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Manfred Gerspach

Generation ADHS – den »Zappelphilipp« verstehen

Verlag W. Kohlhammer

 

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1. Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-023949-4

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-024086-5

epub:     ISBN 978-3-17-024087-2

mobi:     ISBN 978-3-17-024088-9

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Inhalt

  1. 1 Mythos ADHS
  2. 1.1 Zum Stand der Betrachtung
  3. 1.2 Die Sozialgebundenheit von ADHS
  4. 1.3 Zeitdiagnose
  5. 1.4 Die Gegenbewegung gesellschaftlicher Verwerfungen und subjektiver Antworten
  6. 1.5 Über die Gefahr einer unzulässigen Problemverkürzung
  7. 2 Zum Verstehen des Phänomens ADHS
  8. 2.1 Über den Un-Sinn des Störungsbegriffs
  9. 2.2 Psychodynamische Perspektiven
  10. 2.3 ADHS und Beziehungserfahrung
  11. 2.4 Der Nutzen einer sinnverstehenden Pädagogik
  12. 3 Offene Fragen – pädagogische Antworten
  13. 3.1 Die Geschichte hinter der Geschichte vom Zappelphilipp
  14. 3.2 Erziehung bedarf einer Sprache, die das Kind versteht
  15. 3.3 Der Zusammenhang von Fühlen und Denken und die Angst vorm Lernen
  16. 3.4 Wie wir zur Entlastung von Lehrer/innen, Schüler/innen und Eltern beitragen können
  17. 3.5 Einblick in eine gelingende Praxis
  18. 4 Was bleibt vom ADHS-Konzept übrig?
  19. 5 Literatur

1        Mythos ADHS

 

1.1        Zum Stand der Betrachtung

Bei 750.000 Menschen wurde in Deutschland nach Angaben des Barmer GEK Arzneimittelreports 2013 und des Barmer GEK Arztreports 2013 im Jahre 2011 die Diagnose ADHS gestellt. Der Großteil ist unter 19 Jahren alt: insgesamt 620.000 Kinder, die überwiegende Mehrheit Jungen (470.000). Von 2006 bis 2011 stieg die Zahl der diagnostizierten Fälle von Kindern und Jugendlichen um 42 % (von 2,92 % auf 4,14 %). Die altersbedingten Steigerungsraten bei der Diagnosestellung in diesem Zeitraum bildet Abbildung 1 ab.

2011 erhielten 7 % der Jungen und 2 % der Mädchen im Alter von 11 Jahren Methylphenidat (bekannt u. a. unter dem Handelsnamen Ritalin®) – es ist die Altersgruppe mit den höchsten Verordnungsraten. Rund ein Fünftel aller Jungen, die im Jahr 2000 geboren wurden, bekamen die Diagnose ADHS, während bei den Mädchen die Rate unter 10 % lag. Regionale Unterschiede hängen offenbar mit der Versorgungsdichte mit Kinder- und Jugendpsychiatern zusammen. In Würzburg wurden 18,8 % Diagnosen bei zwölfjährigen Jungen gestellt, während der Bundesdurchschnitt in dieser Altersgruppe bei knapp 12 % liegt. Ein Viertel aller Männer erhält im Leben die Diagnose ADHS (vgl. Glaeske, Schicktanz 2013; Grobe, Bitzer, Schwartz 2013).

Laut einer Analyse der Arzneimittelabrechnungsdaten der einzelnen Bundesländer aus dem Jahre 2012 stellte der Verband der Ersatzkassen (vdek) fest, dass Hamburger Kinder am meisten Methylphenidat erhalten. Dort kommen auf 1.000 Kinder, die bei Ersatzkassen versichert sind, 18,6 Tagesdosen. In Berlin etwa werden gemäß dieser Untersuchung

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Abb. 1: ADHS: Zuwachs in allen Altersstufen Quelle: BARMER GEK Arztreport 2013

nur etwa halb so viele Dosen verordnet (9,8). Auf den zweiten und dritten Plätzen folgen Rheinland-Pfalz (16,7) und Bremen (15,1). Die wenigsten Verordnungen sind in Mecklenburg-Vorpommern verzeichnet (6,7). Der Bundesdurchschnitt liegt bei 12,1 Tagesdosen pro 1.000 Kinder (vgl. www.spiegel.de). Gerade zum Ende des Grundschulalters, vor dem Übergang auf weiterführende Schulen, sind hohe Diagnoseraten zu verzeichnen. Gleichzeitig stellen die schlechte Ausbildung der Eltern, ihre Arbeitslosigkeit oder ein Alter unter 30 Jahren ein erhöhtes Verschreibungsrisiko dar. Bei Kindern gut verdienender Familien wird die Aufmerksamkeitsstörung weniger oft diagnostiziert.

Landesweit stieg der Verbrauch des Wirkstoffes Methylphenidat laut Bundesopiumstelle zwischen 1993 und 2011 von 34 kg auf 1,8 Tonnen um das 52-fache an, wie Abbildung 2 veranschaulicht.

Die Zahl der verordneten Tagesdosen von Methylphenidatpräparaten hat sich seit 1990 auf deutlich über 50 Millionen Dosen, d. h. um mehr als das 150-fache erhöht. Allein von 2002 bis 2011 nahmen die Tagesdosen

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Abb. 2: Verbrauchsstatistik Methylphenidat Quelle: BfArM, Bundesopiumstelle

von 17 Millionen auf 56 Millionen zu (vgl. www.barmer-gek.de;www.gesundheitlicheaufklaerung.de;www.deutsche-apotheker-zeitung.de). Der Handel mit Psychostimulanzien über das Internet ist zudem kaum bezifferbar (vgl. Glaeske, Merchlewicz 2013, S. 34).

Insgesamt beklagt der Barmer GEK Arzneimittelreport 2013 eine besorgniserregend hohe Zahl von Verschreibungen sogenannter Antipsychotica (AP) an Kinder und Jugendliche. Diese ist in Deutschland von 2005 bis 2012 um rund 40 % gestiegen. Auch bei Kindern mit der Diagnose ADHS werden solche Antipsychotica eingesetzt, obwohl weder eine Indikation noch eine Leitlinienempfehlung existieren.

