Danksagung

Im Mittelpunkt dieses Buches steht das Trainingsmanual des „Freiburger Anti-Gewalt-Trainings“ (FAGT). Dieses Training ist aus Praxiszusammenhängen heraus an einer Schule für Erziehungshilfe in Kassel entwickelt und seitdem kontinuierlich überarbeitet und zunehmend professioneller evaluiert worden. Seit knapp fünf Jahren werden die Grundelemente des Trainings in Weiterbildungen und in Lehrveranstaltungen an der Evangelischen Fachhochschule Freiburg (EFH) vermittelt.

Das Training ist dadurch besser geworden und hat nach und nach die jetzt vorliegende Form erhalten. An dem Prozess der Verbesserung waren neben mir als Autor eine Vielzahl von Menschen beteiligt:

Einen besonders großen Anteil am Entwicklungsprozess haben allerdings die StudentInnen der EFH Freiburg im studienbegleitenden Projekt in den Jahren 2004/2005, die viel Energie in die Überarbeitung des Manuals gesteckt haben und dann als TrainerInnen das Programm an verschiedenen Schulen in Freiburg und Umgebung durchführten und eine systematische Evaluation gewährleisteten. Mein großer Dank gilt daher an dieser Stelle: Hendrike Bartsch, Steffen Baur, Wolfgang Branz, Carina Drexler, Bianka Faller, Tim Fieberg, Titus Gramann, Maren Jahn, Sandra Lamparth, Alexandra Lang, Erik Litte, Kerstin Schenk, René Suck, Stephanie Türkl, Gabi Vogt, Susanne-Marie Wagner und Nadine Wangler.

Bei der Evaluation haben Ulrike Dietrich, Anke Makowka und Eva-Maria Engel maßgeblich mitgewirkt – auch Ihnen gilt mein Dank. Anke Makowka hat zudem dankenswerterweise die mühevolle Arbeit des Korrekturlesens und zusätzliche Recherchearbeiten übernommen.

Im Hintergrund hat mich meine Familie, meine Frau Gaby und meine Söhne Moritz und Michel gestützt – vor allem dadurch, dass sie Verständnis dafür hatten, dass ich wenig(er) Zeit hatte und manches Mal meine Gedanken beim Anti-Gewalt-Training und nicht bei Ihnen waren. Danke!

Ein Dankeschön gilt auch Herrn Dr. Ruprecht Poensgen vom Kohlhammer Verlag, der mich zur Realisierung dieses Buches ermutigte.

Freiburg, im Frühjahr 2006

Klaus Fröhlich-Gildhoff

Hinweis zur Orientierung im Buch

Praxisnahe Abschnitte wie beispielsweise Sitzungen aus Trainingsprogrammen sind am Seitenrand grau hinterlegt. Weiß belassene Teile hingegen sind mehr theoretischer Natur und geben einen Überblick über den aktuellen Wissensstand zur Thematik.

1 Einführung

Das Freiburger Anti-Gewalt-Training hat das Ziel, aggressives oder gewalttätiges Verhalten bei Kindern und Jugendlichen abzubauen und ihre sozialen Kompetenzen zu verbessern.

Im Folgenden werden die Entstehungsgeschichte und die Grundprinzipien kurz beschrieben. Anschließend werden die Inhalte dieses Buches kurz vorgestellt.

1.1 Geschichte

Das Freiburger Anti-Gewalt-Training wurde im Jahr 1997 vom Autor auf der Grundlage bestehender Programme und neuerer empirischer Erkenntnisse zur Entstehung (übermäßig) aggressiven und gewalttätigen Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen entwickelt und dann unter seiner Leitung insgesamt zehn Mal in unterschiedlichen Zusammenhängen (Schulen, Jugendhilfeinstitutionen) durchgeführt und fortlaufend weiterentwickelt.

Bei diesen Durchführungen wurden informell Rückmeldungen zu Wirkungen und Erfolgen durch Post-Befragungen von erwachsenen Bezugspersonen der TeilnehmerInnen (LehrerInnnen, ErzieherInnen, Eltern) eingeholt. Dabei zeigte sich, dass das Training in der Regel in zwei Drittel der Fälle zu Verhaltensverbesserungen führte: Zumeist zeigte sich in einer Gruppe von 6 TeilnehmerInnen bei 4 Kindern bzw. Jugendlichen eine mehr oder minder deutliche Abnahme aggressiven Verhaltens im Alltag, ein/e TeilnehmerIn zeigte keine wesentlichen Verbesserungen, ein/e TeilnehmerIn war durch das Training gar nicht zu erreichen und zeigte weiter deutlich auffällig aggressives bzw. gewalttätiges Verhalten.

Nach der eher diskontinuierlichen Weitervermittlung der Inhalte des Trainings an Fachkräfte aus dem psychosozialen Bereich in Form von Tagesfortbildungen werden seit dem Wintersemester 2002 die theoretischen Hintergründe und Grundbestandteile des Trainings regelmäßig und systematisch in Lehrveranstaltungen für Studierende des Fachbereichs Sozialarbeit/Sozialpädagogik an der Evangelischen Fachhochschule Freiburg vermittelt. Diese Lehrveranstaltungen wurden sorgfältig evaluiert, dadurch konnte das didaktische Konzept des „TrainerInnen-Trainings“ gleichfalls fortlaufend qualifiziert werden.

Im Sommersemester 2004 nahmen 17 Sozialarbeit/Sozialpädagogik-Studierende der EFH Freiburg im Hauptstudium an einer zweistündigen Lehrveranstaltung und einem sog. Studienbegleitenden Projekt (5 Semesterwochenstunden) unter Leitung des Autors teil. Sie wurden zum einen in der Durchführung des Anti-Gewalt-Trainings – unter dem für SchülerInnen eingängigeren Begriff „Freiburger Coolness Training“ – theoretisch und praktisch, z.B. durch intensive Rollenspiel-Arbeit, ausgebildet.

Zum anderen wurde in Kleingruppenarbeit das Trainingsmanual in einer ersten Fassung systematisiert und das Evaluationsdesign inkl. der Zusammenstellung der nötigen Instrumente konzipiert.

Im darauffolgenden Wintersemester 2004/2005 wurde das Training dann an 7 Schulen unterschiedlichen Typs in Freiburg und im Umland mit insgesamt 50 SchülerInnen der 6. und 7. Klassen von den in der Methode ‚ausgebildeten‘ StudentInnen durchgeführt; Durchführungsgrundlage bildeten das dezidiert ausgearbeitete Trainingsmanual und eine Zusammenstellung von flexibel im Training einsetzbaren Übungen bzw. Spielen.

Die Studierenden erhielten während der Durchführungsphase regelmäßig (einmal pro Woche) ‚Supervision‘ durch den Autor und trafen sich darüber hinaus zu Reflexionssitzungen.

