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Psychoanalyse im 21. Jahrhundert

Klinische Erfahrung, Theorie, Forschung, Anwendungen

 

Herausgegeben von Cord Benecke, Lilli Gast, Marianne

Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens

 

Berater der Herausgeber

Ulrich Moser

Henri Parens

Christa Rohde-Dachser

Annne-Marie Sandler

Daniel Widlöcher

Christiane Ludwig-Körner

Frühe Hilfen und Frühförderung

Eine Einführung aus psychoanalytischer Sicht

Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart

Gesamtherstellung:

W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-022274-8

E-Book-Formate:

pdf:     ISBN 978-3-17-023964-7

Inhalt

  1. Geleitwort zur Reihe
  2. 1   Einführung in das Thema
  3. 2   Zur Geschichte der psychoanalytischen Arbeit mit Säuglingen/Kleinkindern
  4. 2.1   Psychoanalytische Arbeit mit Erzieherinnen, Pädagogen und Eltern
  5. 2.2    Die Arbeit von Anna Freud und ihren Mitarbeiterinnen mit Säuglingen/Kleinkindern und Eltern
  6. 2.3    Die Bedeutung von René Spitz, Donald W. Winnicott, John Bowlby, James und Joyce Robertson für die Arbeit mit Säuglingen und Müttern
  7. 2.4    Margret Mahler, Judith Kestenberg und ihre Säuglings-/Kleinkindprojekte
  8. 2.5   Psychoanalytische Säuglingsforschung
  9. 2.6   Zur Geschichte der Frühe-Hilfe-Bewegung
  10. Zusammenfassung
  11. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  12. 3   Warum Angebote in der frühen Zeit so wichtig sind
  13. 3.1   Übergang zur Elternschaft – eine »normale Krise«? Junge Familien heute
  14. 3.2   Jugendliche Eltern
  15. 3.3   Schwangerschafts- und Wochenbettdepressionen
  16. 3.4   Belastete Eltern – belastete Kinder. Der Einfluss der elterlichen Persönlichkeit auf die kindliche Entwicklung
  17. 3.5   Frühgeborene
  18. 3.6   Regulationsstörungen
  19. 3.6.1   Schreien
  20. 3.6.2   Ein- und Durchschlafstörungen
  21. 3.6.3   Ess-, Fütter- und Gedeihstörungen
  22. Zusammenfassung
  23. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  24. 4   Frühe Hilfen – Frühförderung – Bildung – Schnittfelder
  25. 4.1   Primäre, sekundäre, tertiäre, universelle, selektive und indizierte Prävention
  26. 4.2   Die Vielfalt in den Konzepten Früher Hilfen
  27. 4.3   Zur Abgrenzung von präventiver Bildungsarbeit (Begleitung), Beratung und Therapie
  28. 4.3.1   Zur präventiven Bildungsarbeit
  29. 4.3.2   Zur Beratungsarbeit
  30. 4.3.3   Zur therapeutischen Arbeit
  31. 4.4   Frühe Hilfen und Frühförderung
  32. 4.5   Frühe Hilfen und Bildungsangebote
  33. Zusammenfassung
  34. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  35. 5   Auswahl einiger Präventionsprogramme
  36. 5.1   Bindungsorientierte Frühintervention – Das STEEP™-Programm
  37. 5.2   Entwicklungspsychologische Beratung (EPB)
  38. 5.3   Familienhebammen
  39. 5.4   SAFE® – Sichere Ausbildung für Eltern
  40. 5.5   »Roots of Empathy« (ROE) und Babywatching B.A.S.E.
  41. 5.6   PALME – ein bindungsorientiertes präventives Elterntraining für alleinerziehende Mütter
  42. Zusammenfassung
  43. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  44. 6   Frühe Hilfen in ausgewählten Handlungsfeldern
  45. 6.1   Frühe Hilfen im Bereich der Geburtshilfe und Neonatologie
  46. 6.1.1    Psychotherapie mit Schwangeren und psychosoziale Begleitungen
  47. 6.1.2    Frühe Hilfen auf der Geburts- und Wöchnerinnenstation
  48. 6.1.3   Babylotsen-Dienst
  49. 6.1.4   Frühe Hilfen in der Neonatologie
  50. 6.1.5    Betreuungsprogramme für Eltern Frühgeborener
  51. 6.1.6   »Bunter Kreis« Augsburg
  52. 6.2   Neuvola – Frühe Hilfen in Familienzentren
  53. Zusammenfassung
  54. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  55. 7   Möglichkeiten und Grenzen einer Arbeit mit Laien und Paraprofessionellen in der primären Prävention
  56. Zusammenfassung
  57. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  58. 8   Psychoanalytische Arbeit mit Eltern, Säuglingen und Kleinkindern
  59. 8.1   Analytische Eltern-Säuglings-/Kleinkindpsychotherapie
  60. 8.2   Psychoanalytisch orientierte Ansätze der Prävention und Intervention
  61. 8.2.1    Analytisch orientierte Einrichtungen der Frühen Hilfe in Deutschland
  62. 8.2.2    Psychoanalytisch orientierte präventive und frühinterventive Ansätze in London
  63. 8.2.3    Psychoanalytisch orientierte präventive und frühinterventive Ansätze in den USA
  64. Zusammenfassung
  65. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  66. 9   Professionalisierung der Frühen Hilfen
  67. 9.1   Studiengänge in Gesundheitswissenschaften
  68. 9.2   Studiengänge im Bereich der Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Bildung
  69. 9.3   Pädagogen der Frühen Kindheit (akademisierte Erzieherinnenausbildung)
  70. 9.4   Spezielle Studiengänge zu Frühen Hilfen/Frühförderung
  71. 9.5   Fortbildungen oder Zertifikatskurse
  72. 9.6   Analytische Eltern-Säuglings-Psychotherapie und Beratungen
  73. Zusammenfassung
  74. Literatur zur vertiefenden Lektüre
  75. 10 Ausblick – Chancen
  76. Literatur
  77. Stichwortverzeichnis
  78. Personenverzeichnis

Geleitwort zur Reihe

Die Psychoanalyse hat auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Bedeutung und Faszination verloren. Sie hat sich im Laufe ihres nun mehr als einhundertjährigen Bestehens zu einer vielfältigen und durchaus auch heterogenen Wissenschaft entwickelt, mit einem reichhaltigen theoretischen Fundus sowie einer breiten Ausrichtung ihrer Anwendungen.

In dieser Buchreihe werden die grundlegenden Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse allgemeinverständlich dargestellt. Worin besteht die genuin psychoanalytische Sichtweise auf Forschungsgegenstände wie z. B. unbewusste Prozesse, Wahrnehmen, Denken, Affekt, Trieb/Motiv/Instinkt, Kindheit, Entwicklung, Persönlichkeit, Konflikt, Trauma, Behandlung, Interaktion, Gruppe, Kultur, Gesellschaft u. a. m.? Anders als bei psychologischen Theorien und deren Überprüfung mittels empirischer Methoden ist der Ausgangspunkt der psychoanalytischen Theoriebildung und Konzeptforschung in der Regel zunächst die analytische Situation, in der dichte Erkenntnisse gewonnen werden. In weiteren Schritten können diese methodisch trianguliert werden: durch Konzeptforschung, Grundlagenforschung, experimentelle Überprüfung, Heranziehung von Befunden aus den Nachbarwissenschaften sowie Psychotherapieforschung.

Seit ihren Anfängen hat sich die Psychoanalyse nicht nur als eine psychologische Betrachtungsweise verstanden, sondern auch kulturwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche sowie geisteswissenschaftliche Perspektiven hinzugezogen. Bereits Freud machte ja nicht nur Anleihen bei den Metaphern der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts, sondern entwickelte die Psychoanalyse im engen Austausch mit geistes- und kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen. In den letzten Jahren sind vor allem neurowissenschaftliche und kognitionspsychologische Konzepte und Befunde hinzugekommen. Dennoch war und ist die klinische Situation mit ihren spezifischen Methoden der Ursprung psychoanalytischer Erkenntnisse. Der Blick auf die Nachbarwissenschaften kann je nach Fragestellung und Untersuchungsgegenstand bereichernd sein, ohne dabei allerdings das psychoanalytische Anliegen, mit spezifischer Methodik Aufschlüsse über unbewusste Prozesse zu gewinnen, aus den Augen zu verlieren.

Auch wenn psychoanalytische Erkenntnisse zunächst einmal in der genuin psychoanalytischen Diskursebene verbleiben, bilden implizite Konstrukte aus einschlägigen Nachbarwissenschaften einen stillschweigenden Hintergrund wie z. B. die derzeitige Unterscheidung von zwei grundlegenden Gedächtnissystemen. Eine Betrachtung über die unterschiedlichen Perspektiven kann den spezifisch psychoanalytischen Zugang jedoch noch einmal verdeutlichen.

Der interdisziplinäre Austausch wird auf verschiedene Weise erfolgen: Zum einen bei der Fragestellung, inwieweit z. B. Klinische Psychologie, Entwicklungspsychologie, Entwicklungspsychopathologie, Neurobiologie, Medizinische Anthropologie zur teilweisen Klärung von psychoanalytischen Kontroversen beitragen können, zum anderen inwieweit die psychoanalytische Perspektive bei der Beschäftigung mit den obigen Fächern, aber auch z.B. bei politischen, sozial-, kultur-, sprach-, literatur- und kunstwissenschaftlichen Themen eine wesentliche Bereicherung bringen kann.

In der Psychoanalyse fehlen derzeit gut verständliche Einführungen in die verschiedenen Themenbereiche, die den gegenwärtigen Kenntnisstand nicht nur klassisch freudianisch oder auf eine bestimmte Richtung bezogen, sondern nach Möglichkeit auch richtungsübergreifend und Gemeinsamkeiten aufzeigend darstellen. Deshalb wird in dieser Reihe auch auf einen allgemein verständlichen Stil besonderer Wert gelegt.

Wir haben die Hoffnung, dass die einzelnen Bände für den psychotherapeutischen Praktiker in gleichem Maße gewinnbringend sein können wie auch für sozial- und kulturwissenschaftlich interessierte Leser, die sich einen Überblick über Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse verschaffen wollen.

Die Herausgeberinnen und Herausgeber:

Cord Benecke, Lilli Gast, Marianne Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens

1          Einführung in das Thema

Lange Zeit wurde nicht nur in der Sozialen Arbeit und in der Psychotherapie, sondern auch in der Frühförderung die frühe Kindheit vernachlässigt. Auch heute werden Sozialarbeiter/Sozialpädagoginnen, aber auch Kinderpsychotherapeuten für ihre Arbeit im Frühbereich ungenügend ausgebildet, obwohl bekannt ist, dass die meisten Kindesmisshandlungen und Tötungen im Kleinkindalter geschehen und eine verbesserte Ausbildung unabdingbar wäre.

Wie kann man sich das aktuell größere Interesse an der frühen Kindheit erklären? Welchen Stellenwert Kinder in unserer Gesellschaft haben, welche Bedeutung wir ihnen beimessen und was wir von ihnen erwarten, hängt von vielen Faktoren ab und zeigt sich u. a. auch im Interesse der Forschung an Säuglingen/Kleinkindern. So wurde in den letzten Jahrzehnten der »kompetente Säugling« entdeckt (Stone et al., 1973), in einer Zeit, in der in den westlichen Ländern die Geburtenrate zu sinken begann. Bei einer Geburtenrate von 1,3 Kindern pro Familie tritt die Einmaligkeit des Kindes in den Vordergrund, zugleich aber erhöhen sich auch die Erwartungen an das Kind. Die Umkehrung der Alterspyramide fordert, die Kinder möglichst optimal zu bilden, damit sie ihre Funktionen in der Gesellschaft bestmöglich erfüllen können. Nur ein gut gebildeter und psychisch gesunder, d. h. zukünftig arbeitsfähiger Mensch, kann die zu erwartende Last einer überalternden Gesellschaft tragen.

Aktuelle bildungs- und familienpolitische Diskussionen in Deutschland stehen auf der einen Seite im späten Einfluss der Pisa-Studien, auf der anderen Seite unterliegen sie der Notwendigkeit, Frauen wieder schneller nach der Geburt des Kindes in die Berufstätigkeit zurückzubringen. Kann es sein, dass die veränderte Sicht auf Kinder vor allem auch mit veränderten wirtschaftlichen Interessen einhergeht?

Neben dieser »ökonomischen Sicht« gibt es auch Überlegungen, dass die lange Ausblendung der frühen Lebenszeit (sowie der Lebensphase des Alterns und Sterbens) als kollektiver Verdrängungsprozess verstanden werden kann. Die völlige Abhängigkeit von anderen, die alle Menschen durchleben mussten (und müssen), ist oft so bedrohlich, dass sie verdrängt bzw. sogar abgespalten werden muss. Wenn der frühen Kindheit nun in weiten Kreisen eine größere Aufmerksamkeit zukommt, könnte dieses auf einen »psychischen Gesundungsprozess« der Gesellschaft hinweisen, in dem ihre Mitglieder sich nun doch mit oft schmerzhaften Gefühlen auseinandersetzen können und weniger verdrängen müssen. Ein veränderter Blick auf das Thema der Kindheit ist nur unter Einbezug der historischen Kontexte zu verstehen. Vielleicht wurden Kinder mit der Freiheit der Frau, sich bewusst für oder gegen ein Kind entscheiden zu können (Pille, Strafgesetzbuch § 218), zusätzlich »aufgewertet«, in dem sie mehr als zuvor als ein Teil der Mütter/Väter im Sinne eines Selbstobjekts erlebt werden?

Eine veränderte Sicht auf das Kind fand Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre statt, als Frauen begannen, für eine »natürliche Geburt« zu kämpfen. Die Säuglinge sollten unter psychisch optimalen Bedingungen ihr Leben beginnen können. Frauen wandten sich auch gegen eine Medizinalisierung und Programmierung der Geburt, wollten ihr Baby in familienfreundlichen Geburtshäusern oder zu Hause zur Welt bringen. Zu verstehen ist diese Veränderung auch vor dem Hintergrund der feministischen Bewegung. Sie war sehr einflussreich, so findet man heute z. B. selbst in den abgelegenen Gegenden Deutschlands die Kreissäle der siebziger Jahre nicht mehr vor. Es war in Deutschland auch der Beginn des »rooming in«. Auf die verheerenden Auswirkungen einer frühen Trennung von Mutter und Kind hatten bereits in den 1950er-Jahren James und Joyce Robertson mit ihren Filmen und Aufsätzen hingewiesen (1998). Beide hatten zuvor in den Kriegskinderheimen von Anna Freud mitgewirkt und arbeiteten dann in John Bowlbys Bindungsforschungen mit (arrow Kap. 2.1.3).

In der psychoanalytischen Bewegung gab es bereits frühzeitig Ansätze, psychoanalytische Erkenntnisse nicht nur an Fachkräfte, sondern auch an Eltern zu vermitteln oder in der Arbeit mit kleinen Kindern umzusetzen (Kindergärten, Kinderheime, spezielle Beratungsstellen). Bereits in den 1930er-Jahren untersuchte der Psychoanalytiker René Spitz in seinen Hospitalismusforschungen die Auswirkungen mütterlicher Trennung auf kleine Kinder und begründete damit die psychoanalytische Säuglingsforschung mit anerkannten Psychoanalytikern wie Daniel Stern, Robert Emde, Louis Sander, Alicia Lieberman, Allen Schore, Beatrice Beebe, Peter Fonagy, Mary Target, Daniel Schechter und Arietta Slade und vielen, die sich ihnen seither anschlossen. Es waren vor allem Psychoanalytikerinnen, die Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Psychotherapien aus den Nöten des Alltags heraus anboten, wie Selma Fraiberg, Alicia Lieberman, Stella Aquarone, und Anstöße für eine große weltweite Bewegung gaben. Zu denken ist an dieser Stelle auch an die frühen Arbeiten von Horst Eberhard Richter, der mit seinem Klassiker »Eltern, Kind, Neurose« (1962), lange bevor die Familientherapie in Deutschland bekannt und aufgebaut wurde, nicht nur auf elterliche Delegationen an ihre Kinder und auf transgenerationale Transmissionen hinwies, sondern mit seinen Mitarbeitern auch praxisnahe Projekte in sozialen Brennpunkten in Gießen anstieß. Hans-Peter Hartmann, der lange in Gießen als Psychoanalytiker arbeitete, baute später in Heppenheim an der dortigen Klinik für Psychotherapie und Psychiatrie eine stationäre Eltern-Säuglings-/Kleinkindpsychotherapie auf. Über die Arbeit weiterer Kolleginnen wird im arrow Kap. 8 berichtet, wo nicht nur auf die psychoanalytische Arbeit von Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern eingegangen wird, sondern auch psychoanalytische Zentren und Projekte beschrieben werden.

Nicht zuletzt durch die Medien, die zunehmend mehr von den schrecklichen Schicksalen von Kindern, ihrem Leid und ihren Tötungen berichteten, sah sich die Bundesregierung genötigt – über alle Parteien hinweg einig –, handeln zu müssen. Die Gründung des »Nationalen Zentrums Frühe Hilfen« 2007 unter der Familienministerin von der Leyen könnte als Geburtsstunde der »Frühen Hilfe-Bewegung« in Deutschland angesehen werden. Ihre Zielsetzungen, Aufgaben und Projekte werden im arrow Kap. 2.2 erläutert.

Die Bedeutung der Familie und ihr Wandel unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen ist wie eine »Folie«, vor der alle Themen betrachtet werden müssen, die im arrow Kap. 3 behandelt werden. Familien sind der Ort, wo nicht nur die Bedürfnisse nach Sicherheit, Geborgenheit und Beziehung (Bindung) situiert sind, sondern auch die kindlichen Bildungs- und Erziehungsprozesse stattfinden. Adoleszente Eltern, Mütter mit Schwangerschafts- und Wochenbettdepressionen, Eltern mit psychischen Störungen, Frühgeborene und Kinder mit Regulationsstörungen sind die Hauptgruppen, für die Frühe Hilfen benötigt werden.

Projekte der Frühen Hilfen sind in Deutschland heute so zahlreich, dass in diesem Buch nur ausgewählte ausführlicher dargestellt werden können. Einige Projekte wurden ausgewählt, weil sie in anderen Ländern, aber noch nicht in Deutschland erfolgreich umgesetzt wurden (arrow Kap. 4). Anhand einiger Projekte soll auch auf Möglichkeiten und Grenzen einer Arbeit mit Laien hingewiesen werden (arrow Kap. 7).

Angesichts enger finanzieller Ressourcen ist es auf der einen Seite verständlich, dass Projekte favorisiert werden, die vorrangig mit semiprofessionellen Kräften zusammenarbeiten, andererseits bedarf es hoher professioneller Kompetenz, um jungen Familien zu helfen, sich aus ihren manchmal malignen Familienmustern zu befreien. Es besteht die Gefahr, dass Frühe Hilfen als nicht wirksam angesehen werden und dass sich das Tor, das sich gerade geöffnet hat, rasch wieder schließt. Die Gefahr einer »Verwässerung« wird zudem durch die fließenden Übergänge zwischen Bildungsprozessen (von Erwachsenen und Kindern), Frühförderung, Beratung, Krisenintervention und Psychotherapie verstärkt – Themen, die im arrow Kap. 4 behandelt werden. Dort wird ein Modellprojekt vorgestellt, in dem versucht wird, die fiskalischen Grenzen unterschiedlicher Zuordnungsbereiche wie Bildung, Frühe Hilfen, Psychotherapie oder Frühförderung zu integrieren, unter dem Motto »Eltern-Förderung im Kindergarten«.

Wie befähigt sind Laien, aber auch Fachkräfte, wie Sozialarbeiter, Familienrichter, Ärzte und Psychologen, Kindeswohlgefährdungen einzuschätzen? Verfügen sie über das nötige Wissen und die Kompetenz, entscheiden zu können, welche Maßnahme für wen hilfreich sein könnte? Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass es einen starken Professionalisierungsbedarf im Bereich »Frühe Hilfen« gibt, worauf im arrow Kap. 9 eingegangen wird.

Dieses Buch wäre nicht entstanden ohne die vielen Menschen, von und mit denen ich lernen konnte, Wiederholungszwänge bzw. transgenerationale Transmissionen und schwere Lebenswege besser zu verstehen. Danken möchte ich an dieser Stelle ganz besonders den vielen Kolleginnen, die jahrelang oft unentgeltlich und unter erschwerten Bedingungen in der Beratungsstelle »Vom Säugling zum Kleinkind« bzw. im »Familienzentrum Potsdam« mitgearbeitet haben. Ohne ihr Engagement, ihre Unterstützung bei immer wieder auftauchenden finanziellen Krisen, dem professionellen »handling« bei schwierigen Familien und ihr offenes Ohr für Lebenswidrigkeiten wäre diese Arbeit nicht möglich geworden.

2          Zur Geschichte der psychoanalytischen Arbeit mit Säuglingen/Kleinkindern

Einführung

Nach einem Überblick über die Anwendung psychoanalytischer Konzepte und Erfahrungen in der Pädagogik, die zumeist mit Weiterbildungen für Erzieher, Fürsorger und Pädagogen begann, werden die ersten psychoanalytischen Einrichtungen wie Kinderkrippen, Kriegskinderheime (Anna Freud und Dorothy Burlingham) und Erziehungsberatungsstellen (Kate Friedlander) vorgestellt. Die Bedeutung von René Spitz, Donald W. Winnicott, John Bowlby, James und Joyce Robertson für die Arbeit mit Säuglingen und Müttern bildet einen weiteren Schwerpunkt. Des Weiteren werden die Projekte von Margret Mahler und der hierzulande weniger bekannten, aber doch sehr bedeutsamen Judith Kestenberg vorgestellt. Den Abschluss dieses historischen Überblicks bilden die einflussreichen und international bekannten psychoanalytischen Säuglingsforscher. Schließlich wird noch die Entstehung der »Frühen Hilfe« skizziert, die sich psychoanalytischen, psychiatrischen, psychologischen und pädagogischen Initiativen verdankt.

Lernziele

•  Die Anfänge der Anwendung psychoanalytischer Ideen auf pädagogische Themen kennenlernen

•  Einen Eindruck von den ersten sehr verdienstvollen Einrichtungen psychoanalytischer Pädagogik bekommen

•  Einen Überblick über die Konzepte und Vorgehensweisen von Psychoanalytikerinnen gewinnen, die sich mit der adäquaten Betreuung von Säuglingen und kleinen Kindern befasst haben

•  Wichtige psychoanalytische Kleinkindforscher kennenlernen

•  Verstehen lernen, aus welchen Wurzeln sich die Initiative der »Frühen Hilfe« zusammengesetzt hat

2.1       Psychoanalytische Arbeit mit Erzieherinnen, Pädagogen und Eltern

Traditionell beschäftigte sich die Psychoanalyse intensiv mit der kindlichen Entwicklung. Besonders in der frühen Zeit der psychoanalytischen Bewegung arbeiteten viele Psychoanalytiker aktiv und kreativ psychoanalytisch-pädagogisch. Tatsächlich war nämlich die Psychoanalytische Pädagogik das erste außerklinische Anwendungsgebiet der Psychoanalyse.

Früh engagierten sich Psychoanalytiker in der Weiterbildung von Erziehern, Fürsorgern, Pädagogen und Eltern. Siegfried Bernfeld und Willi Hoffer konnten von 1919 bis 1920 psychoanalytische Kenntnisse im Kinderheim Baumgarten anwenden. Die beiden vermittelten zusammen mit August Aichhorn, Anna Freud und Editha Sterba in einem zweijährigen Lehrgang, an dem neben Ausbildungskandidaten auch Pädagoginnen und Fürsorgerinnen teilnahmen, psychoanalytisch pädagogische Kenntnisse. Später boten auch die Psychoanalytikerinnen Steff Bornstein, eine Heilpädagogin, und Edit Gyömröi, nachdem sie von Berlin nach Prag und Budapest emigriert waren, dort ebenfalls Weiterbildungen für Erzieherinnen, Pädagogen und Mütter an. Die Kurse für Mütter könnte man heute zu präventiven Konzepten der Frühen Hilfen zählen. Die Inhalte zentrierten um Fragen der Mütter zur kindlichen Entwicklung, zu alternativen Erziehungspraktiken und um konkrete Lösungsangebote. 1925 baute Anna Freud mit Eva Rosenfeld eine psychoanalytische Schule auf, in der u. a. auch Erik Erikson mitarbeitete. Bereits 1914 brachte Nelly Wollfheim ihre psychoanalytischen Kenntnisse in ihren Privatkindergarten ein, der ab 1922 ausschließlich psychoanalytisch geführt wurde, gab Elternkurse und hielt Elternsprechstunden ab. 1920 baute Wera Schmidt in Moskau einen analytischen Kindergarten für 1–5-Jährige auf. Anfang der 1920er-Jahre wurden viele psychoanalytische Kinderheime gegründete (Ludwig-Körner, 1998).

2.2       Die Arbeit von Anna Freud und ihren Mitarbeiterinnen mit Säuglingen/Kleinkindern und Eltern

Kurz vor ihrer Emigration 1938 nach London konnte sich Anna Freud in den Räumen der Montessori-Gesellschaft in Wien den lang ersehnten Wunsch erfüllen, eine Kinderkrippe für Kleinkinder (Jackson-Kinderkrippe) aufzubauen. Sie wollte Kindern unter zwei Jahren, die aus den ärmsten Familien Wiens stammten, günstigere Entwicklungsbedingungen ermöglichen. Aber sie verfolgte auch ein Forschungsinteresse: die Möglichkeit einer systematischen Beobachtung der kindlichen Entwicklung. Dieses Forschungsinteresse behielt Anna Freud lebenslang bei.

In den »Kriegskinderheimen«, die ab 1940 Anna Freud und Dorothy Burlingham in London und Umgebung aufbauten und in denen 120 Kinder lebten, wurden die Eltern so weit wie möglich miteinbezogen, denn sie wussten damals schon um die enorme Bedeutung der Mutter-Kind-Beziehung und den familiären Zusammenhang. In allen Heimen stand Tag und Nacht das Haus für Besuche der Familienmitglieder offen. Mütter von Neugeborenen wurden ermuntert, im Hause zu wohnen. Wenn möglich, gab man ihnen Arbeit innerhalb der Kriegskinderheime, z. B. als Haushälterinnen, damit sie ihre Kinder stillen konnten. Geschwisterkinder wurden gemeinsam aufgenommen, um ihre Beziehung zueinander zu fördern. Anna Freud und Dorothy Burlingham erkannten rasch, dass Kinder Vorlieben für bestimmte Betreuerinnen hegten und es besser war, sie in familienähnlichen Gruppen aufwachsen zu lassen. Die Kriegskinderheime wurden daraufhin so umstrukturiert, dass je vier bis fünf Kinder entsprechend ihrer individuellen Wünsche und Zuneigung den sie betreuenden Frauen zugeordnet wurden. Damals bereits ging Anna Freud von einem Betreuungsverhältnis von drei bis vier Kindern auf eine Bezugsperson aus, ein Schlüssel, der inzwischen international als adäquat für Kleinkinder angesehen, aber in Deutschland bis heute fast nirgendwo realisiert wird. Zu den vielen Mitarbeitern in den Kriegskinderheimen gehörten auch James und Joyce Robertson, ein junges englisches Paar, das später durch seine Filme über die Auswirkungen früher Trennungen von Kleinkindern sehr bekannt wurde (Ludwig-Körner, 2000).

1954 erfüllte sich Dorothy Burlingham den lang gehegten Wunsch, einen Kindergarten für blinde Kinder zu eröffnen. Für die Eltern wurde ein Beratungsservice angeboten und die Mitarbeiterinnen führten Hausbesuche durch, um die Kinder auch in ihrer häuslichen Umgebung beobachten zu können. Daneben wurde eine Mütterberatungsstelle (»Well-Baby-Clinic«) mit dem Ziel eingerichtet, junge Mütter in ihrem Umgang mit ihren Babys zu beraten. Vormittags wurde eine Spielgruppe für Kleinkinder mit ihren Müttern angeboten. So konnten Mütter, die vorher die »Well-Baby-Clinic« besucht hatten, mit ihren Kindern dort weiter betreut werden. Daraus entwickelte sich später eine Kindergartengruppe. Man könnte den Beginn der Frühen Hilfen also in diese Zeit legen, denn viele der Grundgedanken der Frühen-Hilfe-Bewegung sind hier bereits zu finden: die Stärkung der Eltern-Kind-Beziehung, die »unaufdringliche« pädagogisch-psychologisch-psychotherapeutische Begleitung der Eltern, die Verknüpfung von Hilfen mit Bildungs-/Betreuungs- und Weiterbildungsangeboten.

In diesen Kontext gehört auch die Geschichte der Erziehungsberatungsstellen, die z. B. von Kate Friedländer, einer Psychiaterin und Psychoanalytikerin, eingerichtet wurden. Sie gehörte ebenfalls zum Kreis um Anna Freud und hatte ein großes Interesse, psychoanalytische Erkenntnisse einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Sie war bestrebt, die Psychoanalyse auch in öffentliche Institutionen hinein zu bringen, wozu sich Erziehungsberatungsstellen (Child Guidance Clinics) sehr anboten. Als Psychoanalytikerin erlebte sie es als eine Herausforderung, die psychoanalytischen Kenntnisse nicht nur in der Einzelbehandlung anzuwenden, sondern auch modifizierte Behandlungsmethoden zu entwickeln. Sie war damals bereits der Ansicht, dass Psychoanalytiker mit ihren Erkenntnissen mehr an die Öffentlichkeit treten und auch präventive Arbeit leisten sollten (Haager, 1986, S. 67). Viele der damals von Anna Freud und ihren Mitarbeiterinnen entwickelten und erprobten Ideen wurden später auch in den USA umgesetzt: Die Arbeit mit blinden Kindern durch Selma Fraiberg und ihre Beratungen/Therapien von Müttern mit Säuglingen, dem Beginn der Eltern-Säuglings-/Kleinkindpsychotherapie. In Cleveland konnte Anny Katan 1950 einen therapeutischen Kindergarten (nursery school) aufbauen, der heute ein Teil des Hanna Perkins Center ist (Furman & Katan, 1969). Auf ihre Erfahrungen bauen therapeutisch geführte Kindergärten auf, wie das »Lucy Daniels Center« in Cary in Kalifornien oder das Child Development Center (arrow Kap. 8.2).

2.3       Die Bedeutung von René Spitz, Donald W. Winnicott, John Bowlby, James und Joyce Robertson für die Arbeit mit Säuglingen und Müttern

René Spitz (1888–1974), Arzt und Psychoanalytiker, Lehranalysand von Freud und Schüler Férenczis, lehrte nach seiner Übersiedlung 1932 nach Paris an der École Normale Supérieure Psychoanalyse und Entwicklungspsychologie. Anstoß für seine späteren systematischen Beobachtungen an Säuglingen, z. B. seine berühmte Hospitalismusforschung mit Kindern aus Kinderheimen, deren Mütter im Gefängnis lebten (Spitz, 1945, 1946), war die Zusammenarbeit mit Charlotte Bühler, von der er 1935 einen Forschungsauftrag in der Kinderkrippe der Kinderübernahmestelle der Stadt Wien erhalten hatte. Charlotte Bühler, eine Entwicklungspsychologin, ließ systematisch Neugeborene beobachten. Eine Mitarbeiterin von ihr war Esther Bick, die später die Säuglingsbeobachtungsmethode entwickelte (Harris & Bick, 1987). In seinen ersten Arbeiten beschäftigte sich Spitz mit Kulturvergleichen kindlichen Erlebens, um dann systematisch den Aufbau der Objektbeziehungen im Verlauf der ersten Lebensjahre zu erforschen. In seinem Konzept der »Organisatoren« geht er von sprunghaften altersbedingten Reifungsprozessen aus, affektiven Indikatoren wie das soziale Lächeln (2./3. Monat), die Fremdenangst (7./8. Monat) und die Geste des Nein (15./18. Monat).

Spitz verdeutlichte, wie mütterliche nicht-eindeutige bzw. inkohärente Signale, eine offene oder versteckte Ablehnung des Kindes, Überfürsorglichkeit, Verwöhnung etc. zu psychischen oder psychosomatischen Störungen des Kindes führen können. So beschrieb er z. B. wie eine nicht genügend gute Bemutterung zu »anaklitischen Depressionen« führen kann, oder wie unterschiedlich die Entwicklung eineiiger Zwillinge verlaufen kann, selbst wenn sie in der gleichen Familie aufwachsen (2000). Er war zudem nicht nur einer der ersten, der empirische Forschung in der psychoanalytischen Säuglingsforschung, sondern auch filmische Aufzeichnungen von Kindern durchführte. Obwohl Spitz so früh Säuglinge beforschte, lehnte er, in Übereinstimmung mit Anna Freud, Bowlbys Bindungstheorie ab.

Donald Winnicott (1896–1971) entwickelte seine psychoanalytische Arbeit vor allem aus seiner über 40-jährigen Arbeit als Kinderarzt in Londoner Krankenhäusern. Nach einer langen Lehranalyse bei Strachey ging er später nochmals in Analyse zu Joan Rivière, einer engen Mitarbeiterin von Melanie Klein, bei der auch John Bowlby seine Lehranalyse gemacht hatte. Er gehörte der »Middle Group« in London an, die sich in der Zeit der heftigen Kontroverse zwischen Melanie Klein und Anna Freud herausgebildet hatte. Oft wurden seine ausgeprägten intuitiven Fähigkeiten beschrieben, die es ihm ermöglichten, selbst mit schwerstgestörten Kindern in Kontakt zu kommen. Er praktizierte, besser: Er kreierte eine ganz eigene Art, mit Kindern umzugehen (z. B. die Form des »squiggle«, dem Kordelspiel), wobei er manchmal mit mehreren Kindern oder Familien zugleich arbeitete und sich dabei von seinen Schülern zuschauen ließ.

Nach seiner Auffassung beginnt die emotionale Entwicklung des Kindes schon vor der Geburt (Winnicott 1958). Schon das Ungeborene verfüge über eine psychische Struktur, eine Kontinuität des Erlebens: der Beginn eines Selbst. Bei der Beschreibung vorgeburtlicher Aktivität des Fötus verwendet Winnicott häufiger den schon von Freud gebrauchten Begriff der »Motilität«, der eine Nähe zum Begriff der Intentionalität hat und in der aktuellen Säuglingsforschung wieder Verwendung findet. Motilität ist eine Aktivität, mit der der Fötus die Umwelt entdeckt und wiederentdeckt. Br´åten (1993, S. 26) spricht vom »virtuellen Anderen«. Von Anfang an behandelt die Mutter nach Winnicott den Säugling als eine Einheit und ermöglicht ihm so, ein Selbst zu werden. Dies ist das, was Kohut (1979) später als »virtuelles Selbst« beschreiben wird, mit dem die Mutter in ihrem Handeln das Selbst des Kindes vorwegnimmt. Dies gelingt ihr, weil sie vorübergehend sehr stark mit dem Kind identifiziert ist. Die Mutter befindet sich nach Winnicott in diesen ersten Lebenswochen in einem Zustand der übermäßigen Empfindsamkeit, ähnlich einer schizoiden Periode, wodurch sie dem Säugling die Bedingungen bietet, die ersten Regungen seines personalen Gefühlslebens zu entfalten. Es ist erstaunlich, wie zutreffend Winnicott spätere Forschungsergebnisse zur neurophysiologischen Umstrukturierung des mütterlichen Gehirns infolge der Geburt vorwegnahm.

Unter guten vorgeburtlichen Bedingungen ist das Kind auf die Geburt so vorbereitet, dass die Geburtserfahrung nicht aus dem Rahmen seiner bisherigen Erlebnisse herausfällt. Obwohl das Kind die Geburt überwiegend passiv hinnimmt und auf eine hilfreiche Umwelt angewiesen ist, kann es die Geburt durchaus auch als Ergebnis eigener Bemühungen empfinden. Danach kehrt es nach Winnicott in einen Zustand zurück, in dem es fast ganz auf sich bezogen ist (»being«). Von Beginn seines Lebens an verfügt das Kind über die Fähigkeit zur Rückkehr vom Reagieren zum Nicht-reagieren-Müssen. Dieses Stadium des Seins in den ersten Lebenswochen ist der Prototyp der guten Beziehungserfahrung mit einer empathischen Mutter und ihrer verfügbaren Brust. Während für Säuglinge im gesunden Zustand Umweltstörungen bis zu einem gewissen Grad wertvolle Stimuli sind (bei Kohut »optimale Frustrationen«), werden sie oberhalb einer gewissen Stärke nicht mehr als Hilfen, sondern als Übergriffe erlebt (»Überstimulationen«). Bereits während der pränatalen Zeit kann sich so eine falsche »Vorwärtsbewegung« herausbilden, der Beginn eines »falschen Selbst«. Indem der Fötus (oder später der Säugling) gezwungen wird zu reagieren, wird er aus seinem »Seinszustand« geworfen, was in diesem Entwicklungsstadium einem zeitweiligen Identitätsverlust gleichkommt. Das Kind wird so abhängig von den Übergriffen und kann keine eigenen Handlungsmuster entwickeln: seine Lebenskraft wird durch Reaktionen auf Übergriffe in Anspruch genommen. Hierin liegt der Grund für ein basales Unsicherheitsgefühl, und im Wiederholungsfalle erwartet der Säugling weitere Selbstverluste (Winnicott, 1958).

Winnicott meint, dass die erste Selbstwahrnehmung des Kindes eine Spiegelung dessen ist, was es in den Augen seiner Mutter sieht (1973, S. 128): Ist sie zufrieden, glücklich und liebkost sie das Kind, wird dessen auftauchendes Selbstbild mit Gefühlen der Wärme und Sicherheit verbunden sein. Insofern gibt es nicht »das Kind«, sondern es gibt nur »das Kind und die Mutter«. Mit verschiedenen Worten beschrieb Winnicott dieses Miteinander: z. B. mit »ausreichend gute Umwelt«, »primäre Mütterlichkeit«, »Tragefunktion der Mutter«, »facilitating environment« oder »fördernde« und »haltende Umwelt« – wärmere Begriffe als der des »Containers« von Bion (Ludwig-Körner, 1992).

Mit seinen Konzepten vom »Übergangsphänomen« und »Übergangsobjekt« beschreibt Winnicott, wie sich der Mensch von Geburt an »mit den Problemen der Beziehung zwischen dem objektiv Wahrnehmbaren und dem subjektiv Vorgestellten beschäftigt«. Indem die Mutter den kindlichen spontanen Gesten begegnet, kann das Kind die Illusion eines omnipotenten Erschaffens und Kontrollierens haben. Das Übergangsobjekt ist für das Kind das erste »Nicht-Ich-Objekt« (Winnicott, 1973, S. 21), der erste nicht zum Selbst gehörende Besitz, der vom Kind nicht bloß gefunden, sondern erschaffen wird. Der Übergangsbereich stellt somit eine Brücke zwischen innen und außen dar und ist ein erster Schritt in die frühkindliche Triangulierung.

John Bowlby (1907–1990), Kinder- und Erwachsenenpsychiater und Psychoanalytiker, wuchs mit fünf Geschwistern auf und musste mit knapp vier Jahren den Verlust seines geliebten Kindermädchens »Minnie« und achtjährig den Einzug in ein Internat verkraften (Van Dijken, 1998). Er studierte Medizin und unterrichtete zwei Jahre in Internaten, u. a. mit verhaltensauffälligen Kindern – Erfahrungen, die seinen Blick auf die Auswirkungen zerrütteter früher Mutterbindungen und Trennungen lenkten und in seiner Veröffentlichung über jugendliche Diebe (Bowlby, 1944) mündete.

Früh unterschied sich seine Sicht von der Melanie Kleins: Seiner Meinung nach wird die kindliche Entwicklung vor allem durch reales elterliches Verhalten bestimmt, während Melanie Klein sie vor allem als konstitutionelle innerpsychische Bedingungen ansah. Er war Mitarbeiter in der London Child Guidance Clinic (1937–1940), die während des Zweiten Weltkriegs nach Cambridge evakuiert wurde. Dort unterrichtete er Studierende der London School of Economics in »Mental Health« und beteiligte sich an den Untersuchungen von Susan Isaacs, die sie zusammen mit ihrer Freundin Clement Brown, einer Sozialarbeiterin, in Cambridge über evakuierte Kinder durchführte (»Cambridge Evacuation Study«, Isaacs 1941). Bowlby arbeitete lange als Kinderpsychiater in der Tavistock Clinic in London (1946–1972), wo er als Direktor der Abteilung für Eltern und Kinder die Möglichkeit erhielt, finanziert durch den National Health Service, die kriegsbedingten Auswirkungen von Trennungen der Kinder von ihren Eltern zu untersuchen. 1951 veröffentlichte Bowlby seine im Auftrag der World Health Organisation durchgeführte Forschung über den Zusammenhang der mütterlichen Pflege und seelischen Gesundheit von Kindern. 1950–1972 war er Berater der WHO zu Fragen der psychischen Gesundheit der Bevölkerung.

Zusammen mit der kanadischen Psychologin Mary Ainsworth, die ab 1950 an der Tavistock Clinic mitarbeitete, entwickelte er die Bindungstheorie, in die neben der Psychoanalyse auch Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung (Konrad Lorenz, Nikolaas Tinbergen, Robert Hinde) und systemtheoretisches Denken mit einflossen. Bowlbys Arbeiten wurden anfangs vor allem in der nicht-psychoanalytischen Welt hoch geschätzt und hatten großen Einfluss sowohl auf die Säuglingsforschung und Entwicklungspsychologie als auch auf die Klinische Psychologie. Die »orthodoxe« Psychoanalyse ignorierte Bowlbys Bindungstheorie, weil sie vor allem von der Kleinianischen Psychoanalyse abwich, fast zwei Jahrzehnte lang, obwohl er von 1956–1961 Vizepräsident der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft war. Erst in den 1980er-Jahren wurde er mit der Ernennung zum Freud Memorial Professor für Psychoanalyse am University College in London rehabilitiert.

Bowlby geht von einem biologisch determinierten Bindungsverhaltenssystem zum Zweck des Schutzes und Versorgt-Werdens aus. Es ist anderen Bedürfnissen gleichrangig und wird unter Stress, inneren Belastungen wie Überforderung, Hunger, Müdigkeit, Krankheit oder äußeren Belastungen, vor allem bei einer Trennung von der Bezugsperson, aktiviert. Bindungsverhalten zeigt sich im sichtbaren Verhalten wie Anklammern, der Bezugsperson Folgen, Nähe Suchen, Arme Entgegenstrecken, Weinen, aber auch Saugen und Lächeln. Er entwickelte das Konzept der inneren Arbeitsmodelle, in denen unbewusste Vorstellungen von sich selbst, den anderen und der Welt repräsentiert werden und die dem Individuum eine Orientierung in der sozialen Welt ermöglichen. Sie werden durch die Erfahrungen mit den Bindungspersonen aufgebaut und sind ab dem sechsten Lebensmonat nachweisbar (Hédervári-Heller, 2012). Durch die alltäglichen Pflegehandlungen der Betreuungspersonen, der Qualität und der Konstanz der Beziehung mit ihnen verinnerlichen Kinder Erfahrungen, die sich in Bindungsmustern niederschlagen. Nach Bretherton (1990) sind Kinder nach dem ersten Lebensjahr gedanklich fähig, sich das zu erwartende elterliche Verhalten vorzustellen, d. h. die Arbeitsmodelle abzurufen.

Mary Ainsworth, die in Uganda kulturvergleichende Studien zur Mutter-Kind-Interaktion durchgeführt hatte, entwickelte in Baltimore den »Fremde-Situations-Test« (FST), wobei sie ein sicheres und zwei unsichere Bindungsmuster (unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent) unterschied. Es handelt sich um Anpassungsstrategien, mit denen Kinder Trennungen von der Betreuungsperson zu bewältigen versuchen. Ist ein Kind emotional ausgeglichen und fühlt sich sicher, so erkundet es lustvoll und neugierig die Welt, d. h. sein Explorationsverhaltenssystem ist aktiviert. Dieses kippt jedoch, sobald das Kind in eine Stresssituation gerät und sein Bindungsverhaltenssystem aktiviert wird.

Wachsen Kinder mit Eltern/Betreuungspersonen auf, die verlässlich zur Verfügung stehen und auf kindliche Bedürfnisse emotional und feinfühlig eingehen, indem sie die Signale des Säuglings wahrnehmen, sie richtig interpretieren, entwicklungs- und situationsangemessen und prompt darauf reagieren (Konzept der Feinfühligkeit nach Ainsworth et al. 1974) und Kindern helfen, ihre Affekte zu regulieren, so werden diese Kinder sichere Bindungsmuster entwickeln. Sicher gebundene Kinder zeigen ein offenes Bindungsverhalten, drücken ihre Wünsche nach Nähe und Kontakt und ihre Gefühle offen und deutlich aus und beruhigen sich nach Abwesenheit und Rückkehr der Bindungsperson schnell, indem sie deren Trost annehmen, so dass sich ihre Stresshormone, die sich durch die Trennung aufgebaut haben, schnell wieder verringern. Sie entwickeln ein »Urvertrauen«, eine positive Lebenshaltung, auch schwierige Lebenssituationen meistern zu können.

Unsicher-vermeidend gebundene Kinder lassen kein Trennungsleid in ihrem Ausdruck erkennen. Sie zeigen kein offenes Bindungsverhalten, vermeiden die Nähe zur wiederkehrenden Bindungsperson und wenden sich stattdessen dem Spielzeug zu. Sie haben die Erfahrungen verinnerlicht, dass sie in kummervollen Situationen zurückgewiesen werden. Auch unter großer Belastung sind sie kaum bereit, emotionale Zuwendung zu suchen und sie zu akzeptieren. Schon zwölf Monate alte Kinder mit vermeidendem Bindungsmuster zeigen bei ansteigender psychischer Belastung ihren Distress umso weniger, je größer dieser wurde. Eltern von unsicher-vermeidend gebundenen Kindern werden als wenig feinfühlig gegenüber den Signalen ihres Kindes beschrieben, als überstimulierend oder als verdeckt-feindselig. Das Arbeitsmodell des unsicher-vermeidenden Kindes wird in angespannter Vorsicht sichtbar mit einem hohen Cortisolanstieg. Das Kind scheint eine Art unsichtbare Mauer aufgebaut zu haben, hinter der es nicht hervorkommt, über die aber auch die Bindungsperson kaum hinweg kann.

Unsicher-ambivalent gebundene Kinder zeigen in einer Trennungsoder Stresssituation eine Bindungsorganisation mit einem widersprüchlichen Verhalten. Sie scheinen bereits als Neugeborene irritierbarer zu sein. Ihre Bindungsperson wird als nicht berechenbar verinnerlicht. Die innere Einstellung, die diese Kinder in die »Fremde Situation« mitbringen, macht sie unruhig und aktiviert ihr Bindungssystem bereits durch die fremde Umgebung und lässt sie die Nähe zur Bindungsperson schon vor der Trennung suchen. Sie scheinen stets Angst zu haben, ihre Bindungsperson zu verlieren. Durch die chronische Aktivierung ihres Bindungssystems ist ihr Erkundungsverhalten stark eingeschränkt. Bei der Rückkehr der Bindungsperson verhalten sie sich widersprüchlich, indem sie ihre Nähe suchen, aber zugleich ärgerlich und wütend auf sie sind. Ihr intensives und lautstarkes Bindungsverhalten ist nicht Zeichen einer »starken« Bindung, sondern Ausdruck von Verlustangst. Seine Bindungspersonen sind für das Kind schlecht »berechenbar«, da sie sich dem Kind gegenüber selbst widersprüchlich verhalten. Oft verhalten sich diese Kinder passiv, wirken bereits als Kind depressiv.

Nach Main und Solomon (1990) gibt es eine weitere Gruppierung für diejenigen, die keinen organisierten Bindungsstatus entwickeln konnten und als hochunsicher gebunden bzw. desorganisiert/desorientiert bezeichnet werden. Kleinkinder mit Anzeichen von Desorganisation ihrer Bindungsstrategien zeigen auf der physiologischen Ebene die höchsten Indikatoren von Stress; sie haben keine eindeutigen Verhaltensstrategien oder diese brechen bei Stress zusammen. Es handelt sich um Kinder, die entweder von häufig wechselnden Betreuungspersonen versorgt wurden oder die selbst bzw. deren Eltern Traumen erleben mussten. Sie haben keine Erfahrungen von Schutz und Sicherheit bietenden Betreuungspersonen verinnerlichen können, sondern diese lösen im Gegenteil u. a. Angst aus, sei es, dass die Erwachsenen selbst von Angst überflutet wurden, z. B. durch »flash backs«, durch ungelöste Verlusterfahrungen oder durch eigene Bedrohungen oder Misshandlungen durch ihre Eltern. Bei der Wiedervereinigung nach einer Trennung von der Betreuungsperson zeigen diese Kinder stereotype Bewegungen, erstarren und wirken wie abwesend (dissoziiert). Desorganisationen von Bindungsstrategien spielen in der Psychopathologie eine wichtige Rolle. Kinder mit einem desorganisierten Muster haben, wie Längsschnittstudien zeigen, eine ungünstige Prognose. Mit hoher Wahrscheinlichkeit weisen sie bereits im Grundschulalter ein aggressiv-destruktives Verhalten, schlechte Schulleistungen und schwere psychische Probleme auf (Lyons-Ruth, 2006).

Den meisten Kindern stehen mehrere Bindungspersonen zur Verfügung, zu denen sie unterschiedliche Bindungsmuster entwickeln können. Jedes Kind bevorzugt eine bestimmte Bindungsperson besonders dann, wenn es müde, krank ist oder leidet. Steht seine Hauptbindungsperson nicht zur Verfügung, akzeptiert es zwar die übrigen Bindungspersonen, könnte sich aber bei der Hauptbindungsperson am besten erholen.

Frühe Bindungserfahrungen haben einen vielfältigen Einfluss auf die spätere Entwicklung, aber Bindungsmuster sind im Laufe des Lebens veränderbar. Eine sichere Bindung wird als eine wichtige Voraussetzung für eine psychisch gesunde Entwicklung betrachtet. Nach internationalen Studien sind ca. 60 % der Kinder sicher gebunden, 20–25 % unsicher-vermeidend, 10–15 % unsicher-ambivalent und 5 % desorganisiert. Da die Untersuchungsergebnisse von vielfältigen Bedingungen abhängen, schwanken die Angaben (Grossmann & Grossmann, 2012).

Die Bindungsforschung weitete sich in den letzten dreißig Jahren auf Bindungsmuster von Jugendlichen und Erwachsenen aus. Ähnlich den kindlichen Bindungsmustern zeigen sich auch bei Erwachsenen autonom-sichere, unsicher-distanzierte/abweisende und unsicher-verstrickte Bindungsmuster, sowie ein unverarbeiteter Bindungsstatus etwa als ein unverarbeitetes Trauma. In klinischen Studien waren Menschen gehäuft mit einem unsicher-ambivalenten, aber vor allem mit einem desorganisierten Muster anzutreffen (Strauß, Buchheim & Kächele, 2002).

Als James Robertson (1918–1988) und Joyce Robertson (1919–2013) gerade jung verheiratet, 1941 in den Kriegskinderheimen von Anna Freud und Dorothy Burlingham zu arbeiten begannen, waren sie die einzigen englischen Mitarbeiter und James Robertson, Quäker und Kriegsdienstverweigerer, der einzige Mann in den »Kriegskinderheimen«. Unter all den ledigen deutschsprachigen Emigrantinnen stellten sie einen wichtigen Gegenpol dar, da sie beide aus der Arbeiterschicht stammten und oft einen direkteren Zugang zu den Müttern/Vätern und ihren Kindern fanden. Beide arbeiteten bis zur Schließung der Kriegskinderheime mit. Nach Kriegsende war es die Aufgabe von James Robertson, die in den Heimen betreuten Kinder wieder in ihre Familien zu integrieren bzw. Pflege- oder Adoptionsfamilien für sie zu finden. Berufsbegleitend erwarb er sich ein Diplom als Sozialarbeiter an der London School of Economics. Seine zeitlich parallel begonnene psychoanalytische Ausbildung wurde von Anna Freud unterstützt.

Aufgewachsen in einem dichten Familienverband, wo immer jemand da war, um ein Baby zu liebkosen, seine Bedürfnisse wahrzunehmen, es zu trösten oder zu füttern, war es für das Robertson-Paar einfach selbstverständlich, dass kleine Kinder eine Bezugsperson brauchen, die sie lieben und die sensibel für jene Schmerzen sind, die Trennungen hervorrufen. Joyce Robertson arbeitete sehr gerne mit kleinsten Kindern, die sie sehr gut beruhigen konnte, und wurde bald eine Expertin für Fragen der Mutter-Kind-Beziehung, arbeitete in der Well Baby Clinic und später im Kindergarten der Hampstead Child-Therapy Clinic mit.