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Ein paar einführende Worte vorab

Fast völlig abwesend wirkte eine befreundete Lehrerin beim gemeinsamen Kaffeetrinken. Ein Elterngespräch stand für den nächsten Tag an, erzählte sie auf Nachfragen, und sie sei sich unsicher, wie sie das Gespräch gestalten sollte. Was könnte sie machen, dass die Eltern nicht „explodieren“, einen kooperativen Weg in der Förderung einschlagen und sie mit Wertschätzung auseinandergehen? Diese Gespräche sind im schulischen Alltag nichts Besonderes, ist doch die Schule ein Ort der Kommunikation par excellence (Blättner 2005, 181). Es kommen Gespräche mit verschiedensten Interaktionspartnern mehrfach täglich vor und einige bergen eine große Herausforderung, welche Momente beinhalten, die uns auch noch nach der Arbeit beschäftigen. Eine Beratungsausbildung wünschen sich viele für die Meisterung solcher herausfordernder Situationen, um die notwendige Handlungssicherheit zu erlangen.

Doch Beratungsangebote gibt es viele. Welches ist das richtige für mich? Wie kann ich es erlernen? Ein Konzept, das seit mehr als 20 Jahren erfolgreich im schulischen Alltag eingesetzt wird und ein sicheres Vorgehen bei zahlreichen schulischen Gesprächsanlässen gewährleistet, ist die Kooperative Beratung.

Worauf bezieht sich unser Beratungsverständnis?

Das Konzept der „Kooperativen Beratung“ ist untrennbar mit dem Namen Wolfgang Mutzeck verbunden. In sechs teils überarbeiteten Auflagen erschien sein Grundlagenwerk „Kooperative Beratung“, in vielen Artikeln bezog er dazu Stellung, aber entwickelte auch neue Konzepte (z. B. die „Kollegiale Supervision“), die auf der Kooperativen Beratung basieren. Eine kaum mehr überschaubare Anzahl von Lehrerinnen und Lehrern wurde bei ihm in Kooperativer Beratung ausgebildet und arbeitet von Schleswig-Holstein bis Bayern, von Nordrhein-Westfalen bis Sachsen nach dieser Methode und gibt diese als Multiplikator weiter. Die Kooperative Beratung war sein „Kind“ und ist sein Lebenswerk, das auch seinen Tod im Januar 2009 überdauern wird. Wolfgang Mutzeck selbst war es immer wichtig, dass die Methode der Kooperativen Beratung kein erstarrtes Instrumentarium ist, sondern ein lebendiges Verfahren. Er widmete sein Lebenswerk der permanenten Weiterentwicklung seiner Methode und hätte sicher nicht gewollt, dass mit seinem zu frühen Tod dieser Prozess als abgeschlossen gilt. Wir möchten auf keinen Fall den Eindruck erwecken, von ihm Erarbeitetes als eigenes Werk auszugeben, sondern verstehen uns als Fortführer, Weitervermittler der Ideen der Kooperativen Beratung. Vier Vereine zur Förderung der Kooperativen Beratung koordinieren derzeit in Deutschland anstehende Aufgaben (www.kooperative-beratung.de). In diesen Vereinen werden Ideen und Methoden der Kooperativen Beratung aufgegriffen, weiterentwickelt oder als Fundament für eigene Konzepte genutzt. Ehemalige Kollegen und Schüler geben darunter seine Lehre im Rahmen von Workshops, pädagogischen Tagen oder Trainings weiter und versuchen, mit gleichem Elan weitere Lehrkräfte von dieser Methode zu begeistern und Handlungssicherheit für herausfordernde Gesprächssituationen zu vermitteln.

In diesem Sinne soll das vorliegende Buch diesen methodischen Weitergabeprozess unterstützen. Für (eventuell) zukünftige Teilnehmerinnen und Teilnehmer dient es als Ausgangspunkt und kann einen ersten intensiveren Eindruck über die Methode vermitteln. Anderen methodisch geschulten Personen soll es eine Vertiefung und Reflexionshilfe sein. Als Basis dient das Grundlagenwerk von Mutzeck (2008a), welches um zahlreiche Erfahrungen aus einer Vielzahl von pädagogischen Trainings ergänzt wurde. Während dieser Trainings werden zu den einzelnen Aspekten der Kooperativen Beratung eine Fülle von Informationen und Hinweisen gegeben, Erfahrungen in der Anwendung weitergeben und häufige Fehlerquellen benannt, die in diesem Werk aufgeschlüsselt sind.

Gemäß dem Konzept der Kooperativen Beratung werden wir Ihnen keine Vorschriften machen. Bitte betrachten Sie auch auf diese Weise alle Hinweise, die wir geben, nicht als Last, sondern als Einladung zum Ausprobieren. Bei einem so individuellen, vertraulichen Prozess wie Beratung würde Ihnen als Berater und Ihren Themeneinbringern eine feste, fast mechanische Abfolge nicht gerecht werden.

Wer einen Vergleich mit anderen Beratungskonzepten oder einen Blick über den Tellerrand der Kooperativen Beratung erwartet, muss leider enttäuscht werden und sei auf die einschlägige Literatur verwiesen (vgl. u. a. Diouani-Streek & Ellinger 2011). Vielmehr geht es uns um eine umfängliche Darstellung des Konzepts der Kooperativen Beratung.

Was erwartet Sie beim Lesen?

Gemäß der Zielstellung des Buches folgt die Gliederung dem Aufbau unserer thematischen Abfolge in pädagogischen Trainings.

Um auf den inflationären Gebrauch des Begriffes Beratung zu reagieren, der unterschiedliche Vorstellungen von Beratung widerspiegelt, wird im zweiten Kapitel unsere Vorstellung von Beratung als kurze Grundlegung präsentiert. Ein gelungener und lesenswerter Überblick wurde durch Mutzeck (2008a) selbst geboten. Doch eine Anmerkung vorab: Wir verstehen Beratung nicht als „Rat geben“, sondern als kooperativen Dialog, in dem sich Kompetenzen ergänzen. In diesem Verständnis ist die Wahl des Begriffs „Ratsuchender“ irreführend, da der Berater keinen Rat gibt, und wurde in unserem Text überwiegend durch die Bezeichnung „Themeneinbringer“ ersetzt. Professionen, die das Subjekt mit seiner Ganzheitlichkeit versuchen zu erfassen und nicht auf ein Problemfeld reduzieren, sollten als Kerngedanken in ihrer Beratungsarbeit methodisch die menschliche Reflexivität unterstützen und fördern und ihm auf diese Weise die Chance eröffnen, neue Handlungsalternativen durch eine Sichtveränderung auf das vorherrschende Problem zu erschließen. Damit ist Beratung für sich betrachtet an keine Fachdisziplin gebunden. Das eingebrachte methodische Repertoire sowie die Prämisse der Reflexivität mit den daraus resultierenden Konsequenzen (wie z. B. die autonome Entscheidung für ein angestrebtes Ziel) zeichnen ein auf Ganzheitlichkeit bedachtes Beratungskonzept aus.

Viele unserer Teilnehmer sagen zu Beginn eines Trainings: „Bloß nicht so viel Theorie, sondern mehr praktisches Tun!“ Das theoretische Fundament der Kooperativen Beratung ist jedoch elementar und hat für den praktizierenden Berater eine große Bedeutung. Wesentliche Bestandteile und Grundlagen der Beratungstheorie werden im Kapitel drei vorgestellt. Hier finden Sie noch wenige Anhaltspunkte für das praktische Vorgehen.

Als Mittler vom theoretischen Part zum praktischen Teil dient das vierte Kapitel, in dem einer gelingenden Gesprächsführung nachgegangen wird. Die praktische Umsetzung wird Ihnen im Kapitel fünf vorgestellt, in dem die Methode der Kooperativen Beratung versehen mit zahlreichen praktischen Informationen detailliert dargestellt wird. Hier finden Sie ausreichende praktische Bezüge.

Einige unterstützende Handlungsweisen, die sich als praktikabel erwiesen haben und die den Beratungsprozess positiv bereichern können, haben wir zum Abschluss des fünften Kapitels aufgegriffen.

Die zeitliche Dimension der Anwendung und die vielfältigen Erwartungen der Themeneinbringer an die Beratung werden im sechsten Kapitel behandelt.

Eine Besonderheit der Kooperativen Beratung ist die Vielzahl aufbauender Methoden, welche Beratern eine zielgerichtete, methodische Spezifizierung ermöglichen. Dieses Methodenrepertoire findet im Kapitel sieben die notwendige Beachtung und wird in Schlaglichtern vorgestellt.

Im anschließenden achten Kapitel soll möglichst viel Transparenz über unser Training geschaffen werden: Wie erfolgt konkret die Unterweisung in Kooperativer Beratung, was erwartet die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Beratungstrainings?

Schwerpunkt in den letzten Jahren des Wirkens von Wolfgang Mutzeck war die Evaluation der Kooperativen Beratung. Mit dem Willen, möglichst viele Aspekte rund um das Thema Kooperative Beratung zu evaluieren, beschäftigte er uns als Schüler und Kollegen sehr und weckte auch in diesem Bereich unser Interesse an der Weiterführung. Bereits zu seinen Lebzeiten galt sein Konzept als vollständigste evaluierte pädagogisch-psychologische Beratungsmethode im nationalen und internationalen Raum. Teile der vorliegenden Evaluationsergebnisse werden im Kapitel neun vorgestellt.

Ein solches Buch entsteht nicht nebenbei und ist das Resultat zahlreicher Unterstützung. Herr Dr. Burkarth vom Kohlhammer Verlag hat abermals auf charmante und kompetente Weise unentwegt die Entstehung des Manuskriptes begleitet. Herr Prof. Dr. Ellinger hat sein hohes Engagement mit der Initiative zu dieser Reihe erneut unter Beweis gestellt. Seinem Wunsch bei einer Currywurst in Oldenburg, ob wir uns nicht an der vorliegenden Reihe beteiligen wollen, ist die Entstehung des Buches zu verdanken. Frau Annett Steinmann und Herrn Jörn Scheller sind wir für die kritischen, konstruktiven Kommentare zum Manuskript zu Dank verpflichtet. Frau Marie Pichert und Frau Susanne Büssow haben unsere schwach ausgeprägten Talente im künstlerischen Bereich durch zahlreiche Abbildungen kompensiert. And last but not least wollen wir unseren Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Trainings zur Kooperativen Beratung danken. Der Bereich der Beratung gehört neben unserem sonstigen Arbeitsalltag derzeit mehr in den Bereich des Ehrenamts. Diese investierte Kraft ist nur durch die tollen, herzerwärmenden gemeinsamen Erlebnisse, wertschätzenden Rückmeldungen und den dadurch entstehenden permanenten Theorie-Praxis-Dialog möglich.

Nun wünschen wir Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, eine hoffentlich gewinnbringende und inspirierende Lektüre.

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Was ist Beratung?

Als „Kernelement der alltäglichen Praxis unterschiedlicher Professionen“ (vgl. Riemann, Frommer & Marotzki 2000, 217) ist die Beratung seit dem Strukturplan des deutschen Bildungsrats von 1970 fester Bestandteil der pädagogischen Profession. Insbesondere vier zentrale Funktionen der Beratung tragen diesem Umstand Rechnung, die von Nestmann, Sickendiek & Engel wie folgt zusammengefasst werden:

Die Beratung etabliert sich damit innerhalb der pädagogischen Praxis als eigenständiges Handlungsfeld, das insbesondere in Unterstützungs- und Hilfssituationen der Schulpraxis (wie z. B. im Zuge der Umsetzung von Inklusion) zum tragenden Pfeiler wird. Im Rahmen dieses Kapitels wird unser beraterisches Grundverständnis als Rahmen des Buches aufgezeigt.

Das Verständnis von Beratung, das sowohl rehabilitativ, präventiv als auch zukunftsorientiert ausgerichtet ist, hat insbesondere in sonderpädagogischen Handlungsfeldern eine hohe Relevanz (vgl. Diouani-Streek & Ellinger 2011). Das theoretische Fundament des Beratungskonzeptes und die praktischen Umsetzungsmöglichkeiten sollten die Beratungsarbeit nicht auf ein einziges Anwendungsfeld begrenzen, sondern offen und anschlussfähig für weitere Anwendungsfelder sein. Beratung wird dabei oft als Bindeglied und Mittler zwischen einzelnen Positionen und Systemen gesehen (vgl. Gonzále & Bisquerra Alzina 2006, 790), was unter anderem eine wesentliche Gelingensbedingung für eine erfolgreiche Integration darstellt oder im Sinne der Prävention die Etikettierung mit einem Förderschwerpunkt verhindern soll. Damit der Berater diesen hohen Anforderungen gerecht werden kann, sind Erfahrungen und internalisierte Kenntnisse der Beratung sowie Wissen im Anwendungsfeld (z. B. der Schule) erforderlich. Das hier vorgestellte Konzept der Kooperativen Beratung hat sich in der schulischen Praxis bewährt, wird in zahlreichen Anwendungsfeldern der Schule (unabhängig der Schulform), der pädagogischen Psychologie und Jugendhilfe praktiziert (vgl. Popp, Melzer & Methner 2011a) und kann im Rahmen pädagogischen Trainings (vgl. Kap. 8) effektiv erlernt werden (vgl. Kap. 9).

Von der gesellschaftlichen Dimension der Beratung zu den Formalisierungsgraden als Ordnungsvariante

Historisch gesehen gibt es den Rat, also Beratung, schon seit dem Altertum (vgl. Fuchs & Mahler 2000, 355). Ein gelungener Überblick über die „Evolution der Beratung“ wird durch Hechler (2010, 9ff.) geboten.

Der Berater war Träger, Wegweiser und Vorbild für Generationen von Menschen und tritt seit dem letzten Jahrhundert in einem scheinbar unerschöpflichen, facettenreichen Beratungsangebot in Erscheinung. Sei es die Frettchenzuchtberatung, die Beratung beim Optiker, die Ernährungsberatung usw. – Beratung wird heute immer und überall, für jeden, zu jedem Thema und in jeder Form angeboten. Bereiche, in denen noch kein System von Beratung existiert, werden schnell entdeckt und erschlossen. Die Beratungsnachfrage steigt stetig in all ihren Formen und weist von allen Dienstleistungen die höchste Steigerungsrate auf (vgl. Triangel-Institut 2009, 9). Wir leben, so die überspitzte Diagnose, in einer Beratungsgesellschaft, deren Einfluss man sich nur schlecht entziehen kann (vgl. Bergmann, Goll & Wiltschek 1998, 143). Nichts ist dabei beratungsbedürftiger als Beratungsresistenz (vgl. Duttweiler 2004, 28). Beratung scheint „die mit Freiwilligkeit, Expertise und Entscheidungsfreiheit positiv assoziierte Unterstützungsform unserer Zeit und unserer Zukunft“ zu sein (Nestmann et al. 2006, 799), der sich auch die Schule nicht entziehen kann. Zwar kann keiner den Stellenwert, Nutzen und die eröffneten Chancen einer „guten“ Beratung leugnen, doch ist fraglich, inwiefern aufgrund der hohen Präsenz und des inflationären Gebrauchs des Begriffs bei rund 34 800 000 Einträgen zu Beratung bei Google© ein „alltägliches“ von einem „professionellen“ Beratungsverständnis abgrenzt werden kann; ferner, was eine „gute“ von einer „schlechten“ Beratung unterscheidet. Die Imposanz des Phänomens Beratung, sein umfängliches Auftreten, die Unmöglichkeit, ihm auszuweichen, die Relevanz in pädagogischen Handlungsfeldern werfen diese Fragen auf und legen die Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Beratung nahe.

Beratung wird im allgemeinen Sprachgebrauch als ein Gespräch oder als ein kommunikativer Austausch, mit dem Ziel, ein bestimmtes Problem oder eine bestimmte Aufgabe zu lösen, verwendet (vgl. Kolb 2007). In diesem Kontext wird Beratung umgangssprachlich zum zielgerichteten, problemlösenden, interaktiven Dialog. So sind in der Schule oft folgende Sätze zu hören: „Ich rate dir für die Klasse Folgendes …“, „Wir müssen einmal gemeinsam beraten, wie wir das machen“ oder „Über die weitere Entscheidung muss noch beraten werden.“ Diesen Aussagen kann zwar eine (professionelle) Beratung folgen oder es können beraterische Elemente zum Einsatz kommen, sie müssen aber nicht.

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Abb. 1: Formalisierungsgrade von Beratung

Durch Sickendiek et al. (2008, 23) wurden drei Formalisierungsgrade von Beratung benannt, die das alltägliche Begriffsverständnis von Beratung aufgreifen und um die professionalisierte Beratung erweitern.

Vergleichbar zum allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnet die informelle, alltägliche Beratung einen kommunikativen Austausch zwischen Eltern, Kollegen, Freunden etc. mit der Intention des zielgerichteten, problemlösenden, interaktiven Dialogs. Die meisten Fragen, Probleme und Anliegen werden mit Hilfe dieser Beratungsform innerhalb informeller sozialer Netzwerke gelöst. Erst wenn die Netzwerke aufgrund fehlender als hilfreich erlebter Beziehungen nicht mehr greifen oder andere Dienstleister in die Thematik integriert sind, kommen institutionalisierte Formen von Beratung zum Einsatz, deren beraterische Tätigkeit als „professionell“ bezeichnet wird (vgl. Sickendiek et al. 2008, 22). Die halbformalisierte Beratung charakterisiert den genuinen Anteil der Beratung in diversen Professionen. Berater werden aufgrund ihrer Expertise in ihrem Tätigkeitsfeld angesprochen und um Rat gebeten (z. B. der Förderpädagoge bei Verhaltensauffälligkeiten eines Schülers). Jeder verbale Austausch eines Experten kann auf dem Gebiet seiner Expertise, wie die Lehrkraft im schulischen Setting, als Beratung ausgelegt werden. Der zielgerichtete Dialog mit ihm gleicht einer Beratung. Die ausgewiesene und stark formalisierte Beratung ist gekennzeichnet durch „professionelle Beraterinnen mit ausgewiesener Beratungskompetenz“ in speziellen Settings, z. B. Beratungsstellen, Sprechstunden (Schnebel 2007, 22). Der Begriff „professioneller Berater“ kann demzufolge nicht nur speziell auf die Beratertätigkeit von geschulten Fachleuten angewendet werden, sondern auch auf Experten in vielen Berufen, in denen Beratung als „Querschnittsmenge“ in das berufliche Handeln integriert ist, wie zum Beispiel der Lehrberuf (vgl. Engel, Nestmann & Sickendiek 2004, 34). Jeder Lehrer, Optiker oder Änderungsschneider ist folglich professioneller Berater, da Beratung fester Bestandteil des Berufsbildes ist. Während diese Aussage für Lehrkräfte sicherlich noch von vielen bestätigt werden würde, wären die anderen genannten Professionen größerer Skepsis ausgesetzt.

Experten- und Prozessberatung

Die Formalisierungsgrade von Beratung ordnen die Anwendung des Beratungsbegriffes in der Gesellschaft, spiegeln jedoch nicht das Kompetenzniveau des Beraters zur Erreichung der eingangs erwähnten zentralen Funktion von Beratung wider. Eine Differenzierung in Experten- und Prozessberatung ist hierbei prägnanter und präzisiert die Formalisierungsgrade. In der Expertenberatung wird der Berater vom Themeneinbringer mit dem Ziel aufgesucht, vorhandene Informationsdefizite abzubauen. Charakteristisch für diese Form der Beratung ist das „Legen des Problems“ in die Hände des Beraters, der auf Grundlage seiner Expertenstellung die Lösungsvorschläge erarbeitet (vgl. Mutzeck 2008a, 33). Die Dienstleistungsberufe der Wirtschaft lassen sich diesem Bereich zuteilen, der einen Erklärungsansatz für das facettenreiche Beratungsangebot auf gesellschaftlicher Ebene bietet. Die klassische Bildungsberatung kann ebenfalls dieser Sparte zugeordnet werden (vgl. Deutscher Bildungsrat 1970, 92 ff.). Dem steht die Prozessberatung gegenüber, in der die Person des Themeneinbringers im Fokus steht. Bei dieser werden Probleme nicht losgelöst und isoliert betrachtet, indem beispielsweise angestrengt nach Ursachen gesucht wird. Das Problem wird in seinem Kontext betrachtet (vgl. das Handlungsmodell im Kap. 3). Die Bearbeitung des vorhandenen Problems wird nicht in die Hände des Beraters gelegt, sondern verbleibt beim Themeneinbringer. Die Erarbeitung von Lösungs- und Handlungsalternativen erfolgt gemeinschaftlich zwischen Themeneinbringendem und Berater. Dieses Vorgehen ist wesentlich, da der Themeneinbringer sich und seinen Kontext kennt und in diesem Bereich als Experte in der Kooperativen Beratung betrachtet wird. Der Berater, als Experte für Gesprächsführung und Beratung, unterstützt diesen Bearbeitungs- und Reflexionsprozess des Themeneinbringers mit seinem methodischen Know-how. Diese Kategorie wird als Beratung im engeren Sinne verstanden (vgl. Overbeck & Kauz 2011, 212) und im weiteren Verlauf des Buches als professionelle Beratung bezeichnet, da nicht die Fachexpertise des Beraters, sondern die beraterischen Kompetenzen im Blickfeld stehen. Ferner kann Beratung die eingangs dargestellten Funktionen nur erfüllen, wenn sie neben der reinen (klassischen) Informationsfunktion der Expertenberatung die Präventions-, die Bewältigungs- und die Entwicklungshilfe in ihr Anforderungsprofil integriert und dem Berater hierfür geeignete, in der Praxis erprobte und evaluierte Handlungsalternativen zur Seite stellt, wie dies bei der Kooperativen Beratung der Fall ist. Das Verhältnis von Experten- und Prozessberatung, das aus einem unterschiedlichen Verständnis von Beratung resultieren kann, beherbergt in der schulischen Praxis eine Menge Konfliktpotential, welches sich im Zuge zunehmender Integrationsbemühungen in der Unzufriedenheit der Lehrkräfte zeigen kann. Das Verständnis von Beratung, die Vorstellung über die Struktur, die Ziele und den Nutzen sind durch die eigene Beratungstätigkeit geprägt (vgl. Katzenbach & Olde 2011, 195). Während auf der einen Seite die Expertenberatung durch ein asymmetrisches Verhältnis zwischen Berater und Ratsuchenden bei der Lösungsfindung gekennzeichnet ist, liegt bei der Prozessberatung ein weitgehend symmetrisches Verständnis zugrunde (vgl. Mutzeck 2008a, 66). Diesem weitergehenden symmetrischen Grundverständnis kann folgender Grundsatz unterstellt werden: Handele so, wie du selbst behandelt werden willst! Wenn Berater beider Beratungsverständnisse aufeinandertreffen, führt es in zweifacher Hinsicht zu Irritationen.

Erstens sind die Erwartungen an die Beratung konträr zueinander. Während die einen konkrete Lösungen und/oder Handlungsalternativen erwarten, möchten die anderen im Prozess des gegenseitigen, kooperativen Einvernehmens mögliche Lösungen entwickeln. Die Folge ist, dass die Beratung als weniger effektiv erlebt wird. Ein Beispiel aus dem Feld der Integration soll diesen Zusammenhang verdeutlichen. Wenn im Zuge der Integration Lehrkräfte der allgemeinen Schule und Förderschule aufeinandertreffen, erwarten die Regelschullehrkräfte im Sinne der Expertenberatung häufig konkrete Unterstützung und Handlungsanleitung. Der Förderschullehrer kann seinerseits (oftmals) keine Rezepte im Umgang mit dem Schüler verteilen.

Der zweite Irritationspunkt ist, dass „die Inanspruchnahme beratender Unterstützung […] einen besonders sensiblen Sektor im beruflichen Selbstbild von Lehrern [berührt], denn das strukturelle Merkmal des Lehrerberufs, einen Wissensvorsprung gegenüber den Edukanden zu besitzen, hat sich offenbar tief in den professionellen Habitus eingegraben“ (Katzenbach & Olde 2011, 198). Der Rollenwechsel vom (Experten-) Berater zum Ratsuchenden kann Schwierigkeiten bringen, da zum einen die Inanspruchnahme von Beratung als persönliche Schwäche ausgelegt werden könnte und zum anderen das Aufeinandertreffen zweier inhaltlicher Experten zu einer Konkurrenzsituation zwischen beiden führen kann (vgl. Katzenbach & Olde 2011, 199). Andere Praxiserfahrungen und wissenschaftliche Untersuchungen spiegeln entgegengesetzte Ergebnisse wider und zeigen, dass eine Prozessberatung erfolgreich in schulischen Settings durchgeführt werden kann (vgl. Willmann 2007, 156; Schlee 2007, Mutzeck 2008a, 177).

Es wäre voreilig, den Schluss zu ziehen, dass aufgrund des unterschiedlichen Verständnisses von Beratung und der in der Praxis erschwerten Vereinbarkeit beider Positionen und Erwartungsbilder die Frage aufgeworfen werden muss, ob „die Profession des Lehrers eine tendentielle Beratungsresistenz impliziert“ (Katzenbach & Olde 2011, 204), da positive und erfolgsversprechende Beratungsevaluationsergebnisse vorliegen (vgl. Mutzeck & Melzer 2008; Mutzeck 2008a). Vielmehr drängt sich die Frage nach der Etablierung einer Prozessberatung in der Welt der Expertenberatung auf. Der Berater trägt Sorge, mit seinem Verständnis von Beratung die Beratungssituationen nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Seine Vorkehrungen sollten dabei als Angebot verstanden werden, das der Themeneinbringende annehmen kann oder nicht. Die Gestaltung des Beratungsprozesses ist ein immer wieder neu auszuhandelndes Geschehen. Das Herstellen und Sichern von Transparenz auf Inhalts-, Problem- und auf der Beziehungsebene kann diesen Prozess positiv unterstützen (vgl. Schlee 2008b, 108). Die hier vorliegende Veröffentlichung möchte Ihnen hierfür eine Orientierungshilfe bieten.

Zwischenresümee

Beratung war und ist kein festgesetzter Begriff. Er kann sowohl auf ein (unprofessionelles) Gespräch als auch auf ein theoretisch fundiertes Konzept wie die Kooperative Beratung angewendet werden. Dieser Umstand macht ihn, in der Hoffnung mögliche Abgrenzungen herstellen zu können, anfällig für Moden oder Trends, wie z. B. Coaching, Counselling (vgl. Engel 2006, 777). Durch die vielfältigen und konträren Beratungsangebote können Interessierte leicht den Überblick verlieren. Eine gute Beratung zeichnet sich daher u. a. durch ihre Transparenz in der Konzeption und Zielstellung aus. Beraterische (Grund-) Kompetenzen können den pädagogischen Alltag gewinnbringend für alle Beteiligten gestalten und die Qualität schulischer Arbeit verbessern.

„Die Qualität von Schulen und anderen pädagogischen Einrichtungen wird sich nicht allein im Sinne einer Top-Down-Strategie durch Gesetze und Verordnungen erreichen lassen. Vielmehr sind hier im Sinne einer Bottom-Up-Strategie ebenfalls eine Begleitung und Unterstützung, eine Stärkung und Qualifizierung der Menschen angezeigt, die in ihnen arbeiten. Die Fähigkeit zur Gestaltung günstiger zwischenmenschlicher Beziehungen sowie die Festigung der Eigenverantwortung und einer respektvollen, solidarischen Haltung gehören dazu“ (Mutzeck & Schlee 2008, 9).

Dies gilt für Schüler in gleichem Maße. Aus diesem Grund sind für Kooperative Beraterinnen und Berater in Übereinstimmung mit internationalen Vereinigungen (z.B. dem National Board for Certified Counselors der USA 1994) folgende Grundprinzipien beraterischer Tätigkeit handlungsleitend: