Vorwort

Im Mathematikunterricht gibt es immer Kinder, denen das Lernen speziell in diesem Fach unter den gegenwärtigen schulischen Bedingungen schwerfällt. Dieses recht weit verbreitete – häufig mit dem Begriff „Rechenschwäche“ oder auch „Dyskalkulie“ bezeichnete – Phänomen lässt sich auch anders ausdrücken: es gibt immer wieder Mathematikstunden, die nicht alle Kinder erreichen, deren Verhalten sich dadurch auszeichnet, dass ihre Lernstrategien scheinbar resistent gegenüber schulischen Bemühungen sind. Nicht nur in pädagogischen auch in therapeutischen Kontexten wird immer wieder der mangelnde Erfolg direkter Instruktionen bzw. Interventionen beklagt (Simon 1999; Rotthaus 1999; Wittmann 2002). Vertreter aller Professionen, die unmittelbar mit Menschen umgehen und darüber hinaus noch versuchen, diese zu beeinflussen, leben mit dem Widerspruch, „die Verantwortung für das Verhalten von Systemen zu tragen, die ganz offensichtlich nur in sehr begrenztem Maße steuerbar sind“ (Simon 1999, 9). Speck formuliert aus schulpolitischer Sicht Ähnliches: „Unterrichtsqualität für jeden Schüler ist nur bedingt planbar. Jeder ist seine eigene unverfügbare Größe“ (2002, 59). Die vielzitierte und -diskutierte PISA-Studie untermauert dies speziell für das Fach Mathematik: „Im Fach Mathematik erleben sich die Schülerinnen und Schüler aller Schulformen wesentlich häufiger als überfordert als im Fach Deutsch … Je stärker der Unterricht als überfordernd wahrgenommen wird, desto schlechter die Leistung“ (Deutsches PISA-Konsortium 2001, 500). Steinbring (2000a) charakterisiert diese Situation als scheinbar ausweglosen, „fragilen Prozess“, bei dem die erfolgreiche Wissensvermittlung nicht „erzwungen, vollständig determiniert und garantiert werden kann“ (40). Pointiert beschreibt er diese Situation als „Paradoxie“ der unterrichtlichen, mathematischen Kommunikation: „Die (mathematische) Information soll durch die Mitteilung des Lehrers übertragen werden – was nicht direkt erreichbar und im Prinzip völlig unmöglich ist“ (37).

Dieses Buch möchte Anregungen dafür geben, mit dieser scheinbar ausweglosen Situation umzugehen. Zunächst wird eine Sichtweise dargelegt, die die unterschiedlichen Aspekte zum Mathematiklernen, z. B. die Lern- und Leistungsvoraussetzungen der Schüler, die Kompetenzen der Lehrkräfte, Fragen der Mathematikdidaktik und Aspekte der Fachsystematik Mathematik, erfasst und berücksichtigt. Alle diese Momente zusammen, ihre gegenseitige Verflechtung und Abhängigkeit charakterisieren das Wesen eines (erfolgreichen) Mathematikunterrichts. Sie fließen in die konkret ablaufende Unterrichtsstunde ein und determinieren ihren Ablauf. Der Mathematikunterricht selbst ist eine gemeinsame Lehr- und Lernsituation, die – wie jegliche Form von Unterricht – auf Kommunikation basiert.

Die deutliche Abkehr eines rein fachwissenschaftlich orientierten Mathematikunterrichts zugunsten eines alltags- und kompetenzorientierten Unterrichts, die sich derzeit sowohl an Regel- als auch an Sonderschulen beobachten lässt, prägt die Grundlinien dieses Buches.

Intention eines kompetenz- und alltagsorientierten Mathematikunterrichts ist es, einen Zugang zum Verständnis für Mathematik als eine charakteristische Art des Denkens und des Problemlösens im Alltag zu schaffen. Es ist nicht Ziel des Unterrichts, reproduzierbares Faktenwissen zu vermitteln, sondern mathematische Kompetenzen als Werkzeuge in einer Vielfalt alltäglicher und lebensbedeutsamer Situationen anzubahnen und anzuwenden. Die fachwissenschaftliche Systematik ist den Anwendungs- bzw. Transferfähigkeiten mathematischen Wissens nachgeordnet. Diese Zielsetzung ist nicht spezifisch sonderpädagogisch, sie trifft für alle Altersstufen ebenso wie für alle Schulformen zu.

Diese Ausführungen analysieren den Unterricht als eine Interaktions- und Kommunikationssituation, in der sich Lehrer und Schüler gemeinsam, aber auf unterschiedlichen Wegen und mit unterschiedlichen Voraussetzungen dem Gegenstand Mathematik nähern. Damit reiht sich dieses Buch in schon vorhandene Publikationen zur Veränderung des Mathematikunterrichts ein. (Exemplarisch seien hier genannt: Wittmann 2002; Scherer 1995; Wember 1986; Häsel 2001; Bauersfeld 1985; Winter 1994; Werner 2003). Die empfohlenen Verfahren und Methoden stützen sich auf empirische Forschungsbefunde, die in der Mathematikförderung gerade für lern- und rechenschwache Kinder ähnliche bzw. die gleichen Vorgehensweisen empfehlen wie für Kinder ohne Lernschwierigkeiten. Nicht defizitorientierte, spezifisch andersartige Techniken, Verfahren, Methoden wie beispielsweise Trainingsprogramme bei Teilleistungsstörungen haben sich in der Förderung rechenschwacher Kinder als erfolgreich erwiesen. Entscheidend für die Effektivität der Förderung ist die individuelle Angemessenheit der Anforderungen, Aufgabenstellungen, Materialien, Methoden usw. an die individuellen Lern- und Leistungsmöglichkeiten des einzelnen Kindes.

Die Umsetzungsvorschläge konzentrieren sich auf drei tragende Aspekte des Unterrichts:

Diese Intention prägt die Inhalte und den Aufbau dieses Buches.

Die ersten drei Kapitel einschließlich ihrer vertiefenden Exkurse thematisieren ein basales Grundwissen über Mathematik und Mathematiklernen. Aus einem kurzen historischen Abriss über die Geschichte der Mathematik wird das Wesen der Mathematik als geisteswissenschaftliche Disziplin charakterisiert (Kapitel 1).

Der Mathematikunterricht selbst ist in seinem grundlegenden Baustein eine Kommunikationssituation, deren Strukturen stark u.a. von dem formal-abstrakten Charakter mathematischer Zeichen und Symbole geprägt sind (Kapitel 2). Die Grundstruktur des Mathematikunterrichts wird durch die drei Bereiche Aneignungs-, Vermittlungs- und Sachstruktur umrissen. Die Ausführungen zur Vermittlungsstruktur diskutieren vor allem Fragen des Einsatzes von Unterrichts- und Anschauungsmitteln. Unter Berücksichtigung wahrnehmungspsychologischer Aspekte wird deren Wirksamkeit im Unterricht erläutert. Im Bereich Aneignungsstruktur werden Fragen der Entwicklung des mathematischen Denkens sowie grundlegende mathematischer Denkprozesse skizziert.

Unterricht realisiert sich weitgehend in Sprache. Daher widmet sich das Kapitel 3 speziell der Rolle der Sprache. Es analysiert verschiedene Momente wie beispielsweise die sprachlichen Aspekte mathematischer Aufgabestellungen sowie die Möglichkeiten, Sprache als didaktisches und diagnostisches Mittel zu nutzen. Darüber hinaus wird das besonders für die Förder- bzw. Lernbehindertenschule sensible Thema des Zusammenhangs zwischen Mathematiklernen und Kindern mit Migrationshintergrund bzw. Zweisprachigkeit aufgegriffen.

Diese Überlegungen zu den Grundfragen des Mathematikunterrichts werden mit einem Exkurs zur Rechenschwäche bzw. Dyskalkulie abgerundet.

Kapitel 4 widmet sich den Notwendigkeiten und Möglichkeiten einer zielgerichteten und systematischen Erfassung und Förderung mathematischer Kompetenzen vor allem vor Beginn des Schulbesuchs. Die für den Mathematikunterricht spezifischen und unspezifische Vorläuferfertigkeiten sowie Befunde zu deren Entwicklung werden skizziert. Eine Darstellung und Bewertung von Konzepten und Programmen zur Förderung dieser Kompetenzen im Vorschul- bzw. Kindergartenbereich schließen dieses Kapitel ab.

Die Kapitel 5 und 6 setzen didaktische Akzente. Es werden besonders solche Konzepte analysiert, die für lern- bzw. rechenschwache Kinder entwickelt wurden. Vorangestellt wird diesen Ausführungen ein Exkurs über das Wesen der Zahl, als einen grundlegenden Inhalt im Anfangsunterricht Mathematik. Das Wesen der Zahl sowie Aspekte der Zahlbegriffsentwicklung werden vor allem unter didaktischen und diagnostischen Fragestellungen erläutert. Kapitel 5 legt seinen Schwerpunkt auf Konzepte zur Förderung lernbehinderter bzw. schulleistungsschwacher Kinder. (Im Folgenden werden die Begriffe Förder-, Lernbehindertenschule und Schule für Lernbehinderte synonym verwendet). Kernkriterium ihres Vergleichs und ihrer Bewertung liegt in der Alltags- und Kompetenzorientierung gerade für diese Schülergruppe. Das letzte Kapitel 6 greift die aktuelle schulpolitische und mathematikdidaktische Diskussion um einen alltags- und kompetenzorientierten Unterricht auf und skizziert in den wichtigsten mathematischen Inhaltsbereichen wie Zahl und Operationen, Größen und Messen, Raum und Form didaktisch-methodische Umsetzungsmöglichkeiten.

Die dargestellten Unterrichtsbeispiele stammen – sofern sie nicht anders gekennzeichnet sind – aus eigenen Unterrichtsbeobachtungen an Grund- und Förderschulen sowie aus Lehrveranstaltungen, in denen Studierende mit Schülern aus Grund- und Förder-/Lernbehindertenschulen im Bereich Mathematik arbeiteten … und viel voneinander lernten.

In diesen Ausführungen wird sichtbar, dass es gegenwärtig fruchtbare Annäherungen zwischen der Grundschul-, der Fachdidaktik sowie der Didaktik im Bereich Lernbehindertenpädagogik gibt.

Hinweis

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Text nicht explizit zwischen weiblichen und männlichen Wortformen unterschieden. Es sind jedoch immer beide Geschlechter miteinbezogen.

1 Vom Wesen der Mathematik

„Mathematik ist eine von Menschen gedanklich konstruierte Wirklichkeit, die … keinen willkürlichen Charakter hat, sondern von Notwendigkeiten geprägt ist und Entdeckungen zulässt. Es gibt eine Übereinstimmung zwischen unserem mathematischen Denken und unseren Erfahrungen mit der Außenwelt (Natur).“ (Wittenberg 1963, 16)

„Das Buch der Natur ist mit mathematischen Symbolen geschrieben.“ (G. Galilei)

„Mathematik kann man nur mit dem Auge des Geistes ‚sehen‘.“ (Devlin 2002, 7)

„Der Mathematiker ist ein Erfinder, kein Entdecker.“ (Wittgenstein 1984, 99)

„Sie (die Mathematik) ist die abstrakteste Wissenschaft von allen. Sie spricht beispielsweise von Räumen, nennt deren Elemente ‚Punkte‘ und kann davon abstrahieren, ob es sich dabei um Zahlen, Kurven, Flächen, Funktionen oder sonstwas handelt. Verrückt nur, dass einige ihrer reinsten Gedankenkonstruktionen den weltzugewandten Verstand überhaupt erst möglich machen – von der Raumfahrt über Klimaforschung und Kommunikationstechnik bis zur Medizin und Demografie.“ (Die Zeit 2008, online)

Mathematik

All diese Zitate dienen als Einleitung, als Anregung darüber nachzudenken, was Mathematik eigentlich ist. Was charakterisiert das Wesen von Mathematik? Ist Mathematik eine Natur- oder Geisteswissenschaft? Gäbe es die Mathematik, wenn es die Menschen nicht gäbe?

Dieses Kapitel soll zunächst über einen Rückgriff auf die Geschichte der Mathematik verdeutlichen, dass die Entstehung und die Entwicklung von Mathematik eng an die kulturellen und wirtschaftlichen Gegebenheiten einer Gesellschaft gebunden waren und sind. Selbst eine Geschichte der Mathematik lässt sich nicht ohne Bezug zur Geschichte der Menschheit schreiben.

Mathematik ist ein mehr als eintausend Jahre altes Kulturgut. Schon aus den ältesten Kulturen sind zusammen mit den Schriftzeichen auch Dokumente mathematischer Berechnungen überliefert.

Die Mathematik (griech.: mathema) ist die „ursprünglich aus den Aufgaben des Rechnens und Messens erwachsene Wissenschaft, der praktische Fragestellungen zu Grunde liegen und zu deren Behandlung Zahlen und geometrische Figuren herangezogen wurden“ (dtv-Lexikon; Bd. 11 1997, 312). Zwar gibt es in den Entstehungs- und Entwicklungsgeschichten aller Kulturen enge Zusammenhänge zwischen der Etablierung schriftsprachlicher und mathematischer Symbole, dennoch „ist das Vorliegen einer Schrift noch keine hinreichende Voraussetzung für die Existenz eigener Zahlsymbole“ (Stern 2005, 293). Mathematik und Schriftsprache sind kulturelle Erscheinungen. Sie spiegeln das Ergebnis kultureller Entwicklungen wider. Deren Entwicklungen verliefen zwar zeitlich parallel, aber in deutlich unterschiedlicher Qualität (Ifrah 1998). Während in der Schriftsprache interkulturelle Unterschiede sich immer deutlich abzeichnen (werden), ist Mathematik in ihrer heutigen Form eine globale Erscheinung.

Rechnen

Eng verbunden mit Mathematik ist in unserem heutigen Sprachgebrauch der Begriff des Rechnens. Mit Rechnen (Berechnungen) will der Mensch die Vorgänge in seiner Umwelt quantitativ und mit der Sprache (d.h. mit einem konventionellen Zeichensystem) qualitativ beschreiben.

Der Begriff „Rechnen“ (althochdeutsch für „Ordnen“) bezeichnet die „Verknüpfung von Zahlen durch Addition und Multiplikation und deren Umkehrung Subtraktion und Division, mit allen Folgerungen, unter Befolgung der Rechengesetze und -regeln“ (Grube 2006, 1). Die Größe einer Menge, z.B. einer Viehherde, kann durch Zählen bestimmt werden. Rechenprozesse sind demnach Ordnungsprozesse. Mathematik gilt als das Regelwerk des Rechnens. Insofern ist die Bezeichnung „Rechner“ für einen Computer nicht abwertend, sondern trifft den Kern der Funktionalität dieses Gerätes. Ein Computer löst auf der Basis binärarithmetischer Rechnungen Aufgaben in sehr hohen Größenordnungen (Grube 2006, 1).

In unserem heutigen Sprachgebrauch schreiben wir dem Begriff des Rechnens zwei Bedeutungen zu. Zum einen meint „rechnen“, dass wir Zahlen logisch, d.h. nach bestimmten Regeln und Bildungsvorschriften miteinander verbinden, Mathematik anwenden, z. B. Peter rechnet gerade Additionsaufgaben im Zahlenraum bis 1000. Zum anderen meinen wir mit „rechnen“ etwas stark vermuten, dass etwas geschehen wird, etwas voraussehen, z.B. heute Nacht wird mit starken Regenschauern gerechnet. Damit hatten wir nicht gerechnet. Wir rechnen fest mit Ihnen.

Geschichte der Mathematik

Mathematik ist eine der ältesten Wissenschaften. Ihre über Jahrhunderte kontinuierliche Entwicklung machte sie zu einer der am besten begründeten Wissenschaften. Sie nimmt heute eine zentrale Stellung im System der Wissenschaften ein und bildet die Basis für andere Wissenschaftsbereiche wie Physik, Biologie, Mikroelektronik, Natur- und Sozialwissenschaften.

Ihren Ursprung fand die Mathematik in der Beschäftigung der Menschen mit Mengen, mit Messen, mit Konstruieren – jeweils aus dem Bedürfnis bzw. der Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit Naturphänomenen wie Zeitpunkte, Mengen der Aussaat, Berechnung von Hochwasser u.ä. heraus. So forderte der Ackerbau der alten Kulturen an Euphrat und Tigris, am Nil die genaue Kenntnis der jeweiligen Hochwasserzeiten der Flüsse, um die Termine für die Aussaat bestimmen zu können. Kanäle zur Bewässerung und Dämme zum Schutz vor Hochwasser mussten vermessen und berechnet werden. Die Bauern mussten einen Termin für die Aussaat bzw. den Zeitpunkt der Überschwemmung bestimmen. Vorformen eines Kalenders wurden entwickelt und erste trigonometrische Rechnungen aufgestellt.

Einige ausgewählte Daten zur Geschichte der Mathematik sollen diese enge Wechselwirkung zwischen Mathematik und menschlicher kultureller Entwicklung verdeutlichen. Die nachfolgende chronologische Darstellung ausgewählter historischer Daten zur Mathematikgeschichte berücksichtigen neben der Entwicklung der Zahlzeichen und des Zahlsystems vor allem die Einflüsse der griechischen, babylonischen und ägyptischen Mathematik.

Lange bevor die Schrift entwickelt wurde, beschäftigte sich der Mensch vermutlich mit Zahlzeichen und geometrischen Strukturen. Geometrische Verzierungen finden sich auf 40 000 Jahre alten Keramikgefäßen. Bereits in der Altsteinzeit, also vor etwa 20 000 bis 30 000 Jahren, entwickelten sich erste Formen elementaren Rechnens.

Die ältesten Hinweise auf den Umgang mit Zahlen wurden auf den Zeitraum 30 000 Jahre v. Chr. datiert. Aus dieser Zeit finden sich (meist auf Knochen) Kerbzeichen, die den Gebrauch natürlicher Zahlen sowohl als Ordnungs- als auch als Kardinalzahlen darstellen. Sie gelten als die ältesten Mengen- bzw. Zahldarstellungen (Ifrah 1998, 545). Diese Knochen mit Kerbmarken waren teilweise in Fünfergruppen zusammenfasst und gelten als Vorformen von Bündelungen, d.h. einer effektiven Art, größere Mengen zu erfassen.

In Ägypten wurden rund 2900 Jahre alte Handschriften gefunden, die einfache Mathematikaufgaben, etwa zur Berechnung der Fläche von Rechtecken, Trapezen und Dreiecken enthalten.

Umfangreicher als die Quellen zur ägyptischen Mathematik sind die schriftlichen Zeugnisse der Babylonier. Diese hielten ihre Erkenntnisse auf Tontafeln fest, die im Gegensatz zu Papier (wie bei den Ägyptern) eine deutlich längere Lebensdauer hatten. Die Menschen dieser Zeit mussten Dinge ihres Alltags wie ihr Vieh oder auch ihren Lohn zählen und notieren. Wie alle Stromlandkulturen beschäftigten sich auch die Babylonier überwiegend mit der Geometrie. Die babylonischen Formeln, z.B. für die Berechnung von Flächeninhalten, entstanden beim Vermessen von Ackerland.

Auf den Zeitraum 3000 Jahre v. Chr. werden die ersten Ziffernsymbole in Form von Hieroglyphen bei den Sumerern datiert. Für die Darstellung ihrer Zahlzeichen nutzen sie ihre Keilschrift (Ifrah 1998, 546).

Etwa um 2900 v. Chr. entwickelten die Ägypter ebenfalls zur Planung von Bauwerken, z.B. für den Bau der Pyramiden, viele Formeln.

Um 2500 v. Chr. wurden in Mesopotamien (heutiger Irak) Keilzahlzeichen aus der sumerischen Keilschrift an ein dezimales Zahlensystem angepasst. Um 1800 v. Chr. entwickelten die Babylonier das älteste derzeit bekannte Positionssystem auf der Basis von 60.

Um 600 v. Chr. begann die Blütezeit der Mathematik bei den Griechen. Sie begründeten und bewiesen nicht nur die von ihnen erstellte, sondern auch die der bereits aus Babylon und Ägypten kommenden Formeln. Eine der wichtigsten Quellen der griechischen Mathematik sind die von Euklid v. Alexandria (365–300 v. Chr.) verfassten 13 Bände mit dem Titel „Die Elemente“. Sie stellen eine systematische Erfassung aller bekannten Sätze über die räumliche und ebene Geometrie dar und unterscheiden erstmalig Grundsätze/Axiome und Definitionen sowie Sätze.

Großen Einfluss auf die Entwicklung der Mathematik als eigenständige wissenschaftliche Disziplin hat die (griechische) Pythagoreische Schule (500 v. Chr.). Mathematik wurde hier primär als Geometrie im Sinne der Erd(ver)messung verstanden. Pythagoras von Samoas (570–510 v. Chr.) entwickelte den Flächensatz im rechtwinkligen Dreieck: a2 + b2 = c2.

Um 250 v. Chr. verwendeten die Babylonier erstmals ein eigenes Schriftzeichen für die Null als Leerstelle bei den Zahlen.

200 v. Chr. beschäftigte sich Archimedes (287–212 v. Chr.), ein griechischer Mathematiker, vor allem mit praktischer Umsetzung mathematischer Probleme. Er entdeckte die Hebelgesetze und konstruierte auf deren Grundlage den Flaschenzug. Ebenfalls noch vor unserer Zeitrechnung wurden die Berechnungen von Kreis, Kugel, Zahl Pi sowie Volumen entwickelt.

Um 500, durch den Einfluss der indischen Mathematik, begann der Umgang mit negativen Zahlen. Inder nutzten die Null bereits ab dem 9. Jahrhundert und symbolisierten sie durch einen Punkt oder Kreis. Ausgelöst u.a. durch die Ausweitung von Handel und Verkehr und durch die vielen ungelösten kaufmännischen Probleme, z. B. Rest-, Teilzahlungen beim Handel, Umgang mit Schulden, Sollstände usw., erweiterte sich der Zahlbereich von den natürlichen zu den ganzen Zahlen. Negative Zahlen etablierten sich als feste Größe in alltäglichen und mathematischen Kontexten.

Um 976 treten die arabischen Ziffern in Europa erstmals auf; ihr endgültiger Durchbruch erfolgte erst rund sieben Jahrhunderte später.

Arabische Mathematiker übernahmen die Null aus dem Indischen. Es dauert fast 300 Jahre vom 12. bis zum 15. Jahrhundert, bis sich dieses Symbol allmählich im europäischen Raum durchsetzte. Die Null markiert den Anfang der Reihe der natürlichen Zahlen und wird als neutraler Begriff in Bezug auf Addition und Subtraktion verwendet.

Etwa um 1100 beschäftigte man sich in Mitteleuropa intensiv mit Mathematik. Bereits bekannte Gesetzmäßigkeiten und Formeln wurden rezipiert, neue entworfen. Ebenso wurden neue Rechenhilfen wie z.B. der Abakus entwickelt.

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Abb. 1: Abakus

Um 1500 wurden in Mitteleuropa von den Stadtverwaltungen so genannte Rechenmeister als Lehrer und Rechner eingesetzt. Der wohl bekannteste Rechenmeister Adam Ries (1492–1550) verfasste Rechenbücher – und diese in Deutsch und nicht wie üblich in Latein. In dieser Zeit wurden die Rechenverfahren entwickelt, wie Grundrechenoperationen mit natürlichen und ganzen Zahlen sowie die Symbole Plus, Minus, Wurzel und Klammer eingeführt.

Im 16./17. Jahrhundert gewann die Mathematik durch den Aufschwung in Handel, Wirtschaft und Gewerbe erneut an Bedeutung. Geografische Entdeckungen und die Verbreitung der Buchdruckerkunst trugen vor allem zur Verbreitung schriftlicher Rechenverfahren bei. Händler und Gewerbetreibende mussten rechnen können. Häufig lösten sie ihre Aufgaben mit Hilfe von Rechenbrettern.

1610 wurden die ersten Logarithmentafeln entwickelt.

Blaise Pascal (1623–1662) entwickelte die erste mechanische Rechenmaschine. Er schuf zusammen mit dem französischen Juristen und Hobbymathematiker Pierre de Fermat (1601/1608–1665) die Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung.

1631 wurden erstmals die Zeichen „>“ und „<“ zur Darstellung von Ungleichungen genutzt.

1637 legte Réné Descartes (1596–1650) die Grundlagen für die Einführung der heutigen Potenzschreibweise und entwickelte Rechenstäbe mit logarithmisch eingeteilten Skalen.

Um 1870 begründete der deutscher Mathematiker Georg Cantor (1845–1918) die Mengenlehre. Sie beruht auf der Erkenntnis, dass ein Teil genau so groß sein kann wie das Ganze.

1880 wurde die erste Lochkartenmaschine entwickelt, die die Grundlage für umfassende Datenerfassung und Voraussetzung für elektronische Datenverarbeitung, für die Existenz eines Computers, darstellt.

1889 begründete der italienische Mathematiker Giuseppe Peano (1858–1932) den Aufbau des Systems der natürlichen Zahlen (Peanosche Axiome). Mit diesen Axiomen legte er die Logik der natürlichen Zahlen fest.

1941 konstruierte der deutsche Bauingenieur Konrad Zuse (1910–1995) den ersten Rechenautomat auf Relaisbasis. 1946 wird in den USA die erste elektronisch arbeitende Rechenmaschine gebaut.

Dieser kurze Abriss macht deutlich, dass Mathematik kein starres, feststehendes, sondern ein lebendiges, sich ständig weiterentwickelndes Theoriegebäude ist. Diese Historie bildet damit eine Begründung dafür, Mathematik als Geistes- und nicht als Naturwissenschaft zu verstehen.

Mathematik: Eine Natur- oder Geisteswissenschaft?

In den Naturwissenschaften werden die Gesetze aus der Natur abgeleitet; in der Mathematik stellen die entwickelten Gesetze die eigentliche Wirklichkeit dar. In der Mathematik wird eine Wirklichkeit erfunden, konstruiert, die sich nicht unmittelbar aus der Natur ableiten lässt.

Mathematische Theorien stellen sich als Wechselspiel zwischen Erfinden und Entdecken dar (Brunner 2007, 32). Mathematische Definitionen sind Erfindungen des menschlichen Geistes, die daraus abgeleiteten Sätze sind Entdeckungen (ebd.). Mathematik kann ohne den Menschen nicht existieren, es gibt sie nur in den Köpfen der Menschen.

Hier zeichnet sich schon eine erste gravierende Unterscheidung zwischen Naturwissenschaften und der Mathematik ab. Entscheidend für die Gültigkeit einer mathematischen Aussage ist, im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Nachweisen, die richtige Herleitung. Aber anders als in den Naturwissenschaften unterliegen mathematische Aussagen keinen Paradigmen, d.h. keinen definierten Vorannahmen einzelner Fachvertreter.

Der wesentliche Unterschied mathematischer Aussagen zu denen anderer Disziplinen liegt also darin, dass sie von der momentanen Wirklichkeit, was immer das auch sein mag, unabhängig gültig sind. Bei den Naturwissenschaften bestimmt die Wirklichkeit das Gesetz, in der Mathematik bildet das Gesetz die Wirklichkeit.

Der Kern der Mathematik sind nicht die in der Umwelt beobachtbaren Objekte, Phänomene und Ereignisse. Mathematik als Wissenschaft schreibt diesen Objekten bestimmte Eigenschaften zu, die nicht direkt von diesen abzuleiten sind. Diese von den Gegenständen unabhängigen Eigenschaften wie z.B. die Anzahl, die Relationen zu anderen Objekten und Erscheinungen können wiederum auf andere Objekte angewendet werden. Für diese beobachtbaren Kategorien entwickelten die Menschen ein strenges, konventionelles Zeichen- und Begriffssystem. Mathematik beschäftigt sich also nicht mit real existierenden Gegenständen, sondern mit den Zeichen und Begriffen, die sie diesen Gegenständen zuschreiben, die aber nicht Eigenschaften der Gegenstände selbst sind. Diese Zuschreibung erfolgt auf einer hoch abstrakten und von den Gegenständen unabhängigen Art. Damit sind diese Zuschreibungen wiederum unabhängig von den Objekten und können auf beliebig andere angewendet werden. So ist es den ersten Kerbzeichen auf Knochen nicht anzusehen, was gezählt wurde, sondern nur, dass etwas gezählt wurde. Ob dabei erlegte Tiere, gesammelte Pflanzen oder die Mitglieder der Menschengruppe erfasst wurden, lässt sich aus dieser Codierung nicht ablesen. Im Gegenteil, diese Art der Darstellung ist so unabhängig von den gezählten Gegenständen, dass sie sich auf beliebig viele weitere übertragen lässt. Ebenso bezieht sich das Zahlwort „fünf“ bzw. das Ziffernsymbol „5“ nicht auf die Finger einer Hand, sondern auf beliebig verschiedene, qualitativ völlig unterschiedliche Mengen. „Fünf“ kann eben auch bedeuten, dass ein Buch, ein Auto, zwei Stühle und eine Tasse gedanklich zusammengefasst wurden.

Damit wird ein weiterer Unterschied zwischen der Mathematik und den Naturwissenschaften deutlich. Der Gegenstand der Mathematik sind nicht naturwissenschaftlich erfassbare Phänomene, sondern abstrakte Zeichen, Begriffe und deren Beziehungen untereinander.

Die einfache Gleichung 5 + 3 = 8 beschreibt auf einer hochformalisierten und abstrakten Ebene, dass folgende Gesetzmäßigkeit gilt: Immer wenn eine Menge von drei Elementen mit einer Menge von fünf Elementen nach der Bildungsregel „Addition“ zusammengefügt wird, ergibt sich eine Menge, die genau so groß ist wie eine Menge mit acht Elementen. Nichts davon jedoch findet sich in der Natur wieder; selbst die Zahlen, ihre Reihenfolge und symbolische Darstellung einschließlich unserer Rechenregeln entspringen allein unserem Denken.

Ausgehend davon, dass es vermutlich niemals eine widerspruchsfreie Mathematik geben und sie notwendig unvollständig bleiben wird, rückt der Zusammenhang zwischen Menschen und Mathematik, von Mensch und Natur in den Vordergrund. In den letzten Jahrhunderten wurde die Unterscheidung zwischen Menschen und Natur scheinbar immer grundsätzlicher und unversöhnlicher. So ist der Mensch in der Lage, Widersprüche auszuhalten, Fragen zu formulieren und sich dadurch ständig weiterzuentwickeln, während in der Mathematik das Vorhersagbare, das Beständige z. B. in Form von Axiomen gesucht wird (Zimpel 2008). Zimpel analysiert diesen Gegensatz nicht als Widerspruch, sondern als nützlich und produktiv. Beide Bereiche, die Menschen und die (Ingenieurs-)Mathematik lassen sich nur in ihren Wechselwirkungen, in ihren Verwendungen erkennen und beschreiben: „Die Zahlen, das universelle Werkzeug der Naturwissenschaft, haben die Tendenz zur Verselbstständigung und zur Entfremdung. Dadurch wird leicht übersehen, dass Zahlen nicht nur die Welt spiegeln, sondern auch den Menschen, der sie schreibt, mit ihnen zählt und rechnet“ (Zimpel 2008, 19).

Gerade dieser hohe Abstraktionsgrad, die Unabhängigkeit von den konkreten Gegenständen, Handlungen und Phänomenen macht diese Wissenschaft so universell. Die Objekte der Mathematik resultieren allein aus unserer kognitiven Tätigkeit, nicht aus einem „Absehen“ aus der Natur. Daher ist Mathematik auch diejenige Wissenschaft, die ohne die Hilfsmittel anderer Wissenschaften auskommt.

Dass Mathematik eine Geisteswissenschaft ist, lässt sich auch wahrnehmungspsychologisch begründen. Zahlen, Relationen, Punkte und Funktionen kann man weder hören, schmecken, riechen noch sehen. Zwar kann man Symbole dafür schreiben und diese dann auch sehen, die damit erfassten Phänomene jedoch nicht. Allein durch unseren Geist können wir uns der Mathematik nähern. Mathematik kann nicht mit den menschlichen Sinnen wahrgenommen werden. Vielleicht erklärt dies auch das Phänomen, dass viele Mathematiker sich gleichzeitig mit philosophischen Fragestellungen beschäftigten: Pythagoras, Platon, Kant, Frege, Wittgenstein.

Den engen Zusammenhang zwischen der kulturhistorischen Entwicklung der Menschheit und der Mathematik machen zwei Ansätze zur Erklärung von Mathematik deutlich, die hier kurz skizziert werden sollen. Beide Ansätze beeinflussen stark die gegenwärtige didaktische Diskussion. Das Konzept „Mathematik als Muster“ findet viele Parallelen in dem Konzept „mathe 2000“, einem Grundschulkonzept von Müller & Wittmann, das seit den 1980er Jahren in den Grundschulen eingesetzt wird.

Der Ansatz von Krämer als kulturhistorische und sprachphilosophische Annäherung an Mathematik macht deutlich, wie eng vor dem Hintergrund des abstrakten Zeichen- und Begriffssystems Mathematik der Zusammenhang zwischen Mathematik und Sprache ist.

Mathematik als Muster (Devlin)

„Mathematik ist die Wissenschaft von Mustern“ – diese Auffassung begründet Devlin (2002) als Mathematiker (Professor für Mathematik an der Stanford-Universität) und Wirtschaftsjournalist mit vielfach vorfindbaren naturwissenschaftlichen Phänomenen wie Blütenmuster, Muster auf Tierfellen usw. Sie lassen sich mathematisch-biologisch beschreiben und nachvollziehen, z. B. lassen sich viele Blüten durch mehrfaches Wiederholen einfacher Reproduktionsregeln künstlich erzeugen oder eine Zellteilung wird mit Hilfe arithmetischer Regeln beschreiben (Devlin 2002).

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Abb. 2: Muster mit Blüten

„Der Mathematiker untersucht abstrakte ‚Muster‘ – Zahlenmuster, Formelmuster, Bewegungsmuster, Verhaltensmuster und so weiter. Solche Muster sind entweder wirkliche oder vorgestellte, sichtbare oder gedachte, statische oder dynamische, qualitative oder quantitative, auf Nutzen ausgerichtete oder bloß spielerischem Interesse ‚entspringende‘“ (Devlin 2002, 5). So beschreibt Devlin den Kern der Mathematik. Erfasst werden dabei Themenbereiche wie Muster bei den Zahlen und beim Zählen, Muster im Umgang beim logischen Schließen und bei der Kommunikation, bei Bewegung und Veränderung, bei Formengebilden, bei Symmetrien und Lagebeziehungen usw.

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Abb. 3: Quadratzahlen als Punktmuster (Steinweg 2003, 57)

Wie die Mathematiker herausgefunden haben, gibt es genau 17 Möglichkeiten, ein bestimmtes Muster zu wiederholen, und selbst die scheinbar komplizierteren werden schon seit Jahrhunderten verwendet. Vor allem aber befassen die Mathematiker sich mit hoch abstrakten Ordnungsstrukturen hinter den sichtbaren Dingen: Komplizierte mathematische Überlegungen bieten sogar eine Erklärung, wie die Leoparden zu ihren anscheinend regellosen Flecken und die Tiger zu ihren Streifen kommen.

Devlin beschreibt vier Abstraktionsebenen des Geistes:

  1. Objekte des Nachdenkens sind real und sinnlich erfassbar (gedanklich aber ist ein anderer Ort, eine andere räumliche Anordnung möglich); einzelne Tierarten sind zu dieser Abstraktion in der Lage
  2. Reale und vertraute Gegenstände außerhalb der unmittelbaren Umgebung
  3. Imaginäre Visionen, Varianten realer Objekte, können mit Bezeichnungen für reale Objekte beschrieben werden – nur Menschen sind dazu fähig
  4. Mathematisches Denken; mathematische Objekte sind vollkommen abstrakt, haben keine offensichtliche oder direkte Verbindung zur realen Welt, sondern sind davon völlig abstrahiert (Devlin 2004, 150).

Diese Muster sind in der Regel so hochgradig abstrakt, dass eine formale Notation für deren Untersuchung und Beschreibung notwendig ist. Gerade dies kennzeichnet unsere moderne Mathematik: Der Gebrauch der abstrakten Notation. Algebraische Ausdrücke, Formeln und Diagramme sind abstrakte Darstellungen, in denen sich die Abstraktheit der Muster widerspiegelt. Die Symbolsprache der Algebra eignet sich hervorragend dazu, allgemeine Eigenschaften der Grundrechenarten festzuhalten, z.B. die allgemeingültige Formel des Kommutativgesetzes: m + n = n + m. Grafische Darstellungen wie die Multiplikationstabelle, der Zahlenstrahl, die Hundertertafel oder auch unsere Potenzschreibweise machen diese abstrakte und zugleich effektive Schreibweise deutlich. Arithmetische Muster finden sich beispielsweise in Übungsformen wie den Zahlenmauern, Zahlenfolgen oder auch bestimmten Aufgabenpäckchen wieder:

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Abb. 4: Arithmetische Muster

Betont wird in diesem Zusammenhang immer wieder, dass die kompetente und sinnvolle Verwendung eines Symbols, einer Ziffer, eines Buchstabens die Einsicht voraussetzt, eine symbolisierte Einheit auch als solche Einheit wahrzunehmen. Um mit dem Symbol „7“ die Zahl Sieben darzustellen, müssen wir zunächst diese Zahl Sieben als Etwas, eine Einheit, ein Ganzes wahrnehmen. Um den Buchstaben „m“ als Variable für eine beliebige natürliche Zahl zu benutzen, brauchen wir ein Konzept für das Wesen einer „natürlichen“ Zahl. Das Symbol aber erlaubt es, über dieses Konzept nachzudenken und es zu bearbeiten (Devlin 2004, 25).

Aber mathematische Symbole allein machen noch keine Mathematik aus, wie auch ein Notenblatt selbst noch keine Musik ist. Symbole müssen denkend erlebt werden; der Nutzer bzw. Leser dieser abstrakten Notation muss diese Symbole interpretieren und ihnen einen kontextbezogenen Sinn zuweisen, erst dann wird Mathematik „lebendig“ (Devlin 2002, 6). „Mathematik kann man nur mit den Augen des Geistes ‚sehen‘“ (ebd., 7). Um rechnen zu können, bedarf es also nicht der blinden Anwendung von Regeln, sondern einer sinnhaften, kontextgebundenen Interpretation der Symbole. Dass dies nicht immer vorausgesetzt werden kann, zeigen die immer wieder zu beobachtenden, zahlreichen Lösungsversuche der so genannten „Kapitänsaufgaben“ mit Aufgabenstellungen wie: „Ein Bauer hat 12 Kühe. Alle bis auf 5 sterben. Wie viele bleiben übrig?“ Aufgabenstellungen dieser Art zeigen, dass neben den rein numerischen Aspekten auch die kontextgebundene Interpretation und Sinnentnahme äußerst relevant für deren Lösung ist.

Mathematik als Formalisierung symbolischer Maschinen

Einen interessanten kulturhistorischen und sprachphilosophischen Zugang zur Mathematik entwickelte Krämer (1988). Im Mittelpunkt der Betrachtung über das Wesen der Mathematik steht dabei der hohe Formalisierungsgrad der heutigen Mathematik in seiner historischen Genese. Für die mathematische Wissensbildung rekonstruierte Krämer zwei Typen mathematischer Wissensbildung:

  1. Rezeptwissen: Algorithmisch-algebraische Vorschriften (orientalische Herkunft); Wie? Dieser Zugang orientiert sich vor allem an der Frage nach den konkreten Abläufen, nach den „technischen“ Fertigkeiten zur Lösung einer Aufgabe → techné.
  2. Begründungswissen: Kenntnisse gelten nur dann als gesichert, wenn sie sich axiomatisch-deduktiv aus einer Theorie ableiten lassen (Ursprung: klassische griechische Mathematik); Warum? Hier steht im Mittelpunkt die Frage nach den Begründungs- und Erklärungszusammenhängen für mathematische Vorschriften und Handlungsabläufe → epistemé.

Unsere heutige, neuzeitliche Mathematik ist eine Synthese aus orientalischer und griechischer Mathematik, d.h. das Wissen um die Verfahren wird in den Rang eines wissenschaftlich begründeten Wissens erhoben mit der Neuerung, dass mathematische Formeln genutzt werden. Die Anwendung dieser Formeln beruht auf dem operativen Gebrauch von Symbolen. Für die Mathematik bedeutet dies: Mathematik ist u.a. das Operieren mit Zahlen als ein regelgeleitetes Operieren mit Zeichen auf der Basis von Kalkülen. Ein Kalkül ist eine Herstellungsvorschrift, nach welcher aus einer begrenzten Menge von Zeichen unbegrenzt viele Zeichenkonfigurationen hergestellt werden können (Krämer 1988, 59).

Exemplarisch sei dies kurz anhand der wesentlichen Entwicklungsetappen der Zahlreihe zur symbolischen Selbstständigkeit der Zahl skizziert:

  1. Zahlen als Eigenschaften abzählbarer Dinge: Anhand der Sprache lässt sich erkennen, dass die Zahlen unmittelbar mit den gezählten Dingen verschmolzen sind. So fallen Zahlwort und Ding zusammen. Die Anzahl tritt als Attribut der gezählten Dinge selbst auf. Zahlen sind eben (noch) nicht eigenständige Gegenstände, sondern eine Eigenschaft der gezählten Dinge.
  2. Zahlen repräsentieren sich durch gegenständliche Hilfsmengen, z.B. Steine, Stäbchen, Muscheln, Perlen. In diesem Stadium lösen sich Zahlwort und die Gegenstände voneinander durch die Benutzung gegenständlicher Hilfsmengen. Die Zahl und das gezählte Ding werden getrennt. Die Elemente der „Hilfsmengen“ (meist über Stück-für-Stück-Zuordnung hergestellt) sind in diesem Fall nicht die Zahlen selbst, sondern Anzahlen, d.h. Anzahlen von etwas. Erst wenn an die Stelle der gegenständlichen Hilfsmengen analoge, symbolische bzw. digitale Zeichen treten, erfolgt die wirkliche Ablösung der Zahl von den gezählten Dingen. Dies charakterisiert dann die dritte Etappe.
  3. Zahlen werden erzeugt durch symbolische, später grafische Zählzeichen (Striche, Ziffernsymbole). Das gegenständliche Zählzeichensystem wird in ein rein symbolisches, meist zweidimensionales, grafisches Symbol umgewandelt (Krämer 1988, 6ff.).

Damit ist die Grundlage der neuzeitlichen Mathematik gelegt: Die Zahl bleibt nicht mehr Anzahl von etwas, sondern ist etwas, womit gerechnet werden kann. Der „Kunstgriff“ der Formalisierung besteht also darin, Symbolreihen unabhängig von ihrer Interpretation manipulieren zu können; diesen Aspekt bezeichnet Krämer mit „techné“, da in diesem Fall der Anwender der Mathematik von der Interpretation der Symbole entlastet wird. Unser formales Operieren ist gebunden an einen interpretationsfreien Gebrauch, d.h. während wir mit Symbolen operieren, können wir vergessen, was die Symbole eigentlich bedeuten (Krämer 1988, 1).

Zusammenfassung

Mathematische Inhalte sind an gesellschaftliche Verhältnisse gebunden; unterschiedliche Weltanschauungen prägen unterschiedliche Inhalte und Ziele. Aufgegriffen werden in der Mathematik räumliche und quantitative Beziehungen unserer Umwelt. Mit Hilfe der Mathematik können wir Unsichtbares sichtbar machen, z.B. physikalische Vorgänge beim Fliegen: Was hält ein Flugzeug in der Luft?

Gegenstand der Mathematik (als Fachwissenschaft) sind jedoch nicht diese Beziehungen selbst, sondern deren abstrahierte Formen, d.h. Zeichen und Begriffe, die diese näher beschreiben, so dass sich Mathematik als Wissenschaft zwischen den Beziehungen von Zeichen und Begriffen versteht, die wiederum als abstrakte Symbole der Dimensionen Raum und Zeit quantitative und räumliche Beziehungen beschreiben (Jetter 1982, 66).

Dem mathematischen Laien scheinen aus heutiger Sicht die meisten Probleme der Mathematik gelöst. Mathematik aber entwickelt sich ständig weiter und bleibt – in ihrer reinsten Form ebenso wie in zahlreichen Anwendungen – eine der größten Herausforderungen der Menschheit.

Viele Bereiche der Forschung und der Hochtechnologie sind heute von Mathematik durchdrungen: Ingenieurs- und Sicherheitstechnologien, Informations- und Kommunikationstechnologien, Fahrzeug- und Verkehrstechnologien, Luft- und Raumfahrttechnologien, die Nanotechnologie und andere. Weitere Zukunftsbranchen wie die Genforschung und die Pharmaforschung greifen zunehmend auf mathematische Verfahren zurück.

Diese Ausführungen machen vor allem eines deutlich: Mathematik ist nicht ein vorgefertigtes, stabiles Gebäude von Axiomen und Grundsätzen, die lediglich untermauert und erweitert werden. Mathematik ist eine geisteswissenschaftliche Disziplin, deren Entwicklungsstand im besonderen Maße vom kulturellen Entwicklungsstand der jeweiligen Gesellschaft abhängt.

Trotz aller Unterschiedlichkeit lassen sich in den genannten Ansätzen Gemeinsamkeiten finden, die gerade in schulischen Kontexten interessant und didaktischmethodisch relevant sind:

Wesentlicher Auftrag des Mathematikunterrichts ist es, diese Entstehungs- und Entwicklungsprozesse als Lehr- und Lernprozesse zu konstruieren, rekonstruieren und dekonstruieren zu lassen. Diese Konstruktionsprozesse sind jeweils kognitive Prozesse, die hinsichtlich ihrer Qualität und Quantität äußerst individuell verlaufen.

Wenn man der Auffassung folgt, Mathematik sei Kulturgut, muss betont werden, dass Lernschwierigkeiten in Mathematik erst vor dem Hintergrund der Entstehung von Mathematik verstanden werden können (Stern 2005, 293).

2 Funktion, Struktur und Grundelemente des Mathematikunterrichts

2.1 Funktion und Struktur des Mathematikunterrichts

Mathematikunterricht ist ein zentrales Unterrichtsfach, in dem Mathematik gelehrt und gelernt werden soll. Er ist ein wesentlicher Bestandteil grundlegender Bildung und dient dem Erwerb mathematischer Kompetenzen. Die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (nachfolgend KMK) formuliert 2004 als zentrale Zielsetzung für dieses Unterrichtsfach: „Mathematikunterricht trägt zur Bildung der Schülerinnen und Schüler bei, indem er ihnen folgende Grunderfahrungen ermöglicht, die miteinander in Verbindung stehen:

Der Mathematikunterricht hat zentralen Stellenwert für die Vermittlung fachwissenschaftlicher Erkenntnisse und die Entwicklung allgemeiner mathematischer Kompetenzen. Ausgehend vom Grundverständnis, dass mathematische Anwendungen auf kognitiven Prozessen beruhen, leistet der Mathematikunterricht einen grundlegenden Beitrag zur Denkentwicklung. Schwerpunkt des Mathematikunterrichts ist es, in lebensbedeutsamen Alltagssituationen mathematische Strukturen zu erkennen, diese zu verallgemeinern, zu symbolisieren und generalisierend in anderen Handlungsbezügen anzuwenden.

Mit dieser Zielsetzung ist ein Rahmen definiert, der die Struktur und Inhalte der nachfolgenden Kapitel bestimmt. Zentrale Begriffe sind dabei der der Mathematik selbst, der Begriff der mathematischen Kompetenzen sowie didaktisch-methodische Varianten mathematischer Bildung.

Der Erwerb mathematischer Kompetenzen ist zugleich auch immer eine soziale Konstruktion. Werden Lernprozesse als Entwicklungsprozesse verstanden (dies liegt gerade bei der Kopplung zwischen der Entwicklung kognitiver Strategien und dem Erlernen mathematischer Inhalte nahe), darf der Unterricht nicht gekennzeichnet sein von Schülerroutinen, die einen eindimensionalen, linearen Ablauf im Mathematikunterricht provozieren. Schüler würden Mathematik dann als grundsätzlich eindeutig lösbar erfahren, deren Lösungsabläufen eine strenge (wenn auch scheinbar wenig einsichtige) Systematik in den Aufgabentypen zugrunde liegt (Voigt 1994, 285). Spielräume in der Wahl der Lösungswege sowie im Umgang mit eigenen Fehlern sind nahezu ausgeschlossen.

Die Grundthese dieser Monografie geht davon aus, dass Mathematikunterricht durch kommunikative Momente zu beschreiben ist. Kommunikation ist ein soziales Geschehen, das die Art und Weise der Darbietung genauso beinhaltet wie die fachlich-strukturellen Merkmale der Mathematik selbst sowie die individuellen Lernvoraussetzungen der Schüler. Mathematiklernen realisiert sich in einer schulischen Interaktions- bzw. Kommunikationssituation.

Lernen versteht sich als Kontext zwischen Individuum und Interaktion bzw. Kommunikation und erfasst die Beziehung zwischen einem kognitiven System und seiner Umwelt. Lernen ist stets die Einheit, die durch ein lebendes System und dessen Umwelt gebildet wird (Luhmann 2002). Die strukturdeterminierte Autonomie jedes Systems jedoch begründet die Unmöglichkeit, unmittelbar und linear auf ein solches System einzuwirken. Umweltereignisse können ein System lediglich pertubieren, d.h. anregen. Diese Anregungen können von dem System entsprechend seiner inneren Strukturen kompensiert, ausgeglichen oder auch abgelehnt bzw. ignoriert werden. Lernen selbst ist demnach ein Zuschreibungs- und Erklärungsprozess eines Beobachters, der eine bestimmte Verhaltensänderung eines Systems als Lernzuwachs beobachtet und beschreibt: „Ob jemand lernt oder nicht, entscheiden … die Konzepte des Beobachters. Er schreibt die im Laufe der Veränderungen auftretende Verhaltensänderung eines Menschen den Veränderungen in dessen ‚Wissen‘ zu“ (Simon 1999, 149).

In dem folgenden Modell zur Beschreibung von Lehr- und Lernprozessen zur Mathematik bzw. zur Beschreibung des Mathematikunterrichts werden neben diesen Aspekten ebenso erkenntnistheoretische Aspekte bzw. Momente der kognitiven Entwicklung des einzelnen Kindes in dem Interaktions- und Kommunikationsfeld Mathematikunterricht berücksichtigt.

Die Grundannahmen des Konstruktivismus und der Systemtheorie, schwerpunktmäßig mit ihren Aussagen zum Lernen sowie zur Struktur sozialer Systeme, werden hier auf Mathematikunterricht sowie den darin auftretenden Lernschwierigkeiten angewendet.

Dass für die Erklärung und Deutung mathematischer Lernprozesse kognitionspsychologische Modelle zwar bereichernd, aber nicht ausreichend sein können, betonte Hasemann bereits 1985. Die von ihm zugrunde gelegten kognitionspsychologischen Modelle bei der Untersuchung von Schülern hinsichtlich der Lösung von Aufgaben aus der Bruchrechnung haben sichtbare Grenzen, da sie kommunikative und interaktive Prozesse nicht oder zu wenig berücksichtigen, so dass er als weiterführende Untersuchungen „Untersuchungen über Kommunikationsprozesse beim Mathematik-Lernen“ (Hasemann 1985, 199) vorschlägt.

Zentraler Punkt dieser Überlegungen ist nicht die Fachwissenschaft Mathematik, auch nicht allein die Frage der Vermittlung mathematischer Inhalte, ebenso nicht das Kind mit seinen individuellen Lern- und Leistungsmöglichkeiten, sondern das interaktionistische und kommunikative Geschehen im Unterricht selbst. Dieses Geschehen lässt sich durch die drei Komponenten Sachstruktur, Vermittlungsstruktur und Aneignungsstruktur beschreiben. Zwischen diesen Komponenten besteht eine enge, wechselseitige Abhängigkeit und Durchdringung, die weiter unten durch das Modell der Kommunikation näher erläutert werden.

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Abb. 5: Kommunikationsmodell (im Kontext Mathematikunterricht)

Das Erlernen mathematischer Sachverhalte ist als interaktiver Prozess zwischen den drei Komponenten Schüler–Lerninhalt–Lehrer zu verstehen (Müller, Steinbring & Wittmann 1997, 72; Hasemann 1985; Voigt 1994; Werner 1999). Kommunikation bzw. Interaktion bilden den Kern dieses sozialen Geschehens.

In der Systemtheorie von Luhmann wird unter Interaktion die Kommunikation unter Anwesenden verstanden. Interaktionen sind soziale Systeme, die eine physische Anwesenheit der Kommunikationspartner verlangen. Sie sind die einfachsten sozialen Systeme, aber zugleich die Voraussetzung von Gesellschaft: „Interaktionssysteme kommen dadurch zustande, dass Anwesende handeln. Anwesende sind Personen, die sich gegenseitig wahrnehmen.“ Damit wird das kleinstmögliche Format skizziert, das ein soziales System annehmen kann. Jeglicher Unterricht ist demnach ein soziales System, da alle Handlungen von Schülern und Lehrkräften (Wortbeiträge, Gruppenarbeiten, Plakate, Präsentationen, Referate, etc.) als systeminterne Elemente begriffen werden.

In der Systemtheorie gilt die Kommunikation als Spezialfall der Interaktion: „Als Interaktion soll dasjenige Sozialsystem bezeichnet sein, das sich zwangsläufig bildet, wenn immer Personen einander begegnen, das heißt, wahrnehmen, dass sie einander wahrnehmen, und dadurch genötigt sind, ihr Handeln in Rücksicht aufeinander zu wählen“ (Luhmann 1984, 81).