Vorbemerkung

Dieses Buch konnte nur mit vielfältiger Unterstützung entstehen. Die Kolleginnen und Kollegen, deren Gedanken ich verwendet habe, sind im Text genannt. Etwas Neues war da kaum zu erfinden. Die anderen Mitwirkenden sind noch nicht erwähnt. Die verschiedenen Fassungen dieses Textes hat Karin Lauenroth geschrieben. Ich weiß nicht, welche ihrer Künste ich mehr loben soll: ihre Kunst, meine Handschrift zu entziffern, oder ihre Kunst, ein tadelloses Manuskript zu schreiben. Die Tabellen, Abbildungen, viele genaue Nachweise und das Literaturverzeichnis hat meine studentische Hilfskraft Christiane Waldeck erstellt. Ihre Sorgfalt und ihr Geschmack haben mich restlos überzeugt. Wenn ich ihr herzlich danke, dann auch stellvertretend für die »Hiwis«, die mir in 25 Jahren an der Mainzer Universität so vieles kopiert, recherchiert, dokumentiert und manche Vorlagen für Lehrveranstaltungen erstellt haben, die in dieses Buch eingegangen sind.

Vor allem aber möchte ich meiner Frau Mechthild danken, die manche unverständliche Passage des Entwurfs transformiert hat in einen leserlichen Text. Ihr widme ich dieses Buch.

1 Der Begriff Sozialpädagogik

1.1 Problemstellung

Die Sozialpädagogik hat es schwer mit sich selbst und kann die Frage, was sie sei, nicht beantworten. Sie existiert als schriftlich fixiertes Gedankengebäude oder als gesellschaftliche Realität in vielfältigen Formen, doch scheint es unmöglich, sie als ganze von innen her darzustellen oder von außen her zu beschreiben. Die Klage über diesen Zustand bildet einen unerschütterlichen Topos in Praxis und Theorie. Klaus Mollenhauer begann seine »Einführung in die Sozialpädagogik« im Jahr 1964 mit den Sätzen: »Eine Einführung setzt voraus, dass es dasjenige gebe, in das in solchem Falle eingeführt werden soll. (…) Mit dieser Einführung in die Sozialpädagogik ist es indessen, selbst an so eingeschränktem Maß gemessen, nicht zum Besten bestellt. Zwar gibt es die ›Sache‹ Sozialpädagogik als Praxis; von einer bereits vorhandenen Theorie zu sprechen oder gar einem systematischen Zusammenhang lehrbarer Forschungsergebnisse, wäre eine arge Übertreibung.« (Mollenhauer 2001, S. 13) Möglicherweise kann man diese Bemerkung für die 1960er Jahre nachvollziehen, wird aber überrascht sein, auch im Jahr 2002 noch den einleitenden Text zu finden: »Die Identität der Sozialpädagogik scheint bis zum heutigen Tag ihre Nicht-Identität zu sein: Sie hat keinen eindeutigen, klar zu benennenden Ort in der Praxis, kein einheitliches Profil der Ausbildung, keine stabilen theoretischen, wissenschaftlichen und professionellen Grundannahmen.« (Thole 2002, S. 26) Solche und ähnliche Feststellungen haben nicht nur die rhetorische Bedeutung, die Vorläufigkeit der je eigenen Strukturierungen hervorzuheben. Sie werden durchaus auch belegt und es gibt entsprechende Merkmale im Fremdbild der Sozialpädagogik. Sie wird auch von außen als unübersichtlich und ohne disziplinären »Kern« wahrgenommen.

Bevor – sogar mit einer gewissen Verstärkung der beschriebenen Feststellungen – auf die Notwendigkeit einer begrifflichen Offenheit eingegangen wird, sollen die referierten Eindrücke relativiert werden. Zum einen erweisen sich bei genauerer Betrachtung auch andere Disziplinen – zumal solche, die ähnlich wie die Sozialpädagogik noch jung sind und sich in enger Beziehung zur Herausbildung einer neuen gesellschaftlichen Praxis entwickeln – als ebenso unterstrukturiert, wie es möglicherweise die Sozialpädagogik ist. Zum anderen zeichnen sich Disziplinen mit langer Tradition, eingespielter Begriffsbildung und anerkanntem Methodenkanon auch durch Hang zum Dogmatismus, Ausschließungspraktiken gegenüber Außenseitern und Kritikern und durch Nähe und Übereinstimmung mit gesellschaftlichen und politischen Machtzentren aus. Wenn »das Soziale«, um das es der Sozialpädagogik geht, tatsächlich die gesellschaftliche Vielfalt darstellt, als die sich die gegenwärtige Gesellschaft versteht, dann ist die Offenheit nicht erstaunlich. Diskussionen über den Kern der jeweiligen Disziplin sind deshalb generell ein Merkmal der Sozial- und Geisteswissenschaften.

Andererseits darf das Plädoyer für Vielfalt und Offenheit nicht als Aufforderung zur Beliebigkeit missverstanden werden. Denn auch das Wort des Wissenschaftstheoretikers Paul Feyerabend, »anything goes«, bezog sich auf den Weg, wie man zu wahren Erkenntnissen kommen kann, und eben nicht auf die Kriterien, die für einen solchen Wahrheitsanspruch gelten sollen.

Was kann aber, um zur Ausgangsfrage zurückzugehen, der Begriff der Sozialpädagogik meinen?

Wie im Hinblick auf viele andere Disziplinen auch scheint der abgewandelte Satz begründet: Sozialpädagogik ist das, was Sozialpädagoginnen tun und Sozialpädagogen sich ausdenken.

Mit der geschlechterspezifischen Zuordnung von Tätigkeiten, die hier zum Ausdruck kommt und die im Hinblick auf die Verteilung von Personen auf Theorie und Praxis als empirisch gesicherter Sachverhalt gelten kann, wird ein Problem zur Sprache gebracht – und mit dieser Benennung eines Problems beginnt die Sozialpädagogik. Dass bei den theorieproduzierenden und -vermittelnden Funktionen die Männer und in den Praxiseinrichtungen die Frauen überrepräsentiert sind, mag als empirische Tatsache festgestellt sein, aber die Frage ist: Wie hat sie sich ergeben und warum kann sie nicht als fraglos gültig, also zu Recht bestehend anerkannt werden?

Die Ungleichheit der Chancen von Männern und Frauen, die mit Prestige, Handlungsautonomie und gutem Einkommen ausgestatteten Positionen zu erreichen, wird zum sozialen Problem, wenn diese Ungleichheit als nicht legitimiert erscheint. Die Differenz zwischen einem bestehenden Sachverhalt und seiner sozialen Akzeptanz/Ablehnung bildet ja die Grundlage eines sozialen Problems. Insoweit es die Sozialpädagogik in Theorie und Praxis mit solchen Sachverhalten zu tun hat, beruht auch die Existenz der Disziplin auf sozialen Tatsachen und deren Bewertungen gleichzeitig. Diese doppelte Bedingung lässt sich nicht mehr abschütteln, sie stellt sich als Aufgabe für Theorie und Praxis. Sozialpädagogik hat

Solche Veränderungen sind häufig nicht pädagogischer Natur und sollen es auch nicht sein. Im hier herangezogenen Beispiel der geschlechterspezifischen Ungleichheit war beispielsweise die Einführung des Frauenwahlrechts ein politischer Schritt zur Aufhebung von Ungleichheit mit rechtlichen Mitteln. Die notwendige Veränderung bezog sich auf den Rechtsstatus einer Personengruppe. Um aber von einem sozialpädagogischen Problem sprechen zu können, muss eine weitere Bedingung hinzukommen: Personen setzen sich mit der in einem sozialen Problem erscheinenden Differenz auseinander und die auf diese individuelle Auseinandersetzung bezogene Intervention muss begründet werden können. Um bei dem genannten Beispiel zu bleiben: Beim Hineinwachsen in eine Gesellschaft setzen sich Kinder und Jugendliche mit dem Erwerb einer Geschlechterrolle auseinander, für den Erwachsenen ist die Ausgestaltung dieser Rolle und ihre Weiterentwicklung eine lebenslange Aufgabe. Somit kann das individuelle Verhältnis zur Gesellschaft, insoweit es sich als Auseinandersetzung darstellt, vorläufig als sozialpädagogisches Problem bestimmt werden. Diese Auseinandersetzung kann sowohl durch eine gesellschaftliche Problemstruktur hervorgebracht werden als auch individuell motiviert sein. Wie die Erziehung generell ist praktische Sozialpädagogik Teil des umfassenden und lebenslangen Sozialisationsprozesses. Dabei drängen sich schon erste Unterscheidungen auf: Als praktisches Handeln bezieht sich Sozialpädagogik auf die Auseinandersetzung bestimmter Personen in einer bestimmten Situation mit den geschlechtsspezifischen Anforderungen und hat sich (beispielsweise) als Mädchen- oder Jungenarbeit konkret institutionalisiert. Als Theorie bezieht sich Sozialpädagogik auf diesen Institutionalisierungsprozess des praktischen Handelns und hat zugleich die ihm zugrunde liegenden Unterscheidungen von Differenz und Ungleichheit, Anerkanntem und Zurückgewiesenem zu analysieren.

1.2 Arbeitsdefinition »Sozialpädagogik«

Die am Beispiel der Geschlechterverhältnisse ganz vorläufig entwickelte Vorstellung von Sozialpädagogik soll nun zu einer »Arbeitsdefinition« entfaltet werden. Sie muss nicht neu formuliert werden; die Definition von Lothar Böhnisch bietet sich zur Übernahme an:

»Sozialpädagogik ist nicht nur eine sozial- und erziehungswissenschaftliche Disziplin im allgemeinen Sinne, sondern gleichzeitig auch eine Theorie besonderer Praxisinstitutionen – vor allem der Jugendhilfe und Sozialarbeit. Als erziehungswissenschaftliche Disziplin beschäftigt sich die Sozialpädagogik mit jenen sozialstrukturell und institutionell bedingten Konflikten, welche im Verlauf der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen auftreten: Konflikte zwischen subjektiven Antrieben und Vermögen der Kinder und Jugendlichen und gesellschaftlichen und institutionellen Anforderungen, wie sie in Familie, Schule, Arbeitswelt und Gemeinwesen vermittelt sind. Sie versucht, diese Konflikte aufzuklären, ihre Folgeprobleme zu prognostizieren und in diesem Kontext die Grundlagen für erzieherische Hilfen zu entwickeln«. (Böhnisch 1979, S. 22)

Mit dieser Bestimmung wird als spezifischer Ansatz der Sozialpädagogik hervorgehoben:

  1. Sie bezieht sich auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft;
  2. dieses Verhältnis wird als Konflikt bzw. im Hinblick auf die in ihm enthaltenen Konflikte betrachtet;
  3. die Sozialpädagogik leistet eine Analyse der Konfliktkonstellation,
  4. sie entwickelt Konzepte der Konfliktbearbeitung.

Die Weite und gleichzeitige Strukturiertheit dieses Begriffs erfasst gleichermaßen die Sozialpädagogik als Wissenschaft wie als praktische Tätigkeit. Diese Differenz wird später aufgegriffen werden; an dieser Stelle soll nur darauf hingewiesen werden, dass nicht nur die Praxis mit Problemlösungen zu tun hat, sondern auch der Wissenschaft solche Aufgaben zugewiesen werden. Weil aber Wissenschaft ein von unmittelbaren Handlungsnotwendigkeiten und damit verbundenen Entscheidungen entlastetes System darstellt, kann das Verhältnis nicht als eine unmittelbare Handlungsanweisung gedacht werden. Theorie und Praxis haben je eigene Sinnwelten ausgebildet, so dass sie nicht unmittelbar aufeinander bezogen werden können.

Ungeachtet dessen hat der Definitionsvorschlag von Böhnisch folgende Vorzüge:

  1. Er enthält eine thematische Eingrenzung, indem das Verhältnis des Individuums zur sozialen Welt in den Vordergrund gerückt wird. Die Position des Individuums in der Gesellschaft steht im Mittelpunkt, wobei unter Gesellschaft nicht nur eine abstrakte Totalität gemeint ist, sondern auch konkretere Gemeinschaften (z. B. Familie, Freunde), Organisationen (z.B. Schule, Betrieb) und Zugehörigkeiten zu allgemeineren Kategorien (soziale Schichten und Milieus, Generationen und ihre Kulturen, Subkulturen und Bewegungen). Gleichzeitig wird eine Abgrenzung vorgenommen zu den pädagogischen Aufgaben, bei denen es um die Aneignung der objektivierten Kultur geht (schulisches Lernen, Berufsbildung, Weiterbildung). Auch das Verhältnis des Individuums zu sich selbst im engeren Sinne wird ausgeklammert; es kann der Psychologie zugeordnet werden und in praktischer Hinsicht den therapeutischen Konzepten. Eine Grenze gezogen wird auch zur Dimension der physischen Existenz (leibliche Entwicklung, Gesundheit). Diese Abgrenzung rückt allerdings auch Überschneidungsbereiche in den Blick,
  2. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft steht der Sozialpädagogik nicht prinzipiell zur Disposition. Sie ist gerade hierin nicht identisch mit der Soziologie oder der Sozialisationstheorie, auch wenn sie auf deren Erkenntnisse zurückgreift. Insoweit Kompetenzen von Individuen und Anforderungen der Gesellschaft nicht zusammenpassen, kann eine Intervention (»Dazwischentreten«) erforderlich sein. Je nach den Anforderungen der Gesellschaft und dem Vermögen der Individuen können sozialpädagogische Aktivitäten oder Institutionen geschaffen werden, die regelmäßig den Konflikt bearbeiten bzw. präventiv das Entstehen eines Konflikts verhindern sollen. Eine solche Situation kann dann vorliegen, wenn in strukturell isolierten Kleinfamilien die Kinder nicht generell die Kompetenzen für die Bewältigung des Lebens und Lernens in der Schule erwerben können. Die sozialpädagogische Regeleinrichtung der Kindertagesstätte ist ein Beispiel für die Institutionalisierung einer Intervention.
    Weil der Konflikt von der einen wie von der anderen Seite her angegangen werden kann, insbesondere sowohl im Interesse des Individuums als auch dem der Gesellschaft als auch beider bearbeitet bzw. gelöst werden kann, wird die Doppelfunktion von Hilfe und Kontrolle als »Berufsschicksal der Sozialarbeit« (Böhnisch/Lösch 1973) bezeichnet. Ein doppeltes Mandat ergibt sich für die sozialpädagogische Tätigkeit aus dem Umstand, dass sie auf die Realisierung der Interessen und Bedürfnisse des Individuums abzielt, Unterstützung und Hilfe sollen ihm dienen – dass andererseits aber auch die Interessen des Helfenden, Unterstützenden selbst und der ihn beauftragenden Gesellschaft bzw. des Staates wirksam sind.
    Bei beruflichen Handlungsvollzügen ist diese Gegensätzlichkeit besonders ausgeprägt, weil Staat und Gesellschaft mit der Bezahlung der Sozialpädagogin besondere Erwartungen verbinden. Diese Erwartungen stehen den im Sozialstaat als soziale Rechte abgesicherten Bedürfnissen und Ansprüchen des Individuums gegenüber. Der sozialpädagogische Rollenkonflikt ist grundlegend. Doch auch dann, wenn eine Unterstützung nicht organisiert und beruflich erbracht wird, haben die Unterstützenden ein eigenes Interesse bzw. ihre Konformitäts- oder Dankeserwartungen, weil altruistisches Handeln in reiner Form selten ist. Das jeweilige Mischungsverhältnis von Hilfe und Kontrolle in den jeweiligen Handlungssituationen und Institutionen zu reflektieren und zu analysieren, wird deshalb zu einer theoretischen und praktischen Aufgabe.
  3. Als Theorie des Konflikts grenzt sich das Erkenntnisinteresse der Sozialpädagogik ein. Sie konzentriert sich auf die Differenzen, die zwischen dem individuellen Wollen und Können einerseits, dem sozialen Rahmen der Möglichkeiten und Grenzen andererseits bestehen. Weil individuelle Probleme in soziale Probleme integriert sind, richtet sich das sozialpädagogische Interesse auf die Differenz von Realität und fehlender Anerkennung dieser Realität, also auf soziale Probleme. Weil in die Bewertung von real bestehenden Zuständen Normalitätsvorstellungen und Wertorientierungen einfließen, analysiert die Sozialpädagogik Homogenitätsvorstellungen und Differenzbedürfnisse, Ungleichheitszustände und Modelle sozialer Gerechtigkeit. Schließlich zwingt die Orientierung am Konflikt zur komplementären Orientierung an sozialer Integration, sei es des Individuums, sei es von Gruppen.
  4. Die Erarbeitung von Konfliktlösungen ist eine praktische Aufgabe. Dabei kann auf theoretisches Wissen zurückgegriffen werden, aber die praktische Problemlösung wie die Erarbeitung von Wissen sind zwei verschiedene Aktivitäten. Die Rationalität von Praxis kann erweitert werden, wenn dem praktisch Handelnden in erweitertem Umfang zutreffende Begründungen für die von ihm getroffenen, praktisch bindenden Entscheidungen zur Verfügung stehen oder gestellt werden. Insoweit ist seine wissenschaftliche Ausbildung und Beratung/Begleitung zweckmäßig. Die Entwicklung von »Grundlagen« für die Bearbeitung von Konfliktlagen wird analytisch umso zutreffender und damit auch praktisch hilfreich, je genauer die Handlungslogik von Individuum, Gesellschaft und intervenierendem Akteur rekonstruiert werden kann.

1.3 Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Soziale Arbeit

In der zitierten Definition von Lothar Böhnisch steckt ein noch nicht angesprochenes Problem. Er begreift Sozialpädagogik als eine wissenschaftliche Disziplin, die gleichzeitig den Sozial- und den Erziehungswissenschaften zugehörig sein soll und die darüber hinaus zugleich Praxisinstitutionen theoretisch umfasst. Sozialpädagogik als Bezeichnung für eine wissenschaftliche Disziplin ist von Anfang an unterschiedlich verstanden worden (vgl. 1.4), der Terminus wurde jedoch überwiegend als Bezeichnung für eine besondere pädagogische Praxis zur Lösung bestimmter sozialer Probleme verwendet. Diese »enge« Verwendung des Begriffs stand im Zusammenhang der erzieherischen Probleme der »sozialen Frage« des 19. Jahrhunderts, von Massenarmut und -elend. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff mit einer eher institutionell orientierten Perspektive verwendet und meinte »alles, was Erziehung, aber nicht Schule und nicht Familie ist« (Bäumer 1929, S. 3): Die Disziplin Sozialpädagogik befasste sich im Wesentlichen mit der Praxis der Jugendfürsorge und Jugendpflege, die durch das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1924 in einschneidender Weise institutionalisiert worden war.

Doch die institutionsorientierte und methodische (»Erziehung«) Festlegung hat sich in mehrfacher Hinsicht als zu eng erwiesen. Der Handlungsmodus der »Erziehung« wird eingeschränkt auf einen kleinen Bereich des Umgangs mit Kindern, der nicht die Bildungs- und Aktivierungsaufgaben der Jugendhilfe angemessen erfasste. Deshalb wird der Gegenstandsbereich der Sozialpädagogik ausgeweitet auf Handlungen wie Unterstützung, Beratung, Begleitung, geplantes und strukturiertes Zusammenleben, Vermittlung von Informationen, sozialen Ressourcen und materiellen Hilfen, Reflexion und Bildung, Planung und Öffentlichkeitsarbeit.

Auch eine institutionelle Zuordnung außerhalb von Familie und Schule ist problematisch geworden, weil wichtige Aufgaben der Jugendhilfe beispielsweise in der Familie wahrgenommen werden (sozialpädagogische Familienhilfe) und weil auch die Schule nicht frei von sozialpädagogischen Aufgaben gedacht werden kann (Schulsozialarbeit). Schließlich erweisen sich disziplinäre Zuordnungen als schwierig, weil sozialpädagogische Aufgaben in Einrichtungen für Behinderte, in Angeboten der Erwachsenenbildung und Berufsausbildung, in der Freizeit- und Medienpädagogik gestellt und bearbeitet werden.

Schließlich erwies sich auch die Konzentration auf die Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen als nicht mehr begründet. Schon in der Erziehungsberatung, die am Anfang des 20. Jahrhunderts sich zu entwickeln begann, richtete sich die »einflussnehmende Intervention« nicht nur auf die Kinder, sondern auch auf die Eltern und andere Erwachsene. Diese Ausweitung des Adressatenkreises lässt sich beobachten bis hin zur Altenarbeit, in der sich neben der Pflege das gesamte sozialpädagogische Tätigkeitsspektrum entfaltet hat.

In durchaus vergleichbarer Weise hat sich der Praxisbegriff von Sozialarbeit entwickelt. Er schließt an verschiedene Traditionen an, namentlich

Neben der Verfachlichung und Verberuflichung des Praxiskonzepts von Sozialarbeit wird das Funktionsverständnis durch Wissensbestände aus Medizin und Volkswirtschaftslehre, Psychologie und Soziologie, Pädagogik und Rechtswissenschaft angereichert und ausgeweitet. Die Herausbildung einer zur Sozialarbeit komplementären wissenschaftlichen Disziplin ging im Vergleich zur Sozialpädagogik langsamer voran, die »Wissenschaft des Fürsorgewesens« wurde nur punktuell etabliert. Erst in den 1990er Jahren beginnt in Deutschland die Diskussion um eine Sozialarbeitswissenschaft, die sich als Leitdisziplin für die Ausbildung und den Beruf der Sozialarbeit versteht. Im internationalen Vergleich lässt sich dies als »späte« Entwicklung diagnostizieren, denn social work hat sich in den Vereinigten Staaten und weit darüber hinaus nicht nur als Profession, sondern auch als wissenschaftliche Disziplin etabliert.

Mit der Herausbildung einer Sozialarbeitswissenschaft setzte eine Gegenbewegung ein zu der in Westdeutschland seit dem 2. Weltkrieg zu konstatierenden Entwicklung. Eine Reihe von Faktoren, wie

haben eine Konvergenz in Theorie und Praxis hervorgerufen. Studiengänge wurden als »Bindestrichdisziplin« Sozialarbeit/Sozialpädagogik bezeichnet, und mit dem Begriff der »Sozialen Arbeit« (Hans Thiersch) wurde die Konvergenz abgeschlossen. Die ihr zugeordnete wissenschaftliche Disziplin wurde – etwas umständlich – »Wissenschaft der Sozialen Arbeit« genannt.

Eine weitere Ausdifferenzierung ist die Entstehung der Pflegewissenschaft, der Gesundheitswissenschaft oder der Rehabilitationswissenschaft. Diese Prozesse folgen der Ausdifferenzierung einer beruflichen Praxis, die begleitet wird durch die Herausbildung neuer Politikbereiche (Behindertenpolitik, Altenpolitik usw.) und eigenständiger, rechtlich normierter Institutionen (beispielsweise Pflegeversicherung, Rehabilitationseinrichtungen). Die Professionalisierung des jeweiligen Tätigkeitsfeldes und die Eigendynamik und -interessen der Ausbildungsinstitutionen bestärken den Trend zu einer je eigenen »Leitwissenschaft«.

Im Hinblick auf die Sozialpädagogik ergibt sich der folgende »Zwischenstand« (zum Stand der Diskussion vgl. Scherr 2002c) in Theorie und Praxis:

  1. Konvergenz: Sozialarbeit und Sozialpädagogik werden als (weitgehend) identisch angesehen, bisher getrennte Fachbereiche an Fachhochschulen werden zusammengelegt unter der Bezeichnung »Sozialwesen«, die Tätigkeit wird als »Soziale Arbeit« bezeichnet, die Disziplin als »Wissenschaft der Sozialen Arbeit«.
  2. Divergenz: Sozialpädagogik und Sozialarbeit verstehen sich, in der Tradition bis zu den 1950er Jahren, als sich wechselseitig abgrenzend und bilden ihre »Leitdisziplinen« in erziehungswissenschaftlicher Sozialpädagogik und von ihr sich absetzender Sozialarbeitswissenschaft aus.
  3. Disziplinärer Konflikt: Die divergenten Disziplinen entwickeln das Selbstverständnis, mit ihren Kategorien das gesamte Feld der Sozialen Arbeit zu erfassen, und bestreiten die Legitimation der jeweils anderen Disziplin.

Einen vierten Weg hat Lothar Böhnisch mit seiner hier verwendeten Definition angedeutet, indem er die Sozialpädagogik sowohl als Erziehungs- als auch als Sozialwissenschaft versteht und ihr durch diese Doppelanbindung eine Position verschafft, alle im Gesamtfeld auftauchenden sachlichen, begrifflichen und methodischen Fragen zu klären. Ob sich diese Position in Relation zu anderen Wissenschaften und zu den Ausdifferenzierungen der Praxisfelder halten lässt, ist ungewiss. Eine Klärung erwarte ich mir von der Weiterentwicklung der Erziehungswissenschaft, die den ganzen Lebenslauf von Menschen im Auge hat und die auf den Lebenslauf bezogenen Aktivitäten insgesamt als ihren Gegenstand bestimmt und reflektiert (vgl. Kapitel 5).

1.4 Weites oder enges Begriffsverständnis?

Bei Sozialarbeit und Sozialpädagogik als praktischen Handlungsfeldern lässt sich das Problem des Begriffsumfangs gleichermaßen beobachten. Die Frage der Spezifizität, Begrenzbarkeit, Definierbarkeit der Praxis und eines ihr entsprechenden Begriffs hat eine lange Geschichte.

Die frühe Verwendung des Begriffs »Sozialpädagogik« wird Friedrich Adolph Diesterweg zugeschrieben, der in einem »Wegweiser zur Bildung für deutsche Lehrer« 1850 den Begriff aufnahm, um seine Literaturzusammenstellung zu pädagogischen Fragen neu zu gliedern. Dabei werden vor allem Schriften zum »Pauperismus«, also zur Entstehung des Arbeiterproletariats, mit dieser Überschrift gekennzeichnet, so dass der Begriff Folgendes meint: »Ansatz und Schwerpunkt liegt bei der ›Sozialen Frage‹; den unteren Schichten der Gesellschaft soll materielle und geistige Hilfe geboten werden, ›Hilfe an Leib und Seele‹.« (Kronen 1986, S. 127) Der Begriff wird bei Diesterweg nicht weiter diskutiert oder systematisch begründet, doch entspricht diese Verwendung einer bis heute beobachtbaren Praxis: Die mit der sozialen Frage des 19. Jahrhunderts, also mit der Arbeiterfrage und der Armut zusammenhängenden erzieherischen Praktiken und Vorstellungen werden als Sozialpädagogik bezeichnet. Später erweitert sich diese Begriffsverwendung und bezieht alle »Sozialen Probleme« mit ein (z.B. Drogenabhängigkeit, abweichendes Verhalten). Sozialpädagogik wird definiert über ihre »Klienten«, ihre Adressaten und die Besonderheit der Zuwendung, in der Voraussetzungen und Folgen der Sozialen Probleme, insoweit sie im Handeln von Personengruppen zum Ausdruck kommen, bearbeitet werden. Dieses Verständnis der Sozialpädagogik liegt im thematischen Umkreis von Fürsorge und Sozialarbeit und wird in der Jugendhilfe institutionalisiert. Am Anfang des 20. Jahrhunderts war in der Jugendhilfe die Bezeichnung »Jugendfürsorge« vorherrschend, die allmählich um die »Jugendpflege« erweitert wurde. Am Ende dieses Jahrhunderts entwickelt das Kinder- und Jugendhilfegesetz ein Verständnis von Jugendhilfe, das die Definition über die Zuordnung zu bestimmten Adressaten zu überwinden versucht, insofern ihre Leistungen allen Kindern und Jugendlichen zugutekommen sollen.

Die Ausdehnung des Bedeutungsgehalts im Begriff der Sozialpädagogik nähert ihn einer Vorstellung von Sozialpädagogik an, wie sie zeitgleich mit Diesterweg von Karl Mager ausgearbeitet wurde. Er unterscheidet eine »allgemeine« Ebene der Pädagogik, auf der es um die allgemeine Geltung beanspruchenden Grundlagen der Erziehung gehe, von einer relativen Ebene, auf der die historisch-konkrete Gesamtheit der Erziehungswirklichkeit abgebildet wird. Diese letztere Pädagogik wird von Mager verstanden als »Theorie und Praxis (›Wissenschaft, Geschichte und Kunst‹) der Gesellschaftserziehung, oder: Sozialpädagogik« (Kronen 1986, S. 134). Der Begriff bezieht sich hier auf die Gesamtheit der Praktiken der Erziehung durch und zu Gemeinschaften und Gesellschaft.

Von Beginn der Theoriebildung in der Sozialpädagogik an gibt es also diese Differenz in der Begriffsbildung. Ein engerer Begriff bezieht das »Sozial-« auf Armut, Abweichung und andere soziale Probleme, ein weiterer Begriff erfasst mit »Sozialpädagogik« die Gesamtheit der Gesellschaftserziehung oder die gesamte soziale Wirklichkeit der Erziehung (vgl. auch Sünker 1995). Einige Auseinandersetzungen heute lassen sich damit erklären, dass »Sozialarbeit« und »Soziale Arbeit« als engere Begriffe verstanden werden, die sich auf den Handlungsmodus der »organisierten Hilfe« (Bommes/Scherr 2000) beziehen. Der Terminus Sozialpädagogik wird dagegen auf Handlungsmodi bezogen, die nicht nur Hilfe, sondern auch Erziehung, Begleitung, Betreuung, Unterstützung, Beratung, Aktivierung usw. umfassen.

Auch im Hinblick auf die Akteure lassen sich ein weiter und ein enger Begriff unterscheiden. In einer engen Begriffsverwendung wird der Begriff nur oder paradigmatisch auf berufliches Handeln von Sozialarbeitern und Sozialpädagoginnen bezogen. Doch ist diese Begrenzung nicht unbedingt zweckmäßig. Sie erfasst zwar den besonders gut sichtbaren, organisierten und institutionalisierten Teil dieser Tätigkeiten, aber nicht den der – der gleichen Handlungslogik folgenden – Aktivitäten von Ehrenamtlichkeit, Freiwilligenaktivität und Selbsthilfe. Gute Gründe sprechen dafür, den Begriff noch weiter zu dehnen, wenn es um den Handlungstypus und die gedankliche Figur sozialpädagogischer Argumentation als solche geht. Dann wird sichtbar, dass heute insbesondere in den Medien transportierte Handlungs- und Argumentationsmodelle inhaltlich als sozialpädagogisch bezeichnet werden können (Winkler 1995; Winkler 1999). In vielen Fernsehsendungen werden Modelle vermittelt, wie die Konflikte zwischen Individuen, zwischen Einzelnen und Gruppen und zwischen Gruppen und der Gesellschaft beschaffen seien und wie sie bearbeitet bzw. gelöst werden können. Ein erheblicher Teil von Unterhaltungssendungen dient vor allem dieser Funktion. Hinzu kommen die explizit nach dem Modell der Beratung konzipierten Sendungen.

Wie so oft scheint der Streit um die enge oder weite Definition wenig ergiebig; vielmehr kommt es darauf an, die Verwendungsweisen zu begründen im Hinblick auf das Definierte und den Kontext der Begriffsverwendung. In einer durch Medien gesteuerten Gesellschaft lässt sich ein neues »Format« des sozialpädagogischen Argumentierens und Handelns feststellen. »Sozialpädagogik begegnet sich selbst in einer Medienpraxis der Worte und Bilder.« (Winkler 1999, S. 63) Unter Sozialpädagogik wird hier nicht ein bestimmtes berufliches Handlungsmodell verstanden, sondern ein Typus des Modellierens von Individuum-Gesellschaft-Beziehungen. Die Variationsbreite dieses Typus ist dem Pluralitätsanspruch der modernisierten Gesellschaft folgend hoch, gleichzeitig produziert jeder Typus Normalität und Normativität.

Die in Abschnitt 1.2 vorgestellte Arbeitsdefinition ist zweifellos eine »weite« Bestimmung, die sich nicht auf beruflich organisierte Tätigkeiten begrenzt. Mit der Orientierung an einem allgemeinen Begriff wie dem des »Konflikts« geht sie über die beschreibende Definition eines Praxisfeldes hinaus und konstituiert ihren Gegenstandsbereich durch eine theoretisch gehaltvolle Bestimmung. Damit stellt sie den Übergang zwischen einer engen, den beruflichen Sektor erfassenden Definition und einer weiten, an allgemeinen Kategorien orientierten Bestimmung dar.

Eine wissenschaftliche Definition kann nicht einfach dem Selbstverständnis von »Praxis« oder »gesellschaftlicher Realität« folgen und dieses abzubilden versuchen. Sie müsste dabei einem ständigen Wandel folgen und könnte diesen nicht aus einer eigenen Perspektive heraus begreifen. Zum »Begreifen« entwickelt sie deshalb allgemeinere Begriffe, die als ihre Instrumente bei der Betrachtung der Wirklichkeit eine Erkenntnis vermitteln, die als »wissenschaftliche« begründet werden kann und muss. Ob die Begriffe eine besondere Erkenntnis vermitteln oder nicht, hängt wiederum davon ab, ob sie innerhalb des wissenschaftlichen Systems mit anderen Begriffen und Regeln zusammen einen sinnhaften Zusammenhang stiften und ob sie sich bei der Beschreibung und Erklärung der sozialen Wirklichkeit bewähren. In Theorien der Sozialpädagogik sind deshalb immer bestimmte Begriffe zentral, wie beispielsweise »Hilfe und Kontrolle«, »Integration«, »System und Lebenswelt« usw.

Mit den durch Definitionen gewonnenen Begriffen konstituiert, erschließt die Theorie die Wirklichkeit in der Perspektive dieser Theorie. Dabei kommt es weniger auf eine »klare« Abgrenzung als vielmehr auf die Formulierung einer Logik des inneren Funktionierens des gewählten Ausschnitts von Wirklichkeit an.

Ob etwas (Neues zum Beispiel) zu diesem Ausschnitt dazugehört oder nicht, ist dann weniger wichtig als die Prüfung der Frage, nach welcher Logik dieser Bereich begriffen werden kann, beispielsweise ob neue Aktivitäten in einem Altenheim zum Pflegemanagement oder zum sozialpädagogischen Handeln in Organisationen gehören. Doch auch dieses Beispiel zeigt: Die vorgenommene Unterscheidung und Zuordnung wird auf den zweiten Blick hin revidiert, weil die Voraussetzungen und Folgen des Pflegemanagements im Rahmen einer sozialpädagogischen »Theorie der Organisation« thematisiert und untersucht werden können – und müssen (vgl. beispielsweise Bauer/Gröning 1995).

Aus diesen Gründen ist es möglich, von der Klage über fehlende »klare« Abgrenzungen Abstand zu nehmen. Begriffe müssen offen sein, weil sie sich auf eine historisch herausgebildete Wirklichkeit beziehen und für deren Wandel offen sein sollen. Sie sollen auch nicht die legitimatorisch wirkenden, praktisch interessierten Ab- und Ausgrenzungen nachvollziehen, sondern kritisch analysieren. Deshalb können auch Berufsbezeichnungen oder in Gesetzen enthaltene Definitionen nicht als theoretisch bindende Festlegungen verstanden werden.

Weil wissenschaftliche Disziplinen mit ihren Begriffen stets nur einen bestimmten Teil der Wirklichkeit erfassen, insoweit immer sehr selektiv sind, können sie der Profession, also dem organisierten System beruflicher Handlungen auf wissenschaftlicher Grundlage, keine definitiven Grenzen vorgeben. Die Praxis bestimmt ihre Handlungslogik und Zuständigkeit selbst. Andererseits kann auch die Profession nicht die Reichweite des theoretischen Begriffs vorgeben. Diesbezügliche Orientierungsbedürfnisse (»klare Abgrenzungen«) müssen enttäuscht werden.

Das Plädoyer für allgemeine und abstrakte Begriffe und Definitionen kann durch drei Argumente erweitert werden:

Deshalb sind solche Definitionen von Sozialpädagogik zweckmäßig, die allgemeine Kategorien und – bezogen auf den Gegenstand – summarische Bezeichnungen enthalten.

Paul Natorp (1854–1924), der als Philosoph der Marburger Schule des Neukantianismus zugerechnet wird, hat eine solche »weite« Definition entwickelt.

Die der Sozialpädagogik zugewiesene Aufgabe ist nach seiner Auffassung die pädagogische Aufgabe überhaupt. Paul Natorp entwickelt deshalb seine Bestimmung der Sozialpädagogik von der Entfaltung des menschlichen individuellen Willens ausgehend. Dieser lässt sich ja zunächst begreifen als Inbegriff des Subjektiven, des der Gesellschaft Entgegengesetzten. Wenn er sich aber nicht inhaltsleer entwickeln soll, sondern das individuelle Wollen sich mit etwas Bestimmtem zum Ausdruck bringt, dann ist es auf die Übernahme von Perspektiven aus Gesellschaft und Kultur angewiesen, denn der Mensch ist nicht als Naturwesen, sondern als Kulturwesen und Mitglied einer Gesellschaft zum Menschen geworden.

Natorp orientiert seine Definition an dem Handlungsmodus der Erziehung. Wenn man dieses Element der Definition erweitert und es auf alle unterstützenden Formen der Intervention, also des »Dazwischentretens« zwischen Individuum und Gesellschaft ausdehnt, dann wird die Definition erheblich ausgeweitet. Umso mehr Bedeutung erhält dann die Eingrenzung und genauere Bestimmung des Handlungsmodus der Intervention.

Neben der an Theorienbildung interessierten Definition Natorps soll abschließend eine auf sozialpädagogische Arbeits- oder Handlungsfelder bezogene Bestimmung von Werner Thole vorgestellt werden. Eine solche Praxis ist dann gegeben, »wenn hier öffentlich organisierte, soziale, unterstützende beziehungsweise pädagogische Hilfen und Dienste zur sozialen Lebensbewältigung oder Bildung angeboten oder organisiert werden« (Thole 2002, S. 21).

Es genügt, die beiden Definitionen pointiert gegeneinander zu stellen, um noch einmal deutlich zu machen, wie wichtig der jeweilige Verwendungszusammenhang ist: Während die Natorpsche Definition an der erziehungswissenschaftlichen Theorie interessiert ist, versteht sich die Definition von Thole als Grundlage einer sozialwissenschaftlichen Analyse. Auf diesem Hintergrund erscheint die Absicht von Böhnisch begründet, mit seiner Definition Sozialpädagogik als Sozial- und Erziehungswissenschaft bestimmen zu wollen.

1.5 Praxisbeispiel

Neben der formalen und nominalen Definition gibt es in den Sozialwissenschaften die Möglichkeit einer Definition durch Beispiele. Sie ist in systematischer Hinsicht unbefriedigend, ihr Wert liegt in der Veranschaulichung von abstrakt-begrifflichen Bestimmungen.

Das Beispiel soll (1.) die für einen Handlungstyp charakteristischen Elemente enthalten: Im folgenden Fall werden zwei unterschiedliche Gestaltungsformen sichtbar im Spektrum von Hilfe und Kontrolle. Darüber hinaus soll (2.) die Struktur der exemplarischen Problemlage analytische Einsichten vermitteln. Am hier ausgewählten Fall lässt sich die Verschränkung der individuell-lebensgeschichtlichen Dimension mit der Funktionsweise gesellschaftlicher und staatlicher Institutionen deutlich machen. Und schließlich kann (3.) die Mehrdimensionalität und Offenheit des sozialpädagogischen Handelns aufgezeigt werden.

Fallbeispiel

Frau Pirger ist 22 Jahre alt und hat einen Sohn im Alter von vier Jahren. Sie hat keine Berufsausbildung und lebt in Scheidung von ihrem Ehemann, der wegen einer alkoholbedingten Straftat eine mehrjährige Gefängnisstrafe verbüßt. Frau Pirger bleibt nach der Inhaftierung ihres Ehemannes schockiert und hilflos alleine zurück und weiß nicht, wie sie mit ihrem Leben und ihrer Aufgabe als Mutter fertig werden soll; ihre finanzielle Situation ist ungeklärt, die Wohnung wurde ihr gekündigt usw. Sie schildert ihren Zustand folgendermaßen: »Am Anfang hab ich eigentlich die Wohnung total verwahrlost, ich hab keinen Sinn mehr gesehen, für was auch. … Weil ich hab mich andauernd da in die Wohnung gehockt und wollt eigentlich keinen sehen. … Am Anfang war ich total verstockt, wollt mit keinem reden.« Das Jugendamt erhält anonyme Hinweise darauf, dass ihr Sohn allzu häufig weint; sie würde ihn schlagen und vernachlässigen. Frau Pirger weist dieses empört von sich; sie wehrt sich gegen die Einmischung vom Jugendamt. Die Bezirkssozialarbeiterin wird von ihr als Kontrollinstanz wahrgenommen, die ihr keine Unterstützung gibt, sondern sie bevormundet und abwertet. Da die Mitarbeiterin des Jugendamtes um das Wohl des Kindes besorgt ist, das kaum redet und Entwicklungsrückstände aufweist, und die Mutter ihr völlig überfordert, aber nicht ansprechbar erscheint, möchte sie durch das Vormundschaftsgericht einen Sorgerechtsentzug und damit eine Unterbringung des Kindes in einem Heim oder einer Pflegestelle erreichen. Frau Pirger wehrt sich dagegen und verstrickt sich in einen Machtkampf mit der Bezirkssozialarbeiterin: »Da war vorher so eine Ekelhafte da vom Jugendamt, … jeden Tag ist die gekommen. Ja, die (Bezirkssozialarbeiterin) hat gesagt, das Kind, das kann nicht reden. Das kann das nicht, das kann das nicht, das ist unterentwickelt. Und lauter so einen Unsinn hab ich mir von ihr anhören lassen müssen. … Und die hat immer gesagt: ›Das müssen Sie so machen, das müssen Sie so machen.‹ Da hab ich gesagt: ›Das könnt Ihr schon machen, aber dann passiert was‹. Und dann hat sie zu mir gesagt: ›Ja, da werden wir uns dann weiter auf dem Gericht sehen‹. Und dann war die Verhandlung wegen ihm, dem Buben, … weil ich angeblich den Buben vernachlässige und dass er total blass ist und dass er nicht rauskommt und angeblich soll ich den Buben schlagen. Das stimmt ja alles gar nicht, bloß weil er ab und zu plärrt, wenn ihm was nicht rausgeht.« Sie kann sich nicht vorstellen, zu einer Erziehungsberatung zu gehen, was ihr das Jugendamt vorschlägt. »Irgendwohin« zu gehen und etwas erzählen müssen, scheint ihr sehr fremd; davor fürchtet sie sich. »Des (Erziehungsberatung) haben sie (Jugendamt) mir auch angeboten, aber ich hab zu ihnen gesagt: Nein, … bei denen weißt du nicht, ob die das rumerzählen … Nein, das liegt mir nicht, da einfach zu denen reinzugehen und denen die Probleme sagen, nein.« Vor Gericht wird der geplante Sorgerechtsentzug umgebogen in Familienhilfe, die von Frau Pirger angenommen wird und mit der sie positive Erfahrungen macht: »Na ja, und dann war die Verhandlung, und was ist rausgekommen – nichts! … Dann hab ich ganz normal geredet mit dem Richter, da hat er gesagt: ›Jetzt schauen wir uns das einmal ein Jahr lang an und dann krieg ich die Familienhilfe‹, … und dann hab ich sie gekriegt und seitdem ist nichts mehr gekommen. … Die (Familienhelferin) ist reingekommen und hat mit dem Buben gespielt, da hat sich gar nichts gegeben … Also die hat mich total unterstützt, schon bald wie meine richtige Mutter war die (lacht). … Die hat sich total viel Mühe gegeben mit uns, dann hat sie die Schreibsachen mit mir gemacht, wenn ich was gehabt habe, … weil ich das alles vorher nicht gekannt habe, ich habe ja so was nicht gebraucht. So hat sie mir das erklärt, wie das gehört … Sie ist mit mir aufs Landratsamt gefahren, wenn ich was gehabt hab, also das war echt super. Schade, dass ich sie nicht mehr hab. Wir sind auch viel spazieren gegangen, haben mit dem Buben was unternommen. Das war schon schön. … Sie war eine Ansprechpartnerin … Das hab ich total gut gefunden von ihr, dass wir uns halt ausgeredet haben, und sie hat auch mit ihm Spiele gemacht und alles. … Der hab ich das alles klipp und klar gesagt. Und dann hat sie gesagt: ›ja, red‹ dich nur aus‹, hat sie gemeint, ›wenn dir das gut tut‹. Und die war ewig dagehockt und hat mit mir geredet, am Anfang, was so gekommen ist, da gibt’s nix.«

(Aus: E. Helming/H. Schattner/H. Blüml: Handbuch Sozialpädagogische Familienhilfe, Stuttgart u. a: 31999, S. 30f.)

Dieses komplexe Beispiel wird im Folgenden mehrfach aufgegriffen und auch in einzelnen Elementen genauer betrachtet. Die Analyse kann allerdings nicht die Komplexität des praktisch zu Bewältigenden erschließen. Notwendig ist an dieser Stelle zunächst ein methodischer Kommentar.

Methodischer Kommentar

Der Text ist eine Mixtur von wörtlichen Zitaten aus einem Interview und informierenden, kommentierenden und erläuternden Ergänzungen des Verfassers. Beide Textelemente stellen eine Auswahl dar. Nach welchen Gesichtspunkten ausgewählt wurde, wissen wir nicht, weil wir den gesamten Erzähltext nicht kennen. Die eingefügten Kommentare sind aufschlussreich dafür, was der Kommentator für relevant hält. In Anlehnung an Reinhard Hörster (2001, 2002a) kann man diese Ebenen der Falldarstellung folgendermaßen gliedern:

  1. Auf der Ebene des alltäglichen Handlungsablaufs haben die beteiligten Personen ein alltagsweltliches Fallverständnis, das bei den beteiligten Sozialpädagoginnen die Form eines beruflichen Handlungskonzeptes annehmen kann.
  2. Rekonstruiert man das Verständnis der Sozialpädagoginnen, das etwa in ihren Berichten über den Fall oder den Begründungen ihres Handelns deutlich wird, eröffnet sich eine zweite Ebene der Betrachtung, ein »Fall im Fall«. »Die kasuistische Tätigkeit betrachtet also nicht einfach den Fall erster Ordnung, mit dem wir im beruflichen Alltagshandeln konfrontiert sind, sondern versucht ihrerseits, das Verständnis dieses Falles zu beobachten.« (Hörster 2001, S. 919)
  3. Insoweit das Verständnis eines Falls nicht einfach nachvollzogen werden, sondern in seiner Logik herausgearbeitet werden soll, wird mit diesem Schritt eine dritte Ebene betreten. Diese kann – wie beim Hilfeplanverfahren nach den Prinzipien der Jugendhilfe – die Klienten dabei beteiligen und so über Partizipation aus den unbewussten Zwängen des Alltagsbewusstseins und der Biografie herausführen.
    Diese dritte Ebene kann aber auch in der Supervision oder ähnlichen Form der beruflichen Selbstreflexion erreicht oder im Sinne der Kasuistik in der Ausbildung von Sozialpädagogen bearbeitet werden: Dann lässt sich die Reflexion auf dieser Ebene als Bildungsprozess begreifen. Schließlich können in der Einstellung sozialpädagogischer Forschung Erkenntnisse über die Konstruktion von sozialarbeiterischen Fallbearbeitungen gewonnen werden.
    Von der »Wirklichkeit an sich« erfahren wir bei Falldarstellungen und Beispielen also im strengen Sinne nichts. Was die Adressaten des sozialpädagogischen Handelns über sich selbst sagen und wie die Sozialpädagoginnen ihren Fall verstehen und seine Bearbeitung rechtfertigen, beruht auf komplexen konstruktiven Operationen. Und auch von diesen erfassen wir in theoretischer Einstellung nur die, auf die sich unser durch Begriffe geleitetes Interesse richtet. Es kann sich orientieren an Wissen (Forschung), Verständigung (partizipativer Arbeitsprozess) und Bildung (Emanzipation der Adressaten und Selbsterkenntnis der beruflich Tätigen).

Das Beispiel hat im Kontext der vorliegenden Darstellung eine heuristische Ausbildungsfunktion. Der Fall soll als Anschauungsmaterial und als Testfall für die verschiedenen vorgeschlagenen Unterscheidungen dienen: Er wird somit auf der dritten Ebene verwendet.

Von der ersten Ebene werden nur Ausschnitte sichtbar. Wir können eine Konstellation sozialer Deprivation erkennen, in einer Biografie möglicherweise verfestigt, ohne Zugang zu wichtigen gesellschaftlichen Gütern. Wir erfahren auch einiges über situative Dramatisierung und Verzweiflung und verschiedene Interaktionsprozesse und Auseinandersetzungen.

Diese werden allerdings wiederum nur selektiv dargestellt, was im vorliegenden Fall auf der zweiten Ebene damit zusammenhängt, dass nur Fälle herangezogen werden, an denen die Angemessenheit von sozialpädagogischer Familienhilfe aufgezeigt werden kann.Das Fallbeispiel »krisenhafte Zuspitzung einer Biografie« wird zu einem Fall von Familienhilfe und beide zusammen bilden einen Fall exemplarischer Darstellung zu Ausbildungszwecken. Festzuhalten ist also die Relativität und Selektivität der Darstellung.

2 Vom Umriss und von der inneren Logik

Die Definition der Sozialpädagogik als Bestimmung des Begriffs setzt nicht nur Grenzen und legt damit fest, was dazugehören und was nicht dazugehören soll und welche Überschneidungen und Ambivalenzen dabei entstehen, sie setzt auch eine Ordnung des Binnenbereichs. Diese Ordnung kann unter vielen Gesichtspunkten entworfen werden, seien sie pragmatischer, begrifflich-theoretischer oder historischer Art. Aus diesen Gründen wird hier unterschieden nach Ebenen des Gegenstandsbezugs: