Vorwort

Der vorliegende Band versteht sich als grundlegende Einführung in die Bildungsforschung, mit der sowohl ihrer interdisziplinären Ausrichtung als auch ihrer Methodenvielfalt entsprochen wird. Ausgangspunkt der Ausführungen sind die Gegebenheiten und Entwicklungen im deutschsprachigen Raum, insbesondere in Deutschland, aber auch in Österreich und der Schweiz, wobei entsprechende internationale Bezüge zu relevanten Themenbereichen hergestellt werden.

Es ist als zentrale Aufgabe der Bildungsforschung zu verstehen, dazu beizutragen, Lehr- und Lernprozesse im schulischen und außerschulischen Bereich über die Lebensspanne sowohl grundlagen- als auch anwendungsorientiert zu analysieren. Im Kontext dieser Orientierungs-, Aufklärungs- und Steuerungsrelevanz der Bildungsforschung möchten wir mit dieser Einführung aufzeigen, dass Bildungsforschung dazu beitragen kann, tatsächliche Zusammenhänge zu erkennen, ideologische Verschleierungen zu durchschauen, Vorurteile zu eliminieren und Urteile des lehrenden, organisierenden, erziehenden Personals und der sich Bildenden zu klären sowie rationale Begründungen bildungspraktischer und bildungspolitischer Entscheidungen im Bildungsbereich vorzubereiten.

Nach einer Einladung in den Gegenstandsbereich der Bildungsforschung, mit der die zentralen Fragen angesprochen werden, die in der vorliegenden Einführung bearbeitet werden, wird mit fiktiven Familiengeschichten die große Bedeutung des familiären Hintergrunds für den Bildungserwerb über die Lebensspanne aufgezeigt. In diesem Zusammenhang wird insbesondere auf das bislang noch nicht erreichte Ziel der Chancengerechtigkeit verwiesen, das als Querschnittthema in der gesamten Publikation immer wieder aus verschiedenen Perspektiven angesprochen wird.

Anschließend erfolgt ein Überblick über die Geschichte der Bildungsforschung, der die frühen Ansätze der empirischen Pädagogik aufzeigt, die bis heute fortgeführt und ausgebaut werden. Qualitative und quantitative Forschungsmethoden sowie die Möglichkeiten der Integration und Kombination dieser beiden Herangehensweisen werden nachfolgend im Kapitel zu den Methoden der Bildungsforschung erläutert. Die Interdisziplinarität der Bildungsforschung, die Erforschung von Bildungsprozessen über die Lebensspanne von der frühen Kindheit bis ins hohe Alter sowie die Felder der Bildungsforschung stehen im Zentrum der nächsten Kapitel und verweisen auf die Tatsache, dass die Erziehungswissenschaft respektive die Pädagogik trotz des inter- und multidisziplinären Charakters der empirischen Bildungsforschung die zentrale Bezugsdisziplin ist.

Mit den Kapiteln zur internationalen Kompetenzmessung sowie zur international vergleichenden und interkulturellen Bildungsforschung werden wichtige aktuelle Anwendungsgebiete der Bildungsforschung thematisiert, die insbesondere im Kontext von international vergleichenden Leistungsstudien (TIMSS, PISA, PIRLS, PIAAC) starke Impulse erfahren haben. Ebenso gewinnen die Themenbereiche Evaluation und Qualitätsmanagement an Bedeutung. Zukünftige Herausforderungen der Bildungsforschung werden im letzten Kapitel aufgezeigt und es wird damit verdeutlicht, dass die Erweiterung und die permanente Weiterentwicklung der Bildungsforschung von zentraler Bedeutung ist, da im Zuge des sozialen Wandels von Lebens- und Entwicklungsbedingungen einerseits und durch die Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung theoretischer und methodischer Perspektiven andererseits ständig neue und komplexere Fragen aufgeworfen werden. Abgeschlossen wird die vorliegende Einführung mit einer Dokumentation von wichtigen Forschungseinrichtungen und Zeitschriften zur Bildungsforschung.

Maßgeblich zum Gelingen der vorliegenden Publikation beigetragen haben durch ihre zuverlässige Unterstützung und gewissenhafte Bearbeitung der Manuskripte Christina Buschle, Sina Fackler, Judith Fehr, Julia Fritz, Christina Fuchs, Raphaela Iffländer, Vanessa Kincses, Rahel Moll und Bettina Setzer. Bei diesem Team bedanken wir uns an dieser Stelle herzlich.

München, Fribourg und Erding im Juni 2011

Doris Edelmann, Joel Schmidt & Rudolf Tippelt

1 Einladung zur Bildungsforschung

Bildungsforschung hat in den letzten Jahren eine politische Aufwertung erfahren. Woran liegt das? Ein Grund ist darin zu sehen, dass Bildungsforschung im Kontext ihrer Orientierungs-, Aufklärungs- und Steuerungsrelevanz dazu beiträgt, tatsächliche Zusammenhänge zu erkennen, ideologische Verschleierungen zu durchschauen, Vorurteile zu eliminieren, Urteile des lehrenden, organisierenden und erziehenden Personals und der sich Bildenden aufzuklären sowie rationale Begründungen bildungspraktischer und bildungspolitischer Entscheidungen zu ermöglichen. In diesem Buch wird aufgezeigt, dass die Bildungsforschung gefordert ist, unter Berücksichtigung vergleichender und historischer Perspektiven die sich fortwährend wandelnde Bildungsrealität in die pädagogische Reflexion einzubringen. Trotz des inter- und multidisziplinären Charakters der empirischen Bildungsforschung wird davon ausgegangen, dass die zentrale Bezugsdisziplin die Erziehungswissenschaft respektive die Pädagogik ist. Eine Übersicht über den Aufbau und die Intentionen des vorliegenden Bandes sowie über die zentralen Fragestellungen wird im Folgenden gegeben.

Was ist das Anliegen der Bildungsforschung?

Empirische Bildungsforschung steht seit ihrem Beginn in den 1920er Jahren und noch konkreter seit Anfang der 1960er Jahre in einem engen sachlichen Zusammenhang mit der Bildungs- und Sozialplanung sowie der Bildungspolitik. Insbesondere die Reformmaßnahmen und der Ausbau des Bildungswesens auf nationaler und internationaler Ebene haben verstärkt zur nahezu kontinuierlichen Entwicklung und Differenzierung der Bildungsforschung geführt. Die wichtigste Aufgabe der Bildungsforschung liegt darin, wissenschaftlich begründete Informationen bereitzustellen, an der sich die Bildungs- und Erziehungspraxis orientieren kann, um auf dieser Grundlage rationale und ideologiefreie bildungspolitische und bildungspraktische Entscheidungen treffen zu können.

In den 1960er Jahren entstand mit dem Aufschwung der Bildungsplanung, also des systematischen und wissenschaftlich gestützten Nachdenkens über die Zukunft des Bildungssystems, sehr schnell eine größere Zahl außeruniversitärer Einrichtungen der Bildungsforschung. Neben den staatlichen Trägern (Bund und Länder) waren von Anfang an auch private Stiftungen am Aufbau von Einrichtungen der Bildungsforschung beteiligt (vgl. Weishaupt/Steinert/Baumert 1991). Gleichzeitig führte der Ausbau der Hochschulen im Kontext der Bildungsexpansion zu einer fachlichen Differenzierung und in diesem Zusammenhang auch zu einer partiellen Übernahme des sozialwissenschaftlich-empirischen Ansatzes in den Bereich der Bildungsforschung, ein forschungsmethodisches Paradigma, das mittlerweile durch neurowissenschaftliche Ansätze ergänzt wird (vgl. OECD 2007). Bis heute ist die Empfehlung des Deutschen Bildungsrates (1974) richtungsleitend, der Bildungsforschung als die Untersuchung der Voraussetzungen und Möglichkeiten von Bildungs- und Erziehungsprozessen in institutionellen und gesellschaftlichen Kontexten definierte und der festhielt, dass sie die Lehr- und Lernprozesse in schulischen und außerschulischen Bereichen sowie auch in informellen Sozialisationsbereichen thematisieren solle. Stand anfangs die Überprüfung von Reformen und pädagogischen Konzepten im Vordergrund des Forschungsinteresses, wurde in den 1970er und 1980er Jahren, infolge des öffentlich als immer wichtiger eingeschätzten Bildungs- und Erziehungssystems, zunehmend die organisatorische und ökonomische Einbettung des Bildungswesens in Staat und Gesellschaft fokussiert (vgl. Cortina et al. 2008).

Heute sind es die Herausforderungen des globalisierten Wettbewerbs der Industrienationen, des demografischen Wandels, des chancengerechten Bildungszugangs im Kontext des Lebenslangen Lernens über die Lebensspanne (z. B. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010) sowie die Möglichkeiten eines Beitrags zur innovativen Gestaltung einer demokratischen Wissensgesellschaft, die die Erwartungen an die Bildungsforschung bestimmen. Vor dem Hintergrund, dass Bildungsprozesse von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und verschiedenen individuellen Entwicklungsfaktoren beeinflusst werden und die Bildungsforschung daher von mehreren Fachdisziplinen wie der Soziologie, der Sozialen Arbeit, der Psychologie, der Geschichte oder den Wirtschaftswissenschaften getragen wird, ist die integrierende Bezugsdisziplin der Bildungsforschung die Erziehungswissenschaft bzw. die Pädagogik (vgl. Tippelt/Schmidt 2009). Jeder wissenschaftliche Teilbereich, der wie die Bildungsforschung interdisziplinär von mehreren wissenschaftlichen Disziplinen beeinflusst wird, bedarf der Zusammenführung von Befunden, Erkenntnissen und methodologischen Grundlagen. Die Erziehungswissenschaft leistet zwar ihren eigenen theoretischen historischen und empirischen Beitrag zum Verstehen des Bildungssystems, übernimmt darüber hinaus aber auch diese integrierende Funktion. Bislang liegt die Aufgabe der wissenschaftlichen Aus- und Weiterbildung von pädagogischen Fachkräften wesentlich im Verantwortungsbereich der Erziehungswissenschaft, so dass es sinnvoll ist zu versuchen, eine integrierende und die verschiedenen Perspektiven aufnehmende Sicht der Bildungsforschung zu formulieren. Die durch die Herausforderungen nahe liegenden spannungsreichen Themen der Bildungsforschung waren und sind die Modernisierung und Effektivierung, aber auch die Demokratisierung sowie die Inklusions- und Kulturvermittlung des Bildungssystems.

Werden Bildungswege durch die Familie beeinflusst?

In Kapitel 2 des vorliegenden Bandes werden fiktive, aber durchaus exemplarische Fallbeispiele von vier Familien dargelegt und damit ihre Bedeutung als Bildungsort verdeutlicht. Es wird erörtert, welche Bildungsfragen sich in den verschiedenen Familien stellen und welche Bildungsentscheidungen dort aufgrund von unterschiedlichen Lebenslagen getroffen werden. Die Lebenslagen sind geprägt durch sehr vielfältige soziale, ökonomische und kulturelle Rahmenbedingungen. Es wird auch danach gefragt, welche Bildungsmöglichkeiten in den verschiedenen Lebensaltern gegeben sind und wie diese genutzt werden. Grundsätzlich zeigen sich starke Differenzen zwischen einzelnen Familien, die auf Kinder, Jugendliche und Erwachsene nachhaltigen Einfluss für ihre Bildungswege und Berufsbiografien haben. Bildungsinteressen werden bereits in der Familie geformt, ohne dass man sagen darf, dass sie vollkommen determiniert wären. Auch regionale Rahmenbedingungen, z. B. die Dichte der Schulangebote, Weiterbildungsangebote oder frühkindliche öffentliche Einrichtungen prägen die Bildungsmöglichkeiten der Individuen. Anhand der Falldarstellungen wird es möglich, verschiedenste Orte und Formen des Wissenserwerbs anzusprechen, die in den nachfolgenden Kapiteln aus der Perspektive der Bildungsforschung thematisiert werden.

Wann wurde mit Bildungsforschung begonnen und wie verlief ihre Entwicklung?

Ausgangspunkt sind die frühen Ansätze der empirischen Pädagogik, die auf Tatsachenforschung und Tatsachenbeurteilung beruhen. Sie wurzeln in der experimentellen Pädagogik und Psychologie, beispielsweise vertreten durch Wilhelm August Lay oder Ernst Meumann. In diesem Zusammenhang wird aufgezeigt, dass die Erforschung der Erziehungswirklichkeit gegenüber der Begründung von Erziehungszielen in den Vordergrund rückte. Die Anfänge der empirischen Pädagogik, die auf den ersten Blick durch eine Dominanz experimenteller Methoden im Interesse der Schul- und Unterrichtsgestaltung geprägt sind, werden ergänzt durch die Beschäftigung mit zahlreichen Vertreter/-innen, die in der Zeit der Weimarer Republik mit anderen Forschungsmethoden in der Erwachsenenbildungs-, Jugend- oder Arbeitslosenforschung pädagogische (und sozialwissenschaftliche) Aussagensysteme auf einer erfahrungswissenschaftlichen Basis begründeten. Unter anderem wird auf den wichtigen Anstoß von Aloys Fischer verwiesen. Darüber hinaus werden die methodischen Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg erörtert, die zur Ausdifferenzierung der empirischen Forschung beitrugen.

Seit ungefähr zehn Jahren ist die Bildungsforschung an nahezu allen wissenschaftlichen Hochschulen institutionalisiert, an denen erziehungswissenschaftliche, pädagogische oder bildungswissenschaftliche Fachbereiche existieren. Es gibt also zunehmend spezielle Professuren und Arbeitsbereiche, die auf die Bildungsforschung ausgerichtet sind. Freilich werden zu kleine Betriebsgrößen und ein Mangel an Qualifikationsstellen zu Recht vielerorts dafür verantwortlich gemacht, dass längerfristig angelegte Forschungsprogramme, beispielsweise systematische Längsschnittstudien von Bildungsverläufen, kaum vorgenommen werden. Allerdings wurde in Deutschland seit 2009 mit einem breit angelegten bundesweiten Bildungspanel als Ergänzung und neue Quelle der Bildungsberichterstattung begonnen, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (vgl. BMBF 2009) finanziert wird.

Welche Forschungsmethoden und -designs nutzt die Bildungsforschung?

Die Tatsache, dass die empirische Bildungsforschung durch zwei verschiedene Forschungskulturen geprägt ist, wird in Kapitel 4 thematisiert. Zunächst wird die Ausdifferenzierung der qualitativen und quantitativen Bildungsforschung erläutert und auf die zentralen methodischen Herangehensweisen verwiesen. Dann wird aufgezeigt, dass das Verhältnis einerseits spannungsreich ist, andererseits eine Integration der beiden Herangehensweisen seit Ende der 1990er Jahre zunehmend angestrebt wird.

Entsprechend der Differenzierung wissenschaftstheoretischer Richtungen und Methodologien (z. B. kritisch-rationalistische, pragmatistisch-konstruktivistische, phänomenologisch-biografische) und der damit implizit gegebenen Pluralität empirischer Methoden (z. B. quantitativ-repräsentativ, quantitativ-experimentell, qualitativ-explorativ, qualitativ-biografisch) lässt sich empirische Bildungsforschung nicht monotheoretisch definieren oder monomethodisch durchführen. Dennoch lassen sich gemeinsame Aufgaben und zentrale Ansprüche der Bildungsforschung benennen: Ihre Aussagen basieren immer auf systematisch erhobenen Erkenntnissen und wissenschaftliche Informationen werden so aufbereitet, dass diese eine rationale Begründung bildungspraktischer und bildungspolitischer Entscheidungen ermöglichen.

Wenn man die Erziehungs- und Bildungswirklichkeit analysieren will, um innovative pädagogische Gestaltungsprozesse in Politik und Praxis zu fördern, muss man sich heute mit zunehmend unsicheren Ausgangsbedingungen auseinander setzen: Unsicherheit über die weitere ökonomische und soziale Entwicklung und die ökologischen Ressourcen, über die Nachfrage nach institutioneller Bildung und Erziehung und die regionalen demografischen Schwankungen, über die zukünftigen Prioritäten einer föderalistisch differenzierten Bildungspolitik sowie über die globalen und interkulturellen Entwicklungen in der Gesellschaft. Bildungsforschung muss daher methodisch kontrolliert Wissen generieren, das in dieser unsicheren turbulenten Umwelt Bildungsplanung und Bildungspraxis voranbringt.

Warum brauchen wir eine interdisziplinäre Bildungsforschung?

In Kapitel 5 wird deutlich, dass sich neben der Erziehungswissenschaft und Pädagogik (zwei Bezeichnungen, die in diesem Einführungsband nahezu synonym verwendet werden, wenngleich Pädagogik die praktischen Aspekte von Bildung, Erziehung und Sozialisation stärker betont) auch die Psychologie, die Soziologie, die Politikwissenschaft, die Ökonomie, die Geschichte, die Philosophie und die Fachdidaktik aus jeweils eigener Perspektive mit Bildungsforschung befassen. Allerdings entstehen erhebliche theoretische Vernetzungs- und Koordinierungsprobleme dadurch, dass organisierte Erziehungs- und Bildungsprozesse in modernen Gesellschaften mehrere Funktionen gleichzeitig erfüllen – so die Funktion der (1) Qualifizierung und Selektion von Schüler/-innen, Auszubildenden und Erwerbstätigen, (2) die Sozialisation von Heranwachsenden im Hinblick auf die Vorbereitung für Berufs- und Staatsbürgerrollen, (3) die soziale Integration in ein auf Solidarität und Kooperation angewiesenes Gemeinwesen und (4) die Enkulturation von Individuen (kulturelle Reproduktion) mittels kommunikativer Verständigung, intellektueller Aufklärung und moralischer Bildung (vgl. Fend 2006; 2008 c). Organisierte Erziehung und Bildung ist in der Moderne zu einem hoch arbeitsteiligen Prozess geworden, was sich auch in der empirischen Forschung in der Ausdifferenzierung von Forschungsdisziplinen und Forschungsinstitutionen zeigt. Interdisziplinarität ist daher eine wichtige Grundlage, damit Bildungsprozesse ganzheitlich erforscht und verstanden werden können.

Finden Bildungsprozesse tatsächlich über die gesamte Lebensspanne statt?

Die Erträge der Lebenslaufforschung, die den verengenden Blick auf einen bestimmten Lebensabschnitt überwinden, werden in Kapitel 6 thematisiert. In den 1980er Jahren etablierte sich eine pädagogisch äußerst ertragreiche empirische Lebenslaufforschung, die aufzeigen kann, dass Bildungswege, Weiterbildungsentscheidungen sowie Erwerbs- und Berufskarrieren von verschiedenen Einflüssen abhängig sind: ökonomische und politische Strukturen, kulturelle Wertvorstellungen, institutionalisierte Übergänge und gesetzliche Altersnormen, normativ kritische Lebensereignisse im Erwachsenenalter, individuelle Entscheidungen, aber auch familiäre Sozialisationsprozesse im frühen Lebensalter sowie schulische und betriebliche Selektionsmechanismen. Selbstgesteuertes Handeln, auch in informellen Kontexten, wird seither verstärkt reflektiert und Fragen, wie Kinder, Jugendliche und Erwachsene lernen, wie sie in ihren Alters- und Entwicklungsphasen optimal unterstützt werden können, in den Mittelpunkt des Interesses gestellt.

Der starke Wandel der Familie, die langsam steigende Lebensarbeitszeit, die neue wertorientierte ›work-life-balance‹ bei gleichzeitig wachsender durchschnittlicher Lebensdauer führt zu tiefgreifenden gesellschaftlichen Fragen, die auch in die Weiterentwicklung des Bildungswesens einzubeziehen sind. Sie werfenvor allem Fragen zum lebenslangen Lernen und zur ›recurrent education‹ neu auf, insbesondere zur Bildungsarbeit mit älteren Menschen (vgl. Tippelt/Schmidt/Schnurr/Sinner/Theisen 2009).

Welche Felder der Bildungsforschung gibt es und welche Forschungsfragen werden dort bearbeitet?

In Kapitel 7 werden zentrale Forschungsbereiche der einzelnen Lebensabschnitte thematisiert, also in der frühen Kindheit, im Schulwesen, in der beruflichen Bildung, in der Hochschulbildung sowie in der Erwachsenen- und Weiterbildung. Dabei wird insbesondere auf die Bedeutung der Vernetzung von informellen, non-formalen und formalen Bildungsprozessen verwiesen. Im Bereich der frühen Kindheit stehen Fragen zur Nutzung, Qualität und Wirksamkeit frühkindlicher Bildungsangebote im Zentrum. Im Bereich der Schule beschäftigen spätestens seit den 1960er Jahren Fragestellungen zur Chancengleichheit. Von Relevanz ist es, dass es nach wie vor eine große Gruppe junger Menschen gibt, die die obligatorische Schule, die berufliche Ausbildung oder das Studium vor dem Abschluss abbrechen, was zu schwerwiegenden Folgen für den weiteren Lebensweg führen kann, sowohl in beruflicher als auch in privater Hinsicht.

Weiterhin lassen empirische Analysen zu den Interdependenzen des Bildungs- und Beschäftigungssystems enorme Abstimmungsprobleme erkennen, die insbesondere für junge Menschen beim Übergang von der Schule in den Beruf oder von der Ausbildung in die berufliche Tätigkeit schmerzlich spürbar werden. Bildungsabschlüsse werden zunehmend zum notwendigen Mittel gegen einen sozialen Abstieg und garantieren dennoch kaum mehr als die Berechtigung zur Teilnahme am Konkurrenzkampf um knappe Positionen und Privilegien. In diesem Zusammenhang wird von der Bildungsforschung erwartet, die sozialpädagogischen Hilfen bei Ausbildungsschwierigkeiten, die konkrete Implementierung von Stütz- und Förderunterricht sowie die Hilfen bei Problemen im Betrieb, in der Familie und im sozialen Umfeld präzise zu analysieren, um damit eine empirisch gestützte Grundlage für zukünftige pädagogische Interventionen zu schaffen. Auch nach Beendigung der beruflichen Ausbildung muss der Übergang in den Arbeitsmarkt sozialpädagogisch unterstützt werden. Eine kontinuierliche Evaluierung und Beratung solcher Maßnahmen trägt dazu bei, die Entscheidungsgrundlagen zu verbessern.

Was versteht man in der Bildungsforschung unter Kompetenzen und wie werden sie erfasst?

Kapitel 8 umfasst einen Überblick über die kompetenzorientierte Bildungsforschung und berücksichtigt insbesondere die theoretischen Aspekte sowie die praktischen Implikationen ihrer Anwendungen. Mit einem Einblick in laufende Studien zu (inter-) national vergleichenden Messungen von Kompetenzen im schulischen und außerschulischen Bereich (z. B. PISA, PIAAC) werden die zentralen Aufgaben der Bildungsforschung im Zusammenhang mit der Kompetenzerfassung verdeutlicht. Auslöser dieser Thematisierung sind aktuelle Bildungsdebatten, die durch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kompetenzbegriff geprägt sind. Die zentralen Begründungsmuster für die zunehmende Bedeutung von Kompetenzen basieren auf steigenden Anforderungen in wissensbasierten Gesellschaften, die sowohl in beruflichen als auch in privaten Lebensbereichen zu immer komplexeren Anforderungen führen. Folglich stehen Bildungssysteme weltweit vor der Herausforderung, ihre Leistungen flexibel und innovativ den kontinuierlichen Veränderungen in der Gesellschaft und im Beschäftigungssystem anzupassen.

Die Förderung wie die Erfassung von Kompetenzen bedingt allerdings, dass geklärt wird, was genau unter dieser Begrifflichkeit zu verstehen ist – ein Diskurs, der bis heute auf nationaler und internationaler Ebene von hoher Relevanz ist und sich beispielsweise in der Implementierung von Bildungsstandards in Deutschland, Österreich und der Schweiz fortsetzt. Zudem ist aufgrund aktueller Entwicklungen in der Bildungspolitik davon auszugehen, dass der Einfluss supranationaler Organisationen auf nationale Bildungsentscheidungen zunehmen und sich darüber die Bedeutsamkeit von Kompetenzerhebungen in Zukunft erhöhen wird. In diesem Zusammenhang steht in nächster Zeit die Weiterentwicklung adäquater Konzepte zur Kompetenzerfassung im Vordergrund, da diese nicht nur methodischen Gütekriterien entsprechen, sondern auch ein sinnvolles Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag sicherstellen müssen. Zudem ist es unerlässlich, dass Ziele und Ergebnisse von Kompetenzuntersuchungen in einer Weise kommuniziert werden, dass sie in der breiten Öffentlichkeit auf Akzeptanz stoßen, weil sie nur so in konstruktive bildungspolitische Debatten einmünden können. Von zentraler Bedeutung wird es weiterhin sein, auf der Grundlage von Ergebnissen (inter-) nationaler Kompetenzerhebungen konkrete Maßnahmen zu entwickeln, die effektiv zur Förderung des lebenslangen Lernens aller Mitglieder einer Gesellschaft beitragen.

Welche Bedeutung haben internationale und interkulturelle Entwicklungen für die Bildung des Einzelnen und für Bildungssysteme?

In Kapitel 9 wird dargelegt, wie sich die international vergleichende und die interkulturelle Bildungsforschung entwickelt haben, und es wird aufgezeigt, welche Besonderheiten es bei der Konzeption, Durchführung und Auswertung von international vergleichend oder interkulturell ausgerichteten Bildungsforschungsprojekten zu beachten gilt. Hintergrund sind internationale Migrationsentwicklungen, eine wachsende europäische Staatengemeinschaft sowie anhaltende Globalisierungs- und Transnationalisierungsprozesse, die zu maßgeblichen Veränderungen im Gegenstandsbereich der Bildungsforschung führen, die folglich eine international vergleichende und interkulturelle Perspektive einnehmen muss. Spätestens seit den 1990er Jahren richten sich wissenschaftliche Untersuchungen auf Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozesse in sozial, kulturell und sprachlich heterogenen Gesellschaften. Aus der disziplinären Perspektive der vergleichenden Bildungsforschung geht es um die Frage, inwieweit Bildungssysteme international gesehen ähnliche oder unterschiedliche Entwicklungen durchlaufen. Von Seiten der Bildungspolitik und der Wirtschaft besteht ein Interesse an einem Vergleich der Leistungsfähigkeit der verschiedenen Bildungssysteme. Ausgangslage der interkulturellen Bildungsforschung ist die Prämisse, dass (post-)moderne Gesellschaften durch eine migrationsbedingte Heterogenität ihrer Bevölkerung geprägt sind. Aus dieser Perspektive werden die Folgen für Bildungsprozesse und -entwicklungen thematisiert. Es ist als Fortschritt einzuschätzen, dass die Bildungsforschung nicht mehr nur aus nationaler Perspektive betrachtet wird und internationale Vergleichsstudien im schulischen Bereich sowie im Weiterbildungsbereich nahezu selbstverständlich geworden sind.

Welche Bedeutung haben Evaluation und Qualitätsmanagement in der Bildungsforschung?

Die Überprüfung von Qualität im Bildungssystem ist eine seitens der Bildungspolitik stark nachgefragte Aufgabe der Bildungsforschung geworden. Seit geraumer Zeit hat sich – parallel zu konjunkturellen Schwankungen in der Wirtschaft, zur Stagnation und zur teilweisen Reduktion der Bildungs- und Sozialetats – eine intensive Diskussion über Qualitätsmanagement und damit verbundene Evaluationen von Bildungseinrichtungen entwickelt. Den Verfahren des Bildungscontrollings und des Qualitätsmanagements werden Hochschulen, Weiterbildungseinrichtungen, vorschulische und außerschulische Einrichtungen, Schulen, betriebliche Bildungseinrichtungen und soziale Dienstleistungsträger gleichermaßen unterworfen. Dabei dienen die verschiedenen Formen der Evaluierung manchmal mehr der ökonomischen Effektivität, manchmal mehr der pädagogischen Qualitätssicherung (vgl. Klieme/Tippelt 2009). Gegenüber den summativen Output-Evaluationen, die sich auf das Ergebnis einer sozialen Hilfeleistung oder einer Bildungsmaßnahme (also den ›output‹) im weitesten Sinne konzentrieren, setzen sich zunehmend formative Ansätze durch. Sie bewerten den Prozess der Durchführung selbst. Auf der Grundlage von Phasenmodellen des Bildungsverlaufs bzw. des Verlaufs einer sozialen Dienstleistung (von der Eingangsberatung über die Einstufung und den eigentlichen Lehr- und Lernprozess bis hin zu den Lernresultaten und der Zufriedenheit der Lernenden) werden die Qualität der Programme und Interventionen, aber auch die organisatorischen Rahmenbedingungen eines Bildungsanbieters oder sozialen Trägers bewertet.

Mit welchen Aufgaben und übergreifenden Herausforderungen ist die Bildungsforschung aktuell und in den nächsten Jahren konfrontiert?

In Kapitel 11 wird abschließend auf einige nach wie vor bestehende Herausforderungen an das Bildungswesen und die Bildungsforschung im Kontext der europäischen Integration hingewiesen. Historische, vergleichende, interdisziplinäre, internationale, theoretische und empirische Studien sind erforderlich, um die Voraussetzungen und Bedingungen für Veränderungen im Bildungswesen genauer abzuklären. Es lassen sich einige übergreifende Herausforderungen benennen, die von der Bildungsforschung bearbeitet werden: Qualifikation und Kompetenzentwicklung, politische Partizipation und soziale Inklusion, ethische und religiöse Orientierung sowie kulturelle Identitätsfindung.

Unter dem Aspekt der Qualifikation zeigt sich, dass in breiten Arbeitsbereichen fortgeschrittener Wissens-, Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften besonders solche Tätigkeitsanforderungen wichtiger werden, die flexible Wissensanwendung und eigene Wissensproduktion verlangen. Qualifikationen und Kompetenzen wie analytisches, abstraktes und systemorientiertes Denken, die Fähigkeit zum kreativen Problemlösen und selbstständiges Entscheiden in neuen, wenig standardisierten Situationen sowie die Fähigkeit zur Kooperation in Teams in arbeitsteiligen Organisationen gewinnen an Bedeutung. In diesen Bereichen ist es die Aufgabe der Bildungsforschung, das Verhältnis von Bildung, Arbeit und Beschäftigung zu klären.

Unter den Aspekten politischer Partizipation und sozialer Integration wird in modernen Gesellschaften ein wachsender Bedarf sozialintegrativer Leistungen geltend gemacht. Bildung ist zu einer notwendigen, wenn auch nicht hinreichenden Bedingung für politische Partizipation und soziale Integration geworden. Besonders in den Untersuchungen zum Lebenslangen Lernen ist sichtbar geworden, dass Bildung nicht nur die soziale und berufliche Entwicklung, sondern auch das zivilgesellschaftliche und ehrenamtliche Engagement stark beeinflusst. Dabei sind nicht nur die Bildungsabschlüsse, sondern auch die Qualität vermittelter Kenntnisse für den weiteren Lebenslauf entscheidend. Von der Bildungsforschung wird folglich erwartet, sich mit der politischen Partizipation und sozialen Integration in den verschiedenen sozialen Milieus einer Gesellschaft auseinander zu setzen und, wo notwendig, den praktischen und politischen Handlungsbedarf anzuregen.

Unter ethischen Aspekten wird erwartet, dass Bildung den Werte- und Einstellungswandel in modernen Gesellschaften fördert. Bildung entfaltet ihre gestaltende Kraft, wenn Fairness und Partizipation, Demokratie und Gemeinschaft und insbesondere die sinnhafte Selbstentfaltung des Einzelnen hohe Priorität erlangen. Bildungsforschung beschäftigt sich in diesem Kontext empirisch mit den Einstellungen und Werten von Lernenden der verschiedensten Altersgruppen und sozialen Milieus, aber auch mit den Einstellungen, Werten und der Berufsethik des pädagogischen Personals – nicht fordernd und normativ, sondern analytisch und deskriptiv.

Bildung kann nur dann fruchtbar werden, wenn es dem Einzelnen gelingt, seine Identität beim Durchgang einer lebensgeschichtlichen Folge komplexer Anforderungen immer wieder zu stabilisieren. Der ›Mensch in der Moderne‹ wird hierbei als besonders reflektiert, differenziert, offen und individuiert gedacht (vgl. Tippelt 1990). Die kulturelle Identitätsfindung jedes einzelnen Individuums wird daher als Kern des humanen Bildungsauftrags in der modernen Gesellschaft verstanden. In diesem Zusammenhang gilt auch für die Bildungsforschung das Primat der individuellen Persönlichkeitsentwicklung. Bei der Analyse und Bearbeitung dieser weit reichenden Problembereiche muss die Bildungsforschung differenzierte Perspektiven und methodische Herangehensweisen berücksichtigen.

Wo wird Bildungsforschung durchgeführt?

Im Kapitel 12 wird im Rahmen einer Dokumentation auf aktuelle und relevante Forschungs- und Serviceeinrichtungen sowie Fachgesellschaften und wichtige Internetressourcen verwiesen. Weiterhin werden Angaben zu den wichtigsten Bibliografien und Zeitschriften(-reihen) im Bereich der Bildungsforschung gemacht.

So lassen sich beispielsweise wissenschaftliche Einrichtungen der Bildungsforschung mit etatisierter Finanzierung nennen, wie die Leibniz-Institute, das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin (bis 2010), das UNESCO-Institut für Pädagogik in Hamburg oder das Deutsche Jugendinstitut in München. Eine Mittelstellung zwischen diesen Forschungseinrichtungen und wissenschaftlichen Servicezentren nimmt das HIS-Hochschulinformationssystem in Hannover ein. Verbandsabhängige Einrichtungen sind im Bereich der Bildungsforschung beispielsweise das Adolf-Grimme-Institut (Deutscher Volkshochschul-Verband) oder das Comenius-Institut (Evangelische Kirche). Genannt werden müssen auch Hochschulinstitute mit überwiegenden Forschungsaufgaben im Bereich der Bildungsforschung, z. B. das Institut für Schulentwicklungsforschung (Universität Dortmund), das wissenschaftliche Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung (Kassel) sowie die neuen Initiativen des Bildungspanels (Otto-Friedrich-Universität Bamberg u. a.). Es gab in den letzten Jahren mehrere von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Sonderforschungsbereiche mit Bezügen zur Bildungsforschung an verschiedenen Hochschulen und es gibt weitere sonstige Forschungseinrichtungen, wie beispielsweise das Institut für Qualität und Bildungsstandards (IQB in Berlin), das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB in Nürnberg), das Institut der deutschen Wirtschaft (IdW in Köln), das Institut Frau und Gesellschaft (Hannover), das Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (Frankfurt) sowie das Zentrum für Umfragen und Meinungsanalysen (ZUMA in Mannheim). Bedeutungszuwachs erhielten in den letzten zwei Jahrzehnten die verwaltungsabhängigen Einrichtungen der Bildungsforschung, wie das Bundesinstitut für Berufsbildung in Bonn, das Europäische Zentrum zur Förderung der Berufsbildung in Thessaloniki und die verschiedenen Landesinstitute für Bildungsplanung, Schulentwicklung, Erziehung und Unterricht in mehreren Bundesländern. Auch in Österreich und der Schweiz gibt es zahlreiche Einrichtungen, die sich für die Bildungsforschung verantwortlich zeichnen.

Wenn man die Projekte in der Bildungsforschung dieser verschiedenen Institutionen genauer betrachtet, gewinnt man den Eindruck, dass heute von der Politik verstärkt Wissen zur Steuerung des Bildungswesens angemahnt wird. Es vollzieht sich eine Prioritätenverschiebung, nämlich von planungsorientierten Strukturforschungen der 1970er Jahre über die Erforschung individueller Bildungsprozesse und -verläufe in den 1990er Jahren hin zu internationalen, nationalen und regionalen Bildungsberichterstattungen sowie auf spezifische Institutionen bezogenen (z. B. Ganztagsschule, sozialpädagogische Einrichtungen, Vernetzung in der Weiterbildung, Übergänge) Forschungsprojekten.

2 Die Bedeutung des familiären Hintergrunds für den Bildungserfolg

In diesem Kapitel wird zunächst die Bedeutung des familiären Hintergrunds für den Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen erläutert und dabei verdeutlicht, welche Merkmale den Bildungsort der Familie prägen. Danach werden anhand von vier fiktiven Familiengeschichten relevante Themenbereiche aufgezeigt, mit denen sich die Bildungsforschung befasst. Angesprochen werden insbesondere Chancen und Barrieren im Kontext individueller Bildungsbiografien, die generative Weitergabe von Bildungskapitalien sowie herkunftsbedingte, institutionelle und regionale Disparitäten. Dargelegt wird weiter, dass sich Bildungsverläufe manchmal auch erwartungswidrig entwickeln, dass Bildungsprozesse in der Familie, in institutionellen und in außerinstitutionellen Kontexten stattfinden und zwischen diesen verschiedenen ›Bildungswelten‹ interdependente Zusammenhänge bestehen.

2.1 Generative Weitergabe von Bildungserfolg

Die zentrale Bedeutung der Familie für den Bildungserwerb liegt in ihren »bildungsbezogenen Anregungs-, Ingangsetzungs- und Unterstützungspotenzialen« (Büchner 2009, S. 155), die sich im Familienalltag ergeben. Diese wirken sich auf die Sach-, Selbst- und Sozialkompetenz (vgl. Macha 2009) der einzelnen Mitglieder und der gesamten Familie aus. Ebenso ist die Familie ein maßgeblicher Bildungsort, an dem Kinder die Bereitschaft und Fähigkeit zu lebenslangem Lernen erwerben können, und sie trägt damit zur kulturellen Teilhabe sowie zur sozialen Anschlussfähigkeit bei (vgl. Minsel 2007). Aufgrund der Relevanz, die den familialen Bildungsleistungen zukommt, wird im 12. Kinder- und Jugendbericht die Familie nicht nur als Bildungsort, sondern viel umfassender als Bildungswelt bezeichnet (vgl. BMFSFJ 2006).

Aus vielen Untersuchungen ist bekannt, dass bezüglich des Umfangs an bildungsrelevanten Kapitalien zwischen den Familien große Unterschiede bestehen. Sie sind zu einem großen Teil Ursache dafür, dass Bildungschancen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen ungleich verteilt sind und insbesondere Kinder aus bildungsfernen sowie sozioökonomisch benachteiligten Familien in der Regel schlechtere Chancen auf eine höhere Bildung haben. Aber nicht nur die unterschiedlichen Kapitalien, die mehr oder weniger gut mit den Anforderungen der schulischen Bildungswelt zusammenpassen, wirken sich auf den Bildungserfolg aus, sondern auch die herkunftsbedingten Bildungsentscheidungen, die Eltern für ihre Kinder treffen.

Für Deutschland, Österreich und die Schweiz verdeutlichen die Ergebnisse aus internationalen Leistungsstudien (z. B. PISA) besonders eindrücklich, dass sich die familiäre Herkunft entscheidend auf die generative Weitergabe des Bildungserfolgs von Kindern und Jugendlichen auswirkt. Parallel dazu wird erkennbar, dass dieser Einfluss nicht determinierend ist. So verweisen empirische Erkenntnisse der Bildungsforschung immer wieder auf erwartungswidrige Bildungskarrieren oder auf unterschiedliche Bildungsverläufe von Menschen, beispielsweise von Geschwistern, die im Prinzip unter gleichen familiären Bedingungen und Bildungsmöglichkeiten aufwachsen, aber sehr unterschiedliche Bildungswege einschlagen, oder von Kindern, die in so genannten ›bildungsfernen‹ Verhältnissen aufwachsen und bildungserfolgreich sind.

Während es als empirisch erwiesen gilt, dass Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern grundsätzlich mehr Chancen auf Erfolg im Bildungssystem haben als andere, ist noch nicht vollständig geklärt, welche Faktoren und Prozesse tatsächlich dafür verantwortlich sind, welche Bedeutung kumulativen Einflüssen zukommt und welche Bedingungen zu erwartungswidrigen Bildungsverläufen führen. Aufgrund zahlreicher empirischer Studien, die in den letzten Jahrzehnten von nationalen und internationalen Forschungsgruppen durchgeführt wurden, zeichnen sich jedoch zentrale Faktoren ab, die einen Einfluss auf den Bildungserfolg ausüben können.

Solche bedeutende, empirisch belegte Faktoren haben die Bildungsforscher Feinstein, Duckworth und Sabates (2008), die sich am ›Center for Research on the Wider Benefits of Learning‹ der Londoner Universität mit der generativen Weitergabe von Bildungserfolgen befassen, herausgearbeitet und in einem Modell zusammengetragen (vgl. Abb. 1). Sie basieren ihr Modell auf das ökologische Konzept des renommierten Entwicklungstheoretikers Bronfenbrenner (1979), der darlegte, dass die menschliche Entwicklung über die Lebensspanne und im Austausch mit zunehmend komplexeren, reziproken Kontexten stattfindet, in die Individuen direkt oder indirekt involviert sind.

Feinstein et al. (2008) stellen in ihrem Modell den elterlichen Bildungshintergrund als übergeordneten Einflussbereich dar, da es empirisch belegt ist, dass dieser sowohl auf die reale Lebenslage als auch auf die Bildungsoptionen, die einem Kind im familiären Umfeld tatsächlich zur Verfügung stehen, einen bedeutenden Einfluss ausübt, ohne determinierend zu sein. Die Wahrscheinlichkeit ist daher besonders groß, dass bildungsnahe Familien ihren Kindern den Zugang zu Bildungsgütern wie Büchern, Musik und Medien gezielt vermitteln und sie auch in schulischen Belangen explizit vorbereiten und unterstützen. Weiterhin führt das hohe Bildungsniveau einer Familie in der Regel zu einem guten Einkommen, was dazu beiträgt, dass sie in einem gepflegten Zuhause und in einer angenehmen Nachbarschaft leben sowie Freundschaften zu anderen bildungsnahen Familien pflegen.

Da Familien nur Bildungsprozesse initiieren können, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten liegen, zeichnen sich dagegen für bildungsferne oder sozial benachteiligte Familien entsprechende Einschränkungen ab. Diesen Familien gelingt es folglich seltener, anregungsreiche Bedingungen des Aufwachsens für ihre Kinder zu schaffen, selbst wenn sie hoch motiviert sind, ihren Kindern eine erfolgreiche Bildungslaufbahn zu ermöglichen und sie ihnen nichts mehr wünschen als einen sozialen Aufstieg.

Im Modell wird erkennbar, dass Feinstein et al. (2008) die familialen Kennzeichen drei verschiedenen Bereichen zu ordnen, die in einer gegenseitigen Abhängigkeit stehen und je nach Ausprägung und Zusammenspiel die Bildungsprozesse eines Kindes fördernd oder hemmend beeinflussen können (vgl. Abb. 1). Besonders relevant ist diesbezüglich die Kumulation aus negativen oder positiven Faktoren, die sich maßgeblich auf die Bildungsoptionen eines Kindes innerhalb und außerhalb der Familie auswirken.

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Abb. 1: Elterlicher Bildungshintergrund und mögliche Auswirkungen auf den Schulerfolg von Kindern

Den distalen Familienfaktoren weisen die Forscher die Familienform und Familiengröße zu sowie die Berufstätigkeit, das Einkommen und das Alter der Mutter bei der Geburt ihres ersten Kindes. Diese Faktoren wirken sich nicht unmittelbar auf die familialen Bildungsprozesse aus, können diese jedoch positiv oder negativ beeinflussen. So kann es für ein Kind von Bedeutung sein, ob es in einer großen, bildungsnahen Familie aufwächst, die über ein gutes Einkommen verfügt, oder im Gegensatz dazu in einer großen, benachteiligten Familie, die latent von Armut und Arbeitslosigkeit bedroht ist. Viele Forschungsergebnisse verweisen auf die Tatsache, dass für Kinder von sehr jungen Müttern die Wahrscheinlichkeit größer ist, dass sie unter erschwerten, weniger bildungsfördernden Bedingungen aufwachsen.

Als interne Merkmale der Familie führen Feinstein et al. (2008) elterliche Kognitionen wie Einstellungen, Werte und Erwartungen sowie die Gesundheit der Eltern, das Wohlbefinden und die materiellen Ressourcen auf. Diese Faktoren wirken sich kumulativ auf den häuslichen Anregungsgehalt der Kinder aus – in negativer oder positiver Weise – und beeinflussen wiederum die Chancen auf Bildungserfolg. Diese Merkmale nehmen gemäß Feinstein et al. (2008) eine verbindende Funktion zwischen distalen und proximalen Faktoren ein.

Als proximale Prozesse, die sich unmittelbar auf die alltägliche familiale Bildungswelt auswirken, werden von Feinstein et al. (2008) der elterliche Erziehungsstil und das Bildungsverhalten, der Sprachgebrauch, Freizeitaktivitäten sowie die Ernährung aufgeführt. So ist es für den Bildungserfolg von Kindern zum Beispiel von Relevanz, ob, was und wie ihnen vorgelesen wird oder welche Spielsachen ihnen zur Verfügung stehen.

Neben der Familie erweisen sich die Nachbarschaft, Gleichaltrige, vorschulische Einrichtungen sowie die Schule als relevante Bildungskontexte von Kindern und Jugendlichen. Die prägenden Einflüsse der Familien bleiben allerdings bestehen, auch wenn in der Bildungsbiografie des Kindes neue Bildungsorte dazukommen. Die Verschränkungen von distalen und proximalen Bildungskontexten und ihre Auswirkungen auf den Bildungs(-miss-)erfolg von Kindern werden in den nachfolgenden Fallgeschichten exemplarisch zum Ausdruck gebracht.

2.2 Vier Familiengeschichten

Entgegen der Vorgehensweise in der empirischen Bildungsforschung, individuelle Bildungsverläufe sowie Mechanismen der generativen Bildungsreproduktion mittels realer Fälle methodisch kontrolliert zu erforschen, handelt es sich bei den nachfolgenden Familiengeschichten um fiktive Fälle, die exemplarische Bildungswelten von Familien repräsentieren, wie sie in empirischen Studien zum Ausdruck kommen.

Es werden bewusst vier Familiengeschichten dargestellt, die sich deutlich voneinander unterscheiden, damit die Typik der generativen Weitergabe von Bildungskapitalien verdeutlicht werden kann: Mit der Geschichte von Familie Kalina werden exemplarisch Konstellationen von sogenannt bildungsfernen Familien mit Migrationshintergrund aufgezeigt. Familie Neubacher repräsentiert das Beispiel einer urbanen mittelständischen Patchworkfamilie. Familie Seitel steht beispielhaft für eine traditionsbewusste Familie, die seit mehreren Generationen im selben Dorf lebt und Familie Kohn verkörpert eine bildungsnahe Akademikerfamilie. Diese Auswahl darf keinesfalls darüber hinweg täuschen, dass die Vielfalt familiärer Konstellationen in der sozialen Realität viel facettenreicher ist und sich durchaus gegensätzlich manifestiert: bildungsferne deutsche Familien, bildungsorientierte Akademikerfamilien mit Migrationshintergrund, traditionsverbundene städtische Familien sowie Patchworkfamilien, die in ländlichen Regionen leben.

Erste Fallgeschichte: Familie Kalina – eine Familie mit Migrationshintergrund

Familie Kalina lebt seit 15 Jahren in einer gemieteten Vierzimmerwohnung am Rande einer deutschen Großstadt. Mutter Melia (39) und Vater Hiro (40) wuchsen beide in einem kleinen Dorf eines südeuropäischen Staates auf. Beide besuchten einige Jahre die dortige Schule, hatten aber danach keine Gelegenheit, eine Berufslehre zu absolvieren oder weiter führende Schule zu besuchen. Bereits als Jugendlicher träumte Hiro davon, in Deutschland zu arbeiten, um sich danach mit dem ersparten Geld in seinem Heimatdorf ein eigenes Haus zu bauen und selbständig zu werden. Sein Vorbild waren zwei Vetter, die diesen Schritt bereits gewagt hatten. Als er 18 Jahre alt war, erhielt er eine Arbeitsstelle als Lagerist in einem Unternehmen, in dem auch seine Vettern arbeiteten. Kurz vor der Abreise nach Deutschland heiratete er seine heutige Frau Melia, die bei ihren Eltern zurückblieb, da sie davon ausging, dass Hiro bald zurückkehren würde. Als sich immer deutlicher abzeichnete, dass Hiro viel länger in Deutschland bleiben würde, als es ursprünglich geplant war, und Melia inzwischen das zweite Kind erwartete, entschied sich das Paar, für eine Weile gemeinsam in Deutschland zu leben. Nach einem weiteren Jahr war es dann so weit, dass Melia mit ihren Söhnen Jerek und Andro nach Deutschland zog. Tochter Jesna kam zwei Jahre später in Deutschland zur Welt.

Obschon Familie Kalina in Deutschland sehr bescheiden lebte, zeigte sich immer klarer, dass das Einkommen des Vaters kaum ausreichte, die Kosten für die Familie in Deutschland sowie die finanzielle Unterstützung für Eltern und Geschwister im Herkunftsland zu decken. Als alle Kinder eingeschult waren, entschied sich Melia daher, eine Arbeit als Reinigungskraft bei einer deutschen Familie anzunehmen.

Die Freizeit verbringen die Eltern gerne zu Hause, wo sie meistens fernsehen. Da sie beide nur über geringe Deutschkenntnisse verfügen, sind sie froh, dass es ihnen mit der Satellitenverbindung möglich ist, Sendungen aus dem Herkunftsland in ihrer Familiensprache zu verfolgen. Im Weiteren nehmen sie regelmäßig an Aktivitäten ihres Kulturvereins und ihrer Kirchgemeinde teil. Sie bedauern es, dass sich ihre Kinder immer weniger dafür interessieren.

Mit der Tatsache, dass sie die deutsche Sprache kaum beherrschen, haben sie sich mittlerweile arrangiert, nachdem sie mehrere Versuche unternommen hatten, diese zu lernen, Melia zuletzt im Rahmen eines Deutschkurses für Mütter an der Grundschule ihrer Tochter. Inzwischen verlässt sich das Ehepaar Kalina auf die Unterstützung ihrer Kinder, wenn beispielsweise wichtige Gespräche mit Behörden anstehen.

Bezüglich der deutschen Schule sind die Eltern Kalina vor allem unzufrieden, dass ihre Kinder eine so genannte Brennpunktschule mit großen Klassen und einem hohen Anteil von Schüler/-innen mit Migrationshintergrund besuchen mussten. Sie sind überzeugt davon, dass dies ein wesentlicher Grund für die schulischen Probleme ihres ältesten Sohnes Jerek (21) war. Besonders der Vater ist enttäuscht, hatte er sich doch für Jerek nichts mehr als eine Karriere als Anwalt oder Arzt gewünscht. Jerek, der erst im Alter von sechs Jahren nach Deutschland kam, gelang es jedoch nicht, seine Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache bis zum Ende der Schulzeit zu bewältigen. Vielmehr wirkten sich diese auf seine gesamten schulischen Leistungen negativ aus, bis hin zum Abbruch der Hauptschule. Jerek nahm danach an verschiedenen Übergangsmaßnahmen teil, doch gelang es ihm nicht, eine Lehrstelle zu finden. Derzeit arbeitet er mit einem Zeitvertrag bei einem Bauunternehmen. Der jüngere Bruder Andro (19) schloss die Schullaufbahn mit der mittleren Reife ab. Obschon er am Ende der 4. Klasse den gleichen Notendurchschnitt wie sein bester deutscher Freund hatte, der anschließend das Gymnasium besuchte, entschieden sich seine Eltern – auch auf Anraten des Klassenlehrers – für den Übertritt an die Realschule. Derzeit arbeitet Andro in einem Computerfachmarkt verbunden mit dem Wunsch, ausreichend Geld für ein späteres Informatikstudium an einer Fachhochschule zu verdienen. Den Weg ins Gymnasium hat Schwester Jesna (17) geschafft, nicht zuletzt aufgrund ihrer Sprachbegabung und der gezielten Unterstützung durch ihre Grundschullehrerin. Ihr Traum ist es, Medizin zu studieren, doch zeigen ihre Eltern für diesen Berufswunsch wenig Interesse, vor allem weil sie unsicher sind, ob sie ein Studium überhaupt finanzieren können und ob sich diese Investition für ihre Tochter letztlich lohnen wird.

Zweite Fallgeschichte: Familie Neubacher – Patchwork-Familie in der Großstadt

Familie Neubacher lebt seit drei Jahren in einer großzügigen Altbaumietwohnung im Zentrum einer deutschen Großstadt. Zur Familie gehören Mutter Renate (44), gelernte Bankkauffrau, Vater Ingo (38), IT-Spezialist, sowie die Kinder Anne (17), Michael (14) und Sabrina (3). Die jüngste Tochter ist das gemeinsame Kind von Renate und Ingo, die seit zwei Jahren verheiratet sind, die älteren beiden Kinder stammen aus Renates erster Ehe.