Vorwort

Der hier vorgelegte Einführungsband stellt sich die Frage, welche Faktoren und Aspekte von Erziehungsprozessen die Selbst- und Weltbilder von Kindern und ihr Handeln in geschlechtstypisierender Weise färben und beeinflussen. Selbstverständlich ist der Prozess der Herausbildung einer Geschlechtsidentität komplexer und lässt sich nicht auf Erziehungseinflüsse allein zurückführen – doch sind die Einflüsse von erziehenden Personen und Institutionen nach allgemeiner Einschätzung äußerst wirkungsvoll, so dass es (gerade im Kontext einer Reihe zu Grundfragen der Erziehungswissenschaft) durchaus sinnvoll ist, sie als herausgehobenen Fokus zu behandeln.

Mit dem Titel „Erziehung und Geschlecht“ ist aber auch angezeigt, dass nicht alle pädagogischen Situationen, nicht alle Handlungsfelder und Teildisziplinen betrachtet werden, sondern nur diejenigen, die in einem engen Sinne mit Erziehung zu tun haben. So werden manche Bereiche (wie die Erwachsenenbildung) gar nicht diskutiert und diejenigen pädagogischen Institutionen, die einen ausdrücklichen Bildungs- und Erziehungsauftrag haben, gegenüber den sozialpädagogischen Problemstellungen oder denen der außerschulischen Jugendbildung bevorzugt betrachtet.

Dennoch ist es nicht ganz einfach, eine so komplexe Thematik wie die Frage der individuellen und gesellschaftlichen Bedeutungen und Wirkungen der Geschlechterverhältnisse einerseits sinnvoll zu begrenzen und ihr andererseits zugleich einen angemessenen Stellenwert zu geben. Debatten über Geschlecht und Geschlechterverhältnisse sind und waren meist von politischer (und alltagspsychologischer) Art, sind deshalb meist auch mit Interessen verbunden, die gleichwohl nicht immer auf den ersten Blick erkennbar sind; gleichzeitig gibt es ein großes allgemeines Interesse an der Frage, wie verschieden die Menschen in ihrer Geschlechtlichkeit seien oder welche Bedeutung sie für die individuellen Befindlichkeiten habe. Auch diese Fragen werden im vorliegenden Band nicht diskutiert, doch können die hier vorgetragenen Überlegungen sicherlich etwas zum Verständnis auch darüber hinausgehender Problemstellungen beitragen.

Geschlecht ist im Kontext von Erziehungswissenschaft und Pädagogik auf zumindest drei verschiedenen Ebenen wirksam: zum einen auf der Ebene des gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisses, verstanden als politische und soziale Ordnung wie auch als Ausdruck des Denkens einer Gesellschaft über sich selbst und ihr Menschenbild; zweitens übersetzt die Erziehungswissenschaft diese grundlegenden Auffassungen in ihre Theoriekonzepte und überträgt sie drittens in pädagogische Praxismodelle. Die Erziehungswissenschaft ist sich der Komplexität dieser Zusammenhänge aber nur wenig bewusst – bislang wurde die Geschlechterfrage ganz überwiegend im Zusammenhang mit Problematisierungen zu Koedukation diskutiert. Es ist deshalb auch ein Anliegen dieser Einführung, diese Verkürzungen zu überschreiten und der Geschlechterthematik einen größeren Diskussionsrahmen zu öffnen – zumal ich zu der Auffassung gelangt bin, dass Geschlecht als strukturierende Kategorie nicht nur die gesellschaftlichen Ordnungen, sondern auch die Grundlagen unseren Denkens mitgestaltet.

Der Text geht gewissermaßen im Zickzack vor: Ausgehend von einer Bestandsaufnahme geschlechtstypischer Auffälligkeiten und der sich darauf beziehenden pädagogischen Debatten fragt er zuerst nach dem Denken über Weiblichkeit und Männlichkeit in den erziehungswissenschaftlichen Begriffen und ihrer Theoriegeschichte. Zwar sollte eine Einführung vor allem einen Überblick über den aktuellen Wissensstand zu ihrem Thema geben – aber sie darf auch, gerade wenn sie es mit einer so komplexen Thematik zu tun hat, eine darüber hinausweisende eigene Positionierung formulieren. Diese wird insbesondere im vierten Kapitel zur Diskussion gestellt. Von dort aus wendet sich der Text dann aktuellen pädagogischen Debatten und Handlungsfeldern zu.

Wie gesagt – die Thematik ist sehr komplex, deshalb beschränkt sich der vorliegende Text hauptsächlich auf die deutschsprachige Literatur und die hierzulande geführten Diskurse. Auch erhebt er keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit – vieles wird nur angedeutet oder kursorisch gestreift. Mag er dennoch die Perspektiven der LeserInnen öffnen und Anregungen zum Weiterdenken geben.

Teil I – Bestandsaufnahmen

Kap. 1 Geschlechtstypische Auffälligkeiten …

1. … bei Kindern

2. … im Kontext von Schule und Beruf

Kap. 2 Erziehung und Geschlecht – Diskursansätze

1. Historische Diskurslinien und Erziehungsratgeber

2. Erste Frauenbewegung und Geistige Mütterlichkeit

3. Schulbildung und Koedukation

4. „Antisexistische Jungenarbeit“ und „parteiliche Mädchenarbeit“

Kapitel 1
Geschlechtstypische Auffälligkeiten…

„Unsere Erfahrungen verwandeln sich meist sehr rasch in

Urteile. Diese Urteile merken wir uns, aber wir meinen,

es seien Erfahrungen. Natürlich sind Urteile nicht so
zuverlässig wie Erfahrungen. Es ist eine bestimmte

Technik nötig, die Erfahrungen frisch zu halten, sodass
man immerzu aus ihnen neue Urteile schöpfen kann.

Me-ti nannte jene Art von Erkenntnis die beste, welche

Schneebällen gleicht. Diese können gute Waffen sein, aber
man kann sie nicht zu lange aufbewahren. Sie halten sich

auch zum Beispiel nicht in der Tasche.“

Me-ti. Buch der Wendungen 1

Geschlechtstypisch, geschlechtsspezifisch, geschlechtsbezogen – in der Literatur werden eine ganze Reihe unterschiedlicher Begriffe verwendet, um Effekte der Geschlechtszugehörigkeit oder der Geschlechterverhältnisse auf das Selbstbild und Verhalten von Individuen oder auf gesellschaftliche Beziehungen zu beschreiben. Allerdings ist die Bedeutung dieser Begriffe nicht bei allen AutorInnen gleich, die darin unausgesprochen enthaltenen Ursachenverweise sind unterschiedlich und die Reichweite der Begriffe ist verschieden. Deshalb empfiehlt es sich, zumindest an einigen Punkten Klarheit zu schaffen. Mit dem Ausdruck „geschlechtstypisch“ ist angezeigt, dass eine Verhaltensweise häufig oder überwiegend bei einem Geschlecht auftritt, ohne dass es dafür eine biologischphysiologische Grundlage gibt, während im Unterschied dazu die Kennzeichnung „geschlechtsspezifisch“ auf anlagebedingte Unterschiede verweist, wie etwa Bartwuchs oder Menstruation. Geschlechtstypisierend sind dann solche Handlungen, die bei dem Gegenüber einen Zuordnungs- und Zuschreibungsprozess initiieren, der in dessen Selbstbild eingeht. Geschlechtstypisierende individuelle Akte reichen also von dem berühmten „Aber ein Junge weint doch nicht!“ bis hin zu Aufgabenstellungen im Schulunterricht, die qua Vereindeutigung eine Gewöhnung an Stereotype hervorrufen, etwa die Aufforderung „Schreibe je drei Berufe auf, die deiner Meinung nach ‚Frauenberufe‘ bzw. ‚Männerberufe‘ sind. Begründe deine Auswahl“ (Portmann 1999, 61). Solche aktiven Typisierungen lassen sich zwar relativ leicht erkennen (wenngleich auch kaum verhindern), schwieriger ist es allerdings, wenn stereotypisierende Handlungen so dezent oder subtil sind, dass sie weder dem/der Akteur/in noch dem Gegenüber unmittelbar auffallen. Und noch schwieriger ist es, zu erkennen, welche Geschlechterbilder und Strukturen diesen Handlungen zugrunde liegen und ihnen vorausgehen.

1. … bei Kindern

Für die Erörterung der Frage, welchen Einfluss das Erziehungsverhalten auf die geschlechtstypische Entwicklung hat, ist es sinnvoll, sich zunächst einen Überblick über Art und Umfang geschlechtstypischer Differenzen zu verschaffen.2 Zweifellos zeigen sich im Entwicklungsverlauf von Kindern eine ganze Reihe von geschlechtstypischen Auffälligkeiten, auch Unterschieden – die werden allerdings in Ausmaß und Wirkung von WissenschaftlerInnen verschiedener Theorierichtungen höchst unterschiedlich interpretiert.

Grundsätzlich muss davon ausgegangen werden, dass die Beobachtung und Messung geschlechtstypischen kindlichen Verhaltens einige fast unüberwindliche methodische Schwierigkeiten bereithält. So sind z.B. begleitende Langzeitstudien notwendigerweise auf sehr kleine Samples beschränkt, und die beobachteten sozialen Situationen sind so komplex, dass die Grenze zwischen plausibler Auslegung und Überinterpretation kaum klar zu ziehen ist. Auch in großen Untersuchungen mit Hunderten von Kindern werden Detailbeobachtungen wie Mutter-Kind-Interaktion, Familien-Tischgespräche oder Schulhof-Spiele von Kindern stets mit kleinen Subsamples durchgeführt, bei denen die zufälligen Kontextbedingungen so unterschiedlich oder gruppentypische Bedingungen so dominant sein können, dass man auch hier allenfalls von Tendenzen sprechen kann.

Wir finden deshalb teilweise empirische Beschreibungen, die sich jeweils selbst als konsistent darstellen, einander aber tatsächlich ganz gravierend widersprechen, ja sogar zu gegensätzlichen Einschätzungen führen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Es ist leicht zu beobachten, dass Kinder zumindest phasenweise gleichgeschlechtliche Spielpartner/innen bevorzugen. Um die Hintergründe dieses Verhaltens (und damit seine Bedeutung) zu verstehen, wäre es sinnvoll zu wissen, in welchem Alter es auftritt. Wenn die Angaben dazu dann aber von „ab 3 Jahren“ (Maccoby 2000, 33) bis „ab 8 Jahren“ (Mussen 1991, 162) schwanken, lässt sich wenig damit anfangen – und es mahnt auch zur Vorsicht gegenüber solchen verallgemeinernden Daten.

Auch unterscheiden sich die empirischen ForscherInnen hinsichtlich der Einschätzung der Wirksamkeit gefundener Daten erheblich. So werden Kinder oftmals nach ihrem Wissen um Geschlechterstereotype gefragt (Was spielen Mädchen/Jungen?; Was können Jungen/Mädchen besser? usw.), die gefundenen Daten werden nach Altersgruppen geordnet usw. – obgleich weitgehend unklar ist, wie weit die Kenntnis dieser Stereotype das Handeln von Kindern oder ihre Selbsteinschätzung tatsächlich bestimmen.

Darüber hinaus wäre noch als methodisches Problem zu benennen, dass, wie immer bei empirischen Forschungen, Untersuchungsdesign und theoretische Vorentscheidungen nicht von einander zu trennen sind. So dürfte etwa das Verfahren, geschlechtsstereotype Erziehungsgrundsätze oder Verhaltensnormen aus einer großen Anzahl von nicht näher spezifizierten „Kulturen“ summierend herauszudestillieren (vgl. Bischof-Köhler 2004, 166), oder der Vergleich zwischen sogenannten „heißen“, also sehr dynamischen, hoch technisierten Kulturen mit „kalten“, also statischen, unter unveränderten archaischen Bedingungen lebenden Gemeinschaften (Lenz 1999, 114ff.) durchaus als problematisch gelten.

AutorInnen einer stark evolutionspsychologisch orientierten Theorienlinie interessieren sich ihrer Referenztheorie folgend für allgemeine Merkmale der Spezies Mensch insgesamt bzw. die Gruppenmerkmale der beiden Geschlechter-Subspezies (von denen individuelle Differenzierungen nur als ‚Abweichung‘ erscheinen) und sie beziehen sich völlig selbstverständlich auf Beschreibungen des Geschlechterverhältnisses und der geschlechtlichen Arbeitsteilung, wie sie für Jahrtausende zurückliegende Jäger- und Sammlergesellschaften oder sehr traditionelle Gesellschaften gelten (z.B. Jagd als männliche und Wasserholen als weibliche Domäne; vgl. Bischof-Köhler 2004, Kap. 12; Lenz 1999, 109ff.) oder erklären Geschlechterhierarchien mit Verweis auf deren reproduktive Zweckdienlichkeit: quantitative Strategien der Fortpflanzung mit niedriger parentaler Investition als Strategie der „Männchen“, bei den Weibchen dagegen qualitative Strategien mit höherer Investition in die Brutpflege. (vgl. kritisch Leonhard 1996). Stärker psychologisch oder soziologisch orientierte AutorInnen fassen die biologischen Aspekte eher als Prädispositionen auf und fragen danach, wie es den Menschen gelungen ist/gelingt, sich von den angeborenen Programmen zu emanzipieren und diese im Verlauf von Zivilisation und kultureller Entwicklung auszudifferenzieren. Sie beziehen sich logischerweise eher auf Individuen und ihre psychodynamische Entwicklung in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt bzw. auf soziale Gruppen und deren Funktionsweise. Aus dieser unterschiedlichen Fokussierung resultieren verständlicherweise große Probleme, wenn Texte unterschiedlicher theoretischer Herkunft miteinander in Beziehung gesetzt werden.

Bei der Verwendung von empirischen Untersuchungen zu Einstellungen und Sozialverhalten wird zudem nur selten diskutiert, inwieweit sie problemlos auf andere Gesellschaften übertragen werden können. Dabei ist sehr wohl bekannt, dass auch innerhalb Europas, jedenfalls aber zwischen z.B. Deutschland und USA deutliche Unterschiede in der Ausprägung von Geschlechterstereotypen bestehen, wobei nach der Darstellung verschiedener Studien bei Tücke geschlechtsstereotype Einstellungen in USA zum Teil deutlicher und stärker sind als in Deutschland (Tücke 1999, 220).

Was nun die faktisch auffindbaren Geschlechterunterschiede zwischen Mädchen und Jungen betrifft, so lassen sich diese unterscheiden nach Entwicklungs-, Leistungs- und Verhaltensaspekten – und von der Zuordnung zu diesen Kategorien hängt auch ab, wie deren Entstehung eingeschätzt wird und inwieweit hier eine erzieherische Einflussnahme überhaupt möglich und sinnvoll erscheint. Auf der Ebene geschlechtstypischer Entwicklung gibt es einige wiederkehrende Befunde: so lässt sich bspw. eine stärkere Vulnerabilität (Verletzlichkeit) männlicher Embryonen und Kinder feststellen und demgegenüber ein psychonervaler Reifungsvorsprung von Mädchen – entweder von Geburt an (so z.B. Ettrich/Ettrich 1991, 269) oder doch im zweiten und dritten Lebensjahr (so Maccoby 2000, 149) –, der sich aber im Verlaufe des Grundschulalters verliert. Auch das Einsetzen des pubertären Reifungsschubs erfolgt bei Mädchen früher, ebenso das (damit verbundene) Längenwachstum – das veranlasst einige Autoren, die spätere Einschulung von Jungen zu fordern, weil deren Entwicklungsstand mit sechs Jahren noch stärker auf die Grob- als auf die Feinmotorik ausgerichtet sei (vgl. Biddulph 2000, 81ff.; Hellbrügge 2003).

Eine allgemeine, statistisch belegte Vulnerabilität von Jungen bleibt auch über das Grundschulalter hinaus bestehen. Im Allgemeinen sind Jungen im Schulalter weniger häufig in ärztlicher Behandlung als Mädchen – wobei dies sowohl ein Anzeichen für seltenere Erkrankungen sein kann wie auch ein Hinweis darauf, dass Eltern mit Krankheiten ihrer Söhne anders umgehen. Das lässt sich statistisch nicht aufklären – die Tatsache, dass sich auch Männer seltener und später, oftmals zu spät in ärztliche Behandlung begeben, könnte diese Vermutung aber durchaus stützen. Außerdem sind Jungen und männliche Jugendliche viel häufiger von Sport- und Verkehrsunfällen betroffen sowie von Verletzungen, die durch so genanntes jugendtypisches Risikoverhalten (wie riskanter Alkoholkonsum, Mutproben o.ä.) verursacht sind (vgl. Stecklina 2004, 166). Sie fallen beim gesundheitsriskanten Verhalten durch „härteren“ Zigaretten- und Alkoholkonsum auf, während mädchentypische Varianten problematischen Verhaltens eher ‚unsichtbar‘ sind – z.B. Medikamentenkonsum, Diäten oder Essstörungen (vgl. Kolip 1999, 294 f.). Auch die höhere Beteiligung von Männern und Jungen an Gewaltdelikten ist bekannt – sowohl auf der Täter- wie auf der Opferseite. Jungen und Männer weisen auch mehr vollzogene (sogenannte „erfolgreiche“) Suizide auf, Mädchen und Frauen mehr Selbstmordversuche.

Insgesamt zeigen statistische Übersichten eine höhere Sterblichkeitsrate bei Jungen und Männern bis zum Alter von Mitte zwanzig, dann kehrt das Verhältnis sich um (vgl. Schnack/Neutzling 1992, 102). Mädchen leiden dagegen öfter an psychosomatischen Beschwerden, ihre Körperbesorgnis ist insgesamt höher und steigt zudem ab dem 11. oder 12. Lebensjahr, also mit dem Beginn der Pubertät bzw. mit der Menarche und den damit verbundenen Beunruhigungen, deutlich an (vgl. Kupfer et al. 1992, 171). Auch das Selbstvertrauen scheint bei Mädchen und Jungen zunächst ähnlich groß zu sein, im Laufe des Jugendalters hält dann aber die Entwicklung der Mädchen mit der positiven Entwicklung der Jungen nicht mehr Schritt – das Selbstvertrauen von weiblichen Jugendlichen nimmt signifikant ab (vgl. Nord-Rüdiger 1996, 19). Für das Erwachsenenalter hat diese Untersuchung übrigens keine solchen deutlichen Unterschiede gefunden – ein wichtiges Ergebnis war aber, dass Frauen sich selbst differenzierter beurteilen und Männer konsistenter (vgl. ebd., 116ff.). Auch Zinnecker kommt in seiner Jugendstudie zu dem Schluss, dass Jungen insgesamt mit sich zufriedener seien als Mädchen (vgl. Zinnecker 2002, 93).

Ein weiterer Unterschied, der gelegentlich genannt wird, ist die offenbar größere Fähigkeit von Mädchen zur Selbstregulation bzw. zum Triebaufschub, also zur „Regulation impulsiven und emotionalen Verhaltens“ (Maccoby 2000, 141) – wobei es auch hier vom jeweiligen Autor abhängt, ob dies als eine angeborene oder als anerzogene Fähigkeit interpretiert wird. Mädchen zeigen in empirisch-psychologischen Studien zur Emotionsregulierung im frühen Alter angemessenere Strategien als Jungen, reagieren „eher nachgebend auf Disziplinierungsbestrebungen ihrer Eltern, vor allem wenn diese durch eindeutige Signale vermittelt werden“ (Ittel/v. Salisch 2005, 85), erhöhen dadurch aber zugleich ihr Risiko, dauerhaft ein internalisierendes Problemverhalten zu entwickeln (bei dem die durch Konflikte entstehenden Spannungen tendenziell gegen die eigene Person gewendet werden).

Bereits an dieser Stelle wird aber m.E. gut erkennbar, dass das oft geübte Gegenüberstellen der Geschlechter nach dem Schema „mehr oder weniger“ (Jungen seien aggressiver, Mädchen introvertierter usw.) viel zu kurz greift und der Komplexität geschlechtstypischer Verhaltensausprägungen nicht gerecht werden kann.

Auf der Ebene geschlechtstypisch variierender kognitiver Fähigkeiten finden wir, das sei vorausgeschickt, insgesamt keine großen Unterschiede (Bischof-Köhler 2004, 234) und zudem eine kontinuierliche Abnahme bei allen gemessenen Differenzen in den letzten 20 bis 30 Jahren (Alfermann 1996, 160). Das alleine würde schon genügen, um Zweifel an der These der Anlagebedingtheit dieser Unterschiede zu wecken, denn „females appear to be gaining in cognitive skills relative to male rather faster than the gene can travel“ (Rosenthal & Rubin, zit. bei Quaiser-Pohl 1998, 50). Übrig bleibt ein nicht ganz erklärbarer deutlicher Unterschied in der Fähigkeit zur räumlichen Vorstellung (Quaiser-Pohl 1998) und Orientierung zugunsten von Jungen. Auch dieser wird von manchen AutorInnen zur Unterstützung evolutionsbiologischer Ansätze verwendet, indem sie ihn damit erklären, dass sich früher der Jäger (Mann) in Wald und Gelände hätte orientieren müssen, um wieder zur Horde zurückzufinden, während die Sammlerin (Frau) nur die Pflanzen in der näheren Umgebung wiederfinden musste (Wendt 1997, 118). So weit ich erkennen kann, gibt es aber zur Zeit keine konsistente Theorie, die die Weitergabe von Elementen (geschlechtlicher) Arbeitsteilung, die durch frühgeschichtliche Adaption menschlicher Entwicklung an die Umwelt entstanden sein sollen, und die differenzielle Heritabilität, also die „Vererbbarkeit“ auch phänotypischer Aspekte befriedigend erklären kann – geschweige denn plausibel machen könnte, warum früh erworbene Verhaltensweisen ungenutzt über Jahrtausende weiter bestehen sollten, wo doch ansonsten die menschliche Entwicklung auf effektiven Nutzen und Einsatz ihrer Ressourcen ausgerichtet zu sein scheint. Da es zudem aus frühgeschichtlicher Zeit bekanntlich keine Zeugnisse gibt, die etwa geschlechtspezifische Arbeitsteilung belegen könnten, müssen alle Geschichtsinterpretationen immer auch als Repräsentation der historisch bedingten Vorstellungsbasis ihrer jeweiligen Interpreten wahrgenommen werden. Von hier aus betrachtet könnte also auch der vorne beschriebene Unterschied beim räumlichen Vorstellungsvermögen beispielsweise damit erklärt werden, dass Eltern ihre Söhne früher draußen spielen lassen oder selbständig Dinge erledigen lassen als ihre Töchter, so dass elterliches Verhalten, Spielzeugauswahl, Übung und Gewöhnung hier einen kumulativen Sozialisationseffekt erzeugt und die geschlechtstypischen Unterschiede zumindest mit verursacht haben könnten – zumal die ProbandInnen dieser Untersuchungen mindestens das Kindergartenalter erreicht und also schon viel erlebt haben.

Was geschlechtstypisch unterschiedliche soziale Verhaltensweisen angeht, so ist jede Diskussion über mögliche anlagebedingte Einflüsse hier endgültig spekulativ – zu komplex sind hier die Zusammenhänge. Verhaltensweisen im sozialen Feld sind immer und unweigerlich beeinflusst von Interaktionen und insofern als ein Zusammenspiel aus Effekten gesellschaftlicher Konventionen und individuellen sozialen Schicksalen zu sehen. Auch gibt es kein ‚unvoreingenommenes‘ Sozialverhalten, weil jede Orientierung im sozialen Feld von Vorannahmen (bias) über den anderen Menschen getragen wird – und bei diesen Vorannahmen spielen sowohl Vorurteile (prejudice) in Bezug auf relevante gesellschaftliche Ordnungskategorien bzw. Gruppeneinteilungen (wie Geschlecht, Ethnie, Religion) eine Rolle, als auch die auf der Basis eigener Sozialerfahrungen ausgebildete persönliche Vorurteilsstruktur, bei der z.B. Neid, eigene Wünsche und Kränkungen usw. in das Bild des Anderen eingehen.

Gleichwohl gibt es im Sozialverhalten von Kindern größere Auffälligkeiten, die auch (mehr als bei den beiden zuvor genannten Gruppen geschlechtstypischer Auffälligkeiten) Ansatzpunkte für eine Analyse von Erziehungsverhalten und dessen möglichen geschlechtstypisierenden Aspekten bieten können. So unterscheiden sich beispielsweise Mädchen- und Jungengruppen offenbar deutlich in ihrer Struktur: aus Jungen bestehende Gruppen sind meist hierarchischer orientiert, manche Studien attestieren Jungen neben ihrer Konkurrenzorientierung und Tendenzen zu offener geäußerter Aggression deshalb auch eine größere Bereitschaft, eine einmal erkannte Überlegenheit eines Anderen und einen damit verbundenen rangniedrigeren Platz in der Gruppe anzuerkennen (Bischof-Köhler 2004, 318). Mädchen in Gruppen wird in vielen Studien dagegen ein größeres Interesse an gegenseitiger Anerkennung und einvernehmlichem Aushandeln von Interessen zugeschrieben, was logischerweise auch eine größere Abhängigkeit von der Gruppe als ganzer zur Folge hat. Die Formen aggressiver Auseinandersetzung sind hier subtiler und weniger leicht zu beobachten. Mädchen operieren in Gruppen öfter mit Ausschluss und Herabsetzungen und neigen dazu, hierarchische Absetzungen innerhalb der Gruppe zu sanktionieren (ebd., 320), bei ihnen stehen „spitze Bemerkungen, Bloßstellen oder hinter dem Rücken Tuscheln im Vordergrund“ (Scheithauer 2003, 141). Diese sind oft für Lehrkräfte nicht wahrnehmbar, weil die Kränkungen und geflüsterten Beleidigungen „sehr leise“ ausgetragen werden (vgl. Kaiser 2003, 168ff.). Auch dies ist ein Hinweis auf die Problematik empirischer Untersuchungen im Geschlechterbereich: denn da solche verdeckt aggressiven Verhaltensweisen üblicherweise nicht in den Diagnosekriterien für aggressive Störungsbilder enthalten sind, werden Mädchen in den empirischen Studien stets als „weniger aggressiv“ eingestuft – ein Befund, der sich mit der Veränderung der Diagnosekriterien sicherlich verändern würde. Erst dann ließe sich im Übrigen auch zu Aussagen über die Varianz innerhalb der Mädchengruppen kommen (vgl. v. Salisch et al 2005, 86). Scheithauer plädiert denn auch dafür, deutlicher zwischen „prototypischen“ Formen der Aggression (wie Schlagen, Treten usw., bei denen Jungen dominieren) und „unprototypischen“ (indirekte, soziale, relationale, wie sie häufiger unter Mädchen vorkommen) zu unterscheiden. Die geschlechtstypischen Unterschiede in den bevorzugten Formen von Aggression müssten seiner Ansicht nach aus der Funktion innerhalb der Gleichaltrigengruppe erklärt werden – und die differiert natürlich mit der Gruppenstruktur (vg. Scheithauer 2003, 225).

Mädchen haben aber auch eine „stärker ausgeprägte Neigung, ihre Gefühle zu enthüllen“, schreibt Maria v. Salisch in ihrer Studie über kindlichen Ärger, zugleich neigen sie aber dazu, die Intensität ihres Ärgers zu „verkleinern“, weil für sie großer Ärger mit größerer psychischer Belastung verbunden wäre. Das heißt aber nicht unbedingt, dass Mädchen und Jungen tatsächlich unterschiedlich empfinden, denn Kinder seien „bereits im Alter von drei bis vier Jahren“ sehr geschickt darin, sich den Erwartungen der Erwachsenen entsprechend zu verstellen (v. Salisch 2000, 172ff., 207). Was das prosoziale Verhalten angeht, das oftmals den Mädchen in größerem Umfang zugeschrieben wird, so gibt es auch da jüngere Studien, die (zu ihrer eigenen Enttäuschung) keine solche Differenz gefunden haben und diese These nicht bestätigen können (vgl. Höltershinken/Wu 2001, 273ff.).

Die erkennbaren Unterschiede im Sozialverhalten haben viele AutorInnen bewogen, die Kindheiten von Jungen und Mädchen als getrennte „Welten“ (Maccoby 2000), als zwei verschiedene „Kulturen“ zu beschreiben, die je unterschiedlichen symbolischen Regeln folgen und in denen Angehörige des eigenen Geschlechts eine gänzlich andere Rolle und Bedeutung haben als gegengeschlechtliche. Da aber, wie gesagt, alle sozialen geschlechtstypischen Verhaltensweisen Effekte gesellschaftlicher Konventionen sind, ergeben sich im Kontext der Erörterungen der Funktion von Erziehung für den Prozess geschlechtstypischer Entwicklung folglich mehrere Ansatzpunkte: Erstens wäre zu fragen, ob bzw. wie betreuende Erwachsene mehr oder weniger bewusst und gezielt auf Kinder Einfluss nehmen – auf ihre individuellen Selbstäußerungen, auf Gruppenverhalten und Aushandlungsprozesse unter Kindern oder sogar auf das Entstehen von „zwei Kulturen der Kindheit“; zweitens muss interessieren, ob das Geschlecht der Erziehenden ihr Verhalten beeinflusst und drittens wäre zu fragen, welchen Einfluss die pädagogischen Theorien und Institutionen in diesem Zusammenhang haben. Einige dieser Fragen werden im Verlauf der folgenden Kapitel ausführlicher diskutiert, doch an manchen Punkten wird sich auch zeigen, dass unser Wissen über die komplexen Zusammenhänge noch nicht ausreicht, um sie wirklich zu durchschauen.

2. … im Kontext von Schule und Beruf

Als in der Mitte der 1960er Jahre die Diskussion um die Notwendigkeit einer Bildungsreform in Westdeutschland breit geführt wurde, war die Einsicht in die eklatante Bildungsbenachteiligung von Mädchen ein wichtiger Impuls. Das „katholische Arbeitermädchen vom Land“ war der Inbegriff struktureller Aspekte von Bildungsnachteilen, die sich an sozialer Schichtzugehörigkeit, Region, Religionszugehörigkeit und eben an Geschlecht festmachen ließen. Sicherlich waren damals v.a. volkswirtschaftliche Gesichtspunkte leitend – denn es blieben ja die Fähigkeiten eines großen Teils der Bevölkerung ungenutzt –, doch die Mädchen und Frauen konnten die durch die Bildungsreform eingeleiteten Veränderungen im Bildungswesen in den folgenden Jahren und Jahrzehnten gut für sich nutzen – mehr noch: es hat sich in Bezug auf Schulleistungen sogar eine erklärungsbedürftige Verschiebung zwischen den Geschlechtern ergeben. Denn heute stellen Mädchen an Gymnasium und Realschule den größeren Anteil, es machen mehr Mädchen Abitur, Real- und Fachhochschulreife, während die Jungen an der Hauptschule die Mehrheit bilden (vgl. Statistisches Bundesamt 2004, 17). Auch beenden deutlich mehr Jungen als Mädchen ihre Schulzeit ohne Schulabschluss – allerdings investieren Mädchen insgesamt mehr Zeit für Lernen, Vorbereiten und Hausaufgaben als Jungen (vgl. Wagner 2005, 82ff.). Dass die Haltung gegenüber den Lernerfordernissen deren Erfolg beeinflussen kann, zeigt im Übrigen auch Schneewind, der berichtet, dass die Förderung von Kindern aufstiegsorientierter Familien eine größere Intelligenzsteigerung nach sich zieht als die von Kindern nicht aufstiegsorientierter Eltern (vgl. Schneewind 1994, 205).

Der in der Schulzeit erworbene Vorteil der Mädchen und jungen Frauen hält allerdings nicht lange vor: im akademischen Bereich beginnen zwar mehr Studentinnen ein Studium (wobei eine sehr starke geschlechtstypische Struktur der Fächerwahl zu beobachten ist), bereits bei den Studienabschlüssen überwiegen jedoch die Männer und stellen von da an einen auf jeder Qualifikationsstufe zunehmend größeren Anteil an allen qualifizierenden Abschlüssen – bis hin zu einem Anteil von Frauen an C4-Professuren von etwa 8 % (ebd., 19).

Vergleichende Schulleistungsstudien ergeben dabei regelmäßig deutliche geschlechtstypische Leistungsprofile mit einem Plus der Mädchen im Bereich sprachlicher Kompetenz und einem Vorsprung der Jungen im Bereich Naturwissenschaften und Mathematik. Je genauer einzelne Studien aber an den Gegenstand herangehen, desto komplizierter und uneindeutiger wird das Bild. So fanden etwa Tiedemann/Faber (1994) bessere Mathematikleistungen der Mädchen im ersten Schuljahr und stereotyp orientierte Fehlgewichtungen der Lehrkräfte; die Beobachtungsstudie von Herber (2002) ergab im Physikunterricht kaum geschlechtstypische Leistungsunterschiede (die Mädchen brachten sogar „insgesamt mehr richtige und qualitativ bessere Beiträge“ als die Jungen). Die Jungen zeigten sich in solchen Studien stärker prozessorientiert (Giest 1995, 159), gaben sich eher mit Teillösungen zufrieden und versuchten, mit diesen an der Aufgabe weiterzuarbeiten, während die Mädchen „erst weiterarbeiten, wenn sie sich auf gedanklich abgesichertem Terrain befinden“ (Herber 2002, 87, 103ff.). Das würde darauf hindeuten, dass Mädchen und Jungen tendenziell unterschiedliche Problemlösestrategien anwenden oder gar, wie Schwank (1992, 1994) vermutet, unterschiedliche mentale Modelle entwickeln3 – weitere Untersuchungen müssten sich folglich weniger auf die reinen Leistungsaspekte als auf Problemlöseverhalten und Denkstile konzentrieren. Auch wäre hier – mit aller gebotenen Vorsicht – zu fragen, ob das Einüben in eine Beziehungsorientierung bei Mädchen etwa die Herausbildung bestimmter Denkstrategien begünstigt.

Zum geschlechtstypischen Leistungsgefälle in Bezug auf Lese- und Schreibkompetenz und die über alle Schulstufen gefundenen Nachteile für Jungen in diesem Bereich gibt es derzeit kaum weiterführende Erklärungsansätze – auch wenn manche AutorInnen vollmundig ankündigen, dem Problem, warum „Jungen nicht mehr lesen“, abhelfen zu können (Müller-Walde 2004). Nach der aktuellen Literaturlage gehe ich davon aus, dass es keinen seriösen „Beweis dafür gibt, dass die weibliche Gehirnstruktur für praktische Aufgaben wie Lesenlernen und Satzkonstruktion besser gerüstet ist“ (Gilbert 2004, 278), obwohl auch das immer wieder (etwa mit Verweis auf die unterschiedliche Lateralität des Gehirns) behauptet wird. So wurde denn nach dem ‚PISA-Schock‘, als die Medien auf diese Schulleistungsproblematik aufmerksam wurden, nach Verursachern gesucht und bald ein Schuld-Verursachungs-Komplott der Frauen(bewegung) vermutet – so etwa der Fokus-Artikel „Arme Jungen“ (32/2002), mit der These, die Leistungsschwäche der Jungen sei auf einen von „missgeleiteten“ Feministinnen getragenen „Krieg gegen die Jungen“ zurückzuführen; oder die Schweizer Wochenzeitschrift „Facts“ (26/2003), die die Jungen als Opfer im Geschlechterkampf systematisch benachteiligt sieht, und auch das Spiegel-Themenheft „Schlaue Mädchen – dumme Jungen“ (21/2004) konstatiert: „Je geringer der Anteil männlicher Grundschullehrer in den Bundesländern, desto schlechter schneiden die Jungen ab“. Abgesehen davon, dass jede wissenschaftliche Redlichkeit solche monokausalen Reduktionen verbieten müsste, zeigt der Untertitel des Heftes „Sieger und Verlierer in der Schule“ deutlich, wo das Problem liegt: der befürchtete Verlust der Führungsposition des männlichen Geschlechts interessiert bedauerlicherweise mehr als eine für beide Geschlechter bessere Schule. Das alte Stereotyp vom aktiv-unbeherrschten, unverstandenen Jungen und vom angepasstkooperativen, fleißigen Mädchen taucht hier in zeitgemäßem Gewande wieder auf.

In der Tat ist die ungleiche Verteilung von Frauen und Männern im Erziehungs- und Bildungsbereich eine geschlechtstypische Tatsache: in Kindergärten, Kindertagesstätten usw. arbeiten ganz überwiegend Frauen, ebenso im gesamten Bereich öffentlich oder privat organisierter frühkindlicher Erziehung und Versorgung. In der Grundschule finden wir ebenfalls sehr viel mehr Frauen als Männer, während im Gymnasialbereich und in allen Leitungsfunktionen, trotz steigender Tendenz, die Männer zumindest bei den Vollzeitstellen noch deutlich überwiegen (vgl. die jeweils aktuellen Angaben auf den Internetseiten des Statistischen Bundesamts). Dem Gefälle zwischen den Lehrämtern korrespondiert übrigens nicht nur eine unterschiedliche gesellschaftliche Wertschätzung, sondern auch ein deutliches Verdienstgefälle.

Da heute rund 70 % der Lehramtsprüfungen von Frauen abgelegt werden, wird sich der Frauenanteil am Lehrberuf in den nächsten Jahrzehnten wohl noch deutlich verstärken, und es bleibt abzuwarten, wie sich dieser Trend auf die Zusammensetzung der Lehrerschaft in den verschiedenen Schulstufen, auf deren Ansehen und Entlohnung auswirken wird.

Dieses so beschriebene geschlechtstypische Ungleichgewicht hat verschiedene Ursachen. Einerseits ist ein Lebensentwurf auf einer eigenständigen beruflichen Basis im Bildungsbereich ja für Frauen noch nicht sehr lange eine Selbstverständlichkeit – das Bildungssystem und seine Strukturen haben sich im Zeitalter bürgerlicher patriarchaler Verhältnisse herausgebildet. Der jahrhundertelange Ausschluss von Frauen aus lehrenden Berufen hat dabei sowohl eine lange nachwirkende Auffassung von der ‚eigentlichen‘ geistigen Überlegenheit der Männer etabliert, vor allem aber hat die gesellschaftliche Arbeitsteilung mit der Zuständigkeit der Frauen für den privaten Bereich und die kleinen Kinder bei Männern und Frauen die Vorstellung einer besseren Eignung von Frauen für die Beziehungsseite des Lehrberufs entstehen lassen – und sie somit für die Leitung von Schulen oder Bildungseinrichtungen als weniger befähigt erscheinen lassen. Andererseits scheinen Lehrerinnen sich auch weniger für Leitungsfunktionen zu interessieren (vgl. Winterhager-Schmid 1997) und die „praktische“ (oder: beziehungsorientierte) Seite von Erziehung und Unterricht vorzuziehen.

Solche geschlechtstypischen ‚Vorlieben‘, finden sich auch in anderen Berufsbereichen. Die Kennzeichnung, ‚etwas mit Menschen zu tun haben‘ gilt als typisches und untrügliches Zeichen dafür, dass es sich hier um einen Frauenberuf handelt – auch die meistgewählten Ausbildungsberufe haben sich von den 1960er Jahren bis heute kaum verändert. So sind z.B. bei jungen Frauen viele der häufigsten Ausbildungsberufe über 30 Jahre hinweg dieselben geblieben: Bürokauffrau, Arzthelferin, Zahnarzthelferin, Kauffrau im Einzelhandel, Friseurin, Industriekauffrau, Bankkauffrau (vgl. Alfermann 1996, 37; Ostendorf 2001, 70; Statistisches Bundesamt 2004, 19). Bei berufsfachschulischen und fachschulischen Erstausbildungen stellt sich das Bild ebenso dar: bei den Mädchen sind führend die Ausbildung zur Kinderpflegerin, Erzieherin, Sozialarbeiterin, Altenpflegerin (Ostendorf ebd., 82) – hier sind etwa zehn Prozent der Auszubildenden männlich. Aber gerade hier lässt sich auch besonders gut erkennen, wie die Disposition auf Seiten der jungen Frauen und geschlechtstypische Vorurteile und Erwartungen bei Arbeitgebern und Ausbildungsberatungen bei der Steuerung der Ausbildungsgänge zusammenwirken – teilweise sogar gegen die Interessen einzelner Betriebe, deren Werben um junge Mädchen in ‚typisch männlichen‘ Ausbildungsberufen, etwa im elektrotechnischen Bereich, von den BerufsberaterInnen unterlaufen wird (vgl. Ostendorf 2002, 7). Die häufigsten Berufe der Männer sind (nach Rangziffer) Kfz-Mechaniker, Elektro-Energie-Gebäude-Techniker, Anlagemechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik, Maler und Lackierer, Einzelhandelskaufmann, Metallbauer, Tischler (Statistisches Bundesamt 2004).

In der DDR war übrigens (entgegen der landläufigen Annahmen) ebenfalls in sogar stärkerem Maße die geschlechtstypische Weichenstellung des Ausbildungssystems verantwortlich für die im Vergleich zur BRD noch deutlichere Segregation des Arbeitsmarktes (einschließlich eines deutlichen Lohngefälles). Die von Trappe/Rosenfeld vorgelegten Daten einer großen Lebenslaufstudie zeigen im Vergleich von Frauen und Männern sowie BRD und DDR, dass trotz der oben gezeigten typischen Berufsverteilung die westdeutschen Frauen noch „die am wenigsten geschlechtstypisch geprägten Erwerbsverläufe“ aufwiesen – die anderen drei Gruppen also noch stereotyper agierten (Trappe/Rosenfeld 2001, 172). Die Autorinnen weisen deshalb sowohl eine enge „kausale Beziehung zwischen frauentypischen Tätigkeiten und günstigen Bedingungen für die Verbindung von Familie und Beruf“ als „zumindest einseitig, wenn nicht gar fragwürdig“ zurück und sehen aufgrund ihrer Ergebnisse „wenig Anlass, künftig eine Auflockerung der geschlechtsspezifischen Segregation des Arbeitsmarktes zu erwarten“ (ebd., 173 ff.).

Die Erwerbsbeteiligung von Frauen allerdings ist in den neuen Bundesländern höher als in den alten (73 % zu 64 % – vgl. Statistisches Bundesamt 2004, 26) – insgesamt sind in Deutschland 44 % der Erwerbstätigen Frauen, von den Müttern schulpflichtiger Kinder sind rund zwei Drittel erwerbstätig. Frauen sind im Vergleich zu Männern häufiger angestellt und seltener selbständig, sie sind seltener Beamtinnen und Arbeiterinnen und seltener in Führungspositionen, dafür häufiger teilzeitbeschäftigt; die Arbeitslosenquoten sind etwa gleich hoch. Dafür verdienen Frauen immer noch deutlich weniger als Männer: Arbeiterinnen verdienen etwa ein Viertel weniger als Arbeiter, weibliche Angestellte sogar ein Drittel, bei jeder zehnten erwerbstätigen Frau reicht das Einkommen nicht für den Lebensunterhalt (ebd., S. 48ff.). Auch die politischen Vertretungen sind meist weit von einer Gleichverteilung entfernt: CDU und FDP haben weniger als ein Viertel weibliche Abgeordnete, SPD immerhin 40 % (während bei den Grünen die Frauen in der Überzahl sind) (FR v. 22.8.2005).

Auch an dieser Stelle muss also diskutiert werden, inwieweit die geschlechtstypischen Auffälligkeiten in Ausbildungs- und Berufsverläufen als Effekte einer allgemeinen gesellschaftlichen Geschlechterordnung gesehen werden müssen oder doch als ein Ergebnis einer geschlechtstypischen Erziehung, die Jungen und Männer in eine andere Richtung lenkt als Mädchen und Frauen.

Dabei muss zweierlei beachtet werden: Es muss gefragt werden, in welcher Weise gesellschaftliche Strukturen das konkrete Geschehen etwa in Bildungswesen, Arbeitsmarkt und Familie beeinflussen, zu welchen Synergieeffekten es dabei kommt und wie sich diese Struktur aufbrechen lässt; und es muss überlegt werden, wie hoch der Einfluss von Haltungen und Handlungen einzelner Personen angesetzt werden muss, die etwa im Kontext von Bildung und Erziehung mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben und auf diese Einfluss nehmen.

Kapitel 2 Erziehung und Geschlecht – Diskursansätze

1. Historische Diskurslinien und Erziehungsratgeber

Die frühe Geschichte heutiger Erziehungsvorstellungen beginnt vor allem in der Phase der Entstehung des Bürgertums und der Formierung der bürgerlichen Kultur. In einem hochinteressanten, aber sehr komplexen (und deshalb nicht in Kürze solide darstellbaren) Prozess werden die Vorstellungen über Beschaffenheit und Bedeutung des (biologischen) sexuellen Körpers, die Aufgabenteilung zwischen Vätern und Müttern in der Familie und zwischen Frauen und Männern im Staat diskutiert und neu geordnet. Zugleich bedarf das neu entstandene Bürgertum zu seiner Festigung und Selbstdefinition eines normativen Kodex’ und für dessen Vermittlung eines ausgestalteten Erziehungskonzepts – wobei Erziehung und Unterricht hier begrifflich nicht unterschieden werden, sondern der „Unterricht als Mittel zum Zweck“ als Teil der Erziehung angesehen wird (so die Allgemeine Deutsche Realenzyklopädie für die gebildeten Stände von 1833).

Grundsätzlich erzieht ja eine Gesellschaft ihre Kinder so, wie sie sich diese als Erwachsene wünscht und wie sie zu der von ihr für gut gehaltenen Gesellschaftsform passen. Und Gesellschaften beziehen sich in ihrer Organisationsform (neben einer irgendwie geregelten Art von verbindlicher Rechtssprechung) immer auf die Themen Tod und Leben (etwa in Form von Geburts- oder Bestattungsriten usw.), auf Dazugehören/Nicht-Dazugehören (z.B. durch die jeweilige Form von Gastrecht oder den Regelungen zur Aufnahme von Fremden) und auf Geschlecht, etwa indem sie Kindschaft und Elternschaft regeln (z.B. mutterrechtlich oder vaterrechtlich) oder indem sie Frauen und Männern unterschiedliche Rechte oder Aufgaben zuweisen usw. Die Bürgerliche Gesellschaft bezog ihr Selbstverständnis aus Regelungen zur individuellen Freiheit, dem Eigentum und aus dem Vertragsgedanken, wobei die Familie (die ja ebenfalls auf Verträgen beruht) einen ganz zentralen Eckpfeiler der Gesellschaft darstellt. Das bürgerliche Recht wies Frauen und Männern unterschiedliche Rechte und Pflichten zu, auch Vätern und Müttern in Bezug auf ihre Kinder, und regelte das Erbrecht für Töchter und Söhne unterschiedlich. Das Geschlechterverhältnis war also in einer teils kodifizierten, teils in Konventionen und Sitte übergegangenen Form geordnet – und weil Frauen und Männer innerhalb der Geschlechterordnung unterschiedliche Aufgaben übernehmen sollten, wurden Jungen und Mädchen darauf hin erzogen, diese Aufgaben auch zu erfüllen, und kein Erziehungsmodell konnte die Frage nach der (unterschiedlichen oder gleichen) Behandlung der Geschlechter umgehen. Wir finden also im 18., dem ‚pädagogischen‘ Jahrhundert eine Fülle von Texten, die Männlichkeit und vor allem Weiblichkeit normierend beschreiben und Wege zu ihrer Erziehung aufzeigen.

Die dabei entworfenen Geschlechterbilder sind in ihren Grundzügen hinlänglich bekannt: das in dieser Zeit entstandene Bild der dreifachen Bestimmung der Frau als Hausfrau, als Gattin eines Mannes und Mutter seiner Kinder, ihre grundsätzliche Unterordnung unter seine Hausmacht und das entsprechende Bild des Mannes als dem, der einsam Verantwortung trägt und entscheidet, wirken noch in den heutigen Geschlechterbildern spürbar nach. In Anlehnung an Foucault bezeichnen einige AutorInnen dies als Herausbildung eines neuen „Geschlechterdispositivs“. So hätte zuvor ein „klassisches Geschlechterdispositiv“ existiert, in dem die Frau bei eingeschlechtlich gedachter Menschen-Natur als eine biologisch mindere, schwächere Ausführung der menschlichen Spezies vorgestellt wurde, was aber grundsätzlich eine egalitäre Option offen ließ. Dieses werde nun durch ein „modernes“ Dispositiv abgelöst, in dem ausgehend von einer biologisch als gegeben erachteten Zweigeschlechtlichkeit die Differenz der Geschlechter zur Grundlage einer polarisierenden Geschlechterauffassung wurde: dem als ‚allgemein‘ menschlich gedachten Mann werde die Frau als ,Andere‘, seiner Männlichkeit ihre Mutterschaft als Inbegriff weiblichen Wesens gegenübergestellt (vgl. z.B. Bührmann 1998).

Wenn man von heute aus rückblickend das 19. Jahrhundert in Bezug auf die Geschlechterfrage als eine Zeit ansieht, in der gerade durch das Erziehungswesen die Unterordnung der Frau unter den Mann und ihr Ausschluss aus der Bildung, der Öffentlichkeit, der politischen Teilhabe und der Arbeitswelt befestigt werden, so ist das zweifellos richtig, und doch ist es auch eine Verkürzung, bei der einige wichtige Facetten verloren gehen, die vielleicht in mancher Hinsicht die Überlegungen der damaligen Wortführer und Diskursbegründer verständlicher machen können. Vor allem hilft es dem Verständnis der Entwicklung nicht wirklich weiter, wenn allzu eindeutig ein Kalkül unterstellt wird – etwa: dass diese Umdeutung erfolgt sei, „um“ die Subordination der Frauen zu begründen. Obgleich das zweifellos ein Effekt der Entwicklung war und selbst wenn dieser bei etlichen (oder den meisten) Akteuren erfreut aufgenommen oder auch mit intendiert war – so einfach verlaufen kulturgeschichtliche Entwicklungen nicht. Zu ihrer Erklärung und für das Verständnis ihrer Dynamik greift eine einfache Repressionsthese sicher zu kurz.

Ein bei verschiedenen Autoren der Aufklärung wiederkehrendes Argument für eine Unterscheidung der Geschlechter ist, dass sie den Übergang vom rohen Naturzustand zum gesitteten Gesellschaftszustand anzeige – die Polarisierung der Geschlechter sei also ein Zeichen „steigender Gesittung“ (so W. H. Riehl 1858, zit. bei Bublitz 1998, 31) und markiere auch innerhalb der Gesellschaft den Unterschied zwischen der Volksmasse (die die Geschlechter wenig voneinander trennt) und dem „gebildeten Teil der Gesellschaft“ (vgl. Schleiermacher 1996, 789), und für Diderot markiert der Moment, als die Frau erstmals „zu unterscheiden begann“, sie erstmals „auswählte“, welchem Mann sie sich zeigen wollte – kurz: der Beginn der weiblichen Schamhaftigkeit „die Entstehung von Begehren, Ehe und Familie“ (so Laqueur 1992, 227 ff.). Laqueur referiert auch den schottischen Aufklärer John Millar (1793): „In barbarischen Gesellschaften begleiteten die Frauen die Männer in den Krieg und unterschieden sich kaum von jenen; in friedlichen Gesellschaften, die in den Künsten Fortschritte gemacht hatten, waren Rang und Status der Frau von ihrem speziellen Talent zur Kinderaufzucht und von ihrer ‚besonderen Zartheit und Empfindsamkeit‘ bestimmt, gleichgültig, ob diese nun von ihrer ‚originären Verfassung‘ oder ihrer Rolle im Leben herrührten.“ So führt auch hier das Fortschreiten der Zivilisation zu einer Differenzierung der Geschlechterrollen, „umgekehrt sind größere Rollendifferenzierung und besonders größere weibliche ‚Zartheit und Empfindsamkeit‘ Zeichen des moralischen Fortschritts“ (ebd., 228).

Auch bei Schleiermacher ist die Deutlichkeit, mit der die Geschlechterdifferenz hervortritt, ein Zeichen des Bildungsstandes. In seinem psychologischen Geschlechtermodell argumentiert er zunächst sehr vorsichtig, dass es „wenigstens ein sehr tiefes Gefühl“ von der psychischen Unterschiedlichkeit der Geschlechter gäbe, auch wenn wir nicht im Stande seien, „hierüber eine volle und klare Entscheidung zu geben“ (Schleiermacher 1927/1967, 47ff.). In entwickelten Gesellschaften sei jedoch praktisch das Hauswesen als weibliches Tätigkeitsfeld vorherrschend, dem korrespondiere auf der psychischen Ebene „die Beschäftigung mit dem Einzelnen und eine Abwendung vom Großen und allgemeinen“. Schleiermacher verneint eine „absolute quantitative Differenz in den geistigen Funktionen bei beiden Geschlechtern“, konstatiert aber eine faktische Differenz über den unterschiedlichen Bezug der Männer auf das große und öffentliche Leben, Wissenschaft und Kunst, und der Frauen auf „das einzelne, das in ihrem Kreise liegt“. In pädagogischer Hinsicht folgt daraus dann logischerweise ein Zirkel. Erziehung in der bürgerlichen Gesellschaft heißt „frei sein und gehorsam sein“, schreibt Schleiermacher, selbsttätig sein, aber „sich die persönliche Beschränkung gefallen lassen“, die Staat und Gesellschaft fordern. Weil aber „das weibliche Geschlecht keinen Anteil am bürgerlichen Leben“ nimmt, entwickeln die Frauen nicht diesen „inneren Respekt vor Gesetz und Recht“, was wiederum ihren Ausschluss aus der Öffentlichkeit begründet. „Am Ende der Erziehung finden wir die Geschlechter verschieden ausgebildet, und auch nachher einen anderen Lebensweg einschlagend; folglich muss auch die Erziehung auseinander gehen“ (Schleiermacher 1996, 789). Diese charakteristische zirkuläre Argumentation, bei der trotz einer in der psychologischen Betrachtung konzedierten Gleichheit und Gleichberechtigung der Geschlechter aus der gesellschaftlichen und politischen Ungleichheit auf die Notwendigkeit einer unterschiedlichen Erziehung geschlossen wird, findet sich auch noch 100 Jahre später in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, etwa bei Herman Nohl (vgl. Rendtorff 2000c). Auch Nohl anerkennt zunächst die gleichen Fähigkeiten von Frauen und Männern, vermutet dann in einem nächsten Schritt angesichts der weiblich-mütterlichen Qualitäten von Frauen doch eine natürliche Anlage, und bestätigt von hier aus die gesellschaftliche Arbeitsteilung als eine naturgemäße, richtige Aufgabenbestimmung der Frau.