Vergleicht man die Tendenz der vermehrten Verschreibung von Antipsychotica mit jener anderer Psychopharmaka, so findet man im genannten Zeitraum eine vergleichbare Zunahme bei der Verordnung von ADHS-Medikamenten und Antidepressiva für Kinder und Jugendliche um annähernd 50 %, während der Anstieg aller verordneten Psychopharmaka nur bei 10 % lag. Mögliche Erklärungsansätze sind:

1.    eine Zunahme psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen, die jedoch nicht belegt ist,

2.    verstärkte Interventionen der Pharmaunternehmen zur Sicherung der Marktanteile;

3.    eine medikamentöse Behandlung ist zeitsparender als das Warten auf einen Psychotherapieplatz (vgl. Glaeske, Schicktanz 2013, S. 170 ff.).

Der Report zeigt zudem auch, dass die Hälfte der demenzkranken Heimbewohner in der höchsten Pflegestufe schwere Beruhigungsmittel verabreicht bekommt. Die Frankfurter Rundschau titelte dazu am 12.06.2013 auf ihrer Wirtschafts(!)seite: »Pillen ersetzen Personal« (vgl. Szent-Ivanyi 2013, S. 16). Hier tut sich in der Tat eine Parallele zum pädagogischen Feld auf: Kinder medikamentös ruhig zu stellen erscheint dort vor dem Hintergrund der derzeitigen personellen (Unter-)Versorgung weitaus günstiger.

Man schätzt, dass in Deutschland 250.000 Kinder Medikamente wie Ritalin® nehmen, weltweit liegt die Anzahl medikamentös behandelter Kinder mit der Diagnose ADHS bei weit über 10 Millionen. In den USA zeigt eine neue Studie ebenfalls einen weiteren Zuwachs der diagnostizierten Kinder. Von 2001 bis 2010 erhöhte sich der Anteil von 2,5 % auf 3,1 %. Bei Kindern mit schwarzer Hautfarbe beträgt die Zunahme annähernd 70 %. Allerdings suchen besser gestellte amerikanische Eltern dann medikamentöse Hilfe für ihre Kinder, wenn diese den schulischen Erwartungen nicht entsprechen (vgl. Getahun u. a. 2013).

Nach einer weiteren Studie wurden zwischen 1994 und 1997 in den USA bei rund 12 von 1.000 Kindern Verhaltensstörungen festgestellt. Im Zeitraum zwischen 2006 und 2009 waren es bereits ca. 19 von 1.000 Kindern. Die beliebteste Diagnose war ADHS, gefolgt von Disruptive Disorder, also einer Störung des Sozialverhaltens. Dennoch führte die steigende Zahl von Diagnosen nicht automatisch zu einer häufigeren Verschreibung von Psychopharmaka. Diese Praxis erreichte zwischen 2002 und 2005 ihren Höhepunkt, als 1,45 % aller kindlichen Patienten ein entsprechendes Medikament verabreicht bekamen. Zwischen 2006 und 2009 sank der Wert wieder auf nahezu das Niveau der späten 1990er Jahre, nämlich auf 1 %. Dieser Effekt mag darin begründet liegen, dass die US-Arzneimittelbehörde FDA im Jahre 2004 vor einem erhöhten Selbstmordrisiko durch Psychopharmaka, im Jahre 2005 vor Kreislaufstörungen durch Amphetamine und im Jahre 2006 vor Herzproblemen durch Stimulanzien warnte (vgl. Schlüter 2013).

Der Konzern Novartis, der Ritalin® herstellt, machte damit im Jahr 2010 einen weltweiten Umsatz von 464 Millionen Dollar. 2006 waren es noch 330 Millionen Dollar gewesen (vgl. Hüther, Bonney 2010, S. 13; Hüther 2011, S. 4; Schiffl 2011; www.faz.net/aktuell; Kunst 2012, S. 17). Ritalin® ist das am häufigsten verschriebene Medikament bei Kindern und Jugendlichen der Altersgruppe 11 bis 14 und rangiert noch vor Mitteln gegen Erkältung oder Schmerzen (vgl. www.aerzteblatt.de/v4archiv; von Lüpke 2009, S. 31). Vergleichbare Präparate sind unter dem Namen Medikinet® oder Concerta auf dem Markt. Hinzu kommt als Alternative zu diesen dem Betäubungsmittelgesetz unterliegenden Mitteln der selektive Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer Atomoxetin im Präparat namens Strattera®.

Bekannte Nebenwirkungen bei Methylphenidatpräparaten sind hoher Blutdruck, erhöhte Herzfrequenz, beschleunigte Atmung, Ess- und Wachstumsstörungen, Magenbeschwerden, Schlaflosigkeit, Depression, Aggressivität, Reizbarkeit oder paranoide Wahnvorstellungen. Aus den USA werden einige wenige Todesfälle gemeldet. Einzelne Studien sprechen von einem dreifach erhöhten Krebsrisiko und der Gefahr von Chromosomenveränderungen (vgl. Boyles 2005; El-Zein u. a. 2005; Holtmann u. a. 2006; University of Texas Medical Branch at Galveston 2005; Walitza u. a. 2007), wiewohl es auch entgegengesetzte Aussagen gibt. Insgesamt ist die Datenlage erstaunlich dünn. Zudem ist der Begriff Nebenwirkung eigentlich unzureichend. Die verabreichten Medikamente wirken als ein Teil in einem komplexen organo-psychischen Zusammenhang.

Dass es sich bei Methylphenidat um ein mildes Stimulans handele, ist eine weit verbreitete Auffassung, obwohl auch andere Forschungsergebnisse vorliegen, die sogar von einer stärkeren Wirkung als bei Kokain ausgehen. Häufig werden aber solch unerwünschte Forschungsergebnisse gar nicht erst veröffentlicht. In bezug auf Atomoxetin wird zudem vor dem Risiko von Leberstörungen und erhöhter Suizidgefahr bzw. erheblichen emotionalen Schwankungen gewarnt (vgl. Schmidt 2010, S. 193 ff.).

Seit Juni 2013 wird mit Lisdexamfetamin (Elvanse) ein weiteres Amphetaminpräparat als Reservemittel zur Behandlung von ADHS bei Kindern angeboten, die auf Methylphenidat nur unzureichend ansprechen. Zu den gelisteten und auch von anderen Präparaten bekannten Störwirkungen gehören häufige bis sehr häufige Magen-Darm-Störungen, Appetit- und Gewichtsverlust, Wachstumsretardierung, Kopfschmerzen, Unruhe, Schlafstörungen, Aggressivität, Anstieg von Herzfrequenz und Blutdruck sowie psychiatrische Komplikationen. Aussagekräftige Daten zum Nutzen in der zugelassenen Indikation liegen allerdings nicht vor (vgl. arznei-telegramm 2013, S. 75 f.).

Nicht zuletzt aufgrund des uneinheitlichen Störungsbildes einer »ADHS« ist die Wirkungsweise der Methylphenidatpräparate noch nicht erschöpfend erforscht. So bleibt etwa unklar, warum 20 bis 30 % der behandelten Heranwachsenden so genannte Nonresponder sind (vgl. Karch 2003, S. 498; Olde 2010, S. 43). Das hängt u. a. mit der Tatsache zusammen, dass diese Psychostimulanzien nicht auf einen spezifischen Ort im Gehirn einwirken, sondern weite Teile des gesamten Nervensystems beeinflussen.

Die Neurone im menschlichen Gehirn verständigen sich über synaptische Kommunikationspunkte. Das Senden einer Botschaft beginnt zwar mit einem elektrischen Impuls, die Kommunikation an den Synapsen ist allerdings chemischer Art. Dieser Impuls setzt die in den Synapsen der Neurone produzierten Neurotransmitter frei, die die Signalübertragung vornehmen. Eine optimale Konzentration der Neurotransmitter wird durch Proteine, sogenannte Enzyme, aufrechterhalten. Die Präsynapse gibt den Neurotransmitter in den synaptischen Spalt ab, von wo er zu den Rezeptoren der Postsynapse gelangt und, nachdem die Botschaft dort angekommen ist, an die Präsynapse zurücktransportiert wird. Neurotransmitter sind also primäre Botenstoffe, die zwischen den Neuronen ausgetauscht werden. Die wichtigsten sind Dopamin, Noradrenalin, Serotonin oder Acetylcholin. Die ADHS-Forschung konzentriert sich auf den Neurotransmitter Dopamin, der als zentral für die interzelluläre Weitergabe von Informationen und die Steuerung der extrapyramidalen Motorik angesehen wird.

Zunächst ging man von einer Dopaminmangelhypothese aus, weshalb die betroffenen Kinder nicht genügend Aufmerksamkeit und Impulskontrolle aufbringen könnten, was durch die Vergabe von Methylphenidat gleichsam kompensiert werde. Belege für diese Hypothese gab es nicht. Hüther stellte die Frage, ob es sich nicht vielleicht eher um einen Dopaminüberschuss handele und das Methylphenidat den ohnedies bereits erhöhten Dopaminspiegel noch weiter steigere. Da die Kinder schon bis zur Grenze des Erträglichen stimuliert seien, komme es durch die plötzliche massive Dopaminfreisetzung zu einer raschen Entleerung der Dopamin-Speichervesikel in den Präsynapsen. Danach seien die Speicher leer und könnten nur sehr langsam wieder mit neu synthetisiertem Dopamin aufgefüllt werden.

Heute geht man allgemein davon aus, dass Methylphenidat mit Dopamin um die Bindung an das Transportereiweiß konkurriert, so dass weniger Dopamintransporter für die Rückführung an die Präsynapse zur Verfügung stehen. Dadurch resultiert eine Erhöhung der Dopaminverfügbarkeit im synaptischen Spalt und eine Optimierung der Signalübertragung. Unter Einbeziehung der Funktion des sogenannten terminalen Autorezeptors muss diese These modifiziert werden. Dieser Rezeptor reagiert auf die Dopaminkonzentration im synaptischen Spalt und er reguliert die Freisetzung von Dopamin dorthin. Die orale Verabreichung von Methylphenidat bewirkt eine allmähliche Erhöhung von Dopamin im synaptischen Spalt mit der Folge, dass durch die Rückmeldung des terminalen Autorezeptors die impulsveranlasste Dopaminausschüttung aus der Präsynapse begrenzt wird. Durch diese Hemmung der dopaminergen Aktivität der Präsynapse werden die Handlungsmöglichkeiten des Probanden erheblich reduziert – er kann nicht mehr auf jedes ankommende Signal reagieren.

Kritisch eingewendet werden muss an dieser Stelle, ob zwangsläufig von einem Dopaminmangel auszugehen ist oder ob die klinisch erhöhte Handlungsbereitschaft eines Kindes nicht vor dem Hintergrund einer hohen Ausprägung seines dopaminergen Systems zu betrachten wäre. Dann könnte die Verabreichung von Methylphenidat die impulsgetriggerte Ausschüttung von Dopamin reduzieren und das Kind somit an der unwillkürlichen Ausführung einer beabsichtigten Handlung hindern. Wie es sich genau verhält, ist noch immer unklar, zumal auch andere Neurotransmitter als Dopamin an den Hornstoffwechselprozessen beteiligt sind. Zudem kennen wir im Einzelfall sehr unterschiedliche Reaktionen auf die Medikation. Nach einer Untersuchung von Volkow u. a. (2002) geht die Wirkung nicht auf die Blockade der Dopamin-Transporter zurück, sondern auf die wahrscheinlich individuell differierende zelluläre Produktion von Dopamin. Bei Menschen mit hoher zellulärer Dopaminproduktion erzeugt Methylphenidat offenbar größere Veränderungen als bei Menschen mit niedriger Produktion. Nach Wang u. a. ist der Überschuss an Dopamintransportern im ventralen Striatum, der bislang als typisches Merkmal von ADHS galt, sogar auf die Behandlung mit Methylphenidat zurückzuführen (vgl. Wang u. a. 2013).

Insgesamt sind Zweifel an den Menschenbildern und vorgebrachten Hypothesen anzumelden, mit denen einzelne Faktoren zu isolieren gesucht werden und die die Komplexität der ablaufenden und ineinander greifenden Vorgänge nicht abzubilden vermögen. Allein schon das vereinfachte Modell zweier kommunizierender Synapsen vernachlässigt die Tatsache, dass jede Nervenzelle gut 10.000 Synapsen aufweist, wir über ungefähr 1012 Neurone in unserem Großhirn verfügen und sich diese ohnedies schon überaus komplexe Struktur ständigen Veränderungen ausgesetzt sieht (vgl. Andreasen 2002, S. 49 ff.; Bonney 2008a, S. 118 ff.; Hüther 2001, S. 480; Müller u. a. 2011, S. 82 ff.; Schmidt 2010, S. 192 ff.; Schmidt u. a. 2011, S. 28; Volkow u. a. 2002).

Häufig wird auch argumentiert, dass sich bei Neuroenhancern wie Ritalin® kein Suchtpotenzial nachweisen lasse, wobei unterschlagen wird, dass die moderne Suchtmedizin nicht mehr zwischen seelischen und körperlichen Phänomenen unterscheidet. In den modernen Suchttheorien wird gerade dem dopaminergen Botenstoffsystem eine Schlüsselfunktion zugewiesen. »Denn alle bekannten Substanzen mit Abhängigkeitspotenzial setzen Dopamin im Belohnungssystem frei und verstärken so den weiteren Drogenkonsum« (vgl. Kipke u. a. 2010, S. 2384 ff.).

Noch immer wird also bei uns eine immens große Zahl von Kindern medikamentös mit Psychostimulanzien behandelt, ungeachtet eines eng gefassten Beschlusses des Gemeinsamen Bundesausschusses für das Gesundheitswesen aus dem Jahre 2010, wonach die Diagnose ADHS noch gründlicher zu stellen sei und die Verordnung nur durch Spezialisten für Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen erfolgen dürfe. So kam es seit 2010 trotz anhaltend steigender Diagnose- und auch Verordnungszahlen zumindest bei den Neun- bis Elfjährigen zu einem leichten Rückgang der Verordnungen, wie Abbildung 3 zeigt.

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Abb. 3: Verordnungsstatistik Ritalin® Quelle: BARMER GEK Arztreport 2013

Nach einer neueren repräsentativen Befragung von annähernd 500 Kinder- und Jugendpsychotherapeuten und -psychiatern wird ADHS zu häufig diagnostiziert. Die Befragten erhielten je eine von vier Fallgeschichten und sollten eine Diagnose stellen und eine Therapie vorschlagen. In drei der vier Fälle lag anhand der geschilderten Symptome und Umstände keine ADHS vor, nur ein Fall war mit Hilfe der geltenden Leitlinien und Kriterien einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung zuzuordnen. Da auch noch das Geschlecht variiert wurde, gab es insgesamt acht Fälle. Es stellte sich heraus, dass in über 20 % eine falsche Diagnose bzw. eine falsche Verdachtsdiagnose gestellt wurden. Insbesondere bei Jungen wurden mehr Fehldiagnosen gestellt als bei Mädchen. Mit der falsch gestellten Diagnose ging zudem die Empfehlung einer medikamentösen und psychotherapeutischen Behandlung einher. Die Fachvertreter fällen ihr Urteil offensichtlich entlang von Faustregeln, so genannten Heuristiken, und neigen zur Überdiagnostizierung (vgl. Bruchmüller, Schneider 2012, S. 77 ff.).

In einem aktuellen Positionspapier befindet die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie, dass eine ganze Generation krankgeschrieben wird. Darin wird massive Kritik am aggressiven Marketing der Pharmaindustrie und an den von ihr finanzierten Studien geäußert. Erkenntnisse über psychotherapeutische und sozialpädagogische, d. h. nicht-medikamentöse Hilfen werden kaum veröffentlicht. Im Gegensatz zur finanziellen Ausstattung für Studien über die Wirkung von Medikamenten werden bei weitem nicht genügend finanzielle Mittel für entsprechende Forschungsbemühungen jenseits rein organmedizinischer Forschungsdesigns zur Verfügung gestellt. Nur vereinzelt wird über die Folgen und Langzeitwirkungen der Medikalisierung sozialer und emotionaler Probleme geforscht, die entsprechenden Ergebnisse finden kaum Verbreitung (vgl. Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e. V. 2013, S. 17 ff.). Nach Erkenntnissen einer MTA-Studie ist allerdings eine Überlegenheit medikamentöser Therapie gegenüber psychotherapeutischen und/oder psychoedukativ-pädagogischen Interventionen nach drei Jahren nicht mehr nachweisbar (vgl. Döpfner 2007). Zudem gibt es aktuelle Hinweise auf die fehlende Nachhaltigkeit kognitiver Trainingsprogramme (vgl. Karch u. a. 2013), während umgekehrt psychoanalytisch orientierte Interventionsansätze gute Ergebnisse vorweisen können (vgl. Neraal, Wildermuth 2008; Leuzinger-Bohleber u. a. 2006a, 2007; Staufenberg 2011).

In jedem Falle lässt eine Therapie, die allein die Dämpfung unerwünschter Verhaltensweisen und die Steigerung des Konzentrationsvermögens zum Ziel hat, den Patienten kein Gehör finden für seine inneren Spannungen und ungelösten Konflikte, die er mit seinen Symptomen unbewusst ausdrückt. Unser Seelenleben ist aus psychodynamischer Perspektive indessen erfüllt von »wirksamen, aber unbewussten Gedanken« mit einer langen Geschichte. Diese unbewussten Gedanken sind Motor jenes seltsam anmutenden Verhaltens, welches als Symptom verstanden werden kann (vgl. Freud 1912g, S. 433). Es repräsentiert jenen Teil am eigenen Schicksal, der sich einem bewussten Umgang zu entziehen weiß. Seelische Prozesse sind nicht allein auf das Bewusstsein reduzierbar, und bestimmte psychische Inhalte werden erst nach Überwindung von Widerständen dem Bewusstsein zugänglich (vgl. Laplanche, Pontalis 1972, S. 563). Zum einen wäre es wünschenswert, diese maßgeblichen Szenarien auf der Hinterbühne nicht systematisch ausblenden zu wollen. Zum anderen geht das Wegtherapieren-Wollen der störenden Verhaltensweisen an der Lebenswirklichkeit der betoffenen Kinder und Jugendlichen vorbei und nimmt sie nicht ernst (vgl. Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e. V. 2013, S. 17 ff.). Am Rande sei vermerkt, dass dieser Publikation in bestimmten Fachkreisen der Vorwurf mangelnder wissenschaftlicher Seriosität gemacht wird. Allerdings ist auch in anderen Veröffentlichungen, deren Reputation nicht angezweifelt wird, von der Gefahr zu lesen, dass eine Generation ADHS heranwächst (vgl. www.aerzteblatt.denachrichten/53215).

Es sei noch erwähnt, dass bis 2011 in Deutschland eine medikamentöse Therapie für Erwachsene nur »off-label« möglich war, seither hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) einer Indikationserweiterung bei einigen methylphenidathaltigen Arzneimitteln auf Erwachsene zugestimmt (vgl. www.aerzteblatt.de/nachrichten/45517). Man darf die dammbrechende Wirkung dieser Öffnung nicht unterschätzen.

Die Symptomatik von ADHS wird anhand zweier international gültiger Klassifikationssysteme festgelegt. Dies ist entweder das wichtigste in der Medizin verwendete Modell der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems oder das von der US-amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung erstellte Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. Die aktuellen, international gültigen Ausgaben sind ICD-10 und DSM-IV (demnächst auch auf Deutsch DSM-V). Beide kategorialen Systeme verlangen entlang deskriptiver Verhaltensbeschreibungen eine Entscheidung darüber, ob eine Krankheit vorliegt oder nicht.

Im ICD-10 wird differenziert in

•  eine einfache Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung, wenn eine Aufmerksamkeitsstörung mit Hyperaktivität und Impulsivität einhergeht, und

•  eine Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens, wenn zusätzlich eine Störung des Sozialverhaltens auftritt.

Des Weiteren sind dort noch andere bzw. nicht näher bezeichnete hyperkinetische Störungen aufgeführt.

Im DSM-IV werden im Vergleich zum sonstigen Entwicklungsstand übermäßige Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität als Hauptmerkmale einer Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung genannt.

•  Der Mischtypus einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung liegt vor, wenn jeweils mindestens sechs Symptome von Unaufmerksamkeit sowie Hyperaktivität und Impulsivität zu verzeichnen sind.

•  Der vorwiegend Unaufmerksame Typus einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung liegt vor, wenn mindestens sechs Symptome von Unaufmerksamkeit, aber weniger als sechs Symptome von Hyperaktivität und Impulsivität zu verzeichnen sind.

•  Der vorwiegend hyperaktiv-impulsive Typus einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung liegt vor, wenn mindestens sechs Symptome von Hyperaktivität und Impulsivität, aber weniger als sechs Symptome von Unaufmerksamkeit zu verzeichnen sind (vgl. DSM-IV 1998, S. 115 ff.).

Fasst man die Symptomkriterien von ICD-10 und DSM-IV zusammen, so zählen zur Aufmerksamkeitsstörung u. a. folgende Merkmale:

1.    Beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten, bei der Arbeit oder bei anderen Tätigkeiten.

2.    Hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder Spielen aufrechtzuerhalten.

3.    Scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere ihn/sie ansprechen.

4.    Führt häufig Aufträge anderer nicht vollständig durch und kann Schularbeiten, andere Arbeiten oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht zu Ende bringen.

5.    Hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren.

6.    Vermeidet häufig oder hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich häufig nur widerwillig mit Aufgaben, die längerandauernde geistige Anstrengung erfordern (z. B. im Unterricht, Hausaufgaben).

7.    Verliert häufig Gegenstände, die er/sie für bestimmte Aufgaben oder Aktivitäten benötigt (z. B. Spielsachen, Hausaufgabenhefte, Stifte, Bücher oder Werkzeug).

8.    Lässt sich oft durch äußere Reize leicht ablenken.

9.    Ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergesslich.

Zur Hyperaktivität zählen u. a. folgende Merkmale:

1.    Zappelt häufig mit Händen oder Füßen oder rutscht auf dem Stuhl herum.

2.    Steht (oft) im Unterricht oder in anderen Situationen auf, in denen Sitzenbleiben erwartet wird.

3.    Läuft häufig herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist.

4.    Hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich mit Freizeitaktivitäten ruhig zu beschäftigen.

5.    Zeigt ein anhaltendes Muster exzessiver motorischer Aktivität, das durch die soziale Umgebung oder durch Aufforderungen nicht durchgreifend beeinflussbar ist; ist häufig auf Achse oder handelt oftmals, als wäre er/sie »getrieben«.

Zur Impulsivität zählen u. a. folgende Merkmale:

1.    Platzt häufig mit der Antwort heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist.

2.    Kann häufig nur schwer warten, bis er/sie an der Reihe ist (bei Spielen oder in Gruppensituationen).

3.    Unterbricht oder stört andere häufig (z. B. platzt in die Unterhaltung oder Spiele anderer hinein).

4.    Redet häufig übermäßig viel (ohne angemessen auf soziale Beschränkungen zu reagieren).

Die Symptome müssen mindestens 6 Monate anhalten sowie vor dem 6. (ICD-10) bzw. 7. Lebensjahr (DSM-IV) und in mindestens zwei Lebensbereichen (z. B. zu Hause und in der Schule) auftreten (vgl. Staufenberg 2011, S. 30 ff.; Der Kinderarzt 1998, S. 173). In bis zu 65 % der Fälle lässt sich gleichzeitig oppositionelles Trotzverhalten feststellen (vgl. Schmidt u. a. 2011, S. 33). Darüber hinaus geht ADHS zu 20–30 % mit Lernstörungen, zu 20 % mit Angststörungen, zu 15 % mit depressiven Störungen und zu 20 % mit Tic-Störungen einher (vgl. Streeck-Fischer 2006, S. 81).

Das Störungsbild ADHS wird durch einen einfachen Konsens von Fachleuten definiert, dem es an einer präzise festgelegten Vorgabe mangelt (vgl. Schmidt 2011, S. 17; Müller u. a. 2011, S. 117). Die Festlegung der Diagnose, die dergestalt über das Erreichen einer Mindestanzahl an bestätigten Unterkriterien erfolgt, hält aber einer ernsthaften wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand, zumal dieses Vorgehen nach Aussage auch namhafter Kolleg/innen immer wieder mit der Lebensrealität der Patient/innen nicht übereinstimmt und mit einer Behandlung begonnen wird, auch wenn die Anzahl der Kriterien nicht reicht (vgl. Dietrich 2011, S. 152 f.). Selbst die Auffassung, dass es sich um eine »theoriefreie« Diagnostik handele, ist umstritten. Je unschärfer die Kriterien für eine Krankheit aber sind, umso schwerer fällt die Abgrenzung zu normalem Verhalten, umso ungenauer ist die Erstellung der Diagnose und umso problematischer erscheint die Bestimmung der richtigen Behandlung (vgl. Müller u. a. 2011, S. 117 f.).

Auch wenn man auf den ersten Blick meinen mag, mit diesen beiden Klassifikationssystemen über objektive und sichere Kriterien zu verfügen, so bemerkt man bei genauerem Hinsehen gravierende Schwächen. So stellt die Unschärfe der Diagnostik ein immer größeres Problem dar. Dabei sind die Kriterien im DSM-IV noch diffuser als im ICD-10. Daher verwundert es nicht, dass die Prävalenzraten bei ADHS nach DSM-IV mehr als doppelt so hoch sind wie nach ICD-10. Vor allem gilt: »Es gibt keinen messbaren Parameter, der es erlaubte, das Vorliegen von ADHS zuverlässig zu beurteilen« (vgl. Glaeske, Würdemann 2008, S. 55 ff.). Insofern verwundert es nicht, dass in den USA, wo vornehmlich das DSM verwendet wird, die Medikamentierung von Kindern und Jugendlichen, die mit der Diagnose ADHS belegt sind, ausgeprägter ist als etwa in Deutschland. Zusätzlich zu ADHS wird dort mittlerweile mehr und mehr die Diagnose der sogenannten bipolaren Störung gestellt, was dann zu einem Mix an eingesetzten Psychopharmaka führt.

Das neue DSM-V enthält noch vagere Bestimmungen und hebt zudem die Altersbegrenzung bei ADHS erstmals mit der Begründung auf, es handele sich dabei um eine Entwicklungsstörung des Nervensystems, also eine Erkrankung mit hirnorganischer Ursache. Meist zieht das ICD nach, wenn das DSM revidiert wurde. Auch aktuell steht wieder zu befürchten, dass die Kriterienaufweichung des DSM-V dort Einzug finden wird.

Mit solchen Verwässerungen wird das allgemeine diagnostische Dilemma eher noch größer als kleiner. Es drohen regelrechte Epidemien. Bereits jetzt hat mehr als ein Drittel aller EU-Bürger im Laufe eines Jahres mindestens eine seelische Erkrankung. In 10 Jahren ist in Deutschland der Anteil von psychischen Diagnosen als Grund für eine Erwerbsminderung von 24,2 auf 39,3 % gestiegen. Inzwischen erfüllen 46 % der US-amerikanischen Bevölkerung die Kriterien einer psychischen Erkrankung. Der Anteil von Kindern mit der Diagnose einer Geisteskrankheit ist dort innerhalb von 20 Jahren auf das 35-fache angestiegen. Rund 70 % der 158 Psychiater/innen, die die neue Ausgabe des DSM im Auftrag der APA (American Psychiatric Association) zu verantworten haben, gehen übrigens einer Beratertätigkeit für pharmazeutische Firmen nach und bekommen dafür persönliche Honorare (vgl. Blech 2013, S. 112 ff.).

In einem offenen Brief zur Neuformulierung des DSM-V formulieren besorgte Wissenschaftler/innen weltweit ihre Sorge um eine weitere Aushöhlung der Diagnosekriterien. Dort werden entgegen dem wissenschaftlichen Kenntnisstand soziokulturelle Einflüsse gegenüber biologischen weiter entwertet und es wird so getan, als sei definitiv eine neurologische Störung ausschlaggebend. Auch wird die Anzahl der Kriterien weiter verringert (www.petitions.com/petition/dsm5#sign_petition).

Allgemein wird gerügt, dass die ausschließliche Orientierung an statistischen Bezügen bei der Diagnosefindung dem komplexen Zusammenwirken biologischer, psychischer und sozialer Faktoren nicht gerecht wird und auch medizinische Gesichtpunkte vernachlässigt. Mit dem so gesetzten zunehmenden Reduktionismus erhöht sich die Fehlerquote und wird eine klare Unterscheidung von Diagnose und Symptom immer weiter unmöglich gemacht. Seit längerem ist die Einschätzung des Phänomens ADHS ohnedies nicht mehr einheitlich zu nennen, auch wenn Barkley in den USA im Jahre 2002 die sogenannte internationale Konsenserklärung zu ADHS veröffentlichte, wonach die Existenz einer Hirnstoffwechselstörung als Grund für die Störung erwiesen sei. Andere Wissenschaftler wie Timimi distanzierten sich davon mit dem Hinweis, es gebe keine kognitiven, metabolischen oder neurologischen Marker für ADHS und damit auch keinen medizinischen Test für die Diagnose (vgl. zusammengefasst bei Schmidt 2010, S. 32 f.).

Nach Furman hält die These von einer spezifischen neuropsychologischen Krankheit einer genaueren wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. Ihre Begutachtung der vorliegenden Forschungsergebnisse zu genetischen oder neuroanatomischen Ursachen für ADHS kommt zu einem niederschmetternden Ergebnis. Weder können diese die Defizite der Exekutivfunktionen ADHS erklären, noch genügen die psychometrischen Eigenschaften der weiterhin verwendeten Ratingskalen jenen Standards, die zur Messung einer Störung erfüllt sein müssten. Demnach existiert eine eigenständige Störung ADHS nicht. Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität werden hier als Symptome verschiedener behandelbarer medizinischer, emotionaler und psychosozialer Einflüsse gesehen, die Kinder betreffen können (vgl. Furman 2008).

Laut Carey sind die gelisteten ADHS-Symptome größtenteils nicht eindeutig abzugrenzen von ganz normalen Temperamentsunterschieden. Und wenn sechs statt fünf Symptombeschreibungen zutreffen, hat das Kind auf einmal ADHS. Das, was seine Verhaltensweisen zu einer Störung macht, hängt vom »Outpoint-Level« sechs ab, welches nicht einmal validiert ist. Carey vermisst eindeutige Belege für eine Störung des Gehirns, die die ADHS-Symptome angeblich verursachen. Es konnte bislang kein konsistenter struktureller, funktioneller oder chemisch-neurobiologischer Marker bei Kindern mit der Diagnose ADHS gefunden werden. Hingegen gibt es Unterschiede in den Hirnfunktionen gesunder Kinder mit normalen Temperamentsunterschieden (vgl. Carey 2013).

Dass die bislang vorliegenden neurowissenschaftlichen Befunde bei Kindern so divergieren, verwundert nach Schmitt nicht angesichts der hochkomplexen und sensiblen Vorgänge während der Reifung des Gehirns. Das sich entwickelnde Gehirn ist überaus plastisch und hoch sensibel für Lernvorgänge, aber es ist auch anfällig für toxische Prozesse und insbesondere die negative Einwirkung von dauerhaftem Stress. Störungseinflüsse sind dann besonders gravierend, wenn die Umwelt chronifizierte massive Belastungen bereit hält (vgl. Schmitt 2005, S. 10 f., 2008). Aus der Psychosomatik ist lange bekannt, dass es Patienten gibt, die unter somatoformen Beschwerden leiden, aber keinen organopathologischen Befund im klassischen Sinne aufweisen. Trotzdem lassen sich in vielen dieser Fälle mit Methoden der modernen Bildgebung zentralnervöse neurobiologische Korrelate darstellen, die sich bei erfolgreicher psychotherapeutischer Behandlung auch wieder zurückbilden können (vgl. Bauer, Kächele 2005, S. 2 f.).

Carey macht soziale Gründe wie elterliche Schuldgefühle, Verantwortungsvermeidung oder Probleme der Schule, den Flexibilitätsanforderungen gerecht zu werden, für das strikte Festhalten an der neurologischen Ursache von ADHS verantwortlich (vgl. Carey 2013). DeGrandpre sieht deutliche Bezüge der Ritalin®-Verwendung zur »kosmetischen Pharmakologie« und ist erschrocken über die Tatsache, »dass beinahe über Nacht Millionen von Kindern auf eine Droge gesetzt wurden, die vordem von der Regierung als Bedrohung für die Gesellschaft angesehen wurde« (vgl. DeGrandpre 2002, S. 154).

Der amerikanische Psychiater Leon Eisenberg, der als Erfinder des psychiatrischen Krankheitsbildes ADHS gilt, gestand dem Medizinjournalisten Jörg Blech kurz vor seinem Tod, dass ADHS ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung sei und die psychosozialen Gründe für Verhaltensauffälligkeiten viel gründlicher ermittelt werden müssten (vgl. http://derhonigmannsagt.wordpress.com). Allen Frances, der Vorsitzende der Kommission, die das DSM-IV ausarbeitete, urteilt aktuell im Hinblick auf die ins Kraut schießende Diagnose ADHS: »Nichts spricht dafür, dass die Kinder sich tatsächlich verändert haben, was sich verändert hat, sind die Etiketten«. Das DSM sei wichtiger geworden, als ihm gut tue. Ein großer Teil der steigenden Prävalenz von ADHS ist seiner Auffassung nach auf die »›falschpositive‹ Identifizierung von Kindern zurückzuführen, die besser dran wären, wenn sie niemals eine Diagnose bekommen hätten« (vgl. Frances 2013, S. 134 ff.).

Immer mehr Fachleute sprechen sich dezidiert gegen die Verwendung des Begriffs ADHS aus. Für den amerikanischen Neurologen Baugham handelt es sich beim Konstrukt ADHS um einen enormen Betrug, der amerikanische Arzt und Familientherapeut Diller nennt ADHS ein amerikanisches Märchen (vgl. Schmidt 2010, S. 37 f.).

Der Heidelberger Kinderpsychiater Bonney und der Göttinger Neurobiologe Hüther formulieren unisono: »ADHS ist keine Krankheit« (vgl. Bonney 2012a, Hüther 2010). Nach einer umfassenden Prüfung aller Hypothesen und vorliegenden Befunde kommt Schmidt zum Schluss, man müsse für die Abschaffung von ADHS plädieren (vgl. Schmidt 2010). Aktuell befindet Mattner kurz und bündig: »AD(H)S gibt es nicht« (vgl. Mattner 2013).

1.2        Die Sozialgebundenheit von ADHS

Zum jetzigen Zeitpunkt haben sich folgende Forschungserkenntnisse herauskristallisiert:

1.    Bei ADHS liegt kein einheitliches, durch hirnphysiologische und/oder genetische Faktoren verursachtes Krankheitsbild vor.

2.    Den gesellschaftlichen Erosionsprozessen, in die Kindheit heute eingebettet ist, kommt eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten zu.

3.    Diesbezüglich ist das Verhältnis von Umwelteinflüssen, Beziehungserfahrungen und biologischen Vorgängen genauer auszuleuchten.

4.    Schließlich ist zu fragen, ob der Störung nicht ein metaphorischer Sinn beigegeben ist und ob darin nicht eine Selbstmitteilung über die eigene Befindlichkeit und das eigene Leiden enthalten ist. Dann wäre diese Störung nichts per se Pathologisches, sondern ein konstruktiver, wenngleich unzureichender, weil häufig nicht symbolisierter Bewältigungsversuch. Nicht das Subjekt wird bewegt, sondern es bewegt (sich) selbst.

Ellesat fasst den Stand der Forschung wie folgt zusammen:

•  Im Einzelnen finden sich Belege, dass insgesamt relativ weitläufige Volumenveränderungen, vor allem im rechten präfrontalen Kortex, bei Patienten mit ADHS vorliegen.

•  Das EEG von Kindern mit ADHS zeigt Abweichungen im Vergleich zur Kontrollgruppe. Auch finden sich Störungen im Dopaminstoffwechsel.

•  Die Bedeutung psychosozialer Einflüsse wird im Vergleich mit genetischen Faktoren als eher gering veranschlagt (vgl. Ellesat 2012, S. 78).

Dagegen wendet Ellesat ein:

•  Nach heutigem Verständnis haben Gene eine Transkriptionsfunktion, die für Umwelteinflüsse offen ist. Gene können erfahrungs- und erlebnisabhängig ein- oder ausgeschaltet werden. Lernen bringt Veränderungen in der Genexpression hervor.

•  Es ist offen, ob nachweisbare biochemische Anomalien im Gehirn primär angeboren sind oder sich gebrauchsabhängig entwickelt haben.

•  Die vorliegenden Studien basieren auf Ergebnissen, die bei Kindern ab einem Alter von zwei bis vier Jahren gewonnen wurden. Vor diesem Alter haben aber bereits entscheidende Entwicklungen im Bereich des Selbst- und Beziehungserlebens stattgefunden, die sich auch hirnorganisch abbilden (vgl. Ellesat 2012, S. 79).

Hier kommt der Begriff der Epigenetik ins Spiel. Er bezieht sich auf außerhalb der Gene liegende Einflüsse vor allem aus der Umwelt, die diese in ihrer Funktion beeinflussen und z. B. dafür verantwortlich sind, ob sie an- oder abgeschaltet werden (vgl. Schmitt 2008, S. 35). Genetisch bedingt und angeboren ist, dass ungefähr ein Drittel mehr Vernetzungen im Kortex bereit gestellt sind, als später auch benutzt und damit stabilisiert werden. »Die kortikalen Strukturierungsprozesse erfolgen beim Kind nicht durch das, was wir früher Umwelt genannt haben. Sie erfolgen aufgrund seiner subjektiven Bewertungen und die damit einhergehenden subjektiven Erfahrungen, die jedes Kind in seiner jeweiligen Lebenswelt macht« (Hüther 2010, S. 8). Diese epigenetischen Faktoren führen bereits vorgeburtlich zu Strukturierungsprozessen und haben einen entscheidenden Einfluss auf die Ausbildung einer ADHS-Symptomatik (vgl. Mill, Petronis 2008). Liegt eine entsprechende Problematik bereits bei der Mutter vor, stellt dieser Umstand ein erhöhtes Risiko für die Ausbildung von Bindungsstörungen und Probleme bei der Emotionsregulation beim Kind dar (vgl. Edel u. a. 2010).

Zur weiteren Erläuterung dieser Störungen sei kurz auf die Systematik der Bindungstheorie hingewiesen. Mary Ainsworth und ihre Mitarbeiter/innen haben mit dem sogenannten Fremde-Situation-Test ein einfaches Beobachtungsverfahren entwickelt, mit dem die Bindungsqualität bei Kindern im Alter von 1–2 Jahren gemessen werden kann. In dieser Testsituation werden die Kinder kurzzeitig von ihrer Mutter getrennt und sehen sich einem unbekannten Menschen gegenüber. Typische Charakteristika zeigen sich in der aktuellen wie in späteren Situationen wie folgt:

•   Sicher gebundene Kinder zeigen Trennungsschmerz und können sich bei Rückkehr der Mutter den nötigen Trost holen. Es besteht ein Vertrauen in die Bindungsperson (Typ B).

•   Unsicher-vermeidend gebundene Kinder scheinen von der Trennung wenig beeindruckt zu sein, vermeiden bei Rückkehr der Mutter den Kontakt zu ihr und unterdrücken Bindungsgefühle. Die Vermeidung und Leugnung der Bedürfnisse nach Nähe und Schutz sowie eine Minimierung von Gefühlsäußerungen sind typisch (Typ A).

•   Unsicher-ambivalent gebundene Kinder wirken durch die Trennung enorm beunruhigt, sind jedoch gleichzeitig nach Rückkehr der Mutter nicht in der Lage, aus der Nähe zu ihr Sicherheit zu schöpfen. Es zeigen sich eine Dramatisierung, Maximierung und Verschlimmerung des Bindungsthemas. Oftmals wird keine Lösung gefunden oder sie ist widersprüchlich (Typ C).

•   Desorientiert/desorganisierte Kinder zeigen einen Mangel an Strategie und können die Mutter nicht als sichere Basis nutzen (Typ D) (vgl. Seiffge-Krenke 2009, S. 69 ff.; Kummetat 2007, S. 66).

Den Resultaten der überwiegenden Mehrzahl vorhandener Studien nach sind so genannte ADHS-Kinder tendenziell häufiger unsicher und signifikant häufiger desorganisiert gebunden als andere Kinder. Auch tierexperimentelle Untersuchungen zeigen einen Zusammenhang zwischen emotionaler Deprivationserfahrung und der Entstehung einer ADHS-Symptomatik auf (vgl. Kummetat 2007, S. 44 ff.).

Vor allem im Phänomen frühkindlicher Spielunlust, verknüpft mit extrem kurzen Aufmerksamkeitsspannen, dysphorischer Unruhe und motorischer Umtriebigkeit, können die frühen emotionalen Abstimmungsstörungen kulminieren. Gerade dem Spiel kommt im Hinblick auf eine frühe Form symbolischer Problem- und Spannungsbewältigung eine starke Resilienzfunktion zu. Fehlt es Kindern dagegen an frühen positiven Spielerfahrungen, hat dies Folgen für ihre Aufmerksamkeitsregulation und Erfahrung von Selbstwirksamkeit (vgl. Papousek 2012, S. 11 ff.).

Zwar weist der desorientierte/desorganisierte Bindungstyp das größte Risiko auf, Verhaltensstörungen zu entwickeln, aber auch sicher gebundene Kinder sind nicht per se frei von Entwicklungsproblemen. Die generelle Schwierigkeit sehe ich in einem überhand nehmenden Hang zum eindimensionalen, kausalen Denken. Damit schwindet die Komplexität der zur Wirkung kommenden Vielfalt an Faktoren aus dem Blickfeld. Bindungserfahrungen sind ein ernstzunehmendes Einflussmoment, das Geflecht aus sich verändernden Sozialisationsbedingungen und Lebensumständen darf aber nicht vergessen gehen. Diese Dialektik gilt es zu erfassen.

Zweifellos ist die ADHS-Thematik in ein größeres Ganzes eingebunden, wie die nachfolgenden Zitate zeigen. »In einer ›dauererregten Gesellschaft‹, in der ständig um den weckenden und bindenden Reiz konkurriert wird, wachsen auch die störenden Reize« (Gekeler 2012, S. 5). In einer »Gesellschaft des Spektakels« (Türcke 2002, S. 10) wird nur noch die Sensation beachtet. Da aber gleichzeitig die Reize nicht mehr genügend Faszination versprechen, sind immer mehr mediale Trommelfeuer vonnöten. Im selben Moment schwindet der Wert der Aneignung von Wissen und Bildung rapide (vgl. Hopf 2012, S. 39). »Je mehr eine Gesellschaft erregt ist, umso weniger scheint sie aufgeregte Kinder zu vertragen und trotzdem steigert sie selbst die Ursachen ihrer Aufregung« (Golse 2012, S. 58).

Die Wahrnehmung von Wirklichkeit und ihre Verarbeitung unterliegt einem fundamentalen Wandel, von dem wir noch gar nicht wissen, welche Konsequenzen er langfristig auf das kindliche Werden parat halten wird. Es ist schon auffällig, wie gut die hyperaktiven Kinder und Jugendlichen, die in der realen Welt wie verloren wirken, mit ihren Computern zurechtkommen und sich in den Spielen und Online-Kontakten mit einer Sicherheit bewegen, »über die sie in der so genannten ›ersten Realität‹, im Alltag ihres Lebens, nicht verfügen« (vgl. Bergmann 2007a, S. 54).

Diese Veränderungen mögen auf den ersten Blick harmlos erscheinen, sie sind es wohl sicher nicht. Denn rund um die Uhr läuft eine technisch perfektionierte audiovisuelle Maschinerie und wiederholt ohne Unterbrechung die Ausstrahlung ihrer aufmerksamkeitsfordernden Impulse. Jedoch wiederholt sie nicht mehr die Art von Bewegungsabläufen, die sich im Innern der Persönlichkeit als Rituale und Gewohnheiten ablagern. Im Gegenteil: »Die technische Errungenschaft besticht dadurch, dass ihre Bilder echt, sinnlich, vorzeigbar sind. […] Sie nimmt eine der größten Errungenschaften der menschlichen Einbildungskraft zurück: die Differenz von Halluzination und Vorstellung« (Türcke 2012, S. 14 f.).

Und so müssen wir tatsächlich umfassender hinschauen. Dieses diffuse Phänomen, für das ADHS mehr eine Verlegenheitsbezeichnung denn eine trennscharfe pathologische Diagnose ist, lässt sich ohne umfassende gesellschaftstheoretische Perspektive gar nicht angemessen begreifen. »ADHS ist ja nicht einfach eine Krankheit in gesunder Umgebung. Umgekehrt: Nur wo schon eine Aufmerksamkeitsdefizitkultur besteht, gibt es ADHS« (Türcke 2012, S. 13).