Zeitlich parallel wurde das Training nach den gleichen Prinzipien noch an einer Schule für Erziehungshilfe und Kranke (für verhaltensauffällige Kinder/Jugendliche) in Homberg/Nordhessen von einem ausgebildeten Trainer (Dipl. Psych.) und einem Co-Trainer (Lehrer) mit weiteren 6 Schülern durchgeführt und ebenso evaluiert.

Das Training wurde nach dem vorgegeben Konzept strukturiert; der Rahmen (s. u.) wurde eingehalten. Das vorab geplante Evaluationskonzept konnte ebenfalls weitestgehend realisiert werden.

Nach Abschluss der Trainings an den Schulen wurde in einem eintägigen Workshop mit allen TrainerInnen die Durchführung noch einmal ausführlich reflektiert. Dabei stellte sich heraus, dass sich die grundsätzliche Struktur des Trainings bewährt hat; aus den Erkenntnissen der breiten Durchführung heraus wurde das Manual an Einzelpunkten, v.a. bzgl. der Kombination bestimmter Übungselemente, modifiziert.

1.2 Grundprinzipien, Kurzbeschreibung

Das Freiburger Anti-Gewalt-Training setzt nicht nur am aggressiven Verhalten an, sondern es wird der Mensch an sich mit seinen Ressourcen und Stärken in Verbindung mit seinem Umfeld betrachtet (multimodale Betrachtungsweise).

Das Training dient in erster Linie der Verbesserung der Konfliktbewältigungsfähigkeit und somit einer besseren Integration der Betroffenen in ihr Umfeld. Ein solches Training kann nicht zu grundlegenden Persönlichkeitsveränderungen führen.

Das FAGT richtet sich an Kinder und Jugendliche im Alter von ca. 10 bis 16/17 Jahren. Es umfasst nach einem Einzel-Vorgespräch und einer entsprechenden Diagnostik mit den betroffenen Kindern/Jugendlichen (und möglichst auch deren Eltern) 10 Gruppensitzungen von je 90 min Dauer und eine zusätzliche Abschlussaktivität; ergänzend werden zwei Elternabende durchgeführt.

In einem größeren zeitlichen Abstand nach Ende des Trainings sollte eine „Katamnese-Sitzung“ („Nachschau“) durchgeführt werden.

Die Gruppengrößen sollen 6–8 Kinder/Jugendliche umfassen, es wird mit zwei Leitenden (TrainerInnen) gearbeitet.

Die 10 Sitzungen sind inhaltlich klar strukturiert (Anfangs- und Schlussrituale, Kopplung von Übungen und Reflexion, Integration von Entspannungsmethoden, usw.) und haben als Themen die zentralen aggressionsverursachenden Faktoren (vgl. Fröhlich-Gildhoff, 2006): Selbst-/Fremdwahrnehmung, Selbstwertstabilisierung, Verbesserung der Selbststeuerung, Ausbau und Verbesserung von sozialen Kompetenzen, v.a. der Konfliktlösungskompetenzen; gerade beim letzteren Schwerpunkt wird stark mit videounterstützten Rollenspielen gearbeitet. Ansatzpunkt ist die jeweilige Situation der Kinder/Jugendlichen, deren Themen sollen Gegenstand der Gruppenarbeit werden. Das Programm ist mit einem Verstärkungs-/Belohnungssystem gekoppelt.

Ein solches Programm kann Anstöße und Hilfen zur Verhaltensänderung geben. Es dient als ein „Rahmen“ für ein systematisches Vorgehen im therapeutischen oder (sozial-)pädagogischen Alltag – und muss zugleich immer spezifisch auf die jeweilige Zielgruppe und die vorliegenden Rahmenbedingungen angepasst werden.

1.3 Zielsetzung

Kinder und Jugendliche, die am „Freiburger Anti-Gewalt-Training“ teilnehmen, sollen in ihrer sozialen wie auch emotionalen Kompetenz gestärkt werden. Die TeilnehmerInnen sollen lernen, systematisch ihre Frustrationstoleranz zu steigern, Selbstkontrolle zu entwickeln, auf körperliche (und im nächsten Schritt: verbale) Gewalt in Konflikt- und Stresssituationen zu verzichten und „cool“ (im Sinne von: ruhig, gelassen) zu bleiben. Das Training soll die Betroffenen herausfordern, ihr Verhalten kritisch zu hinterfragen und für ihr Verhalten (wieder) Selbst-Verantwortung zu übernehmen.

Die TeilnehmerInnen sollen sich selbstwirksam ohne aggressives Handeln erleben und so neu mit ihrer Umwelt in Kontakt treten können.

Die Ziele werden in der 1. Sitzung für die TeilnehmerInnen kurz und knapp formuliert:

Die Ziele können je nach Zielgruppe und für die einzelnen TeilnehmerInnen (stark) schwanken: So kann es für Jugendliche, die aufgrund ihres auffälligen Verhaltens aus vielen Zusammenhängen ausgegrenzt worden sind (Schulwechsel, Hausverbot im Jugendzentrum etc.), schon ein besonderer, selbstwertstärkender Erfolg sein, das Anti-Aggressivitäts-Training über 10 Sitzungen absolviert („durchgestanden“) zu haben, ohne wieder „herausgeflogen“ zu sein.

1.4 Inhalte des Buches

Zunächst wird in Kurzform das zugrunde liegende theoretische Konzept beschrieben; Ausgangspunkt ist ein bio-psycho-soziales Modell zur Erklärung der Entstehung von dauerhaftem aggressivem bzw. gewalttätigem Verhalten (dieses Konzept ist ausführlich in dem ebenfalls im Kohlhammer-Verlag erschienenen Band „Gewalt begegnen“ von Fröhlich-Gildhoff, 2006 dargelegt).

Um das vorliegende Trainingsprogramm in die Vielfalt bestehender Programme zur Gewaltprävention und Intervention einordnen zu können, wird noch ein kurzer Überblick über diese Konzepte gegeben.

In einem nächsten Schritt wird dann auf die nötige Haltung der TherapeutInnen/TrainerInnen zur Durchführung des Trainings eingegangen; ebenso sind zentrale, sich wiederholende Elemente beschrieben.

Nach der Darstellung der Vorklärungsphase werden dann ausführlich die einzelnen Trainingseinheiten im Ablauf, mit Instruktionen, benötigten Materialien usw. beschrieben.

Die Materialien sind im folgenden Kapitel gesondert abgedruckt.

Anschließend ist die Evaluation des Trainings mit den Ergebnissen dargelegt.

Den Abschluss des Buches bildet die ausführlichere Beschreibung des parallel zum FAGT entwickelten Fragebogens für SchülerInnen zur Selbsteinschätzung aggressiven Verhaltens (FSA).

2 Theoretische Hintergründe1

2.1 Definition und Erscheinungsformen von Aggression und Gewalt

2.1.1 Definitionen

Im Alltag gibt es ebenso wie in der Wissenschaft eine Vielzahl von Definitionen von Aggression wie von Gewalt. Insbesondere in Teamzusammenhängen ist es wichtig, sich auf eine gemeinsame Gewaltdefinition – als Grundlage möglicher konsequenter und professioneller Interventionsformen – zu einigen; dies ist die zentrale Voraussetzung, Aggression und Gewalt in einer Institution zu begegnen.

In der (wissenschaftlichen) Literatur hat sich zunehmend eine Grundübereinstimmung herausgebildet, die Aggression, bzw. aggressives Verhalten mit einer Schädigungsabsicht verbindet.

Unter Aggression wird eine zielgerichtete und beabsichtigte körperliche oder verbale Tätigkeit verstanden, die zu einer psychischen oder physischen Verletzung führt.

Diese Definition wirkt griffig – allerdings lässt sich die Schädigungsabsicht oft nur indirekt erschließen.

Scheithauer & Petermann (2004) beschreiben, dass Aggression auf drei Ebenen verläuft:

Der Begriff der Gewalt wird für besonders starke und destruktive Formen aggressiven Verhaltens benutzt (vgl. ebd., Borg-Laufs, 1997).

Weitere, oft benutzte Begriffe in diesem Zusammenhang sind die des ‚aggressiv-antisozialen Verhaltens‘ und der ‚Delinquenz‘. Dabei umfasst der Begriff ‚antisoziales Verhalten‘ solche Handlungen, die offen und klar gegen gesellschaftliche und soziale Regeln gerichtet sind und die Rechte anderer Menschen verletzen. „Der Begriff einer ‚Delinquenz‘ wird zur Beschreibung des Verhaltens von Kindern (und Jugendlichen; der Verfasser) verwandt, die einen Gesetzesverstoß begangen haben, der schwer genug ist, den Jugendstrafvollzug einzuschalten“ (Essau & Conradt, 2004, S. 16 f) – hierbei sollte allerdings immer beachtet werden, dass unter diesem Begriff zum Teil sehr unterschiedliche Formen von Gesetzesverstößen, vom Ladendiebstahl bis zum Mord, gefasst werden.

2.1.2 Erscheinungsformen

Genauso wie es eine Vielzahl von Aggressionsdefinitionen gibt, existiert eine nahezu ebenso große Vielfalt an Typisierungen aggressiven Verhaltens.

Eine gute Übersicht gibt diejenige von Vitiello & Stoff (1997):

Tab. 1: Verschiedene Ausdrucksformen aggressiven Verhaltens (nach Vitiello & Stoff 1997, erweitert von Petermann, Döpfner und Schmidt, 2001, S. 3)

Ausdrucksform aggressiven Verhaltens

Erläuterungen

feindselig vs. instrumentell

  • mit dem Ziel, einer Person direkt Schaden zuzufügen
  • mit dem Ziel, indirekt etwas Bestimmtes zu erreichen

offen vs. verdeckt

  • feindselig und trotzig, eher impulsiv und unkontrolliert (z.B. kämpfen)
  • versteckt, instrumentell und eher kontrolliert (z.B. stehlen oder Feuer legen)

reaktiv vs. aktiv

  • als Reaktion auf eine wahrgenommene Bedrohung oder Provokation
  • zielgerichtet ausgeführt, um etwas Bestimmtes zu erreichen

körperlich vs. indirekt

  • in offener, direkter Konfrontation mit dem Opfer
  • die sozialen Beziehungen einer Person betreffend und manipulierend

affektiv vs. „räuberisch“

  • unkontrolliert, ungeplant und impulsiv
  • kontrolliert, zielorientiert, geplant und versteckt

Daneben wird die „indirekte“ oder „relationale“ Aggression beschrieben: Damit ist ein Verhalten gemeint, das dazu führt, dass andere ‚ausgegrenzt‘ werden, lächerlich gemacht werden oder dass Freundschaften und Gruppenzugehörigkeiten – z.B. durch das Verbreiten von Gerüchten oder andere Formen sozialer Manipulation – zerstört werden (vgl. z.B. Essau & Conradt, 2004, S. 19 f; Scheithauer, 2003).

2.1.3 Klassifikationen

Die international gebräuchlichsten Klassifikationssysteme, das DSM-IV und der ICD-10, ordnen aggressives bzw. gewalttätiges Verhalten in etwas unterschiedliche Systeme ein.

Das DSM-IV (Saß et al., 1996; American Psychiatric Association, 1994) geht dabei von zwei Störungsformen aus, zum einen der ‚Störung des Sozialverhaltens‘ und zum anderen der ‚Störung mit Oppositionellem Trotzverhalten‘. Die Störungen des Sozialverhaltens sind definiert durch 15 Kriterien (u.a. aggressives Verhalten gegenüber Menschen und Tieren; Zerstörung von Eigentum; Betrug oder Diebstahl; schwere Regelverstöße; jeweils mit Unterkategorien), von denen über einen Zeitraum von 12 Monaten mindestens drei regelmäßig aufgetreten sein müssen; zusätzlich müssen bedeutende Beeinträchtigungen im sozialen bzw. schulischen Bereich vorliegen. Es werden zwei Subtypen abhängig vom Alter unterschieden: zum einen der ‚Typus mit Beginn in der Kindheit‘ (Auftreten von mindestens einer der charakteristischen Verhaltensweisen vor dem 10. Lebensjahr) sowie der ‚Typus mit Beginn in der Adoleszenz‘ (Auftreten nach dem 10. Lebensjahr).

Die Störung mit Oppositionellem Trotzverhalten umfasst als Hauptmerkmal ein Cluster wiederkehrender trotziger, ungehorsamer und feindseliger Verhaltensweisen gegenüber Autoritätspersonen. Beide Störungsformen stehen in einem engen Zusammenhang und weisen eine hohe Komorbidität auf.

Im Klassifizierungssystem ICD-10 (Dilling et al., 1994) werden grundsätzlich ‚Störungen des Sozialverhaltens‘ (ICD F91) von sog. ‚kombinierten Störungen des Sozialverhaltens der Emotionen‘ (ICD F92) unterschieden. Innerhalb des Typus der ‚Störung des Sozialverhaltens‘ (F91) lassen sich noch folgende Unterkategorien bilden:

Tab. 2: Typen der Störung des Sozialverhaltens nach ICD-10 (Dilling et al., 1994; nach Petermann, Döpfner & Schmidt, 2001, S. 5 f)

1.

Auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens (F91.0)

Aggressiv-dissoziales Verhalten, das völlig auf den häuslichen Rahmen oder die Interaktion mit Familienmitgliedern beschränkt ist und oppositionelles und trotziges Verhalten übersteigt.

2.

Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen (F91.1)

Aggressives Verhalten, das oppositionelles oder trotziges Verhalten übersteigt und mit einer andauernden Beeinträchtigung der Beziehung des Kindes zu anderen Personen einhergeht (insbesondere zur Gruppe der Gleichaltrigen).

3.

Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen (F91.2)

Aggressives Verhalten, das oppositionelles oder trotziges Verhalten übersteigt, bzw. ein andauerndes delinquentes Verhalten, aber mit guter sozialer Einbindung in die Altersgruppe.

4.

Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten (F91.3

Ungehorsames und trotziges Verhalten bei Fehlen schwerer delinquenter oder aggressiver Verhaltensweisen, das tvpischerweise vor dem neunten Lebensjahr auftritt.

5.

Andere bzw. nicht näher bezeichnete Störung des Sozialverhaltens (F91.8/F91.9)

Störungstvp, bei dem die Kriterien einer Störung des Sozialverhaltens erfüllt werden, eine Zuordnung zu einer Subgruppe aber nicht möglich ist.

6.

Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92)

Störungen des Sozialverhaltens, die in Kombination mit einer emotionalen Störung (z.B. Depression oder Zwangsgedanken) auftritt.

2.1.4 Auftretenshäufigkeit

Die Angaben zur Auftretenshäufigkeit bzw. Prävalenz des auffällig aggressiven Verhaltens (Störungen des Sozialverhaltens) variieren in unterschiedlichen Studien stark. Dies liegt an der Art der Erhebungsinstrumente und -methoden; so gibt es z.B. nur sehr schwache Übereinstimmungen in den Fremdbeurteilungen durch Eltern mit denen von LehrerInnen, mit dem klinischen Urteil oder mit Selbsteinschätzungen (vgl. z.B. Borg-Laufs, 1997).

Folgende Zusammenstellung macht allerdings deutlich, dass die Störungen des Sozialverhaltens zu den häufigsten Störungsbildern bei Kindern und Jugendlichen zählen (s. Tab. 3)

Eine Zunahme über die Zeit des aggressiven und gewalttätigen Verhaltens bzw. der Störungen des Sozialverhaltens ist umstritten. Zwar gab es im Langzeitvergleich bis etwa zum Jahr 2000 eine Zunahme der Delinquenzraten von Jugendlichen – allerdings ist diese Entwicklung offensichtlich gestoppt: Humpert & Dann (2001) zitieren z.B. eine Studie von Lösel et al. (1999), die zu dem Schluss kommen, dass „die Prävalenz von Gewalt-Taten und Raufunfällen (…) in den 90er-Jahren (…) vor allem in den Hauptschulen zugenommen (hat). In den jüngsten Daten ist wieder ein Rückgang zu verzeichnen“ (ebd., S. 21).

Tab. 3: Prävalenz der Störung des Sozialverhaltens bzw. aggressiv-dissozialen Verhaltens (nach Fröhlich-Gildhoff, 2006)

Untersuchung durch:

Prävalenz

Quelle

American Psychiatric Association, 1994

8 % aller Kinder und Jugendlichen (6–16 % Jungen, 2–9 % Mädchen)

Petermann, Döpfner & Schmidt, 2001

Mannheimer Risiko-Kinder-Studie

14,5 % diagnostizierte Kinder der Stichprobe (Grundschulalter), davon 70 % Jungen, 30 % Mädchen

Laucht, 2003

Romano et al., 2001

4,2 % 14- bis 17-Jährige (Selbstbericht Jugendliche und Beeinträchtigungskriterien) (5,5 % Jungen, 2,9 % Mädchen)

Essau & Conradt, 2004

Lahey et al., 1998

0–11,9 % (4- bis 18-Jährige, Median 2 %)

Scheithauer & Petermann, 2004

Hellfeld- wie Dunkelfeldstudien zur Delinquenz bzw. Gewaltkriminalität zeigen seit etwa 2000/2001 eine Konstanz bzw. sogar einen leichten Rückgang Dabei entfällt auf eine relativ kleine Gruppe von Tätern (5–7 %) die Mehrzah (über 50 %) der Taten (vgl. Brettfeld & Wetzels, 2003; Kleiber & Meixner, 2000; Ostendorf et al., 2002).

2.1.5 Geschlecht

Offen-aggressives Verhalten wird deutlich häufiger von Jungen als von Mädchen gezeigt, die Studienergebnisse weisen Raten von 2:1 bis 4:1 auf. Dabei war der beobachtete Anstieg (s.o.) bei Mädchen etwas stärker (Zunahme um den Faktor 2,99) ausgeprägt als bei Jungen (Faktor 2,24; Brettfeld & Wetzels, 2003, S. 86f) – dennoch sind die Mädchen weit davon entfernt, die Jungen ‚einzuholen‘. Die Unterschiede sind im Kleinkindalter noch gering, dann jedoch gilt: „Bereits ab dem Vorschulalter haben Jungen die Tendenz, signifikant mehr antisoziales Verhalten zu zeigen als Mädchen. (…) Darüber hinaus erreichen die Symptome der Störung des Sozialverhaltens einen signifikant höheren Schweregrad bei Jungen, insbesondere wenn es um die körperliche Verletzung anderer geht (Lahey et al., 2000)“ (Essau & Conradt, 2004, S. 56; ebenso Krahé, 2001). Allerdings zeigen Mädchen nach einer Studie von Crick & Grotpeter (1995) signifikant deutlicher relational aggressives Verhalten als Jungen (s.a. Krahé, 2001, S. 59 ff).

2.1.6 Zeitlicher Verlauf

Aggressionen werden von Kindern und Jugendlichen in bestimmten Entwicklungsphasen altersentsprechend gezeigt und ‚ausprobiert‘ (s.u.) – Störungen des Sozialverhaltens bzw. die deutliche Manifestation von Aggression als zentraler Ausdrucksform sind hingegen als stabil anzusehen:

In allen Langzeitstudien zum Verlauf übermäßig aggressiven Verhaltens zeigte sich, dass dieses über den Lebenszeitverlauf persisitiert: So konnte beispielsweise Olweus (1979) schon vor fast 30 Jahren zeigen, dass die Korrelationen des Ausmaßes an Aggressionen nach einem Jahr .76, nach fünf Jahren .69 und nach zehn Jahren noch .60 beträgt. Dornes (1997) berichtet von einer Langzeituntersuchung von Eron et al. (1991), die zeigt, dass „Aggression über den Zeitraum von 22 Jahren recht stabil ist. Kinder, die mit 8 Jahren am aggressivsten eingeschätzt wurden, wurden dies oft auch noch als Erwachsene mit 30 Jahren“ (Dornes, 1997, S. 269; s. auch Essau & Conradt, 2004).

Scheithauer & Petermann (2004) beschreiben in Anlehnung an Loeber & Stouthamer-Loeber (1998) drei Entwicklungstypen aggressiven bzw. gewalttätigen Verhaltens:

  1. ‚Der über den Lebenslauf stabile Entwicklungstyp‘: Charakterisiert durch ein „stabiles aggressives Verhalten von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Schwere und Ernsthaftigkeit der Verhaltensweisen nehmen mit der Zeit zu“ (ebd., S. 384);
  2. ‚Der zeitlich begrenzte Entwicklungstyp‘: er wird dadurch charakterisiert, dass „die aggressiven Verhaltensweisen entweder während der Grundschulzeit aufgegeben werden oder ausschließlich während eines kurzen Zeitraums in der Adoleszenz aufgetreten sind“ (ebd., S. 385);
  3. ‚Der späte Entwicklungstyp‘: dieser ist gekennzeichnet durch „ein erstmaliges Auftreten aggressiven oder gewalttätigen Verhaltens im Erwachsenenalter“ (ebd.).

Die Entwicklung aggressiv-dissozialen Verhaltens hat Loeber (1990) in einem Modell zusammengefasst, das von Scheithauer & Petermann leicht modifiziert wurde (s. Abb. 1).

Auch wenn die dargelegten Befunde für eine hohe Stabilität und Persistenz auffällig aggressiven Verhaltens sprechen, so ist immer zu berücksichtigen, dass hier nicht gewissermaßen ‚automatische‘ Entwicklungslinien vorliegen. So gibt es Befunde, dass auch früher unauffällige Kinder und Jugendliche – oft ausgelöst durch starke Krisen – deutlich aggressives Verhalten zeigen; ebenso gibt es Personen, die diese Form der Weltbegegnung (auch ohne therapeutische Programme) verändern können.

img

Abb. 1: Entwicklung aggressiv-dissozialen Verhaltens nach Loeber (1990) (modifiziert nach Scheithauer & Petermann, 2004, S. 384)

2.2 Ursachen aggressiven bzw. gewalttätigen Verhaltens

In diesem Kapitel werden die Ursachen aggressiven bzw. gewalttätigen Verhaltens genauer betrachtet. Dabei wird zuerst (2.2.1) der ‚normale‘ Entwicklungsverlauf der Aggression beschrieben, wobei als Ausgangspunkt von einem aggressiv-reaktiven Motivationssystem ausgegangen wird, das neben dem assertiv-explorativen System von Geburt an existiert; in diesem Zusammenhang wird das Triebmodell der Aggression verworfen.

Eine wichtige Unterscheidung ist zwischen Ursachen und Auslösern der Aggression zu treffen:

Ursachen für die Entstehung ‚überdauernden‘ aggressiv-dissozialen Verhaltens im Sinne eines generellen Handlungsmusters sind stabile Selbststrukturanteile, die sich im Verlauf der lebensgeschichtlichen Entwicklungen herausgebildet haben und im Sinne innerpsychischer handlungsleitender Schemata (vgl. z.B. Grawe, 2004; Petermann et al., 2004) eine stabile Verhaltensdisposition darstellen. Diese Disposition bildet eine allgemeine Grundlage für Interaktionen und für die Bewältigung von Alltags- und Krisensituationen sowie von Entwicklungsaufgaben.

Demgegenüber sind Auslöser für aggressives oder gewalttätiges Handeln eher aktuell und situationsabhängig. Diese Auslöser können z.T. wiederkehrende Muster von Situationen oder Interaktionsbedingungen sein, die sich mit o.g. individuellen Anteilen der Selbststruktur ‚treffen‘ und dann aggressives oder gewalttätiges Handeln aktuell auslösen. Das Spektrum reicht hier von ‚eingespielten‘ dyadischen Täter-Opfer-Konstellationen bis hin zu besonderen gewaltinduzierenden Hinweisreizen.

Entsprechend dieser Unterscheidung wird zunächst (Kap. 2.2.2) auf der Grundlage eines theorieschulenübergreifenden Konzeptes ein integriertes biopsychosoziales Modell zur Erklärung der Entstehung der dauerhaften Disposition zu aggressivem bzw. gewalttätigem Verhalten dargestellt. Anschließend wird dann auf Auslösebedingungen der Gewalt eingegangen (Kap. 2.2.3).

2.2.1 Entwicklungspsychologie aggressiven Verhaltens

Neue empirische Befunde, insbesondere in der Säuglingsforschung, können die Annahme eines Aggressionstriebs, also eines sich immer wieder selbstaufladenden Potentials aggressiver Handlungen, das nach Entladung strebt, nicht bestätigen (vgl. übereinstimmend Dornes, 1997; Borg-Laufs, 1997; Lachmann, 2004; Essau & Conradt, 2004); die entsprechenden psychoanalytischen oder verhaltensbiologischen Konzeptionen können auf der bestehenden Datenbasis nicht mehr als Erklärungsgrundlagen herangezogen werden.

Die entsprechenden entwicklungspsychologischen Modelle gehen von mehreren grundlegenden Motivationssystemen aus; im Zusammenhang mit dem Thema Aggression sind besonders zwei bedeutsam: zum einen ein grundlegendes, gewissermaßen aus sich selbst heraus gespeistes, aktives Motivationssystem: das der Exploration und Neugier bzw. der Selbstbehauptung (Assertion). Dornes (1997) konstatiert in seiner Zusammenstellung der entsprechenden Ergebnisse der modernen Säuglingsforschung: „Explorationen und Neugier sind (…) biopsychologisch fundierte Aktivitäten, die nicht vom Aggressionstrieb abstammen, sondern aus einer qualitativ davon verschiedenen Quelle“ (ebd., S. 250; vgl. auch Lachmann, 2004). Neben diesem Explorations- oder assertiven Motivationssystem gibt es das der reaktiven Aggression bzw. Aversion. „Das reaktive aggressive/aversive System ist im Unterschied (zu dem explorativen System) nicht selbstaktivierend, sondern wird nur durch Bedrohung aktiviert; es wird inaktiv, sobald die Quelle der Bedrohung beseitigt ist. Außerdem ist seine Aktivierung von negativen Affekten begleitet. Assertion entsteht also spontan und ist mit positiven Affekten verknüpft, Aggression/Aversion entsteht reaktiv und ist mit negativen Affekten verknüpft“ (ebd., S. 252). Bestimmte Handlungen, wie z. B. Beißen oder Kratzen eines kleinen Kindes können durchaus explorativen Charakter haben und aggressiv-feindselig erscheinen.

Lachmann (2004) betont, dass „Selbstbehauptung und Exploration mit Affekten des Interesses, der Freude, Erregung und Heiterkeit einher[gehen]“ (ebd., S. 73). Die aversiven Reaktionen werden durch konkrete Anlässe ausgelöst: „So kann beispielweise ein Kleinkind durch eine Feder, die auf seinem Gesicht landet, zu einer aversiven Reaktion veranlasst werden: Es wischt die Feder fort. Das heißt, Aversivität ist eine Reaktion auf eine wahrgenommene Bedrohung der eigenen Integrität. Sie umfasst selbstschützende Reaktionen wie zum Beispiel den Angriff, durch den die wahrgenommene Gefahrenquelle zerstört oder entfernt werden soll. Sie hängt mit Angst-, Distress- und Ärgeraffekten zusammen und wird insbesondere durch solche Vorkommnisse ausgelöst, die man als bedrohlich empfindet“ (ebd., S. 73 f).

Tab. 4: Ausdrucksformen von Aggression im Lebenslauf (inhaltliche Zusammenstellung nach Dornes, 1997; Essau & Conradt, 2004; Krahé, 2001; Scheithauer & Petermann, 2004; nach Fröhlich-Gildhoff, 2006)

Alter

Ausdrucksformen von Aggression

1. Lebensjahr

  • Ärger tritt ab 2 Monaten im Experiment auf, ab 3 Monaten in natürlichen Zusammenhängen – immer in Zusammenhang mit erlebten Unlustzuständen, Einschränkungen etc.
  • aggressiv erscheinende Handlungen wie kratzen, beißen, an den Haaren ziehen haben explorativen Charakter

2./3. Lebensjahr

  • verstärkt instrumentell-aggressive Handlungen, um Ziele (z.B. das Spielzeug des anderen Kindes) zu erreichen; keine Verletzungsabsicht
  • aggressive Handlungen gegenüber Gleichaltrigen haben zunächst auch explorativen Charakter (Erzielen von Effekten, Ausprobieren eigener Wirkmächtigkeit); später jedoch auch absichtsvolles Verletzen
  • Höhepunkt aggressiver Handlungen (83 % der Kinder im Alter von 18–30 Monaten zeigen deutlich aggressive Handlungen, Trembley, 2000; Trembley et al., 1999)
  • mit der Fähigkeit zur symbolischen innerpsvchischen Repräsentation (Sprache!) kann sich Aggression aus dem situativen Kontext lösen; Hass und Aggression können zu dauerhafter intrapsvchischer Disposition werden (Dornes, 1997)

4./6. Lebensjahr

  • der „Höhepunkt“ explorativ bedingter aggressiver Handlungen nimmt ab (→ Grenzsetzungen und verstärkte Fähigkeit zur Empathie)
  • Zunahme verbaler Aggressionen (mit ebenfalls zunächst explorativem Charakter)
  • Geschlechtsunterschiede zeigen sich deutlich

Grundschulalter

  • deutliche Unterschiede zwischen stabil-aggressivem Verhalten und spontan reaktiv auftretenden Aggressionen bei erlebten Einschränkungen
  • Geschlechtsunterschiede verstärken sich (Mädchen: indirekte und relationale Aggression; Jungen: körperliche und verbale Aggression)
  • Kinder können aggressive Absichten erkennen, realisieren und differenziert darauf reagieren

Jugendalter

  • Aggression kann vorübergehend als jugendtypischer Versuch der Ablösung und Identitätsfindung auftauchen; insgesamt nehmen Aggressionen aber weiter ab
  • hohe Bedeutung der Peergroup bei der Aufrechterhaltung (bzw. Realisierung) aggressiven Verhaltens

Das reaktiv-aversive System hat unterschiedliche Reaktionsformen bei Bedrohung zur Verfügung:

  1. Rückzug, im Extremfall Ohnmacht
  2. unmittelbare oder mittelbare Reaktion auf die Störung; der Säugling bzw. das Kind kann Unbehagen signalisieren und versuchen, z.B. das störende Objekt beiseite zu schieben oder im Weiteren aggressiv handeln oder fühlen.

Es ist also von gestuften Reaktionsmöglichkeiten auszugehen. Säuglinge empfinden bei exzessiver Unlust Wut und/oder Unbehagen, Schmerz und/oder Verzweiflung. Wenn die Quelle der Unlust beseitigt wird, dann verschwindet auch die Wut oder der Ausdruck von Ärger. Dornes (1997) betont allerdings, dass „sehr junge Säuglinge auf (exzessive) Unlust nicht mit dem Gefühl von Feindseligkeit reagieren und auch nicht unbedingt mit Ärger, sondern z.B. mit Ohnmacht, stummer Verzweiflung oder ‚Dekompensation‘“ (ebd., S. 262).

Die Manifestationen des aggressiven Systems zeigen sich in unterschiedlichen Lebensphasen in unterschiedlicher Weise; man kann dabei von einem gewissen Ausmaß „normaler Aggression“, von einem ‚Ausprobieren aggressiver Verhaltensweisen und ihrer Wirkungen durch die sich entwickelnden Kinder ausgehen (zum Vergleich zwischen „normaler“ und „anormaler Aggression“ vgl. z.B. Essau & Conradt, 2004, S. 24).

Die verschiedenen Ausdrucksformen von Aggression im Lebenslauf sind in der Tabelle 4 zusammengestellt.

2.2.2 Bio-psychosoziales Modell zur Erklärung der Entstehung der dauerhaften Disposition zu aggressivem bzw. gewalttätigem Verhalten

Der im Folgenden dargestellte Erklärungsansatz für die Entstehung dauerhafter aggressiver Verhaltensbereitschaften basiert auf einem integrativen bio-psychosozialen Modell, das sich insbesondere an den Erkenntnissen der klinischen Entwicklungspychologie (vgl. Oerter et al., 1999) bzw. der Entwicklungspsychopathologie (Petermann et al., 1998, 2004) orientiert.

Dieses Modell geht zunächst allgemein davon aus, dass im Zusammenspiel zwischen (1) biologischen Ausgangsbedingungen und (2) (früh-)kindlichen (Beziehungs-)Erfahrungen sich die (3) individuelle Selbststruktur – im Sinnes eines Netzwerks handlungsleitender innerpsychischer Schemata – herausbildet. Dieser Entwicklungsprozess ist wiederum abhängig von (4) Risiko- und Schutzfaktoren, bei denen die sozialen Bedingungen und hier insbesondere die primären Bezugspersonen eine besondere Bedeutung haben. Im Laufe der individuellen Entwicklung muss das Kind bzw. der Jugendliche altersabhängig spezifische (5) Entwicklungsaufgaben bewältigen. Neben der Bewältigung dieser alterstypischen Entwicklungsaufgaben müssen immer wieder besondere Stress- oder Belastungssituationen individuell bearbeitet werden. Dieser (6) Bewältigungsprozess ist abhängig von der bisher entwickelten Selbststruktur und wiederum von aktuell vorhandenen Risiko- und Schutzfaktoren.

Bei der Art der Bewältigung von Belastungsfaktoren oder Entwicklungsaufgaben lassen sich grundsätzlich drei Modalitäten unterscheiden: zum einen eine angemessene entwicklungs- und selbstwertförderliche Bewältigung, zum anderen ein internalisierender Modus, der durch Rückzug und Selbsteinschränkung gekennzeichnet ist, und zum dritten ein externalisierender Modus, der z.B. durch ein besonderes Maß an Aggressivität gekennzeichnet ist. Der jeweilige Bewältigungsmodus hat wiederum Rückwirkungen auf die intrapsychische Struktur; es kann zur Verfestigung oder zu Veränderungen kommen.

img

Abb. 2: Bio-psychosoziales Modell zur Entstehung dauerhaft aggressiven bzw. gewalttätigen Verhaltens

Im Folgenden sollen die einzelnen Elemente des Modells im Detail betrachtet werden:

2.2.2.1 Biologische Ausgangsbedingungen

Menschen werden mit unterschiedlichen Ausgangsbedingungen geboren. Die zur Zeit vorliegenden empirischen Erkenntnisse sprechen eher gegen eine genetische Bedingtheit für die Unterschiede im aggressiven Verhalten (vgl. z.B. Zusammenstellung bei Scheithauer & Petermann, 2004). Ebenso ist die empirische Basis für die Wirkung des männlichen Geschlechtshormons zur Erklärung der Ausprägung der Aggression eher dürftig (Zusammenstellungen z.B. bei Scheithauer & Petermann, 2004; Krahé, 2001).

Eine weitaus größere Bedeutung haben offensichtlich neurologische Verletzungen, die z.B. durch prä-, peri- oder postnatale Bedingungen verursacht sind und sekundär negative Auswirkungen auf Wahrnehmungen, Informationsverarbeitung und Möglichkeiten der Emotionsregulation haben (vgl. auch hierzu die Zusammenstellung bei Scheithauer & Petermann, 2004, S. 93 ff; aber auch Papousek, 2004).

Die größte Bedeutung wird Temperamentsfaktoren und unterschiedlichen Dispositionen zur Affektregulation auf neurophysiologischer Ebene zugemessen. „Als Temperamentsfaktoren sind dabei konstitutionelle Unterschiede in Aktivität, Reaktivität und Selbstregulation des Menschen zu verstehen“ (Resch, 2004, S. 34), die stark anlagebedingt, aber durch Umweltfaktoren maßgeblich beeinflussbar sind (s.u.).

Empirisch haben Thomas & Chess (1980) drei Typen von Temperamentsmustern unterschieden (Zusammenstellung nach Schmeck, 2003, S. 15 f):

Temperamentsunterschiede wirken sich nach Rothbart & Bates (1998) unter anderem auf die Selbstregulation, die Aufmerksamkeitslenkung, die emotionale Reaktivität und motorische Aktivität des Kindes aus.

Kinder, die mit schwierigem Temperament bzw. erhöhter physiologischer Reaktivität geboren werden, sind vulnerabler und benötigen größere soziale Unterstützung zum Aufbau intrapsychisch stabiler Strukturen.

Schmeck (2003) fasst die bestehenden Untersuchungen zum Zusammenhang von spezifischen Temperamentsmerkmalen und aggressivem Verhalten zusammen:

Von hoher Bedeutung zeigt sich die Interaktion zwischen Temperament und elterlicher Wahrnehmung. Je eher die Temperamentsmerkmale eines Kindes von seinen Eltern als schwierig angesehen werden, desto eher sind im Verlauf der Entwicklung externalisierende Verhaltensstörungen der Kinder zu erwarten“ (ebd., S. 170).

2.2.2.2 Frühkindliche (Beziehungs-)Erfahrungen

Der „kompetente Säugling“ (Dornes, 1997) tritt von Geburt an in Interaktion mit seiner Umwelt und seinen Bezugspersonen. Die dabei gemachten Erfahrungen werden intrapsychisch abgebildet (repräsentiert) und bilden die Grundlage für die Entstehung innerer (Selbst-)Strukturen oder Schemata, die handlungsleitend werden, und nachdem sie verfestigt sind, die Begegnung mit der (Außen-)Welt steuern. In diesem Interaktionsprozess kommt drei Faktoren besondere Bedeutung zu:

  1. der Unterstützung kindlicher Emotionsregulation und Affektabstimmung,
  2. dem Erfahren einer sicheren Bindung und
  3. dem Erleben von Kontrolle und Selbstwirksamkeit.
  1. Bei der Unterstützung kindlicher Emotionsregulation und Affektabstimmung durch die Bezugspersonen geht es nach Papousek (2004) um „die Regulation von arousal (Erregung [allgemein, z.B. Schlaf/Wachrhytmus, d. Verf.]), activity (motorische Aktivität), affect (affektive/emotionale Erregung) und attention (Aufmerksamkeit)“ (ebd., S. 82). Nach Petermann & Wiedebusch (2003) findet in der Eltern-Kind-Interaktion „eine gemeinsame Regulation von Gefühlen“ statt; Papousek (2004) spricht hier von einer „Co-Regulation“.
    Neben der Regulation der Intensität von Affekten geht es auch um die Abstimmung der Affekte („affect attunement“ nach Stern, 1992), also um die Richtung der Gefühle, z.B. von Furcht vs. Neugier angesichts eines neuen Objektes.
    Im Prozess der Emotionsregulation liegen starke Gefahren für die Entstehung von Entwicklungsstörungen: Es kann zu einer nicht-gelingenden Passung zwischen Kind und Bezugspersonen kommen (die auf ein ruhiges Kind eingestellten Eltern können sich nicht auf das sehr temperamentvolle Kind einstellen), oder die Eltern schaffen es nicht, die Spannungen von Kindern „herunterzuregulieren“.
    Die nicht gelingende Regulation führt prinzipiell zu (Dauer-)Stress, zu einer permanenten Anspannung und Aktivierung, zu einer erlebten Diskrepanz zwischen Anforderungen und Fähigkeiten und zu einem fehlenden Selbstwirksamkeits- und Kontrollerleben (s.o.). Dieser Stress kann prinzipiell auf drei unterschiedliche Weisen bewältigt werden: zum einen durch Ohnmacht und/oder sozialen Rückzug, zum zweiten auf aggressive Weise, indem versucht wird, durch das Herstellen von Übermacht Kontrolle auszuüben. Zum dritten kann es zu einem ständigen Hin- und Herschwanken zwischen beiden Extremen kommen. Diese Bewältigungsmechanismen verfestigen sich als dauerhafte ‚Antwortbereitschaft‘ (und werden zum bestimmenden Persönlichkeits-/Strukturmerkmal).

    img

    Abb. 3: Prozess der Entwicklung von Regulationsstörungen zu Persönlichkeits-Strukturmerkmalen (nach Fröhlich-Gildhoff, 2006)

  2. Nur wenn Kinder sichere Bindungserfahrungen machen, können sie eine stabile, kohärente Selbststruktur entwickeln. Es gibt eine Vielzahl von Belegen für den Zusammenhang zwischen unsicherer Bindung – und entsprechenden inneren Repräsentationen (dem „inneren Arbeitsmodell“ der Bindungstheorie; vgl. z.B. Grossmann, 2001) – und späterem aggressiven Verhalten. Petermann & Wiedebusch (2003) stellen zusammenfassend fest: „Bei unsicher gebundenen Kindern wurde (…) mit zunehmendem Alter ein Anstieg negativer und ein Rückgang positiver Emotionen festgestellt. Im zweiten und dritten Lebensjahr freuten sich diese Kinder seltener und waren häufiger ängstlich oder ärgerlich“ (ebd., S. 31).
  3. Die schon früh herausgebildeten Erwartungen, selbstwirksam zu sein, haben eine wichtige Bedeutung für die Herausbildung des Selbstbildes und des Selbstwertes (vgl. z.B. Stern, 1992; Grawe, 1998). Fehlendes Selbstwirksamkeitserleben führt zu Stress (Jerusalem, 1990) und zu Gefühlen genereller Handlungsunfähigkeit. Dieses Gefühl kann zumindest kurzfristig durch aggressives/gewalttätiges Verhalten kompensiert werden: Mit Gewalt lassen sich relativ schnell Effekte erzielen und so kurzfristig Selbstwirksamkeitserfahrungen machen. Auf diese Weise kann aggressives Verhalten zumindest kurzfristig den Selbstwert stabilisieren; dieses Muster kann sich verfestigen, wenn es nicht durch konsistentes Erziehungsverhalten unterbunden wird.

2.2.2.3 Selbststruktur

Aus dem Wechselspiel von biologischen Ausgangsbedingungen und frühkindlichen (Beziehungs-)Erfahrungen ergeben sich zusammengefasst folgende Konsequenzen für die Selbststruktur (bzw. „Affektlogische Schemata“, Resch, 2004, S. 38; s.a. Grosse Holtforth & Grawe, 2004, S. 10f), die das Risiko für dauerhaftes aggressives Handeln – im Sinne einer Verhaltensdisposition – erhöhen:

  1. Unsichere bzw. desorganisierte Bindungsrepräsentationen führen dazu, dass eine grundlegende Unsicherheit in den Aufbau von (neuen) Beziehungen gelegt wird. Dies hat die Folge, dass anderen Menschen, Erwachsenen wie Gleichaltrigen, zunächst mit Vorsicht und Misstrauen begegnet wird. So kommt es zu einem Kreislauf von Vorsicht, erwarteter Ablehnung, zurückhaltenden Reaktionen beim Gegenüber – wodurch dann letztlich die eigene Sicht bestätigt wird: In zweideutigen Situationen reagieren die betreffenden Kinder „häufiger aggressiv und werden deshalb auch aggressiver behandelt, was wiederum ihre Sicht von der Welt als Ort latenter Bedrohung bestätigt“ (Dornes, 1997, S. 272).
  2. Die sozial-kognitive Informationsverarbeitung ist einseitig ‚gepolt‘: offene oder unklare Situationen werden von Kindern mit stark aggressiv ausgerichteten Selbststruktur-Anteilen signifikant häufiger als feindselig oder aggressiv interpretiert. Dies führt dann dazu, dass auch eher aggressive oder gewalttätige (Verhaltens-)Antwortbereitschaften aktiviert werden und wiederum im Sinne eines Kreislaufprozesses dieses Schema der Informationsverarbeitung verstärkt wird (vgl. Krahé, 2001; Crick & Dodge, 1994; Essau & Conradt, 2004; Dornes, 1997).
  3. Die eigenen Selbstwirksamkeits- und Kontrollerwartungen sind aufgrund realer (früher) Erfahrungen zunächst eingeschränkt. Aggressives Verhalten ist eine Möglichkeit, um zumindest kurzfristig Situationskontrolle auszuüben und damit das eigene Selbstwirksamkeitserleben zu erhöhen. Petermann et al. (2001) stellen fest, dass aggressive Kinder „glauben, dass Aggression zu Anerkennung, einem höheren Selbstwertgefühl sowie positiven Gefühlen führt (…); weiterhin schätzen diese Kinder ihr aggressives Handeln als effektiv ein“ (ebd., S. 21). Aggression bzw. Gewalt dienen somit dazu, zumindest kurzfristig, den eigenen Selbstwert zu stabilisieren.
  4. Kinder und Jugendliche mit aggressiven Verhaltensdispositionen verfügen in der Regel über weniger Fähigkeiten zu Selbststeuerung und Selbstregulationen von Affekten und zur Selbstberuhigung (vgl. z.B. Petermann & Wiedebusch, 2003; Papousek, 2004).
  5. Kinder und Jugendliche mit deutlich aggressivem Verhalten verfügen über deutlich weniger Kompetenzen, um in konflikt- oder spannungsreichen Situationen nicht-aggressive Lösungen zu suchen und zu realisieren (vgl. z.B. Scheithauer & Petermann, 2004; Krahé, 2001).

Zusammenfassend lassen sich auf der Ebene der Selbststruktur bzw. handlungsleitenden innerpsychischen Schemata vier Variablen identifizieren, die in einer Wechselwirkung die Disposition zu überdauerndem aggressiven Verhalten hervorbringen und in einem sich selbst verstärkenden Prozess stabilisieren:

2.2.2.4 Risiko- und Schutzfaktoren

Die Entwicklungspsychopathologie (vgl. z.B. Oerter et al., 1999; Resch, 2004) bzw. die Entwicklungswissenschaften (vgl. z.B. Petermann et al., 2004) gehen davon aus, dass sich aus der Bilanz von risikoerhöhenden und risikomildernden Entwicklungsbedingungen eine Gesamtbelastbarkeit eines Kindes und seiner Familie (Resilienz vs. Vulnerabilität) ergibt, welche die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Verhaltensauffälligkeiten verringert oder erhöht.

Eine große Bedeutung für die Ausbildung und Stabilisierung übermäßig aggressiven Verhaltens haben: