Vorwort

Psychische Auffälligkeiten und Störungen bei Kindern und Jugendlichen nehmen insgesamt zu. Mit der Umsetzung des durch die Bundesrepublik Deutschland ratifizierten Übereinkommens der Vereinten Nationen zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen werden darüber hinaus künftig mehr Kinder mit unterschiedlichen Behinderungen, Lernschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten Regelkindergärten und -schulen besuchen; sie zeigen zudem ein vergleichsweise erhöhtes Risiko zur Entwicklung psychischer Auffälligkeiten.

Die zunehmende Heterogenität hinsichtlich der psychischen Gesundheit von Kindern in Kita- und Klassenverbänden stellt Pädagogen vor die Aufgabe, zu Fragestellungen adäquate Lösungen zu finden, die nur selten Inhalte ihrer Ausbildung oder ihres Studiums gewesen sind. Neue pädagogische Anforderungen liegen hier im frühzeitigen Erkennen von Auffälligkeiten und einem angemessenen, professionellen pädagogischen Umgang.

Pädagogen an Kitas, Grundschulen und weiterführenden Schulen begleiten Kinder oft jahrelang täglich mehrere Stunden. Auch deswegen sind pädagogische Institutionen Lebensbereiche, in denen psychische Veränderungen, Auffälligkeiten oder Störungen nur selten verborgen bleiben. Die dadurch entstehenden Möglichkeiten zur Prävention, zur Unterstützung kinderpsychotherapeutischer Interventionen und zur Vermittlung von Wissen an Eltern sollten angesichts der vielfach mangelhaften Versorgungslage von Kindern mit psychischen Auffälligkeiten insgesamt wesentlich intensiver genutzt werden.

Der vorliegende Band greift diese Veränderung der pädagogischen Anforderungen auf, indem Wissen zu häufigen klinischen Auffälligkeiten und Störungen komprimiert und alltagsnah vermittelt wird. Dies wird verknüpft mit Überlegungen zu pädagogischem Handeln gegenüber Eltern und gegenüber betroffenen Kindern und Jugendlichen im Alltag. Zu zahlreichen Themen werden ergänzend Möglichkeiten und Quellen zur eigenen, weiterführenden Information benannt.

Die ersten drei Kapitel vermitteln grundlegendes Wissen zur Klinischen Kinderpsychologie, zur Klassifikation, Häufigkeit und Behandlung psychischer Störungen. Die nachfolgenden Kapitel befassen sich jeweils mit den Merkmalen, dem Verlauf, den Entstehungsbedingungen und wirksamen psychotherapeutischen Methoden jeweils bezogen auf ein häufiges psychisches Störungsbild. Gleichzeitig findet in diesen störungsspezifischen Kapiteln ein Transfer zu pädagogischen Fragen statt, indem Möglichkeiten zur pädagogischen Prävention dargestellt, Hinweise zur Arbeit mit betroffenen Familien beschrieben und Implikationen für die pädagogische Praxis in Schule und Kita diskutiert werden. Ein abschließendes Kapitel stellt Hinweise zur Gestaltung pädagogischer Gesprächsangebote und zur Durchführung von Elterngesprächen zusammen. Die in den Kapiteln verwendeten (und halbfett hervorgehobenen) Fachbegriffe werden schließlich in einem alphabetisch geordneten Glossar erläutert.

Obwohl sich dieser Band an die Gruppe der mehrheitlich weiblichen Pädagogen an Kitas, Regelschulen und Förderzentren richtet, haben wir uns aus Gründen der Lesbarkeit entschieden, jeweils lediglich die männliche Form zu verwenden. Es sind aber jeweils sowohl weibliche als auch männliche Personen gemeint, wenn von Pädagogen, Erziehern, Lehrern usf. die Rede ist.

Flensburg, im Frühjahr 2013

Armin Castello

1

Grundlagen der Klinischen Kinderpsychologie: Definitionen, Konzepte und Modelle

Simone Gebhard

1.1 Was ist Klinische Psychologie bzw. Klinische Kinderpsychologie?

Die Klinische Psychologie befasst sich mit psychischen Störungen und den psychischen Aspekten und Krankheiten in Forschung, Diagnostik und Therapie. Sie ist eine Teildisziplin der Psychologie und umfasst die Themen

Die Klinische Psychologie umfasst die Forschung, Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen und den psychischen Aspekten somatischer Störungen bei Menschen aller Altersgruppen (Baumann und Perrez, 2011).

Die Klinische Kinderpsychologie setzt einen Schwerpunkt bei der Erforschung von früh wirksamen Risiko- und Schutzfaktoren (vgl. Exkurs Risiko- und Schutzfaktoren) und orientiert sich insbesondere an den Bedürfnissen von Kindern und deren Familien. Die benachbarten Disziplinen Heil- und Sonderpädagogik, Kinderheilkunde und Kinder- und Jugendpsychiatrie sind eng mit der Klinischen Kinderpsychologie verzahnt und leisten einen Beitrag zu Prävention, Diagnostik und Intervention auf diesem Gebiet (Petermann, 2008).

Für die Forschung im Jugendalter hingegen hat sich der Begriff Klinische Jugendpsychologie bislang nicht durchgesetzt. Petermann führt das u. a. darauf zurück, dass die Leitlinien zur Diagnostik und Therapie psychischer Störungen zwischen Kindes- und Jugendalter nicht hinreichend differenzieren, dass gruppentherapeutische Verfahren, die sich für diesen Altersbereich eignen, kaum erprobt sind, nur wenig Präventionsprogramme existieren und dass die Motivation der Jugendlichen meist so gering ist, dass sie kaum aktiv an einer Behandlung mitwirken.

1.2 Was sind psychische Störungen und wie lassen sie sich definieren?

In den oben genannten Definitionen ist der Begriff »psychische Störung« von zentraler Bedeutung und deshalb soll nun geklärt werden, was darunter zu verstehen ist.

Vor der Definition gilt es herauszustellen, dass »psychische Störung« ein Konstrukt ist, auf das sich Praktiker und Forscher auf der Grundlage von Forschungsergebnissen geeinigt haben, die zu diesem Zeitpunkt den neusten Stand der Forschung widerspiegeln. Es ist somit die bestmögliche Lösung für eine begrenzte Zeit und kann auf der Grundlage neuerer Forschungsergebnisse eine Änderung erfahren. Genutzt wird dieser Begriff seit der Einführung der DSM-Klassifikation im Jahre 1980 und löst »psychiatrische Störung« bzw. »psychiatrische Erkrankung« ab (Wittchen und Hoyer, 2011). Das Konstrukt will vermeiden, dass der Eindruck entsteht, dass Dysfunktionen auf ein eindeutiges Prinzip (Ursachen, Wirkung...) zurückführbar sind und darauf reduziert werden. Diese Zusammenhänge sind nicht so einfach herzustellen, da die Ursachen und Verläufe psychischer Störungen wesentlich komplexer sind, als es bei somatischen Krankheiten häufig der Fall sein kann.

Renneberg, Heidenreich und Noyon definieren eine psychische Störung wie folgt:

»Unter einer Störung werden Symptome oder Symptommuster (Syndrome) im Denken, Erleben und/oder Handeln einer Person verstanden, die von der Norm abweichen, zu einer Beeinträchtigung der beruflichen Leistungsfähigkeit und/oder sozialen Aktivitäten führen, durch ausgeprägtes Leiden gekennzeichnet sind und bei den Betroffenen ein Änderungsbedürfnis hervorrufen.« (2009, S. 21)

Was mit einer Abweichung von der Norm gemeint ist, unterliegt gesellschaftlichen Werten und Normen.

Der vorliegende Band beschäftigt sich mit psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter. In diesem Altersabschnitt gilt es, vielfältige Entwicklungsaufgaben mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen zu bewältigen. Besonders im Jugendalter müssen durch den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter vielfältige Anforderungen (bspw. körperliche und hormonelle Veränderungen, die Zunahme von Verantwortung und Selbständigkeit) im Spannungsfeld von Identitätsentwicklung und der Zugehörigkeit zu einer Gruppe bewältigt werden. Gelingt diese Anforderungsleistung nicht und kommen evtl. besonders belastende Ereignisse wie bspw. chronische Erkrankung oder Behinderung, der Verlust eine nahen Angehörigen oder Freundes, Ereignisse wie Naturkatastrophen oder Unfälle oder seelische und körperliche Erkrankungen eines Elternteils hinzu, kann das möglicherweise zur Ausbildung einer psychischen Störung beitragen.

1.3 Entwicklungspsychopathologie

Die Modellvorstellung der Entwicklungspsychopathologie hat in den letzten Jahren den Grundstein dafür gelegt, dass psychische Störungen nicht nur beschrieben und klassifiziert werden können, sondern darüber hinaus dazu beigetragen, das Auftreten von Entwicklungsabweichungen und psychischen Störungen von der frühen Kindheit bis zum Erwachsenenalter nachzuzeichnen (Blanz, Remschmidt, Schmidt und Warnke, 2006). Die Entwicklungspsychopathologie vergleicht die normale Entwicklung mit der Entstehung und dem Verlauf von Entwicklungsauffälligkeiten und versucht Aussagen zu machen, wie eine Störung entsteht bzw. wie die Störung verlaufen wird, um auf diesem Weg klinisches Handeln zu untermauern. Sie untersucht außerdem, welche negativen und positiven Faktoren auf die Entwicklung einwirken und warum es dazu kommt, dass Kinder, die unter widrigen Bedingungen aufwachsen, sich trotzdem normal entwickeln und keine psychische Störung ausbilden.

Petermann (2008) weist besonders auf den Prozesscharakter hin: Eine Fehlanpassung ist das Ergebnis einer Entwicklung. In diesem Zusammenhang sucht man auch nach Indikatoren, die bestimmte Entwicklungsverläufe vorhersagen können, so dass bei ungünstigen Prognosen frühzeitig mit Gegenmaßnahmen begonnen werden kann, die schlimmere Folgen vielleicht vermeiden können (vgl. dazu Resilienz).

1.4 Biopsychosoziales Krankheitsmodell

Die Entstehung und der Verlauf von Krankheiten können aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben werden. Neuere interaktionistische Theorien berücksichtigen bei ihrem Versuch, das Entstehen psychischer Störungen zu modellieren, das Wechselspiel von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren. In diesem biopsychosozialen Krankheitsmodell spielen zudem Risiko- und Schutzfaktoren eine Rolle für das Auftreten und die Schwere einer Störung. Die Auswirkungen der einzelnen Faktoren sind stark kontextabhängig und so kann dem gleichen Faktor in einem anderen Kontext auch eine veränderte Rolle zukommen. Schüssler und Brunnauer (2011, S. 296) stellen das folgendermaßen dar:

»Biologisch-genetische und psychosoziale Faktoren können in einem Fall die Erkrankung ursächlich bedingen, in einem anderen Fall den Verlauf der Erkrankung bestimmen oder – als dritte Möglichkeit – als Folge der individuellen psychischen Erkrankung erscheinen.«

Wittchen und Hoyer (2011) stellen auf dieser Grundlage ein Vulnerabilitäts-Stress-Modell vor, das das Zusammenspiel aller Faktoren und die Möglichkeit der unterschiedlichen Bedeutung deutlich machen soll. Das Modell geht von unterschiedlichen Bereichen aus, die zueinander in Wechselwirkung stehen. Jede Person durchläuft ihre individuelle Sozialisation, und so sind alle Bereiche durch diese unterschiedliche Sozialisation geprägt, die sich auf der Grundlage der biologisch-genetisch vorgegebenen Entwicklungsgrundlage vollzieht:

img

Abb. 1: Vulnerabilitäts-Stress-Modell (Wittchen und Hoyer, 2011, S. 21, eigene Bearbeitung)

Die zentralen Komponenten dieses Modells werden im folgenden Abschnitt erläutert:

Unter Vulnerabilität wird eine Anfälligkeit verstanden, die sich darauf bezieht, wie Individuen auf der psychologischen, biologischen und sozialen Ebene reagieren, wenn sie einer entsprechenden Belastung ausgesetzt sind. Vulnerabilität alleine führt nicht zur Störung, es ist die Kombination mit einem entsprechenden Auslöser, die zum Ausbruch einer Störung beiträgt (ebd.). Vulnerabilität kann genetisch beeinflusst, erworben oder erlernt sein, auch eine Kombination dieser drei ursächlichen Bedingungen muss in Betracht gezogen werden. Diese Sichtweise wird von Petermann (2008) als interaktionistische Sichtweise bezeichnet, da man davon ausgeht, dass die Entwicklung von Persönlichkeitsmerkmalen wie auch die Entstehung von psychischen Störungen auf eine Wechselwirkung von angeborenen und umweltbezogenen Faktoren zurück geht. Vielfältige Beispiele dafür finden sich in den nachfolgenden störungsbezogenen Kapiteln.

Der Begriff Stress meint in diesem Zusammenhang alle Anforderungssituationen auf biologischer, psychologischer und sozialer Ebene an eine Person, die eine Anpassungsreaktion hervorrufen. Sie können die Bandbreite von einfachen Alltagssituationen bis zu traumatischen Ereignissen umfassen. Im abgebildeten Modell sind einige »Stressereignisse« bespielhaft genannt. Deren Bedeutung und Auswirkung wiederum sind u. a. von Vulnerabilitäten, dem Entwicklungsstadium einer Person sowie von Bewältigungsstrategien und der individuellen Resilienz abhängig (Wittchen und Hoyer, 2011).

Unter Resilienz wird die Fähigkeit einer Person verstanden, sich trotz des Vorhandenseins von extremen Belastungsfaktoren und ungünstigen Lebenseinflüssen positiv zu entwickeln. Das bedeutet, dass Kinder trotz erhöhter Vulnerabilität und dem Vorhandensein von Risikofaktoren nicht notwendigerweise eine psychische Auffälligkeit oder psychische Störung entwickeln.

In Zusammenhang mit diesem Begriff werden so genannte Risiko- und Schutzfaktoren diskutiert. Unter Risikofaktor wird eine bestimmte Bedingung verstanden, die die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Störung erhöht (Blanz et al., 2006). Im Gegensatz dazu stehen die Schutzfaktoren, die trotz vorhandener Risikofaktoren eine normale Entwicklung begünstigen (ebd.).

1.5 Risiko- und Schutzfaktoren

Die psychische Entwicklung von Kindern und in diesem Zusammenhang auch die Entstehung und der Verlauf von psychischen Störungen werden von vielen Risiko- und Schutzfaktoren beeinflusst. Blanz et al. (2006) unterscheiden zwischen biologischen und ökologischen, psychologischen und psychosozialen Risiken.

Biologische Risiken können genetisch bedingt oder vorgeburtlich bzw. in der frühen Kindheit erworben sein, wie bspw. Komplikationen während der Geburt, Frühgeburtlichkeit oder Nikotinmissbrauch während der Schwangerschaft.

Zu den psychologischen Risiken zählen bspw. manche Temperamentmerkmale, Persönlichkeitseigenschaften und Intelligenzstatus.

Die psychosozialen Risiken können u. a. familiärer Art (z. B. Scheidung, soziale Schichtzugehörigkeit, familiäre Beziehungs- und Interaktionsmuster) und peergruppenabhängig (ungünstige Beeinflussung durch Gleichaltrige z. B. durch gesteigerten Alkoholkonsum) sein.

Blanz et al. (2006) weisen in diesem Zusammenhang auf die Risiko-Akkumulation hin: Verschiedene Studien besagen, dass das Risiko mit der Summe der vorliegenden Risikofaktoren steigt und bspw. das Risiko, an einer psychischen Störung zu erkranken, sich mit dem Vorliegen von zwei Risikofaktoren verdoppelt. Beim Vorliegen von drei oder mehr Faktoren konnte sogar eine Verdreifachung des Risikos festgestellt werden.

Nicht alle Kinder, die Risiken ausgesetzt sind, entwickeln im Laufe ihres Lebens eine psychische Krankheit, und deshalb wurde das Konzept der Risikofaktoren um das der Schutzfaktoren ergänzt (ebd.).

Petermann und Resch (2008, S. 54) definieren Schutzfaktoren wie folgt: »Schutzfaktoren bestehen schon vor dem Auftreten der Störung und werden durch das Auftreten von Risikofaktoren aktiv, indem sie deren Wirkung abmildern oder aufheben.« Zu den Schutzfaktoren zählen personale Ressourcen wie bspw. ein positives Selbstbild und Temperament, Intelligenz und soziale Ressourcen wie bspw. vertrauensvolle Beziehungen innerhalb der Familie oder zu anderen Bezugspersonen und unterstützende Systeme (z. B. Schule oder Kirche).

»Coping oder Handlungskompetenz beschreibt das Ausmaß, in dem Personen mit Schwierigkeiten und stressreichen Lebensereignissen fertig werden und sie bewältigen« (Wittchen und Hoyer, 2011). Auch Copingstrategien sind abhängig von der Situation und der individuellen Vulnerabilität.

Bei der Betrachtung solcher Modelle soll nicht der Eindruck entstehen, dass sich die Entstehung oder der Verlauf von psychischen Störungen vollständig erklären lassen. Ein Modell erhebt nicht den Anspruch, »alle relevanten Befunde widerspruchsfrei einzuordnen und entsprechende wissenschaftlich begründete Interventionen abzuleiten« (ebd., S. 23). Für die Identifikation einzelner biologischer, psychologischer und sozialer Einflussfaktoren, die die Entstehung von Entwicklungsabweichungen begünstigen, bedarf es aber vor allem umfassender Längsschnittstudien (Petermann, Petermann und Damm, 2008).

Literatur

Baumann, U. & Perrez, M. (2011). Grundbegriffe – Einleitung. In M. Perrez & U. Baumann (Hrsg.), Lehrbuch Klinische Psychologie – Psychotherapie (4. Aufl.). Bern: Huber.

Blanz, B., Remschmidt, H., Schmidt, M. H. & Warnke, A. (2006). Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter. Ein entwicklungspsychopathologisches Lehrbuch. Stuttgart: Schattauer.

Petermann, F. (2008). Grundbegriffe und Konzepte der Klinischen Kinderpsychologie. In F. Petermann (Hrsg.), Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie (6. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.

Petermann, U., Petermann, F. & Damm, U. (2008). Entwicklungspsychopathologie der ersten Lebensjahre. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 56, 243–253.

Petermann, F. & Resch, F. (2008). Entwicklungspsychopathologie. In F. Petermann (Hrsg.), Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie (6. Aufl.). Göttingen: Hogrefe

Renneberg, B., Heidenreich, T. & Noyon, A. (2009). Einführung Klinische Psychologie. München: Reinhardt.

Schüssler, G. & Brunnauer, A. (2011). Psychologische Grundlagen psychischer Erkrankungen. In H.-J. Möller, G. Laux & H.-P. Kapfhammer (Hrsg.), Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie Band 1: Allgemeine Psychiatrie. Band 2: Spezielle Psychiatrie. (4. Aufl.). Heidelberg: Springer.

Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2011). Was ist Klinische Psychologie? Definition, Konzepte und Modelle. In H.-U. Wittchen, J. Hoyer (Hrsg.), Klinische Psychologie und Psychotherapie (2. Aufl.). Berlin: Springer.

2

Klassifikation und Epidemiologie psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter

Simone Gebhard

2.1 Klassifikation und aktuelle Klassifikationssysteme

Um die Kommunikation zu erleichtern und dem Bedürfnis nach Einteilung und Identifikation psychischer Störungen Rechnung zu tragen, haben sich Experten auf Klassifikationssysteme verständigt, die die Grundlage für die Indikationsstellung und Behandlung bieten. Für eine wissenschaftliche Erforschung von psychischen Störungen ist die Existenz solcher Systeme eine unabdingbare Voraussetzung.

Aktuell existieren für die Klassifikation psychischer Störungen zwei unterschiedliche Systeme, die kompatibel sind und sich in ihren Kriterien nicht sehr stark unterscheiden. Beide Klassifikationssysteme nehmen eine kategoriale Klassifikation vor und versuchen theoriefrei zu sein, d. h. dass keine nosologische1 Einteilung erfolgen soll, sondern psychische Störungen als klar voneinander abgrenzbare und unterscheidbare Krankheits- und Störungseinheiten beschrieben werden. Generell beziehen sich die Kriterien für eine Diagnose gemäß Döpfner (2008a, S. 30)

»immer auf das Vorliegen von Symptomen, wobei häufig aus einer Liste von mehreren Symptomen eine bestimmte Mindestanzahl von Symptomen vorhanden sein muss; häufig auf das Zusatzkriterium der klinischen Bedeutsamkeit; zusätzlich zum Vorliegen von Symptomen verlangt es, dass die Störung ein deutliches Leiden oder eine klinisch bedeutsame Beeinträchtigung in der sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsfähigkeit verursacht;

häufig auf Ausschlusskriterien, die nicht zutreffen dürfen, da in solchen Fällen eine andere Störung diagnostiziert wird; diese Kriterien dienen also der differenzialdiagnostischen Abgrenzung gegenüber anderen Störungen;

teilweise auf den Beginn oder den Verlauf der Symptomatik;

selten auf ätiologische Faktoren, die zur Entwicklung der Symptomatik beitragen.«

Das ICD (International Statistical Classification of Diseases, Injuries and Causes of Death) ist das Klassifikations- und Diagnosesystem der Weltgesundheitsorganisation (WHO), liegt seit 1996 in der zehnten Auflage vor (ICD-10) und wird in klinischen Kontexten und der Krankenhausdokumentation eingesetzt.

Das DSM (Diagnostic and Statistical Manual) ist das Klassifikationssystem der American Psychiatric Association (APA), das auf empirischen Daten basiert und in der Forschung eingesetzt wird. Das DSM liegt aktuell in einer vierten textrevidierten Fassung (DSM-VI-TR) vor und enthält ausführlichere Informationen zu den einzelnen Störungsbildern. Es wird voraussichtlich im Mai 2013 vom DSM-V abgelöst (APA, 2012).

In der ICD-10 sind die psychischen Störungen zu insgesamt neun Hauptgruppen zusammengefasst. Die beiden Hauptkategorien F8 und F9 beinhalten Störungen, die »typischerweise im Kindes- und Jugendalter beginnen« (Döpfner, 2008a, S. 31). Auch Störungsbilder aus den anderen Kategorien sind auf das Kindes- und Jugendalter übertragbar, wie es bspw. auf die Essstörungen oder die Depression zutrifft, die beide im vorliegenden Band aufgegriffen werden.

Die folgende Darstellung gibt einen Überblick über die Verhaltens- und emotionalen Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (F9) nach ICD-10 und entsprechende DSM-IV-TR-Kategorien2 (ebd., S. 33ff.). Die kursiv gedruckten Störungsbilder werden u. a. in den störungsbezogenen Kapiteln im vorliegenden Band thematisiert:

Code ICD-10

ICD-10-Bezeichnung

DSM-IV-TR-Bezeichnung

F90

Hyperkinetische Störung

Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)

F90.0

Einfach Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung

ADHS-Mischtyp

ADHS-vorwiegend unaufmerksamer Typ

ADHS-vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typ

F90.1

Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens

(Mehrfachdiagnosen notwendig)

F91

Störung des Sozialverhaltens

F91.1

Auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens

F91.1

Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen

F91.2

Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen

F91.3

Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten

Störung mit oppositionellem Trotzverhalten

F92.0

Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung

(Mehrfachdiagnosen notwendig)

F93

Emotionale Störung des Kindesalters

(unter: andere Störungen im Kleinkindalter oder Adoleszenz)

F93.0

Emotionale Störung mit Trennungsangst des Kindesalters

Störung mit Trennungsangst

F93.1

Phobische Störung des Kindesalters

(keine kindheitsspezifische Kategorie, sondern nur: F40.2 spezifische Phobie)

F93.2

Störung mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters

(keine kindheitsspezifische Kategorie, sondern nur: F40.1 soziale Phobie)

F93.3

Emotionale Störung mit Geschwisterrivalität

F93.80

Generalisierte Angststörung des Kindesalters

(keine kindheitsspezifische Kategorie, sondern nur: F41.1 generalisierte Angststörung)

F94

Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend

F94.0

Elektiver Mutismus

Selektiver Mutismus

F94.1

Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters

Reaktive Bindungsstörung im Säuglingsalter oder in der frühen Kindheit/gehemmter Typus

F94.2

Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung

Reaktive Bindungsstörung im Säuglingsalter oder in der frühen Kindheit/ungehemmter Typus

F95

Ticstörungen

F95.0

Vorübergehende Ticstörung

Vorübergehende Ticstörung

F95.1

Chronische, motorische oder vokale Ticstörung

Chronische, motorische oder vokale Ticstörung

F95.2

Kombinierte, vokale und multiple motorische Tics (Tourette-Syndrom)

Tourette-Störung

F98

Sonstige Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und frühen Jugend

F98.0

Enuresis

F98.1

Enkopresis

Enkopresis (ohne Verstopfung und Überlaufinkontinenz)

F98.2

Fütterstörung im Kindesalter

Fütterstörung im Säuglings- oder Kindesalter

Ruminationsstörung

F98.3

Pica im Kindesalter

Pica

F98.4

Stereotype Bewegungsstörung

F98.5

Stottern

F98.6

Poltern

In den neuen Ausgaben dieser beiden Klassifikationssysteme werden einige Änderungen vorgenommen, die noch nicht endgültig beschlossen, aber schon in Grundzügen absehbar sind. Das DSM-V wird voraussichtlich im Mai 2013 erscheinen und die ICD-11 soll im Mai 2015 folgen (APA, 2012). Die störungsbezogenen Kapitel enthalten z. T. Hinweise, wenn Änderungen (unter Vorbehalt) absehbar sind.

2.2 Probleme der Definition und Klassifikation

Durch das Stellen einer Diagnose besteht die Gefahr der Stigmatisierung und Etikettierung von Menschen mit einer psychischen Störung, die dann möglicherweise in einem anderen Licht gesehen oder in unangemessener Weise behandelt werden. Daher muss beachtet werden, dass sprachliche Ausdrücke vermieden werden, die eine Identifizierung des Menschen mit der psychischen Störung, unter der er leidet, herbeiführen. So sollte bspw. nicht von einem geistig Behinderten oder einem Schizophrenen gesprochen werden, sondern von einem Menschen mit einer geistigen Behinderung bzw. mit einer Schizophrenie (Klicpera und Gasteiger-Klicpera, 2007).

Moderne Klassifikationsbestrebungen, wie sie im ICD-10 und DSM-IV umgesetzt werden, zielen auf typologische und damit statische Modelle ab. Beide Werke versuchen, theoriefreie einheitliche diagnostische Standards psychischer Störungsbilder zu erarbeiten, und ursachenbezogenen Erklärungen fehlen daher. »Ein funktionales Ordnungssystem, das eine solidere grundlagenwissenschaftliche Fundierung und größere therapeutische Relevanz aufweist, fehlt bislang« (Wittchen und Hoyer, 2011, S. 9). Aufgrund der Forschungslage und den unzureichenden Erkenntnissen über Entstehungsbedingungen und Verlauf psychischer Störungen ist es bislang noch nicht realisiert und damit die vorrangige Aufgabe im Bereich der Klinischen Psychologie und ihrer Nachbargebiete. Die Vorteile einer erleichterten Kommunikation als Grundlage für eine Indikationsstellung und Behandlung bleiben von dieser Kritik aber unberührt.

2.3 Epidemiologische Methoden

Bei der Betrachtung der Wissenschaft der Epidemiologie lassen sich zwei Forschungsschwerpunkte unterscheiden: die deskriptive und die analytische Epidemiologie.

Die deskriptive Epidemiologie befasst sich mit der Häufigkeit von psychischen Störungen in der Bevölkerung oder unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen. Erfasst wird auch der Verlauf von Störungen und deren Folgen in diesen unterschiedlichen Teilgruppen der Bevölkerung. Es handelt sich um eine rein statistische Erhebung von Häufigkeiten. Die analytische Epidemiologie verfolgt darüber hinaus das Ziel, Risiko- und Schutzfaktoren sowie auslösende und aufrechterhaltende Faktoren zu ermitteln, die die Häufigkeit von Störungen und deren Folgen beeinflussen.

Döpfner (2008a) verweist auf ein Zitat von Costello, Egger und Angold (2005), das auf die Entwicklungsepidemiologie hinweist, die zunehmend an Bedeutung gewinnt und psychische Störungen in verschiedenen Entwicklungsabschnitten betrachtet.

Epidemiologische Fragestellungen können die Frage nach der Auftretenshäufigkeit einer bestimmten psychischen Störung stellen, z. B. »Wie häufig kommt ADHS in Deutschland im Kindes- und Jugendalter vor?« und darüber hinaus auch versuchen, historische Entwicklungen im Auftreten dieser Störung zu erkennen, wie bspw. »Kommt ADHS in Deutschland 2012 häufiger vor als im Jahr 1980?«. Mit Hilfe der Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen können Entscheidungen im Zusammenhang mit Prävention und Behandlung getroffen werden, um Maßnahmen (z. B. Hilfsangebote für betroffene Kinder mit ADHS oder deren Eltern) bedarfsgerecht vorzuhalten. Auch Präventionsangebote und Gesundheitsförderung können auf Grundlage dieser Forschung möglichst frühzeitig im benötigten Umfang angeboten werden, um die steigenden Behandlungskosten im Gesundheitssystem zu vermindern.

2.4 Prävalenz psychischer Störungen

Um die Auftretenshäufigkeit verschiedener Störungen zu beschreiben, bedient sich die Epidemiologie verschiedener Konzepte: Mit der Prävalenz wird der Anteil aller Personen in der Bevölkerung angegeben, die zum Untersuchungszeitpunkt (Punktprävalenz), innerhalb eines vorgegebenen Zeitraums (Periodenprävalenz, z. B. ein Untersuchungszeitraum von einem Jahr) oder über die Lebensspanne gesehen (Lebenszeitprävalenz) von einer psychischen Störung betroffen sind. Nach Renneberg, Heidenreich und Noyon (2009) enthält eine Prävalenzangabe vier Bestimmungsstücke. Angegeben werden die Diagnose bzw. die Störung, das Diagnosesystem (z. B. ICD-10 oder DSM-IV), der Prävalenztyp (z. B. Lebenszeitprävalenz) und die Prozentzahl. Eine Prävalenzangabe könnte also bspw. lauten, dass die Lebenszeitprävalenz für ADHS (nach DSM-IV) bzw. HKS (nach ICD-10) bei den 11–13-Jährigen bei 7,1 % liegt (Schlack, Hölling, Kurth und Huss, 2007, S. 831).

2.5 Schwierigkeiten epidemiologischer Studien

Schaut man sich verschiedene Studien zur Häufigkeit psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter an, finden sich für einzelne Störungsbilder häufig irritierend unterschiedliche Häufigkeitsangaben. Petermann (2005) fasst zusammen, dass v. a. folgende Unterschiede zwischen den Studien dafür verantwortlich sind:

Beim Vergleich von Untersuchungen und bei der Einschätzung der Wertigkeit von Häufigkeitsangaben aus verschiedenen Studien müssen die aufgeführten Unterschiede Beachtung finden.

Das Heranziehen alternativer Untersuchungsansätze bietet aber keine Alternative zu epidemiologischen Studien, da nur so ein »weitgehend repräsentativer Einblick in die Gesamtbevölkerung« (vgl. ebd., S. 49) gegeben ist. Klinische Stichproben würden auf Grund der Selektivität der Probanden diesen Einblick verzerren, da oft nur besonders schwere Fälle im klinischen Rahmen in Erscheinung treten.

Eine weitere Schwierigkeit epidemiologischer Studien ist das Herstellen von kausalen Zusammenhängen zwischen dem Vorkommen einer spezifischen Bedingung und der Entstehung einer psychischen Störung. Wie dargestellt, liegt dem aktuellen Verständnis von psychischen Störungen ein biopsychosoziales Entstehungsmodell zu Grunde, sodass nicht ein Faktor ursächlich für die Entstehung der Störung verantwortlich gemacht werden kann. Um andere Faktoren hierfür zu identifizieren, könnte nach Petermann (2005) nur die Prüfung dezidierter Hypothesen mit entsprechend differenzierten Studiendesigns Aufschlüsse bieten.

2.6 Prävalenzentwicklung

In den letzten Jahren wurden zahlreiche Studien durchgeführt, die Angaben zur Prävalenz von psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter machen. Die Arbeiten von Ihle und Esser (2002) und Petermann (2005) liefern einen guten Überblick über die durchgeführten Studien bis zum Jahr 2005. Alle drei Autoren geben an, dass die Prävalenzrate psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter zwischen 10 und 20 % liegt. Ihle und Esser (2002) ermitteln in ihrer Zusammenfassung wichtiger internationaler Studien einen Median3 für die Sechs-Monats-Prävalenz von 18 %. Petermann (2005) ergänzt, dass die Persistenzraten über alle Altersstufen des Kindes- und Jugendalters hinweg bei über 50 % liegen. Das zeigt, dass es sich bei Störungen im Kindes- und Jugendalter nicht um Auffälligkeiten handelt, die sich im Laufe der Entwicklung verlieren, sondern, dass es um »ernstzunehmende und gesundheitspolitisch äußerst relevante Krankheiten« (Petermann, 2005, S. 163) geht, die in den Studien erfasst werden.

Petermann verweist außerdem darauf, dass nationale Studien belegen, dass 10 % der vorliegenden psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter bereits chronisch verlaufen.

Im Rahmen des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KIGGS) wurde die BELLA-Studie durchgeführt, die psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen erfragt und die als exemplarisch für unser Land gelten kann (Ravens-Sieberer, Wille, Bettge und Erhart, 2007). Die Ergebnisse ähneln auch den Übersichtsarbeiten der oben genannten Autoren.

Nach Ravens-Sieberer et al. (2007) kann festgehalten werden, dass 9,7 % der Befragten als »wahrscheinlich« psychisch auffällig gelten, während bei weiteren 12,2 % zumindest Hinweise auf eine psychische Auffälligkeit vorliegen. Jungen sind etwas häufiger betroffen als Mädchen und in beiden Gruppen steigt die Auftretenswahrscheinlichkeit einer psychischen Störung mit dem Alter leicht an. Bei Jungen steigt die Auftretenswahrscheinlichkeit von 22,5 % im Alter von 7–10 Jahren auf 24,9 % bei den 14-bis 17-Jährigen. Bei Mädchen lässt sich in den gleichen Altersgruppen ein Anstieg von 17,6 % auf 22,2 % ausmachen. Ihle und Esser (2002) fassen in ihrer Übersichtsarbeit zusammen, dass in der Adoleszenz meist eine Angleichung der Prävalenzraten erfolgt, häufig sogar zu sehen ist, dass die Prävalenzrate bei Mädchen mit zunehmendem Alter die der Jungen übersteigt.

Am häufigsten sind Kinder und Jugendliche von einer Angststörung betroffen (im Durchschnitt 10 %). Eine Störung des Sozialverhaltens findet sich bei 7,6 % der Kinder und Jugendlichen, die Prävalenz depressiver Störungen liegt bei 5,4 % der befragten Kinder und Jugendlichen. Jungen und Mädchen sind in den unterschiedlichen Altersgruppen etwa gleich stark betroffen. Die Prävalenz von ADHS liegt bei 2,2 % (Ravens-Sieberer, Wille, Bettge und Erhart, 2007). So genannte externalisierende Störungen (z. B. Aggressivität, Hyperaktivität) weisen meist höhere Prävalenzraten für Jungen, internalisierende Störungen (z. B. Ängste, Depression) und Essstörungen weisen höhere Raten für Mädchen auf (ebd., 2007). Weitere Angaben zur Prävalenz können den einzelnen Kapiteln zu psychischen Störungen entnommen werden.

Zur Komorbidität werden in der BELLA-Studie keine Aussagen gemacht. Ihle und Esser (2002) zeigen in ihrer Übersichtsarbeit, dass die Komorbiditätsraten im Kindes- und Jugendalter denen im Erwachsenenalter sehr ähnlich sind. Sie verweisen auf eine Studie von Angold, Costello und Erkanli aus dem Jahr 1999.

Die vorliegenden Befunde zeigen, dass jedes fünfte bis jedes zehnte Kind bzw. jeder fünfte bis zehnte Jugendliche an einer psychischen Störung leidet. Erschreckend ist leider, dass nur ein kleiner Teil der Betroffenen professionelle Hilfe bekommt (z. B. Ihle und Esser, 2002 und Petermann, 2005). So ist es nicht verwunderlich, dass alle genannten Autoren fordern, die Ergebnisse für die Versorgungsplanung stärker zu berücksichtigen und auch die kinder- und jugendpsychiatrische Forschung den gebührenden Stellenwert erhält, den sie auf Grund dieser Befunde verdient.

Literatur

Döpfner, M. (2008a). Klassifikation und Epidemiologie psychischer Störungen. In F. Petermann (Hrsg.), Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie (6. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.

Ihle, W. & Esser, G. (2002). Epidemiologie psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter: Prävalenz, Verlauf, Komorbidität und Geschlechtsunterschiede. Psychologische Rundschau, 53, 159–169.

Klicpera, C. & Gasteiger-Klicpera, B. (2007). Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter. Wien: Facultas.

Petermann, F. (2005). Zur Epidemiologie psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter. Kindheit und Entwicklung, 14, 48–57.

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Renneberg, B., Heidenreich, T. & Noyon, A. (2009). Einführung Klinische Psychologie. München: Reinhardt.

Schlack, R., Hölling, H., Kurth, B. M. & Huss, M. (2007). Die Prävalenz der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt, 50, 827–835.

Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2011). Was ist Klinische Psychologie? Definition, Konzepte und Modelle. In H.-U. Wittchen, J. Hoyer (Hrsg.), Klinische Psychologie und Psychotherapie (2. Aufl.). Berlin: Springer.

Verzeichnis der Internetquellen

American Psychiatric Association (APA) (2012). DSM-V Development. Zugriff am 14.11.2012 unter

http://www.dsm5.org/Pages/Default.aspx

1 Nosologie = Krankheitslehre

2 ICD-10-Kategorie Fxx.8 und Fxx.9 wurden nicht in die Tabelle aufgenommen

3 Der »Median« bezeichnet den Wert einer Rangordnung oberhalb und unterhalb dessen gleich viele Werte stehen (umgangssprachlich formuliert den »mittleren Wert«).

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Behandlung psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter

Simone Gebhard

Vor der Behandlung von psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter steht die diagnostische Untersuchung. Sie hat zum Ziel, »im Einvernehmen und Zusammenwirken mit Kind und Bezugsperson Informationen zu gewinnen und zu ordnen, so dass psychische Störungen und pathogene Lebensverhältnisse erkannt, diagnostisch eingeordnet, die Entstehungsbedingungen aufgeklärt, ihre Auswirkungen bewertet und adäquate Behandlungsmaßnahmen initiiert werden können« (Blanz et al., 2006, S. 455).

Diagnostik wird im vorliegenden Text nicht ausführlicher behandelt, da sie von entsprechend qualifizierten Fachärzten und Psychologen durchgeführt wird. Es ist möglich, dass Pädagogen in den Prozess mit einbezogen werden, wenn ihre Beobachtungen als Informationsquelle nützlich sind. Dazu finden sich Hinweise in den störungsbezogenen Kapiteln.

3.1 Merkmale, Definition und Aufgaben von Therapien im Kindes- und Jugendalter

Für Kinder und Jugendliche mit psychischen Störungen sind unterschiedliche Therapieformen entstanden, die der Entwicklungsperspektive Rechnung tragen und daher auch unter dem Namen entwicklungsorientierte Psychotherapie und Entwicklungspsychopharmakotherapie zu finden sind. Die Entwicklungsorientierung bezieht sich nicht nur auf den Patienten, sondern bei Kindern und Jugendlichen wird auch die familiäre Entwicklung berücksichtigt, häufig werden sogar andere Lebensbereiche bspw. Kita und Schule in die Therapie mit einbezogen und so ist neben entwicklungsorientierter Psychotherapie und Entwicklungspsychopharmakotherapie die dritte Kategorie der familien- und umweltzentrierten Maßnahmen zu nennen (Blanz et al., 2006).

Allen Therapieformen ist gemeinsam, dass sie Verhalten, Erleben, Kognition, körperliche Befindlichkeit und zwischenmenschliche Beziehungsstörungen der Patienten positiv beeinflussen wollen, sodass Patient und Lebensgemeinschaft zu besserem Wohlbefinden und besserer Lebensqualität gelangen. Auf der Grundlage fundierter diagnostischer Befunde entsteht ein individuelles Therapiekonzept, das sich am Patienten und seiner Störung orientiert, entwicklungsorientiert ist, unterschiedliche Akteure und verschiedene soziale Kontexte miteinbezieht (bspw. Elternhaus, Schule und Peergroup), problemlöseorientiert ausgerichtet ist und auch den unterschiedlichen Phasen des Krankheitsverlaufs Rechnung trägt (ebd.). Döpfner (2008b) ergänzt, dass bei evidenzbasierten Therapien die Wirkprinzipien eine Rolle spielen müssen.

Für jedes Kind bzw. jeden Jugendlichen wird zu Beginn der Behandlung ein individuelles Therapiekonzept erstellt. Dabei stellt sich die Frage nach dem Setting. Neben einer ambulanten Behandlung kommen auch stationäre und teilstationäre Therapie sowie Hometreatment in Frage. Blanz et al. (2006) unterscheiden folgendermaßen:

Eine stationäre Behandlung wird immer dann notwendig, wenn eine lebensbedrohliche Situation vorliegt oder der Patient nicht nur sich selbst, sondern auch andere Personen gefährdet. Auch die Schwere und Chronifizierung der Störung können eine stationäre Behandlung nötig machen. Scheitern ambulante Versuche, ist eine Trennung von der Familie notwendig oder ist eine Versorgung rund um die Uhr angeraten, dann ist die Entscheidung zu einer stationären Unterbringung unumgänglich.

Eine teilstationäre Behandlung kann auf eine stationäre Therapie vorbereiten oder bildet häufig den Übergang von einem stationären Aufenthalt zur ambulanten Versorgung. Prinzipiell bestehen in diesem Setting nahezu die gleichen Möglichkeiten wie bei der stationären Unterbringung. Ein Vorteil besteht darin, dass der Patient für die Dauer der Behandlung in seinem Umfeld bleiben kann und nur tagsüber eine Klinik oder ähnliche Einrichtung aufsucht, um dort behandelt zu werden. Einige Kliniken unterhalten Tageskliniken, die in dieser Form therapieren.

Eine ambulante Behandlung wird durch ein Netz an niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiatern und -psychologen gewährleistet; dies wird durch Institutsambulanzen und andere Kliniken ergänzt. Grundsätzlich sollte eine ambulante Behandlung der stationären Therapie vorgezogen werden:

»Da eine ambulante Therapie weniger in das Alltagsleben der Patienten eingreift, die meisten evidenzbasierten Therapien im ambulanten Rahmen entwickelt und evaluiert wurden und ein Transfer von Behandlungseffekten auf die Alltagsbedingungen leichter gelingt, sollte grundsätzlich eine ambulante Therapie präferiert werden, sofern dies der Zustand des Patienten und das ihn begleitende Umfeld erlaubt« (Goldbeck et al. 2012, S. 185).