und ohne Behinderung von Anfang an, das heißt schon im Kindergarten und in der Schule, zusammen aufwachsen. Erst dann wird der Umgang miteinander auch im Erwachsenenalter selbstverständlicher und ist nicht von gegenseitigen Vorurteilen geprägt. Mein Anliegen ist es, die getrennten Welten von behinderten und nicht behinderten Menschen abzuschaffen und dem Übereinkommen der Vereinten Nationen entsprechend ein selbstverständliches Miteinander zu erreichen. Wer Inklusion will, sucht Wege, wer sie verhindern will, sucht Gründe.

„Nichts über uns, ohne uns“ ist der Ansatz, der sowohl für die Politik für Menschen mit Behinderungen als auch für die Fachwissenschaft gelten sollte. Deshalb gefällt mir das Konzept dieses Werkes, auch Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderungen als Experten in eigener Sache zu Wort kommen zu lassen.

Ihr

Hubert Hüppe
Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen

Einleitung

Die Idee für das vorliegende Buch entstand auf der jährlichen Tagung der Lehrenden der Körperbehindertenpädagogik 2008 in Würzburg. D.h. dort entstand die Idee, die Diskussion innerhalb der Körperbehindertenpädagogik vertiefen zu wollen: Ein Buch zu einer aktuellen Fragestellung oder sogar eine Buchreihe mit der Möglichkeit, unterschiedliche Erfahrungen und wissenschaftliche Positionen zusammenzuführen und auf diese Weise notwendige Diskussionen öffentlich zu führen bzw. zu ermöglichen. Es war zunächst nur eine Idee, von der keiner wirklich glaubte, dass wir sie realisieren würden. Wir hatten noch nicht so eng miteinander gearbeitet, wohnen und arbeiten an unterschiedlichen Orten mit weiten Entfernungen – würde das klappen? Der Wunsch war jedoch stärker als die Bedenken. Also gab es ein erstes Treffen, an dem aber noch nicht das Thema Inklusion reifte. Beim zweiten Treffen war es dann möglich, das Thema so weit zu konkretisieren.

Eine Frage, die immer wieder diskutiert wurde und uns bis zum Schluss beschäftigte, lautete:

„Ist es legitim, ein Buch zur Inklusion aus nur einer Diversitätsperspektive zu schreiben?“

„Wir können dieses Buch nicht schreiben!“

„Klar, können wir das!“

„Was legitimiert das denn? Der Gedanke der Inklusion will doch gerade diese Unterschiede und Stigmatisierungen nicht mehr in den Vordergrund stellen. Widersprechen wir da nicht dem Grundgedanken der Inklusion, wenn wir Unterschiede machen?“

„Genau! Es geht doch um Lebensbedingungen, die allen Menschen in ihrer Einmaligkeit gerecht werden. Die Fokussierung auf eine Menschengruppe stigmatisiert!“

„Nein! Sie würde dann stigmatisieren, wenn wir sie isoliert betrachten. Aber nicht, wenn wir die besonderen Bedürfnisse fokussieren und für die Inklusionsdiskussion zugängig machen!“

Diese Diskussion führten wir im Entstehungsprozess des Buches in unterschiedlichen Facetten immer wieder und stellten fest, dass die zentrale Frage nicht endgültig beantwortbar ist. Wir haben uns entschlossen, dieses Buch zur Inklusion aus der Perspektive der Körperbehindertenpädagogik zu schreiben: Mit einem grundlegenden systemischen Ansatz und mit der Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse von körper- und mehrfachgeschädigten Menschen in Theorie und Praxis leisten wir in dem vorgegebenen begrenzten Rahmen einen Beitrag zur Inklusion, der Verschiedenheiten nicht bewerten und kategorisieren, sondern sie unter Beachtung ihrer Individualitäten zusammenführen soll.

So sind die Oberkapitel mit „Grundlegungen, Lebensphasen, Lebensthemen, Gesundheitsversorgung und Barrierefreiheit“ allgemein ausgerichtet, um in den Unterkapiteln die Vielfalt der möglichen Bedürfnisse von körper- und mehrfachgeschädigten Menschen im Rahmen von Inklusion zu berücksichtigen und zu diskutieren. Jedes Unterkapitel besteht aus Theorie- und Praxisbeiträgen. Inklusion ist nur in der Verzahnung von Theorie und Praxis zu denken.

Wir merkten selber und hörten es auch immer wieder von den Autorinnen und Autoren dieses Buches, wie schwer es teilweise fiel, Körperbehinderung inklusiv zu denken bzw. Inklusion im Rahmen von Körperbehinderung zu verorten. Dies war zum einen in obiger Fragestellung begründet, zeigte sich zum anderen in dem Wunsch, die für die Inklusion hinderlichen, allerdings fest installierten, unterschiedlichen Systeme aus dem Weg zu räumen: Wie viel Inklusion ist gesellschaftlich und politisch gewollt? Auch wenn die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention Anlass zur Hoffnung für die Akzeptanz von Verschiedenheiten gibt, so wird der Weg der Veränderung lang und mühsam sein.

Dieses Buch wird mit seinen Beiträgen aus Theorie und Praxis aktuelle Lebensproblematiken benennen und entsprechende Perspektiven der Inklusion aufzeigen: Menschen mit und ohne Körper- und Mehrfachbehinderungen in einem inklusiven, gesellschaftlichen System!

Unser herzlicher Dank gilt Dorothee Kienle und Judith Amrath für ihre umfassende Hilfe bei der Korrektur des Buches.

Sven Jennessen

Reinhard Lelgemann

Barbara Ortland

Martina Schlüter

Landau, Würzburg, Münster, Köln im Juli 2010

3 Inklusion und Körperbehinderung im internationalen Vergleich

Juliane Quandt

3.1 Zur aktuellen Situation

Die Sonderpädagogik beschäftigt sich derzeit länderübergreifend vor allem mit der verstärkten Forderung nach Inklusion. Dies auch, weil die Vergleichbarkeit der verschiedenen Ist-Stände von Inklusion in den vergangenen Jahren durch die Globalisierung an Bedeutung gewonnen hat.

Die im Dezember 2006 am Sitz der Vereinten Nationen in New York verabschiedete UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen betont die Bedeutung der internationalen Zusammenarbeit für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen mit Behinderungen in allen Ländern.

Seit März 2009 ist die UN-Konvention in Deutschland ratifiziert und somit geltendes Recht. Als 50. Vertragspartei hat sich Deutschland verpflichtet, die UN-Konvention umzusetzen. Diese formuliert das Recht auf Selbstbestimmung und Partizipation und fordert einen umfassenden Diskriminierungsschutz für Menschen mit Behinderungen. Sie hat eine barrierefreie und inklusive Gesellschaft zum Ziel. Die Verpflichtung zur Inklusion setzt also voraus, dass das gesellschaftliche System in den Fokus genommen wird, nicht der Mensch mit Behinderung. Diese geforderte Neustrukturierung gesellschaftlicher Zusammenhänge kann als Kerngedanke auf dem Weg zu Inklusion gesehen werden.

Da die Bildungspolitik einen zentralen Punkt in der UN-Konvention ausmacht, soll in diesem Beitrag von Ländern ausgegangen werden, die im Bereich der schulischen Inklusion als Vorreiter gelten. Zu diesen Pionierstaaten zählen unter anderem Schweden, Italien, Finnland, die USA und Großbritannien. Eine Untersuchung der European Agency for Development in Special Needs Education (vgl. European Agency) aus dem Jahr 2003 erlaubt, die Länder hinsichtlich Inklusion in drei Gruppen zu untergliedern. Aus jeder Gruppe wird im Folgenden exemplarisch ein Vertreterland vorgestellt: Schweden als Land mit einem Einheitsschulsystem (one-track-approach) und Großbritannien als Vertreter des Kombinationssystems (multi-track-approach). Diese werden mit dem aktuellen deutschen dualen Schulsystem (two-track-approach) verglichen.

Ausgehend vom Bildungsbereich werden weitere zentrale Lebensbereiche wie Wohnen und Arbeiten in Schweden, Großbritannien und Deutschland beleuchtet.

3.2 Schweden

Hintergründe

Die Behindertenhilfe in Schweden ist grundlegend im schwedischen Wohlfahrtssystem verankert. Aselmeier (2008, 142 f.) beschreibt den Grundgedanken des Systems, der in der gesellschaftlichen Vorstellung einer demokratischen und solidarischen Gesellschaft, die ihren Mitgliedern nach dem Motto „Wohlfahrt für alle“ gleiche Chancen einräumt und die damit einhergehenden Kosten gemeinsam trägt, besteht. Die dauerhafte Betreuung behinderter Menschen in zentralisierten Sondereinrichtungen würde diesem Grundgedanken widersprechen und ist daher in Schweden gesetzlich untersagt. Das Wohlfahrtsverständnis sieht die Einbeziehung aller Bevölkerungsgruppen in eine solidarische Gemeinschaft als zentral an.

Tøssebro, Aalto und Brusén (1996, 47) gliedern die geschichtliche Entwicklung der Behindertenhilfe in Schweden in drei Phasen. Als Meilenstein für die erste Phase nennen sie die erstmalige Formulierung des Normalisierungsgedankens im Jahr 1946. Dies führte dazu, dass sich in Schweden bereits in den 1950er und 1960er Jahren Alternativen zum bis dahin gängigen Anstaltswesen etablierten. Die zweite Phase zwischen 1970 und etwa 1985 kann unter dem Titel De-Institutionalisierung zusammengefasst werden. Mitte der 1980er Jahre wurde das Gesetz zu Sozialen Diensten eingeführt und die Verantwortlichkeit dafür wurde auf die Kommunen übertragen. Die Ziele der sozialen Tätigkeit der Kommunen sind im Gesetz über die sozialen Dienste festgelegt. Dieses Rahmengesetz gibt den Kommunen das Recht, ihre Dienste entsprechend den jeweiligen lokalen Bedürfnissen und Erfordernissen zu gestalten. Mit diesem Schritt begann die dritte Phase: Anstalten wurden zugunsten der Gemeinwesenorientierung verschiedener Unterstützungsleistungen (professionelle Hilfen bzw. Familien und informelle soziale Netzwerke) aufgelöst. Im Jahr 1997 wurde im lag om avveckling av specialsjukhus och vårdhem (Gesetz zur Auflösung von Sonderinstitutionen) (vgl. https://lagen.nu/1997:724) der 31. 12. 1999 als endgültiger Termin zur Schließung der letzten großen Sonderwohneinrichtungen festgesetzt. Laut ForSeA (Forum selbstbestimmte Assistenz) gibt es aktuell nur noch 170 von ehemals 11000 Heimplätzen.

Wohnen

Seit diesem Datum werden in Schweden nur noch folgende wohnbezogene Unterstützungsformen öffentlich finanziert: Wohngruppen, die in gewöhnlichen Wohngebieten angesiedelt sind und dort je nach Bedarf bis zu 24 Stunden am Tag personelle Unterstützung erhalten; Serviceunterbringungen, wobei die Bewohner in fünf bis zehn Wohnungen über ein größeres Gebiet verteilt leben und personelle Unterstützung in geringerem Umfang erhalten; sowie die Persönliche Assistenz, die in der eigenen Wohnung bzw. im eigenen Umfeld angeboten wird (vgl. Rizzi 2006, 9). Die Persönliche Assistenz ist neben anderen Leistungen wie der Familienentlastung für Eltern behinderter Kinder, dem Wohnen mit besonderem Service oder der Kurzzeitunterbringung im seit 1994 bestehenden lag om stöd och service till vissa funktionshindrade –kurzLSS (Gesetz über Hilfs- und Dienstleistungen für Schwerbehinderte) – festgelegt.

Die genannten Wohnformen zeigen den fortgeschrittenen Stand der schwedischen Inklusion. Das gesellschaftliche Umfeld hat sich auf die Bedürfnisse behinderter Menschen eingestellt und ihnen so die Teilhabe an der Gemeinschaft eröffnet. Die Unterstützungsformen im Bereich Wohnen gehen vom Umfeld aus und richten sich an das Individuum – nicht das Individuum muss nach geeigneten (Sonder-)Wohnformen suchen und sich ihnen anpassen. Eine Neustrukturierung gesellschaftlicher Zusammenhänge ist hier bereits im Gange.

Als vorläufiges Fazit bleibt festzuhalten, dass es in Schweden in den vergangenen 60 Jahren eine Entwicklung „[...] der Dienstleistungen [...] von Isolation zu Teilhabe in der Gesellschaft und von uniformen Dienstleistungsmodellen zu individualisierter Unterstützung im Wohnbereich“ (Lerman 2000, 5) gegeben hat. „Die Enthospitalisierungsentwicklungen in Schweden [haben] nachhaltig bewiesen [...], dass ein Leben in offenen, gemeindenahen Wohnformen für Menschen mit den verschiedensten, auch den schwersten Behinderungen nicht nur möglich ist, sondern deutlich mehr Lebensqualität verspricht.“ (Theunissen/Lingg, 1999, 103).

Gerade die Festlegung von Hilfs- und Dienstleistungen mittels Gesetz stellt bezogen auf Inklusion einen revolutionären Schritt dar: Das LSS ist ein ausgesprochenes Grundrecht. Jeder Bürger hat somit das Recht auf Wohnen in der Gesellschaft.

Inga S. (alle Namen geändert) ist 28 Jahre alt und wohnt seit sieben Jahren in einer Zweizimmerwohnung in der Universitätsstadt Örebro. Inga benötigt aufgrund ihrer Behinderung rund um die Uhr Betreuung: Sie hat eine Tetraplegie, ist hochgradig sehbehindert und kommuniziert nonverbal. Trotz ihrer schweren Behinderung lebt Inga ein selbstbestimmtes Leben – sechs persönliche Assistenten stehen ihr zur Seite. Oft ist es so, dass Familienangehörige Assistenten sind, bei Inga ist eine Tante eine Assistentin. Inga hat sie ausgewählt, weil diese sie bereits von Geburt an kennt und die beiden ein sehr gutes Verhältnis haben. 20 Assistenzstunden bekommt Inga wöchentlich von der Kommune gezahlt, den Rest finanziert die staatliche Sozialversicherung.

Wie Inga werden rund 10 000 Menschen in Schweden persönlich betreut. Ihnen stehen zwischen vier und zehn Assistenten zur Seite. Ein solcher gesetzlicher Anspruch auf persönliche Assistenz hat vielen Menschen auch mit schweren Behinderungen zu selbstbestimmtem Wohnen verholfen.

Bildungspolitik

Bildungspolitisch, im Hinblick auf Inklusion von Schülerinnen und Schülern2 mit sonderpädagogischem Förderbedarf gesehen, zählt Schweden zu den Ländern mit einem one-track-approach. Diese Länder verfolgen das Ziel, alle Schüler in der Regelschule zu unterrichten. Das Ziel soll mittels eines breit gefächerten Angebots an (sonderpädagogischen) Unterstützungsdiensten für die Regelschule realisiert werden.

In Schweden wird diese Unterstützung von einer an der Schule beschäftigten Sonderschullehrkraft und persönlichen Assistenten geleistet. Für die Bereitstellung und Finanzierung dieser Unterstützung sind die Gemeinden zuständig. Zu betonen ist hierbei, dass Menschen mit Behinderungen in Schweden auch im schulischen Bereich einen Rechtsanspruch auf adäquate Unterstützungsleistungen haben: Im Schulgesetz und im Lehrplan ist die besondere Verantwortung der Schule, den Schülern angemessene Hilfe und Unterstützung zukommen zu lassen, geregelt. Dies gilt für ganz unterschiedliche Förderungsformen, die unter anderem verschiedene technische Hilfsmittel oder Schülerassistenten zur Unterstützung körperbehinderter Schüler umfassen. In Schweden gibt es außerdem für „schwer mobilitätsbehinderte Schüler, die nach dem Gesetz ein Anrecht auf einen entsprechend angepassten Ausbildungsplatz mit individueller Hilfe“ haben (vgl. Swedish Institute 2000), an vier Orten besondere staatliche Schulen im Rahmen der allgemeinen Gymnasialschule.

Die große Mehrheit der Schüler mit einer Körperbehinderung besucht die allgemeine grund-skola und bekommt dort die Unterstützung, die sie benötigt. Schwer betroffene Schüler haben das Recht auf speziell angepasste Unterrichtsformen. Voraussetzung dafür ist, dass es die körperliche Behinderung selbst oder die Kombination mit anderen Funktionsbeeinträchtigungen unmöglich machen, dem regulären Unterricht zu folgen. Diese Schüler werden häufig in sonderpädagogischen Fördergruppen unterrichtet, die an Regelschulen untergebracht sind. Die meisten etwas größeren Gesamtschulen verfügen über diese sogenannten Rh-Klassen. „Rh“ ist die Abkürzung für „Rörelsehinder“, was übersetzt „körperbehindert“ heißt. Die Klassen werden von einem Team von Lehrern, Therapeuten sowie Klassen- und Schülerassistenten angeleitet und unterstützt. Einerseits können die Schüler in diesem Rahmen speziellen, individuell an sie angepassten Unterricht bekommen, andererseits haben sie die Möglichkeit, für einzelne Stunden oder Fächer eine Regelschulklasse zu besuchen (Josefsson 2002, 24 f).

Sollte dies aufgrund der Behinderung nicht möglich sein, können Schüler auch zu Hause unterrichtet werden. Durch Maßnahmen wie dem behindertengerechten Neubau aller Schulen und Kindergärten und der Unterstützung durch persönliche Assistenten scheint das Ziel der Inklusion im Bildungsbereich sehr nahe gerückt zu sein.

Sonderpädagogische Förderung ist in Schweden ein maßgeblicher Bestandteil der regulären Lehrerausbildung. Zusätzlich können Lehramtsstudenten in Schweden spezielle vertiefende Kurse wählen. Im Aufbaustudium werden praktische Kompetenzen für die Unterrichtsarbeit mit Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf und Strategien für Förderlehrkräfte vermittelt. An den schwedischen Universitäten gibt es nicht wie in Deutschland spezielle Ausbildungen in den verschiedenen sonderpädagogischen Fachrichtungen. Daher sind auch die schwedischen Sonderpädagogen in Klassen mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung allgemein für Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf ausgebildet. Berufsbegleitende Weiterbildung ist für alle Lehrkräfte Pflicht und umfasst auch sonderpädagogische Elemente.

Wie bereits erwähnt, besucht in Schweden ein Großteil der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine Regelschule. Fraglich ist jedoch, ob deswegen automatisch von Inklusion gesprochen werden kann. Inklusion bedeutet mehr als nur die „fysisk placering“, also die rein physische Einordnung eines Kindes in ein bestimmtes, vorgegebenes Umfeld (Nilholm 2006, 8 und 31). Neben Schule, Unterricht und Lehrkräften sind es andere, informellere Situationen und Gegebenheiten – etwa Pausensituationen oder außerschulische Freizeitaktivitäten –, in denen sich das Kind dazugehörig und akzeptiert fühlen muss (ebd., 34). In der schwedischen Inklusionsdebatte wird der Inklusionsbegriff als Kritik an der traditionellen Sonderpädagogik diskutiert (ebd., 22). Der Begriff „Inklusion“ stellt dabei an sich schon die Diskussionsgrundlage: Ab wann spricht wer von gelungener Inklusion? (vgl. ebd., 26f.). Die Sonderpädagogik steht angesichts der aktuellen Inklusionsdebatte vor einem pädagogischen Dilemma: „Man ska ge alla barn ‚samma sak‘ samtidigt som man måste anpassa sig till barns olikheter“3 (ebd., 37).

In der aktuellen Literatur (vgl. Haug, Kriwet, Nilholm und Weiß) werden Entwicklungen und Tendenzen hinsichtlich der Inklusion in Schweden kontrovers diskutiert. Haug bewertet die Entwicklung eher in Richtung einer Ausweitung der getrennten anstatt einer inklusiven Beschulung (1998, 24). Nilholm hingegen weist darauf hin, dass es schwierig sei, eine steigende oder fallende Tendenz für oder gegen Inklusion zu beobachten, auch wenn das politische Interesse um die Frage der Inklusion immer mehr in den Mittelpunkt der Debatte rücke (2006, 47). Weiß (2009) und Kriwet (2006) sprechen ebenfalls von zunehmender Differenzierung bzw. von einer „segregierenden Integrationspraxis“. Als ausschlaggebend für diese Einschätzung bezeichnet Weiß den steigenden Wettbewerb, der sich bis auf die Schulebene auswirke (2009).

Trotz der Salamanca-Deklaration und der UN-Konvention geht die Tendenz in schwedischen Schulen demnach eher in Richtung segregativer Beschulung; sprich: in speziellen Sonderschulen bzw. in dünn besiedelten Gebieten Schwedens integriert in Regelschulklassen mit speziellem Förderunterricht außerhalb der Klassengemeinschaft. Festzuhalten bleibt, dass Schüler mit Förderbedarf im Schwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung in Schweden in verschiedenen Einrichtungen unterrichtet werden. Dies liegt nicht zuletzt an der Größe des Landes und der daran gemessen sehr niedrigen Bevölkerungszahl. So gibt es keine Schule für alle, in der nach allen möglichen Lehrplänen unterrichtet wird. Vielmehr werden die Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich körperliche und motorische Entwicklung auf die Regel- und Sonderschulen verteilt, in denen sie dem Unterricht am besten folgen können.

Der neunjährige Niklas S. ist aufgrund einer ICP auch geistig behindert. Er besucht eine grundskola in der Nähe von Halmstad. Innerhalb der Schule findet Niklas’ Unterricht in einer Klasse des Sonderschulzweigs (särskolan träningsklass) statt. Niklas wird hier zusammen mit vier weiteren Schülern mit Behinderung nach dem gleichen Lehrplan, dem LPO 94, unterrichtet wie alle anderen Schüler der Schule. Der Lehrplan wurde jedoch individuell auf ihn zugeschnitten: Die Lernbereiche Kommunikation, Kunst, Motorik, alltägliche Aktivitäten und Wahrnehmung der Wirklichkeit nehmen für ihn einen deutlich höheren Stellenwert ein als für viele seiner Mitschüler. Gemeinsam mit Eltern, Lehrern und Assistenten wurde für Niklas außerdem ein individueller Förderplan erstellt, in dem kurz- und langfristige Entwicklungsziele festgehalten sind. Im Unterricht steht Niklas stets ein persönlicher Assistent zur Seite.

3.3 Großbritannien

Hintergründe

Großbritannien bietet auf den ersten Blick nicht unbedingt einen fruchtbaren Boden für inklusive Ansätze. Durch das Prinzip der freien Marktwirtschaft sind im liberalen Wohlfahrtsstaat auf den britischen Inseln Konkurrenzdenken, Selbstverantwortung und das Streben nach hohen akademischen Standards eher der Fall als das Suchen nach neuen Wegen für ein toleranteres Miteinander. Dennoch – oder gerade deshalb – ist das Thema Inklusion in Großbritannien Gegenstand der öffentlichen Diskussion.

Als Meilenstein auf dem Weg zu einem inklusiven Großbritannien kann der bereits 1995 erlassene Disability Discrimination Act (DDA) gesehen werden. Dieser verfolgt das Ziel, die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung zu ermöglichen und zu fördern. Der DDA wurde 2005 umfassend revidiert und durch zwei weitere wichtige Erlasse ergänzt: dem Equality Act von 2006 und der Equality Bill, die im Mai 2009 in zweiter Lesung im britischen Parlament behandelt wurde.

Wohnen

In Großbritannien haben sich bis heute verschiedene Wohnformen für körperbehinderte Menschen etabliert: Diese reichen von großen Institutionen über kleinere Wohnheime und Wohngruppen bis hin zu unabhängigen Wohnformen. Mit dem Inkrafttreten des National Health Service and Community Care Act 1990 wurde die bis dahin in zentralstaatlicher Hand befindliche Verantwortlichkeit für wohnbezogene Angebote den lokalen Behörden übertragen. Das Gesetz verfolgte das Ziel, mehr Menschen mit Behinderung das Wohnen im eigenen bzw. familiären Umfeld zu ermöglichen: „The main aim of this Act was to provide the support structures necessary to enable people to remain in their own homes where possible, thereby reducing the demand for longterm care“4 (Gates 2007, 59).

Laut Aselmeier (2008, 129) sollten große Anstalten, Institutionen und Krankenhäuser nur noch für Kurzzeitbehandlungen und nicht mehr als Dauerwohnheime genutzt werden.

Zeitgleich wurde 1988 der zentralstaatlich finanzierte Independent Living Fund geschaffen, aus dem Menschen mit Unterstützungsbedarf ein persönliches Budget ausbezahlt bekommen. 1997 wurde der Fond vom Community Care Direct Payment Act abgelöst, wodurch kommunalen Behörden freigestellt wurde, Dienste entweder selbst bereitzustellen, freie oder private Anbieter unmittelbar zu beauftragen oder Direktzahlungen zu leisten.

Bildungspolitik

Betrachtet man die aktuelle Situation in Großbritannien im Hinblick auf die Inklusion von Kindern mit Behinderung in allgemeinen Schulen, so scheint das Land Deutschland einen Schritt voraus zu sein:

„Current policy, as supported by legislation, places emphasis on educating children with special educational needs (SEN) alongside their peers in mainstream schools, wherever possible. This reflects the importance attached to personalising learning for all children and making the education system responsive to the diverse needs of individual children and thus reducing reliance on separate SEN structures. A small minority of children need more help than a mainstream school can provide“5 (vgl. Exekutivagentur Bildung, Audiovisuelles und Kultur (EACEA) der Europäischen Union).

Martha E. ist 8 Jahre alt und besucht eine primary school in der Nähe von Lancaster. Martha sitzt aufgrund einer Spina Bifida im Rollstuhl. Ein gewöhnlicher Schultag beginnt um 8:30 Uhr und endet um 15:00 Uhr. Vormittags findet Unterricht in den Kernfächern statt. Der Unterricht wird stets mit der gesamten Klasse begonnen. Nach der gemeinsamen Einführung bekommt Martha individuelle Unterstützung von einem Teaching Assistent. Häufig arbeitet Martha auch in einer Kleingruppe außerhalb des Klassenzimmers, geleitet vom Teaching Assistent. In der Kleingruppe werden die gleichen Themen auf unterschiedlichen Lernniveaus bearbeitet.

Es gilt aber genauer zu betrachten, ob die dortige Praxis tatsächlich bereits Vorzeigecharakter aufweist. Einer der Faktoren, die hierfür sprechen, ist etwa der Index of Inclusion, der 2005 als eine Art praktischer Leitfaden zur Etablierung von Inklusion an alle Schulen des Landes geschickt wurde, um eine inklusive Praxis zu unterstützen. Der Index of Inclusion kann als Meilenstein für eine zukunftsweisende Inklusionspolitik gesehen werden. Darin wird betont, dass es möglich ist, alle Kinder mit Special Educational Needs (SEN) effektiv an allgemeinen Schulen zu unterrichten. Der Index of Inclusion stellt eine Weiterentwicklung integrativer Pädagogik dar, indem er betont, dass alle Kinder sowohl gemeinsame als auch individuelle Erziehungsbedürfnisse haben. Schüler mit Behinderungen werden so innerhalb der Gruppe bzw. Klasse in keine Sondersituation gebracht – Heterogenität ist Normalität.

Nichtsdestotrotz sieht die Realität an vielen britischen Schulen anders aus. Allzu oft stehen persönliche Einstellungen, organisatorische Faktoren, Lehrpläne, Kommunikationsbarrieren oder das schulische Umfeld einer gelungenen Inklusion im Weg: Nicht nur Kinder mit Behinderung werden auf diese Weise ausgeschlossen.

Paul H. ist 15 Jahre und an Muskeldystrophie erkrankt. Er wohnt in einem Vorort von Manchester. Paul und seine Eltern wünschten sich, dass er die örtliche comprehensive school besucht. Vor Ort wurde ihm mitgeteilt, dass die Schulleitung leistungsdifferenzierte Gruppen, bezogen auf das Lernen, für effektiver hält. Im Gespräch wurde betont, dass der Schule das inklusive Profil wichtig sei. Mit Ausnahme von körperbehinderten Schülern würden alle Kinder mit SEN aufgenommen und durch ein Learning Support Centre sonderpädagogisch unterstützt.

Da Kinder mit Behinderung eine sehr heterogene Schülerschaft ausmachen, ist es eine Herausforderung, individuelle Hilfe zu gewährleisten. Die Bedürfnisse eines jeden einzelnen Kindes sind jedoch vorrangig. Wo diesen in allgemeinen Schulen derzeit nicht angemessen begegnet werden kann, stehen in Großbritannien spezielle Förderangebote zur Verfügung. Das Department for Education and Employment argumentiert, dass individuelle Bildungsarbeit wichtiger sei als inklusive. Großbritannien ist bildungspolitisch gesehen demnach ein Land mit einem Kombinationssystem. Länder mit einem solchen multi-track-approach haben vielfältige Inklusionsansätze entwickelt. Sie bieten eine große Spannbreite an verschiedenen Diensten innerhalb der zwei Systeme „Regelschule“ und „Sonderschule“ an. Sie bieten neben diesen beiden Systemen auch vielfältige sonderpädagogische Unterstützungen an.

Die allgemeine Lehrerausbildung enthält in Großbritannien Kompetenzelemente aus dem Bereich sonderpädagogischer Förderung. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, sich im Rahmen eines freiwilligen Aufbaustudiums im Bereich der sonderpädagogischen Förderung weiterzubilden.

In allen Schulen fungiert eine Lehrkraft als SENCO (Special Educational Needs Coordinator), also als Koordinator für sonderpädagogischen Förderbedarf. Er überwacht die Fortschritte der Schüler mit SEN, kontrolliert Fördermaßnahmen, arbeitet mit Eltern und Behörden zusammen und unterstützt Kollegen.

3.4 Zur Situation in Deutschland

Bildungspolitik

Gerade die Bildungssysteme müssen sich seit einigen Jahren vermehrt dem internationalen Vergleich stellen und werden aneinander gemessen. Der wachsende internationale Vergleich birgt eine nicht zu vernachlässigende Chance für inklusives Denken und hat dazu geführt, dass in diesem Bereich derzeit eine deutliche Dynamik zu beobachten ist. Internationale Papiere und Programme, insbesondere die Salamanca-Erklärung von 1994 (UNESCO 1994, 1999) ermutigen zum Austausch mit anderen Ländern und fordern eine Schule für alle Kinder.

In Artikel 24 der im Dezember 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) verabschiedeten Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen legen sich die Unterzeichner auf ein „inclusive education system“6 (vgl. Bundestag) fest. Die Konvention legt den Grundstein für gemeinsame, länderübergreifende Bezugspunkte. Im internationalen Vergleich werden jedoch sehr verschiedene Ausgangslagen deutlich, und zwar in der Bildungspolitik hinsichtlich der integrativen Schulbildung (von weitgehender Inklusion bis hin zu einer deutlichen Trennung von Regel- und Sonderschulsystemen) sowie bei den Definitionen und Kategorien von sonderpädagogischem Förderbedarf und der sich daraus ergebenden Anzahl der Schüler mit einem solchen Bedarf. Länderübergreifend zeichnen sich aber auch gemeinsame Trends ab: zum Beispiel die Umwandlung von Sonderschulen in Förderzentren oder die Entwicklung von Förderplänen für Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Regelschulen.

Deutschland zählt bildungspolitisch gesehen zu den Ländern mit einem twotrack approach, wobei die aktuelle Inklusionspolitik den Weg zunehmend in Richtung eines multi-track-approaches ebnet. Momentan existieren noch zwei getrennte Bildungssysteme. Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden in Deutschland in der Regel in Sonderschulen oder Sonderklassen unterrichtet.

Gegen den internationalen Trend wurden laut Statistik der Kultusminister-Konferenz (KMK) im Jahr 2006 im Bundesdurchschnitt 84,3 Prozent der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf getrennt unterrichtet. Darüber hinaus belegt die KMK-Statistik, dass die Gesamtzahl der integrierten Schüler mit Behinderung bundesweit nur langsam angestiegen ist:

„Im Jahr 2006 wurden in allgemeinen Schulen 76 300 Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf gezählt. Das waren 6300 (9,0 Prozent) mehr als im Vorjahr. Seit 2003 hat damit der Anteil der Integrationsschüler an allgemeinen Schulen an allen Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf von 12,8 Prozent auf 15,7 Prozent leicht zugenommen. Von diesen besuchten 47 200 (61,9 Prozent) die Grundschule, 12 600 (16,6 Prozent) die Hauptschule und 4900 (6,4 Prozent) die Integrierte Gesamtschule“ (vgl. KMK 2008, XIII).

Von den Integrationsschülern wurden im Jahr 2006 5158 dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung zugeordnet.

Die im föderalen System Deutschlands angelegte Bildungshoheit der Länder sorgt dafür, dass die Segregations- bzw. Integrationsquoten in den einzelnen Bundesländern große Unterschiede aufweisen: In Bremen liegt die Integrationsquote bei 44,9 Prozent, in Schleswig-Holstein bei 32,2 Prozent, in Niedersachen hingegen lediglich bei 4,7 Prozent. Im Gegensatz dazu liegt die Quote in Schweden und Großbritannien bei über 90 Prozent (vgl. Bildungsbarometer Inklusion). Der Sozialverband Deutschland (SoVD) wähnt darüber hinaus lediglich die beiden Bundesländer Schleswig-Holstein und Bremen „auf gutem Weg zur Inklusion“ (vgl. ebd.). Erste Schritte seien darüber hinaus in Rheinland-Pfalz, Hamburg und Berlin erkennbar, einen Großteil der Bundesländer, darunter Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bayern zählt der SoVD aber zu den Ländern, in denen kein politischer Wille erkennbar ist.

Auffallend ist auch, dass das allgemeine Lehramtsstudium in Schweden und Großbritannien selbstverständlich Kompetenzelemente aus dem Bereich der sonderpädagogischen Förderung enthält, während in Deutschland gegenwärtig noch eine klare Trennung der Studiengänge und -inhalte besteht. Tendenzen gehen zwar in Richtung einer Ausweitung der Inhalte auch in sonderpädagogischer Hinsicht, diese beziehen sich aber in der Regel auf sonderpädagogische Förderung in den beiden Schwerpunkten Lernen sowie emotionale und soziale Entwicklung.

Wohnen

In Deutschland existiert gegenwärtig eine Vielzahl an Wohnformen für Menschen mit Körperbehinderungen. Betrachtet man jedoch den Personenkreis der schwerer körperbehinderten Menschen mit einem erhöhten Pflegebedarf, so reduziert sich diese Vielzahl nach Faßbender (2007) auf lediglich drei verschiedene Modelle: das Wohnen bei Angehörigen, in Wohnheimen sowie das durch fremd- und selbstorganisierte Assistenzen ermöglichte Wohnen. Das Wohnen bei Angehörigen (im Regelfall bei den Eltern), die somit auch einen Großteil der Pflege übernehmen, stellt ab einem bestimmten Alter einen massiven Einschnitt in ein selbstbestimmtes Leben dar. Oft bleibt dann in Deutschland für den beschriebenen Personenkreis nur noch das Wohnen in einem Wohnheim. Der Schonraum Wohnheim macht es einem Großteil der Bewohner jedoch aus organisatorischen und finanziellen Gründen oftmals unmöglich, eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden, sein (Wohn-)Umfeld eigenaktiv zu gestalten und unabhängig vom Personal Entscheidungen zu treffen. Diese institutionalisierte Wohnform kann daher weder als individuell noch als inklusiv bezeichnet werden. Der Mensch mit Behinderung ist – anders als etwa in Schweden – auf Sonderwohnformen angewiesen. Dauerbetreuung in Heimen hat immer noch Vorrang vor selbstbestimmten, auf Assistenz gestützten Lebensformen.

An dieser Stelle sei auf das Persönliche Budget verwiesen, auf das Menschen mit Behinderung in Deutschland seit dem 1. Januar 2008 Anspruch haben. Das Persönliche Budget soll es – ähnlich dem in Großbritannien bereits seit 1990 bestehenden Independent Living Fund – Menschen mit Behinderung ermöglichen, Leistungen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben eigenverantwortlich und selbstbestimmt zu bezahlen: „Ausdrücklich vorgesehen ist auch der Einsatz des Persönlichen Budgets für betreutes Wohnen. Es eignet sich in besonderem Maße, den Auszug aus einem Heim und den Eintritt in betreute Wohnmöglichkeiten zu erleichtern“ (BMAS 2008, 13).

Auch wenn das Persönliche Budget mit Sicherheit als Chance und als ein Schritt in die richtige Richtung gesehen werden muss, stellt sich die Frage, ob es den inklusiven Gedanken tatsächlich voranbringen kann. Am Beispiel des Bereiches Wohnen zeigt sich, dass die selbstverständliche Einbeziehung von Menschen mit komplexer Behinderung noch nicht gegeben ist. Will man das Ziel des inklusiven Wohnens erreichen, müssen selbstbestimmte Wohnformen für alle zugänglich sein – unabhängig von Schweregrad der Behinderung und Pflegebedarf. Dass Menschen mit schwerer Behinderung in ihrer eigenen Wohnung leben können, ist trotz des Persönlichen Budgets bisher nur in Einzelfällen ermöglicht worden. In Deutschland nutzen das Persönliche Budget derzeit erst etwa 10 000 Menschen – acht Millionen potentielle Nutzer gäbe es.

Wenngleich der Weg zu inklusivem Wohnen noch ein langer ist, zeigen Erhebungen und Prognosen bis zum Jahr 2010 kleinere Fortschritte: Im Bereich des stationären Wohnens ließen sich die Fallzahlsteigerungen der Jahre 2000 bis 2004 zumindest auf eine nur noch geringe Steigerungsrate begrenzen. Gleichzeitig sind die Fallzahlen im ambulant betreuten Wohnen überproportional gestiegen (vgl. BAGüS 2006).

Arbeit

Deutschland nimmt bei der Inklusion im Bereich Arbeit im Vergleich zu anderen Staaten eher eine Schlusslichtposition ein. Trotz zahlreicher Projekte zur Förderung des Übergangs in den ersten Arbeitsmarkt ist die Zahl der Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) hierzulande in den letzten Jahren erheblich angestiegen und wird laut Prognose noch weiter steigen. 2002 waren es bundesweit 668 WfbM, 2009 hingegen 715; 2002 fanden sich 226 703 Plätze in anerkannten WfbM, 2007 bereits 275 492 (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen e.V.).

In Großbritannien und Schweden ist stattdessen die unterstützte Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ein zentrales Anliegen der Politik und somit die Zahl der Werkstätten rückläufig. Remploy, ein großer Betreiber von Behindertenwerkstätten in Großbritannien, teilte 2007 in seinem Modernisierungsplan mit, „[it intends to] quadruple the number of disabled people they support into mainstream employment [and to] close 17 factories“7 (vgl. Remploy 2007). Die behinderten Mitarbeiter sollen demnach künftig auf dem ersten Arbeitsmarkt statt in einer Werkstatt arbeiten. Bedeutsam für eine Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt sind in Großbritannien vor allem zwei Konzepte, die sich gegenseitig ergänzen. Ein Konzept ist das Supported Employment (Unterstützte Beschäftigung oder Arbeitsassistenz). Demzufolge werden Menschen mit Behinderung direkt an ihren Arbeitsplätzen in regulären Betrieben unterstützt. Die British Association for Supported Employment beschreibt:

„The model holds the social inclusion vision at heart and points to ways we can develop effective supports for people with disabilities in real jobs. Real jobs means that the terms and conditions for people with disabilities should be the same as for everyone else including pay at the contracted going rate, equal employee benefits, safe working conditions and opportunities for career advancement“8 (vgl. British Association for Supported Employment).

Ein zweites Konzept ist das so genannte Customized Employment. Arbeitsplätze und Tätigkeiten werden hierbei an die speziellen Bedürfnisse und Qualifikation der Menschen mit Behinderung angepasst.

Der in Deutschland seit Oktober 2000 bestehende Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz hat die Chancengleichheit von Menschen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt ebenfalls verbessert und einen Schritt in Richtung mehr Teilhabe und Selbstbestimmung ermöglicht.

3.5 Zusammenfassung und Ausblick

Nach Feuser ist Inklusion „[eine] untrennbare Einheit von sozialer Gemeinschaft und einer subjektorientierten Erziehung und Bildung aller ihrer Mitglieder. Diese Einheit fasst das Fundamentum der gesellschaftlichen und pädagogischen Bewegung, die wir heute mit dem Begriff der ‚Integration‘ fassen und als kulturbildenden Prozess verstehen“ (Feuser 1995, 137).

Inklusion wird als gesamtgesellschaftliches Ziel gesehen, das mit Integration verbunden ist. Inklusion bedeutet, eine Gesellschaft so zu denken, dass alle Menschen ihren frei gewählten Platz in den Lebensbereichen Wohnen, Arbeit, Freizeit und sozialen Beziehungen einnehmen können. Im hier vorgenommenen internationalen Vergleich wird deutlich, dass sich die Staaten gegenwärtig auf einem ganz unterschiedlichen Stand befinden. Gerade deshalb ist der in der Salamanca-Erklärung geforderte internationale Austausch von besonderer Bedeutung. Die vorgestellten Länder Schweden und Großbritannien scheinen Deutschland in inklusiver Sicht einen Schritt voraus zu sein.

Das sozialdemokratische Wohlfahrtsprinzip in Schweden erklärt, warum die gesellschaftliche Einbeziehung von Menschen mit Behinderung – nicht nur im schulischen Bereich – weit fortgeschritten ist. Alle Mitbürger haben das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard und „full social citizenship rights and status should be guaranteed unconditionally. In this sense, social rights are legally a parallel to property rights“9 (Reich 1964, zit. nach Esping-Andersen & Korpi, 40). Sonderstellungen für Menschen mit Behinderung widersprechen in jedweder Form einem solchen Prinzip. Dieses Denken kommt Feusers inklusivem Grundgedanken sehr nahe: Soziale Gemeinschaft und Subjektorientierung in Bezug auf alle Mitbürger scheinen zumindest auf dem Papier gegeben.

Großbritannien hat in den vergangenen Jahren in Bezug auf Gesetzgebungen und Erlasse deutliche Schritte in Richtung Inklusion gemacht. Besonders im schulischen Bereich steht sich jedoch das britische Schulsystem selbst im Weg: „The drive for inclusive practice, however, still takes place in a system that is otherwise unchanged“10 (Nind et al 2003, 4). Positive praxisbezogene Ansätze wie etwa der SEN Code of Practice warten daher noch auf einen Wandel im System, um tatsächlich das Etikett „inklusiv“ tragen zu können. Die britische Schulpolitik fördert eher den Konkurrenzkampf unter den Schulen, anstatt inklusive Praktiken zu begünstigen. Daher vertreten viele Theoretiker, Lehrer und Fachleute in Großbritannien die Ansicht, dass Inklusion im bestehenden System kein durchweg erstrebenswertes Ziel sei: „Including all pupils in an exclusive system is not yet proven to be the best way forward“11 (Cornwall 2002, 133). Hier gilt es also – gerade bezüglich der gesellschaftlichen Einstellung und den Vorgaben des Systems – abzuwarten, welche Entwicklungen sich in den kommenden Jahren ergeben werden.

Innerhalb Deutschlands zeigt sich eine große Bandbreite an unterschiedlichen inklusiven Ideen und Ansätzen. Die einzelnen Bundesländer machen – aufgrund der Länderhoheit insbesondere im Bildungsbereich – unterschiedlich schnell und in unterschiedlichem Ausmaß Fortschritte auf dem Weg zur Inklusion. Mit Inkrafttreten der UN-Konvention hat sich Deutschland dazu verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem voranzutreiben. 2011 muss Deutschland den Vereinten Nationen seinen ersten Monitoring-Bericht vorlegen, der die Fortschritte bei der Umsetzung der Konvention dokumentiert. Der internationale Austausch kann dazu beitragen, Inklusion in Deutschland voranzubringen.

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