Vorwort der Gesamtherausgeber

Das Enzyklopädische Handbuch der Behindertenpädagogik „Behinderung, Bildung, Partizipation“ ist ein Lexikon in Stichwörtern, die jedoch nicht alphabetisch, sondern thematisch in 10 Bänden strukturiert wurden. Insgesamt wurden ca. 20 Haupt-, 100 mittlere und 300 kleine Stichwörter erarbeitet. Sie suchen zum einen in ihrer Gesamtheit einen Zusammenhang des Fachwissens herzustellen, in dem jedes Stichwort und zugleich jeder Band verortet ist. Zum anderen aber bilden die Einzelbände aufeinander bezogene thematische Einheiten. Somit ist das Gesamtwerk in zwei Richtungen lesbar und muss zugleich auch so gelesen werden: als Bestand aufeinander verweisender zentraler Begriffe des Fachs zum einen und als thematischer Zusammenhang in den Einzelbänden zum anderen, der aber jeweils auf die weiteren Bände verweist und mit ihnen in engstem Zusammenhang steht. Dementsprechend wurden Verweise sowohl innerhalb der Einzelbände als auch zwischen den Bänden vorgenommen, wobei einzelne Überschneidungen unvermeidbar waren.

Der Anspruch, das Gesamtgebiet der Behindertenpädagogik darzustellen, kann angesichts der Differenzierung und Spezialisierung der Einzelgebiete und ihrer schon je komplexen Wissensbestände nicht ohne Einschränkung vorgenommen werden. So ging es uns nicht darum, diese Komplexität aller Theorien, Methoden, Handlungsansätze und Einzelprobleme in Theorie und Praxis einzufangen, sondern den Wirklichkeits- als Gegenstandsbereich der wissenschaftlichen Behindertenpädagogik hinsichtlich seiner konstitutiven Begriffe, Aufgaben und Problemstellungen zu erfassen. Dabei sollte der grundlegende, auf aktuellen Wissensbeständen beruhende und der zugleich erwartbar zukunftsträchtige nationale und internationale Forschungs- und Entwicklungstand im Sinne einer synthetischen Human- und Sozialwissenschaft berücksichtigt werden. Reflexives Wissen bereit zu stellen ist also die wesentliche Intention. Dies gelingt nur, wenn aus anderen Wissenschaften resultierende Forschungsstände und Erkenntnisse möglichst breit und grundlegend verfügbar gemacht werden. Aufgrund der komplexen biopsychosozialen Zusammenhänge sowohl von Behinderung als auch von Persönlichkeitsentwicklung und Sozialisation müssen das gesamte humanwissenschaftliche Spektrum Berücksichtigung finden und insbesondere Philosophie, Psychologie und Soziologie, aber auch Medizin und Neurowissenschaften einbezogen werden. Gerade der neurowissenschaftliche Bezug, der selbstverständlich äußerst kritisch betrachtet wird, ist notwendig, um gegen neue Formen der Biologisierung die entsprechenden Argumente für Vielfalt und Differenz auf jeder Wissenschaftsebene, also auch auf der neurowissenschaftlichen, in die Debatte führen zu können. Vorrangig mit Blick auf die disziplinäre Verortung ist jedoch die Erziehungswissenschaft, Behindertenpädagogik ist eines ihrer Teilgebiete.

Für die Konzeption ist ein Bildungsverständnis tragend, das Bildung als Möglichkeit zur selbst bestimmten Lebensführung, zur umfassenden Persönlichkeitsentwicklung und gesellschaftlichen Teilhabe betrachtet; mit Wolfgang Klafki: Entwicklung der Fähigkeiten zur Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität, entwicklungspsychologisch mit Wolfgang Stegemann als Entwicklung auf höheres und auf höherem Niveau. Die erziehungswissenschaftliche Begründung von Bildungs- und Erziehungszielen muss über gesellschaftliche Erwartungen, wie sie sich in Forderungen nach einem Wissenskanon als Zurüstung auf die berufliche Eingliederung niederschlagen können, notwendigerweise hinausreichen und die Lebensbewältigung insgesamt umfassen. Bildung und Erziehung eröffnen Optionen für die Lebensgestaltung, und das bedeutet, die eigene Identität nicht nur schicksalhaft oder einzig von außen determiniert zu erleben, sondern auch über Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und der Auswahl von Handlungsmöglichkeiten zu verfügen, Zwänge und Grenzen ebenso wie Handlungs- und Veränderungsmöglichkeiten erkennen und nutzen zu können. Nicht in jedem Fall, in dem diese Möglichkeiten nicht per se aufscheinen, ist diese Problematik begrifflich quasi automatisch mit Behinderung zu fassen. Umgekehrt heißt Bildung aber auch, solche Strukturen und Prozesse zu gestalten, die „Bildung für alle, im Medium des Allgemeinen“, unabhängig von Kriterien, ermöglichen. Behinderungen im pädagogischen Sinn liegen dort vor, wo die Teilhabe an Bildung und Erziehung gefährdet oder erschwert ist oder wo Ausgrenzungsprozesse drohen oder erfolgt sind, und zwar aufgrund eines Wechselspiels individueller, sozialer und ökonomischer Bedingungen. Hier tritt die Frage der Ermöglichung von Partizipation in den Vordergrund. „Wo Menschen aus ihren Lebenszusammenhängen herausgestoßen werden, da wird lernender und wissender Umgang mit bedrohter und gebrochener Identität zur Lebensfrage“ (Oskar Negt) und ebenso die Ermöglichung von Lebenschancen. Damit werden zugleich eine Abgrenzung zu sozial- oder bildungsrechtlichen Definitionen und eine weite Begriffsbestimmung von Behinderung vorgenommen, im Bewusstsein der Problematik, die diese mit sich bringt. Doch fasst auch der schulrechtliche Begriff des sonderpädagogischen Förderbedarfs, der wiederum nur partiell deckungsgleich mit dem sozialrechtlichen Behinderungsbegriff ist, äußerst heterogene, darunter auch rein sozial bedingte Benachteiligungsprozesse zusammen. Pädagogik heißt für uns somit auch nicht einseitige und ständige Förderung. Emil E. Kobi hat dies in der Gegenüberstellung einer ‚Pädagogik des Bewerkstelligens‘, der es immer um den Fortschritt geht, die sich nur auf den Defekt richtet und das So-Sein nicht anzuerkennen in der Lage ist, und einer ‚Pädagogik der Daseinsgestaltung‘ beschrieben, die anerkannte Lebensbedingungen zwischen gleichberechtigten und als gleichwertig anerkannten Subjekten und eine befriedigende Lebensführung auch bei fortbestehenden Beeinträchtigungen zu schaffen vermag. In diesem pädagogischen Verständnis von Behinderung liegt eine Begründung für die Beibehaltung des Begriffes der Behindertenpädagogik. Wir respektieren Benennungen wie Förder-, Rehabilitations-, Sonder-, Heil-, Integrations- und Inklusionspädagogik; der Begriff der Behinderung hebt jedoch wie kein anderer nicht nur die intransitive Sicht des behindert Seins, sondern auch die transitive Sicht des behindert Werdens hervor und lässt sich pädagogisch sinnvoll begründen. Ebenso entgeht er Verengungen mit Blick auf den Gegenstandsbereich; behindertenpädagogisches Handeln greift weit über den Bereich der institutionalisierten Erziehung und Bildung hinaus und findet lebensphasen- und lebensbereichsübergreifend statt; auch innerhalb des schulischen Bereiches ist das Handeln weitaus vielfältiger als allein unterrichtsbezogene Tätigkeiten; gleichwohl bleiben diese prominente Aufgaben. Behindertenpädagogik, in diesem weiten Sinne intransitiv verstanden, ist zwar einerseits Teilgebiet der Erziehungswissenschaft, andererseits trägt sie in transitiver Hinsicht zu deren Grundlagen bei. Denn behindert werden und eingeschränkt zu sein sind alltäglich und schlagen sich keineswegs nur in der sozialen Zuschreibung von Behinderung nieder. Entgegen der noch vorfindbaren Gliederung nach Arten von Beeinträchtigungen bzw. schulischen Förderschwerpunkten und einer institutionellen Orientierung ist für uns ein an den Lebenslagen und an der Lebenswirklichkeit der Adressaten von Bildungs- und Erziehungsangeboten orientiertes Verständnis pädagogischen Handelns leitend. Diese Perspektive auf den individuellen Bedarf an Unterstützung für eine möglichst selbst bestimmte Lebensführung ist der Bezugspunkt der personalen Orientierung, aber dieser Bedarf impliziert immer auch den Bedarf an Überwindung der sozialen Folgen, also der behindernden Bedingungen des Umfeldes. Traditionell wird der Lebenslauf- und Lebenslagenbezug der Pädagogik durch die Gegenstandsbezeichnungen der einzelnen Teildisziplinen angezeigt (Pädagogik, Andragogik, Geragogik einerseits; Sozial-, Berufs-, Freizeitpädagogik usw. andererseits). Hiermit können aber auch Abgrenzungen und Abschottungen einhergehen, so dass der Bezug zur Lebenslage als Ganzer und zum Lebenslauf in seiner biographischen Gewordenheit verloren geht. Lebenslagen- und Lebenslauforientierung stellen demgegenüber die notwendige Gesamtsicht her, die allerdings in ihrer Bezugnahme auf die Chancen und Grenzen selbstbestimmter Lebensführung einer Pädagogisierung im Sinne der andauernden intentionalen Erziehung entgehen muss. Sie hebt die spezifischen Gegenstandsbestimmungen und Handlungskonzepte der erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen nicht auf, sondern wird als konzeptionelle und methodische Leitperspektive tragend. Ebenso hat jedes Verständnis von individueller Teilhabe- und Bildungsplanung die Deutungshoheit der auf Unterstützung und pädagogisches Handeln angewiesenen Menschen zu respektieren und zentral von politischer Mitwirkung und der Gewährleistung der Menschen- und Bürgerrechte auszugehen. Dies verlangt die Demokratisierung und Humanisierung der Handlungsprozesse und Strukturen in Theorie und Praxis sowie die Auseinandersetzung mit Ethik, Moral und Professionalität.

Die aus diesem Verständnis von Bildung, Behinderung und Partizipation resultierenden Fragen lassen sich zusammenfassen in die nach dem Verhältnis von Ausschluss und Anerkennung, Vielfalt und Differenz, Individuum und Gesellschaft, Entwicklung und Sozialisation, System und Lebenswelt, Institution und Organisation, über die Lebensspanne hinweg und immer bezogen auf die Grundfrage nach Bildung und Partizipation angesichts behindernder Bedingungen.

Von diesen Grundgedanken ausgehend wurde die Konzeption und Anlage der Stichwörter von Iris Beck und Wolfgang Jantzen erarbeitet und dann durch das Team der Bandherausgeber kritisch überprüft und ergänzt. Es ergibt sich folgende Gesamtanlage: die Bände 1 und 2 dienen der wissenschaftlichen Konstitutionsproblematik mit Blick auf die wissenschaftstheoretische Begründung des Fachs einschließlich der erziehungswissenschaftlichen Verortung und dem Verhältnis von Behinderung und Anerkennung. Die Bände 3 bis 6 repräsentieren Aufgaben und Probleme der Bildung und Erziehung im Lebenslauf mit den Kernfragen nach Bildung, Erziehung, Didaktik und Unterricht zum einen, Lebensbewältigung und gleichberechtigter Teilhabe am Leben in der Gemeinde zum anderen. Die Bände 7 bis 10 behandeln Entwicklung und Lernen, Sprache und Kommunikation, Sinne, Körper und Bewegung sowie Emotion und Persönlichkeit. Sie stellen grundlegende pädagogische Auseinandersetzungen über Persönlichkeitsentwicklung und Sozialisation angesichts behindernder und benachteiligender Bedingungen dar, und zwar in übergreifender Sicht, die zugleich die notwendigen speziellen und spezifischen Aspekte zur Geltung bringt. Allgemeines und Besonderes sind insgesamt, über alle Bände hinweg, vielfach aufeinander bezogen und haben gleichsam ihre Bewegung aneinander. Dort, wo sich gemeinsame Probleme quer zu speziellen Gebieten stellen, sind diese auch allgemein und mit der Absicht der Grundlegung behandelt, auch um Redundanzen zu vermeiden. Dort, wo ohne Spezifizierung zu grobe Verallgemeinerungen und damit unzulässige Reduktionen erfolgt wären, sind die Besonderheiten aufgenommen. Angesichts der zahlreichen Publikationen, die spezielle und spezifische Fragen en detail und mit Blick auf Einzelprobleme behandeln, ist diese Entscheidung auch vor dem Hintergrund einer ansonsten nicht zu gewährleistenden Systematik getroffen worden.

Wir sind uns bewusst, dass dieser Versuch der Systematik nicht ohne Lücken, Widersprüche und Redundanzen auskommt. Die allfällige Kritik hieran verstehen wir im Sinne des „Runden Tisches“, als den wir die Zusammenarbeit unter den Herausgebern und Autoren verstehen, als Motivation zu neuen Fragen und neuer Forschung.

Wir danken allen Bandherausgebern und Autoren für ihre konstruktive Arbeit, die in Zeiten der Arbeitsverdichtung und Effizienzsteigerung nicht mehr selbstverständlich erwartet werden kann.

Iris Beck

Georg Feuser

Wolfgang Jantzen

Peter Wachtel

Vorwort

Erziehung und Bildung (→ Bd. 3) verweisen in ihren normativen Aussagen und Zielsetzungen auf die Umsetzungs- und Handlungsebene im Hinblick auf Didaktik und Unterricht im Folgeband dieses Enzyklopädischen Handbuchs, dem ein zentraler Stellenwert innerhalb sonderpädagogischer Förderung zufällt. Bildungsprämissen mit ihren Didaktik- und Unterrichtskonsequenzen in ihren gegensätzlichen Positionierungen verdeutlichen z.B. in den 1960er-Jahren die auf Erich Weniger zurückgehende bildungstheoretische Didaktik Wolfgang Klafkis mit dem zentral stehenden Begriff der „kategorialen Bildung“ und die „lerntheoretische Didaktik“ von Paul Heimann, Gunter Otto und Wolfgang Schulz, die diesen Bildungsbegriff wegen seiner „Vieldeutigkeit“ und der „Gefahr ideologischer Besetzung“ kritisieren und für die Unterrichtsanalyse und -planung die Entscheidungs- und Bedingungsfelder konkretisieren. In Weiterentwicklung dieses Denkens bezieht Wolfgang Schulz neben den Lerntheorien auch die Sozialisations- und Kommunikationstheorien ein (Hamburger Modell) und Wolfgang Klafki gelangt in stetiger Fortführung seines bildungstheoretischen Ansatzes zu einer kritisch-konstruktiven Didaktik, die in der gegenwärtigen Schul- und Unterrichtskultur einen wichtigen Stellenwert einnimmt. Didaktisches Denken der Gegenwart hat sich spätestens seit der reformpädagogisch begründeten Öffnung von Unterricht von didaktischen Modellen mit geschlossenem Charakter entfernt und ist auf ein Angebot von didaktischen Bausteinen angewiesen, die je nach individuellem Förderbedarf eines Kindes Berücksichtigung finden. In dieser offenen konzeptionellen Gestaltung ist auch der 4. Band dieses Handbuchs angelegt.

Mit der Entwicklung von Förderschwerpunkten der Kultusministerkonferenz aus dem Jahre 1994 und deren Ausgestaltung in den Jahren 1998/1999 greift für Didaktik und Unterricht ein Lern- und Behindertenverständnis, das aus systemisch-konstruktivistischer Sicht auf ein entwicklungsorientiertes didaktisches Denken zielt. Lernen erfolgt durch Selbststeuerung und kann nur von außen angeregt werden. Es wird erst durch seine sich selbst erzeugende oder autopoietische Organisation ermöglicht. Behinderung wird nicht mehr in eindimensionaler Sicht als persönlich defizitäres Merkmal eines Menschen interpretiert, sondern unter Einbeziehung der Partizipationsebene als Anspruch, trotz eines Handicaps Wege der Teilhabe am Leben der Gesellschaft in Selbstbestimmung und Mitverantwortung mit dem Ziel der Integration und Inklusion zu gehen. So ist auch dieser Band darauf gerichtet, sonderpädagogische Förderung in diesem Denken zu realisieren.

Im ersten Beitrag des ersten Teils (Grundlegung) ist der Bereich Unterricht und Lernen reflektiert: Lernprozesse vollziehen sich in expansiver Form und ereignen sich in „expansiven Zyklen“. Expansives Lernen ist extern, mental und materiell angelegt. Entscheidend ist, inwieweit das Individuum in der Lage ist, das Gelernte in seiner gesellschaftlichen Praxis zur Anwendung zu bringen. Ein zentraler Stellenwert fällt hierbei dem Begriff der Tätigkeit zu, der u.a. aus der Tätigkeitstheorie der Kulturhistorischen Schule entwickelt ist. Im folgenden Grundlagenartikel ist das Didaktikverständnis im Allgemeinen wie im Besonderen mit seinen sonderpädagogischen Bezügen erörtert. Sonderpädagogische Förderung ist im Rahmen inklusiver Bildungsprozesse unter Einbeziehung möglicher Gestaltungsprinzipien auf individuelle Förderung in heterogenen Lerngruppen angelegt.

Innerhalb des zweiten Teils (Zentrale Fragestellungen) sind die Gesichtspunkte Tätigkeit und Arbeit, Handeln und Lernen aus der Perspektive der Kulturhistorischen Schule erschlossen. Integrative und inklusive Bezüge im Kontext von Didaktik und Unterricht verweisen auf den Zusammenhang von Einheitlichkeit und Differenz, auf heterogene Lernvoraussetzungen, auf diagnostisches Vorgehen und auf das Anliegen entwicklungslogischer Didaktik. Subjektorientierte Unterrichtskonzepte schließen die Bedeutung eigenaktiven Lernens, Planung von Unterricht und Methodenvielfalt ein. Die Konkretisierung von Allgemeinbildung und ihre Umsetzung eröffnen unterschiedliche Zugangsweisen zur Persönlichkeitsbildung.

Die Beiträge in Teil 3 (Einzelprobleme) leiten mit einem geschichtlichen Überblick zur schulischen Behindertenpädagogik ein und erschließen für Theorie und Praxis das vielfältige Spektrum des Lernens in Grundlagen, Voraussetzungen, in reformpädagogisch angelegten Unterrichtsmöglichkeiten unter Einbeziehung von Lernwerkstätten und außerschulischen Lernorten und Schulsozialarbeit. Differenzierungsmöglichkeiten, Beziehungslernen bis hin zum koedukativen Unterricht konkretisieren die Bedeutung von Interaktion und Kommunikation in schulischen Bezügen. Fächerspezifische Schwerpunkte umfassen die Arbeitslehre, den Schriftspracherwerb, Alphabetisierung, den ästhetisch-literarischen Unterricht, Mathematik- und Sachunterricht und die Neuen Technologien. Weitere Themenbereiche beziehen sich auf die Problembereiche Leistungsbewertung, Beratung, Steuerung von Lernprozessen, Peer-Teaching, Gemeinsamer Unterricht, Bildungsstandards und Evaluation.

Die in diesem Band vermittelte Themenvielfalt konkretisiert eine praxisgeleitete Theorie auf dem Weg zu einer theoriegeleiteten Praxis und erschließt damit weiterführende Handlungsperspektiven für Didaktik und Unterricht bei speziellem Förderbedarf.

Astrid Kaiser

Ditmar Schmetz

Peter Wachtel

Birgit Werner

Unterricht und Lernen

Birger Siebert

Problemstellung und Definitionen

Eine Begriffsbestimmung von Unterricht und Lernen sieht sich zunächst mit einer widersprüchlichen Ausgangssituation konfrontiert: Beide Begriffe bezeichnen auf der einen Seite zwar einen an sich sachlich und logisch zusammenhängenden Gegenstandsbereich, der in seiner unmittelbaren Wirklichkeit nicht in Form zweier voneinander unabhängiger Bereiche existiert. Sie werden auf der anderen Seite, in der theoretischen Reflexion, jedoch immer wieder kategorisch getrennt und von unterschiedlichen Wissenschaften beansprucht. Der Begriff des Lernens wird primär der Wissenschaft der Psychologie zugeordnet, während Unterricht als eine originäre Thematik der Erziehungswissenschaft verstanden wird. Eine „primäre Zuständigkeit“ für die Begriffe Unterricht und Lernen und ihren Gegenstandsbereich beanspruchen daher auch viele Teildisziplinen für sich, darunter die Lernpsychologie, die Pädagogische Psychologie, die Didaktik oder die Empirische Pädagogik (vgl. Lüders & Rauin 2008) – von neueren Trends und Disziplinen, welche die Tendenz erkennen lassen, sich zu universellen Erklärungsprinzipien oder zur Weltanschauung zu entwickeln (vgl. Vygotskij 1985), wie es u.a. bei der Hirnforschung zu beobachten ist, einmal abgesehen. Eine genaue Zuordnung fällt schwer und ein Blick in die Grundlagenliteratur zeigt, dass beide Begriffe in den verschiedenen wissenschaftlichen Abteilungen scheinbar behandelt werden, ohne dass eine solche Klärung der Systematik ihres begrifflichen Zusammenhangs und des Gegenstandsbereichs vorliegen würde.

Gleichzeitig wiederum scheint innerhalb der Disziplinen keine einheitliche Vorstellung darüber zu bestehen, welche einzelnen thematischen Momente der Begriffe in welches Gebiet fallen bzw. dort zu behandeln wären. So wird etwa der Zusammenhang von Lernen und Lehren bereits auf der Ebene der Lernpsychologie einerseits als eher nachrangig oder als Spezialfall des Lernens eingeschätzt (z.B. bei Bednorz & Schuster 2002), andere Arbeiten des gleichen Fachgebiets diskutieren diese Fragestellung hingegen an erster Stelle (z.B. Seel 2003). Die Einordnung des Lernbegriffs in die Erziehungswissenschaften oder Pädagogik wird ebenfalls unterschiedlich gehandhabt. Lernen kann als nebengeordneter Aspekt im Zusammenhang von Unterricht gesehen werden (z.B. Lenzen 2007), oder aber dem Begriff wird eine deutlich zentralere Rolle in der inhaltlichen Systematik des Fachs zugeschrieben (z.B. Kaiser & Kaiser 2001) – dies jedoch oftmals durch eine Abhandlung klassischer Lerntheorien im Sinne der Lernpsychologie und weniger als Fragestellung nach der spezifisch erziehungswissenschaftlichen Qualität des Begriffs.

Das gleiche Problem ergibt sich, geht man nicht von einer wissenschaftlichen Kategorisierung, sondern vom realen Gegenstandsbereich, das heißt der Praxis des Lernens und des Unterrichtens, aus. Beide Tätigkeiten werden von den unterschiedlichen Wissenschaften aus ihren Perspektiven mit unterschiedlichen Termini beschrieben. Darüber hinaus ist aber auch der Bereich der bezeichneten Tätigkeiten nicht einheitlich definiert, sodass keineswegs gewährleistet ist, dass die eine Theorie beispielsweise mit dem Wort Unterricht das Gleiche meint, wie ein anderer Ansatz über dieselbe Thematik.

Die wissenschaftliche Theoriebildung über Unterricht und Lernen bietet also wenig klare Ansatzpunkte für eine systematische Behandlung des Themas, da der Gegenstandsbereich ebenso wie seine Einordnung in eine wissenschaftliche Systematik unterschiedlich oder gar widersprüchlich gehandhabt werden und zudem nicht leicht zu überblicken sind. Dabei existieren unter dem Ausdruck des Lehr-Lernens [→ Initiative und Resonanz] längst verschiedene Ansätze, die eine Überwindung der formalen Trennung von Unterricht und Lernen in die Diskussion bringen. Im Rahmen dieses Beitrags soll zunächst versucht werden, die beschriebene Problematik vom Unterrichtsbegriff her aufzuzeigen.

Die Problematik klarer Definitionen oder Bestimmungen verschärft sich, sobald der Begriff des Unterrichts in den Blick gerät. Über Unterricht gibt es verschiedene Ansichten: Erstens existieren Alltagsvorstellungen, die auf dem beruhen, was die meisten Menschen in ihrem eigenen Leben als Unterricht erlebt (oder durchlebt) haben und was sie entsprechend mit dem Ausdruck assoziieren; zweitens gibt es wissenschaftliche Definitionsversuche von Unterricht und drittens gibt es eine „spontane“ Verwendung des Begriffs in der wissenschaftlichen Literatur, die lediglich auf den Kontext der jeweiligen Diskussion oder Thematik bezogen ist, ohne aber eine genauere Eingrenzung oder Bestimmung des Unterrichtsbegriffs selbst vorzunehmen. Gerade von den beiden letztgenannten Herangehensweisen würden man sich erhoffen, dass sie einen wissenschaftlichen Begriff vom Unterricht liefern könnten oder auf einen solchen bezogen sind, da es sich um wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Gegenstand handelt. Wenn Unterricht in der pädagogischen Literatur behandelt wird, dann verzichten viele Arbeiten auf eine nähere Begriffsbestimmung und wenden sich anderen Fragen zu, die aus einer wissenschaftlichen Logik heraus gesehen speziellere Aspekte des Gegenstands betrachten. Hier geht es dann um Fragen des Unterrichtsgeschehens, seiner Gelingensbedingungen, seiner Formen und Methoden, seiner Gütekriterien usw. (vgl. exemplarisch Jank & Meyer 1991 oder Meyer 1993), nicht aber um die Begriffsreflexion selbst. Die Vorstellung, die von Unterricht in diesem Fall vorausgesetzt wird, besteht hauptsächlich in dem Bild eines Unterrichts der Allgemeinen Schule oder zumindest eines Schulunterrichts mit seinen Implikationen im Allgemeinen. Damit gehen diese Arbeiten jedoch gleichfalls nur von einer Alltagsvorstellung von Unterricht aus und setzen implizit voraus, dass nur diese Idee des Schulunterrichts die allgemeingültige Auffassung von Unterricht überhaupt sei. Überlegungen zur Frage, was unter dem Begriff Unterricht zu verstehen sei, finden sich dagegen überwiegend im Rahmen von Lexikonbeiträgen, die den Begriff häufig über einen Versuch der Definition behandeln und die sich teilweise auch um einen Verweis auf eine mögliche Systematik der Bestimmungen bemühen.

Um eine Bestimmung der Begriffe Unterricht und Lernen zu ermöglichen, ist es daher zunächst hilfreich, sich auf den Gegenstandsbereich selbst einzulassen und seine Verlaufs- und Erscheinungsformen als Besonderungen oder Konkretisierungen eines allgemeinen Begriffs aufzufassen. Einen ersten Ansatzpunkt dafür bilden die vorhandenen Versuche zu bestimmen, was Unterricht sei. Sie sind erstens im Hinblick auf ihren Allgemeinheitsgrad zu prüfen und zweitens unter Fragestellung, ob sie dem realen Gegenstandsbereich, das heißt seiner Phänomenologie, dem tatsächlich gemeinsamen Auftreten von Unterricht und Lernen genügen. Diese Vorgehensweise kann als Voraussetzung verstanden werden, um von einer Tradierung begrifflicher Schwierigkeiten wegzukommen, die sich durch das Fehlen eines „übergreifenden Modells“ der Thematik ergeben (vgl. Arnold 2009).

Eine erste Auffassung über Unterricht, die zugleich wohl das weitläufigste Verständnis des Ausdrucks repräsentiert, begreift ihren Gegenstand als die institutionalisierte Form des Lernens. Unterricht ist demnach „die spezielle Form des Lehrens und Lernens in der Institution Schule. Er ist geplantes, systematisches, methodisches und zielgerichtetes Lernen. Er löst die Lernenden aus ihren realen Lebenszusammenhängen, schafft Distanz und Muße und kann so größere, in der realen Lebenswelt nicht mehr erlernbare Zusammenhänge vermitteln, also geordnete Vorstellungen über die wesentlichen Dimensionen der Existenz. U. vermittelt dazu Wissen, schult Fertigkeiten, zeigt wertbestimmte Einstellungen, Haltungen und Verhaltensweisen auf. Dies ist die genuine Leistung der Schule, die andere Institutionen der Sozialisation […] nicht zu leisten vermögen“ (Sandfuchs 2004, 490). Diese allgemeine Position, Unterricht als Lernen unter der Bedingung der Institutionalisierung zu verstehen, lässt sich wiederum im Hinblick auf die angesprochenen Institutionen differenzieren und ist folglich nicht einheitlich gefasst. Während Sandfuchs in diesem Beispiel davon ausgeht, dass Unterricht ausschließlich eine Angelegenheit der Schule ist, so kann die Auffassung vom institutionalisierten Lernen noch etwas weiter gefasst werden. Schaub & Zenke (2000, 667) verstehen Unterricht als „Organisationsform und Entwicklungsprozess des Lehrens und Lernens in den verschiedenen Einrichtungen des Schul- und Bildungswesens“, gehen also nicht nur von der Schule aus, sondern beziehen alle staatlichen Bildungsinstitutionen in die allgemeine Bestimmung des Unterrichtsbegriffs ein. Schon hier wird deutlich, dass Theorie und Praxis des Unterrichts sich in dem einen Fall auf den Altersbereich von etwa sechs bis achtzehn Jahren beschränken (würden) und Unterricht an der Universität oder im Kindergarten nicht mehr stattfände, beides in der anderen Auffassung jedoch wesentlich umfassender gedacht wird.

Gemeinsam ist beiden Positionen, dass Unterricht schlechthin lediglich ein Ausdruck für die Organisation des Lernen unter einer bestimmten Bedingung sei: nämlich als Lernen unter „Aufsicht des Staates“, wie es das Grundgesetz (Art. 7 Abs. 1) für das gesamte Schulwesen festlegt. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass zwar Lernen, aber kein Unterricht in anderen Kontexten realisiert werden könnte. Anders gesprochen: Eine identische reale Situation wäre in einem Falle Unterricht (staatliche oder staatlich anerkannte Schule), in einem anderen, hypothetischen Fall nicht, z.B. eine auf der Oberfläche ähnliche, aber freiwillige Zusammenkunft von Personen, die unter der kompetenten Anleitung einer weiteren Person über ein bestimmtes Thema lernen. Wenn Unterricht an die staatlichen Bildungsinstitutionen gebunden ist, kann außerhalb dieser Institutionen nicht mehr von Unterricht gesprochen werden. Wäre diese Definition allgemein zutreffend, dann bedeutete dies auch, dass es zwischen Unterricht und Lernen keinen inneren oder sachlichen Zusammenhang gibt, sondern lediglich eine äußere, (staatlich) aufgesetzte oder aufgezwungene Verbindung.

Eine zweite Definition geht davon aus, Unterricht sei ein geführter Aneignungsprozess im gegenseitigen Einverständnis: „Unterricht bezeichnet den Prozess der Aneignung und Differenzierung von Wissen unter dem Aspekt der Führung. […] Unterricht findet überall dort statt, wo Menschen sich gegenseitig unterweisen, sich etwas erklären oder klarmachen, wo sie Antworten auf Fragen geben, Informationen und Argumente austauschen. Dabei kann jeder denkmögliche Gegenstand zum Unterrichtsgegenstand werden. Entscheidend dabei ist das gegenstandsbezogene Lernenwollen auf der einen Seite und das gegenstandsbezogene Lehrenwollen auf der anderen Seite“ (Hintz et al. 1993, 334). Diese Auffassung knüpft einerseits an die erste Definition an, indem sie Unterricht primär als ein Machtverhältnis definiert („Führung“). Dazu formuliert sie eine der möglichen Stellungen der Beteiligten zu diesem Machtverhältnis („beidseitiger Wille“) als Kriterium für den Begriff des Unterrichts. Beide als wesentlich genannten Momente stellen eher Ideale des institutionalisierten, schulischen Unterrichts dar und führen deshalb zu Widersprüchen mit der Unterrichtsrealität, die die Definition schlechthin infrage stellen. Der Aspekt des „gegenstandsbezogenen Lernenwollens“ würde einen nicht unerheblichen Teil des schulischen Unterrichts von der allgemeinen Bestimmung als Unterricht ausschließen, nämlich immer dann, wenn Schülerinnen und Schüler nicht am Lerngegenstand selbst interessiert sind, sondern lediglich aus dem Motiv der Prüfungsbewältigung im Unterricht mitarbeiten. Ebenso wäre derjenige Unterricht kein Unterricht, in dem die Lernenden sich die Thematik aus einem Mangel an Interesse oder Aufmerksamkeit heraus oder aufgrund einer unzureichenden Berücksichtigung ihrer Lernbedürfnisse durch die Lehrenden gar nicht aneignen und stattdessen im Unterricht mit anderen Tätigkeiten befasst sind, als dem auf den Unterrichtsgegenstand bezogenen Lernen. Zusätzlich wäre festzustellen, dass das Lernen im Schulunterricht, und nicht nur dort, stets unter bestimmten Bedingungen stattfindet, die keineswegs von den Subjekten des Lernprozesses frei gewählt oder bestimmt werden können – also nicht von ihrer Einwilligung abhängen. Dies betrifft neben der Teilnahme am Unterricht überhaupt in den meisten Fällen auch die Lernzeiten und den Lernrhythmus, die Pausen, die Wahl der Lehrpersonen, die Wahl der Inhalte usw. – ein Problem, auf das gerade im Rahmen der kritischen Schultheorie (z.B. Waldrich 2007) vermehrt hingewiesen wird: „Diese falsche Gleichsetzung (von Lehrprozessen und Lernsubjekten, B.S.) wird […] administrativ vorrangig dadurch nahegelegt, dass die Kinder und Jugendlichen zwar die Pflicht haben, zur Schule zu gehen, dass sie aber nur sehr begrenzt (wenn überhaupt) das Recht besitzen, diese schulischen Lernumwelten entscheidend mitzugestalten und damit die systematische Berücksichtigung ihrer subjektiven Lernproblematiken zu erreichen“ (Braun & Wetzel 1997, 378). Unterricht kann und wird also regelmäßig unabhängig vom oder gar im Gegensatz zum Interesse der teilnehmenden (lernenden) Personen durchgeführt – und dies vor allem in der staatlich organisierten Schule (vgl. Holzkamp 1995). Dass Unterricht darüber hinaus notwendig eine Führung benötigt, ist gleichfalls fraglich, zumal der Terminus „Führung“ im Zusammenhang mit dem schulischen Lernen noch weitaus mehr impliziert als nur eine Anleitung oder Orientierung aufgrund der besseren Kenntnisse einer Thematik – so etwa die Kontrolle der Lernergebnisse inklusive ihrer Einordnung in die Schemata der schulischen Leistungsselektion.

Eine dritte Definition des Unterrichtsbegriffs verfolgt deutlicher die Idee einer abstrakten Bestimmung des Begriffs, als die beiden zuvor genannten Ansätze: „Unterrichten ist und war immer auch eine Lebenstätigkeit. Schulunterricht setzt natürliche Verhaltensweisen und zwischenmenschliche Austauschprozesse fort, nimmt Formen des Lebens – wie erzählen, erklären, fragen, vorzeigen, an einen Realgegenstand heranführen, zum Vollzug einer Arbeit anleiten, miteinander sprechen, um eine Sache zu klären – in sich auf und kultiviert sie in institutionell fixierten Zusammenhängen“ (Reusser 2009, 881). Auch diese Definition ist im Hinblick auf die Frage der Allgemeinheit sowie auf die der Bestimmung realen Lehrens und Lernens problematisch. Unterricht als Lebenstätigkeit und Fortsetzung menschlicher Austauschprozesse aufzufassen, ist eine sehr unbestimmte Definition, die kaum für eine wirkliche Charakterisierung des Unterrichtsbegriffs nützlich ist. Schließlich ließen sich unter „Lebenstätigkeit“ alle humanen Tätigkeiten fassen – sind sie doch sämtlich Bestandteil des menschlichen Lebens. Essen und Trinken, Laufen und Schwimmen, Denken und Sprechen – wenn tatsächlich von etwas so Abstraktem wie „Lebenstätigkeiten“ gesprochen wird, dann kann der Unterricht lediglich ein Spezialfall menschlicher Lebenstätigkeit sein und seine wesentliche Charakteristik wäre vor dem Hintergrund dieser Spezifika zu bestimmen. Gleiches gilt für die These der Fortsetzung menschlicher Austauschprozesse, von denen es – die Formulierung im Zitat legt es bereits nahe – zahlreiche Formen und Varianten gibt. Der Unterricht wäre lediglich eine davon. Darüber hinaus lässt sich festhalten, dass auch hier eine sofortige Einschränkung der „Lebenstätigkeit Unterricht“ allein auf die Schule stattfindet. Diese Position knüpft damit an die bereits angesprochene Auffassung vom Unterricht als institutionalisiertem Lernen an.

Eine vierte Auffassung definiert Unterricht als „zielorientierte Planung, Durchführung und Überprüfung von Lehr-Lern-Prozessen“ (Lenzen 2007, 195) bzw. als „gezielte Planung, Organisation und Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen“ (Helsper & Keuffer 2004). Auch diese Definition trifft sicherlich ein Moment bzw. hier vor allem einen Anspruch des Unterrichts, nämlich die zweckmäßige Einflussnahme auf den Lernprozess und – in einem bestimmten Rahmen – auch auf die Ergebnisse. Und ebenso wie alle vorangegangenen Definitionen bringt aber auch diese Bestimmung die Schwierigkeit mit sich, dass sie bestimmte Aspekte oder Möglichkeiten der Realität von Unterricht und Lernen aus der Definition ausschließt. Zum einen wäre derjenige Unterricht ausgeschlossen, den Vygotskij als „spontanen Unterricht“ (1987, 256) bezeichnet. Spontaner Unterricht beinhaltet dabei zwar ebenfalls Absichten oder Vorstellungen der lehrenden Personen, er zeichnet sich jedoch ausdrücklich nicht durch das klassische Schema vorab fixierter Lernziele und darauf folgender operationalisierter Lernschritte aus, sondern wäre auch als intuitives Aufgreifen kindlicher Lernbedürfnisse ebenso dem Begriff des Unterrichts zuzurechnen. Zweitens wäre die Frage, ob vollzogene Unterrichtssituationen tatsächlich noch als Unterricht bezeichnet werden könnten, wenn sich beispielsweise ein Kind im Unterricht zwar neue Lerninhalte oder Fähigkeiten aneignet, diese jedoch nicht den geplanten Inhalten oder Fähigkeiten entsprechen, sondern von ihnen abweichen. In der Konsequenz dieser Definition müsste eine vom eigentlichen Ziel her gedachte misslungene Planung und Durchführung in der Praxis einem nicht vollzogenen Unterricht gleichgesetzt werden, da hier die Planbarkeit als wesentliches Kriterium des allgemeinen Unterrichtsbegriffs angesehen wird.

Weitere, deutlich spezialisierte Definitionen sollen an dieser Stelle nicht umfassend aufgeführt werden. Beispielhaft dafür könnte die Theorie stehen, Unterricht vor allem als einen Prozess „kommunikativen Handelns“ anzusehen (vgl. die Darstellung bei Kron 2004). Die Problematik solcher theoretischer Modelle in Bezug auf eine allgemeine Bestimmung des Unterrichtsbegriffs wird an diesem Beispiel unmittelbar darüber deutlich, dass sie nur dann haltbar scheint, wenn alle Momente des Unterrichts als „kommunikatives Handeln“ interpretiert werden – und darüber aber zentrale, funktionale und sachliche Bestimmungen verlieren. Die Leistungsbewertung als Aspekt des Schulunterrichts beispielsweise kann sicherlich unter dem Aspekt „kommunikativen Handelns“ gesehen werden, eine solche Auffassung würde aber die systematischen Gründe dieses Handelns sowie ihr Verhältnis zum Unterricht an sich außer Acht lassen.

Die bis dato aufgeführten Definitions- und Bestimmungsversuche geben jeweils mehr oder weniger zentrale Aspekte des Unterrichtsbegriffs wieder, doch sind sie aus der Perspektive einer allgemeinen Begriffsbestimmung aus den aufgeführten Gründen fraglich. Mehreren Definitionen oder Auffassungen ist zudem gemeinsam, dass sie den Begriff des Unterrichts deutlich von der Seite der Instruktion her denken. Damit stellt sich die Frage, inwiefern eine Begriffsbestimmung sowohl von Lernen als auch von Unterricht überhaupt ohne den jeweiligen komplementären Gegenstand gedacht und gefasst werden kann. Dieser Gedanke soll im Folgenden anhand der Theorie Vygotskijs weiter verfolgt werden.

Unterricht und Lernen: Die Frage der Vermittlung

Für einen wissenschaftlichen Begriff von Unterricht können sowohl die Alltagsvorstellungen über den Gegenstand als auch die Deskription einzelner Aspekte dessen, was im Unterricht geschehen kann, nur einen ersten Schritt darstellen, das heißt Anhaltspunkte für eine weitere Behandlung der Thematik bieten. Bezogen auf die Gleichsetzung von Unterricht mit institutionalisiertem Lernen kann daher etwa der Aussage von Benner zugestimmt werden: „Beim Wort ‚Unterricht‘ denken nicht nur Pädagogen in der Regel an Schulunterricht. Unterricht in einem weiter gefassten Sinne beginnt jedoch viel früher als schulischer Unterricht und ist viel allgemeiner als dieser“ (1991, 207). Für die Formulierung eines allgemeinen Unterrichtsbegriffs und für das Verständnis des Zusammenhangs von Unterricht und Lernen ist es hilfreich, die Arbeiten von Lev Vygotskij heranzuziehen. Seine Position bietet vor allem deshalb einen nützlichen Ansatzpunkt, weil Vygotskij sich der Frage nach den allgemeinen Prozessen zuwendet, die in einer Lern- und Unterrichtssituation ablaufen bzw. ablaufen können – unabhängig von ihren unmittelbaren institutionellen oder sonstigen Bedingungen. Er legt damit den Fokus auf den inneren Zusammenhang des Unterrichtsbegriffs und weniger auf äußere oder formale Aspekte. Vygotskij (1987) geht dabei von einigen zentralen Thesen aus:

1. Der Unterricht beginnt weit vor dem Schulalter und beruht auf bereits abgeschlossenen Lern- und Entwicklungsprozessen des Kindes. Vygotskij ist der Ansicht, dass „Unterricht beim Kind einsetzt, lange bevor es in die Schule kommt. Die Schule beginnt im Grunde niemals bei einem Nullpunkt. Jeder Unterricht, mit dem das Kind in der Schule konfrontiert wird, hat immer seine Vorgeschichte. Zum Beispiel lernt das Kind in der Schule rechnen. Eine gewisse Erfahrung mit Mengen hat es jedoch bereits lange, bevor es in die Schule kam, erworben, es hatte schon mit diesen oder jenen Operationen der Division, der Größenbestimmung, der Addition und der Subtraktion zu tun. Folglich besitzt das Kind seine eigene vorschulische Arithmetik […]“ (296).

2. Der Unterricht ist Quelle der kindlichen Entwicklung und gewährleistet, dass Lern- und Entwicklungsprozesse initiiert werden, die ohne den Unterricht gar nicht oder nur eingeschränkt vollzogen werden könnten: „Unterricht ist also unter diesem Gesichtspunkt nicht Entwicklung, aber ein richtig gestalteter Unterricht zieht die geistige Entwicklung des Kindes nach sich, ruft eine ganze Reihe von Prozessen ins Leben, die ohne Unterricht völlig undenkbar wären. Unterricht ist also ein notwendiges, immanentes und allumfassendes Moment des Entwicklungsprozesses, in dem beim Kind nicht die naturgegebenen, sondern die historischen Merkmale des Menschen entwickelt werden“ (303 f.).

3. Unterricht ist nicht statisch oder gleichbleibend, sondern die Unterrichtsprozesse durchlaufen selbst eine eigene Entwicklung, die mit der Entwicklung des Kindes und seiner Lernprozesse in Verbindung steht. Vygotskij schreibt: „Es gibt meines Erachtens hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Unterricht und Entwicklung des Kindes bestimmte Zeitabschnitte. Der erste Abschnitt umfasst die Unterrichtung des Kindes im Alter bis zu drei Jahren (dabei gehen wir von einer weiten Fassung des Begriffs Unterricht aus, beziehen dabei auch das Sprechenlernen im Alter zwischen anderthalb und drei Jahren ein). Man kann davon ausgehen, dass die Besonderheit des Unterrichts beim Kind bis zu drei Jahren darin besteht, dass das Kind dieses Alters nach seinem eigenen Programm lernt. Das wird am Beispiel des Sprechenlernens deutlich. Die Abfolge der Stadien, die das Kind durchläuft, die Dauer jeder einzelnen Etappe werden nicht vom Programm der Mutter bestimmt, sondern hauptsächlich davon, was das Kind selbst aus der Umwelt entnimmt. […] Dieser Typ von Unterricht wird gewöhnlich als spontaner Unterricht bezeichnet. Das Sprechen wird dem Kind anders beigebracht als dem Schulkind in der Schule das Rechnen.

Um einen ganz anderen Typ von Unterricht handelt es sich, wenn das Kind in der Schule vom Lehrer unterrichtet wird. Hier ist der spezifische Anteil des eigenen Programms des Kindes gegenüber dem angebotenen Programm ebenso unbedeutend, wie der spezifische Anteil des Programms der Mutter gegenüber dem eigenen Programm beim Kleinkind unbedeutend ist“ (256).

Vygotskijs Überlegungen zu einem allgemeinen Begriff von Unterricht beziehen sich nicht auf eine Seite des Lehr-Lern-Prozesses oder legen nicht ein einfaches Lehrer-Schüler-Verhältnis nahe. Beide Aspekte, sowohl der Unterricht als auch das Lernen, haben in ihrem Verständnis jeweils ein subjektives und ein objektives Moment, die eigenen Absichten, Vorstellungen oder Bedürfnisse sowie die dem Gegenüber erkennbaren Handlungen. Vor allem aber verzichtet Vygotskij auf eine Gleichsetzung des Unterrichtsbegriffs mit der Tätigkeit des Lehrens. Das reale Verhältnis stellt sich aus einer analytischen Perspektive heraus betrachtet anders und deutlich umfassender dar. Unterricht beinhaltet notwendig das Lernen und Lehren, gleichzeitig und als voneinander unterschiedene Momente eines gemeinsamen, in seiner Realität nicht getrennt zu vollziehenden Prozesses. Insofern stellen Vygotskijs Aussagen die Unterscheidung von Unterricht und Lernen als zwei separate Grundbegriffe der Pädagogik und Psychologie überhaupt infrage. Folgt man seiner Auffassung, dann verhalten sich Unterricht und Lernen nicht additiv zueinander, sondern Unterricht ist im Allgemeinen – und das heißt auch unter den jeweils entsprechenden Voraussetzungen – immer schon ein sich vollziehender Lernprozess, beides sind also zwei zentrale Momente eines übergeordneten Prozesses. Was ist dann das Allgemeine am Unterricht? Die vorgenannten Definitionen haben dafür unterschiedliche Vorschläge formuliert: institutionalisiertes Lernen, Organisation, Planung und Evaluation des Lehrens und Lernens, Lebenstätigkeit, freiwilliges Lernen etc. Vygotskijs Position legt nahe, dass Unterricht vielmehr das Moment der Vermittlung im Lernprozess bzw. beim Lernen darstellt.

Es stellt sich damit zunächst die Frage, ob diese Bestimmung den Charakter einer allgemeinen Definition adäquater einlöst als die genannten Definitionen und ob sie zugleich dem realen Prozess entspricht, auf den sie sich bezieht. Fassen wir Unterricht als Moment der Vermittlung im Lernprozess auf, so trifft diese Bestimmung sowohl auf das institutionalisierte Lernen als auch auf andere praktizierte oder denkbare gesellschaftliche Organisationsformen des Lernens zu. Sie ist dabei zugleich und im Gegensatz zur „Lebenstätigkeit“ auf einer ersten Ebene inhaltlich bestimmt und unterschieden von anderen Tätigkeiten des Menschen. Sie schließt Kommunikation als zentralen Aspekt ebenso wenig aus, wie konkretere Fragen nach Methoden und Medien, Zielen und Inhalten usw. Der Unterricht kann in diesem Verständnis sowohl auf freiwilliger Basis vollzogen werden als auch unter den Bedingungen von Konkurrenz- und Notendruck, Schulpflicht und Lehrplanverpflichtung. Unterricht als Vermittlung ist darüber hinaus nicht nur in verschiedenen gesellschaftlichen (und historischen) Kontexten denkbar, sondern auch in Bezug auf unterschiedliche Entwicklungsphasen des Kindes. Er kann also sowohl im Kleinkindalter als auch bezogen auf das Spiel oder das schulische Lernen stattfinden. Die Definition ermöglicht eine dynamische Auffassung des Begriffs im Sinne einer Entwicklung der Vermittlungsformen im Laufe der Ontogenese, welche sich etwa an den unterschiedlichen Möglichkeiten und Bedürfnissen der lernenden Personen orientieren (spontaner Unterricht vs. Unterricht als Aneignung eines zunehmend äußerlich strukturierten Programms). Und letztlich ist es mit dieser allgemeinen Definition auch möglich zu verstehen, dass Unterrichtsprozesse als Vermittlungsprozesse im Laufe der Entwicklung zunehmend „nach innen wandern“ (vgl. Jantzen 2010, 98ff.) und somit zu einem „Besitz“ des Subjekts werden. Das bedeutet, Lernen findet zunehmend als eine Form der „Selbst-Vermittlung“ statt – ein Prinzip, das letztlich durch die Idee der Aneignung des Lernens [→ Das Lernen des Lernens] repräsentiert wird.

Lernen (und Unterricht) als Vermittlungsprozess

Die Vermittlung von Lernen und Unterricht: Paradigmen der Lerntheorie und Didaktik

Ausgehend von Vygotskij können Unterricht und Lernen als gemeinsame Momente eines Vermittlungsprozesses bezeichnet werden. Ihre formale und insbesondere ihre fachliche Gegenüberstellung in den Unterricht als Gegenstand der Pädagogik und das Lernen als Gegenstand der Psychologie erweisen sich daher als eine künstliche Trennung und fragwürdige Praxis. Diese Entgegensetzung wird, sofern sie dualistisch etwa im Sinne unterschiedlicher Fachdisziplinen gedacht wird und nicht analytisch motiviert ist, der Realität des Lernens und Lehrens nicht gerecht. Der Gedanke, Lernen und Unterricht auch in der Theoriebildung als einen einheitlichen Gegenstand aufzufassen, hat einerseits einen großen Einfluss auf die modernen Theorien und Konzepte zum Lernen und Lehren und drückt sich nicht zuletzt in der etwas sperrigen Formulierung des „Lehr-Lernens“ aus. Auf der anderen Seite ist mit der Formulierung selbst das Problem des fachlichen Dualismus noch nicht gelöst (vgl. Arnold 2009).

Lernen als Gegenstand psychologischer Forschung ist von je her im Sinne eines Vermittlungsprozesses zwischen Subjekt und Objekt gedacht worden, wobei sich jedoch die Ansichten über das spezifische Verhältnis der Vermittlung und die sich dabei vollziehenden Prozesse grundlegend gewandelt haben. Überhaupt sah die Psychologie des Lernens ihren Gegenstand lange Zeit nicht oder nur sehr eingeschränkt als Tätigkeit eines lernenden Subjekts an, sodass sich die Erkenntnis, das Lernen stelle selbst einen veränderbaren und komplexen Prozess dar, erst im Laufe der Weiterentwicklung psychologischer Theorieansätze herausbildete. Auf der Seite der Pädagogik hat sich die Didaktik immer wieder in mehr oder weniger expliziter Weise auf den Stand lernpsychologischer Forschungen bezogen, sodass die lernpsychologischen Ansätze häufig eine Entsprechung in der Entwicklung didaktischer Theorien (die eine Veränderung der Vorstellungen vom Unterrichtsprozess als Vermittlungsprozess bedeuteten) fanden. Die Frage der Vermittlung ist auch hier immer wieder neu oder anders beantwortet worden.

Die verschiedenen Ansätze zum Lernen [→ Lerntheoretische Grundlagen] bewegen sich im Allgemeinen zwischen zwei Extremen: der Auffassung, Lernen sei im Wesentlichen ein unmittelbarer, von außen gesteuerter oder determinierter Vorgang einerseits und der Ansicht, eine wirkliche Vermittlung zwischen Außen- und Innenwelt, zwischen Subjekt und Objekt im Lernprozess sei überhaupt nicht möglich. Die erste Sichtweise kennzeichnet vor allem die Anfänge des psychologischen Lernbegriffs. Die behavioristische Theorie vom Lernen als einem Reiz-Reaktions-Muster oder Konditionierungsvorgang prägte maßgeblich das psychologische und pädagogische Denken. Vom Lernen als einem Prozess der Vermittlung kann in diesem Zusammenhang in einem engeren Sinne kaum gesprochen werden, denn die theoretischen Konzepte abstrahierten von jeglicher subjektiver (Übersetzungs-)Leistung bei der Aneignung von Inhalten oder Handlungen und reduzierten den Lernbegriff auf eine direkte Umsetzung äußerer Einwirkungen: „Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts (und darüber hinaus) dominierten in der pädagogischen Psychologie die Reiz-Reaktions-Theorien und demgemäß die Auffassung, man brauche nur die jeweilige Lernsituation adäquat zu gestalten, um Lernende zu jedem angezielten Verhalten zu bringen“ (Seel 2003, 26). Auf der Seite der Unterrichtstheorie hat diese Vorstellung vom Lernen einen großen Anklang gefunden, der insbesondere vor dem Hintergrund der pädagogischen Ideale der Beeinflussung und Steuerung subjektiver Einstellungen und Handlungen durch Erziehung und Unterricht deutlich wird. Dieses Ideal der „Manipulation“ oder „Indoktrination“ (Benner 1991, 66) ist gleich in mehrere didakLernziels